Germania
Zwei Jahrtausende
deutschen
Lebens
Kulturgeschichtlich
geschildert
von
Johannes Scherr
Dieses monumentale Geschichtswerk ist luxuriös mit Holzschnitten von A. Menzel, F. Defregger, W. Diez sowie anderen bekannten Künstlern ausgestattet und behandelt die heidnisch-germanische Zeit bis zur Gründung des deutschen Kaiserreiches.
In vier Abschnitten – Altertum, Mittelalter, Reformationszeit und Neuzeit – schildert der Verfasser u.a. das ur- und frühgeschichtliche Leben, die Zeit der Völkerwanderung, die Herrschaft der Ottonen und anderer Adels- und Herrschergeschlechter, veranschaulicht die Verhältnisse in Dorf und Stadt, Kirche und Staat, zeigt Veränderungen durch die Reformationszeit auf und beschreibt die kulturelle Entwicklung während der Aufklärung, Klassik, Romantik und bis in das 19. Jahrhundert hinein.
1. Ur- und Vorzeit
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Von Sonnenaufgang her waren also unsere Altvorderen gen Sonnenuntergang gezogen und in Europa eingewandert. Warum, wann, wie, auf welchen Wegen, - das alles war schon in das Schweigen der Vergessenheit versenkt, als die Germanen zuerst in den Umkreis geschichtlicher Helle traten. Eine leise Erinnerung an die arische Urheimat und die indogermanische Urgemeinschaft scheint das deutsche Gemüth allerdings bewahrt zu haben in einzelnen Anklängen der germanischen Götter- und Heldensage an die altindische und altiranische. Allein dieser unbewußte Nachhall längst verstummter Laute hinderte unsere Ahnen nicht, sich für ein „Urvolk“ zu halten, welches von Urbeginn an mit seinem, dem deutschen Heimatlande verwachsen gewesen sei. Dem war aber schon darum nicht so, weil die Germanen ihren Wanderzug vom Ural her nicht geradewegs nach Deutschland, sondern allem nach zuvörderst nach Skandinavien gerichtet hatten. Dort, in der halbinsularen Entlegenheit der skandinavischen Länder hat sich denn auch das germanisch-heidnische Wesen lauterer und länger erhalten als anderswo, und als ihm auch dort Verunreinigung und Vergewaltigung durch das eindringende Christentum drohte, fand es auf der fernen Eis- und Feuerinsel Island eine letzte Zuflucht, welche ihm gestattete, vor seinem Untergange noch seine heiligen Ueberlieferunen, seinen Götterglauben und seine Heldensänge schriftlich aufzuzeichnen und als eine germanische Bibel, genannt die „Edda“ (Urahne), den nachgeborenen Geschlechtern als ein unschätzbares Vermächtnis zu hinterlassen.
Der Mehrzahl der Germanen hatte es aber auf dem kargen Boden Skandinaviens nicht lange gefallen können. Während der kleinere Theil des Volkes dort zurückblieb, war der größere wieder auf die Wanderschaft gegangen und hatte sich über Deutschland ergossen, ein gewaltsamer Strom, welcher die daselbst vorgefundenen Kelten vernichtend überflutete oder aber aus dem Lande schob, südwärts und westwärts. Dann war der germanische Wanderstrom vorerst zum Stauen und Stehen gekommen und hatten unsere Altvorderen angefangen, in den weiten Landen zwischen der Nord- und Ostsee, der Donau und den Alpen, zwischen Oder, Elbe und Rhein häuslich sich einzurichten. Daß dieses in der Form ackerbaulicher Seßhaftigkeit geschehen sei, muß im Allgemeinen angenommen werden, obzwar es fraglich, daß schon sämmtliche germanische Stämme zur Ackerbaustufe der Civilisation vorgeschritten sein mochten. Unzweifelhaft aber waren sie es zur Zeit, als sie zuerst in die Geschichte der griechisch-römischen Welt einzugreifen begannen und damit ihr geschichtliches Dasein anfingen.
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5. Unter den Friedrichen
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Nach Lothars Ableben begann der staufische Stern mit Glanz emporzusteigen. Auf dem Reichstage zu Koblenz ist 1138 der Herzog Konrad als der erste Staufer zum Könige der Deutschen gekürt worden. Alsbald wurde die Nebenbuhlerschaft des großen Hauses Welf, bei welchem die Herzogthümer Baiern und Sachsen waren, für langehin ein Hauptmotiv der deutschen Geschicke und verpflanzten sich die Parteilosungen: „Hie Waibling!“ „Hie Welf!“ auch über die Alpen nach Italien hinüber („Ghibellinen“ und „Guelfen“). Der Streit war anfänglich allerdings nur ein dynastischer, d. h. ein Kampf zwischen den zwei mächtigsten Magnatenfamilien um die Vormacht in Deutschland. Allein sehr bald erweiterte sich der Sinn der beiden Kampfrufe. „Hie Waibling!“ hieß dann eigentlich: Staatsmacht und Reichseinheit, „Hie Welf!“: Kirchengewalt und Partikularismus. Welcher Ruf der deutschere war, liegt auf der Hand. Die welfische Partei in Deutschland befand sich ja, schon als Bundesgenossin der römischen Erzfeindes in fortwährender Verrätherei an ihrem Vaterlande und war nie lass‘ und träge, auf päpstlichen Wink hin die Bürgerkriegswaffen gegen das Reich zu erheben. Zum Unglück unseres Landes gab die Hauptschwäche der staufischen Politik immer wieder der Welferei freien Spielraum. Diese Hauptschwäche war, daß auch die Staufer den thörichten Heiligen-Römischen-Reichstraum weiterträumten, statt den deutschen Nationalstaat auf- und auszubauen, und daß sie sogar, nachdem des Rothbarts Sohn Heinrich die Normannin Kostanza gefreit und durch diese Heirat das Normannenreich Neapel und Sicilien an sein Haus gebracht hatte, den Schwerpunkt ihrer Macht nach Italien verlegten. Der rastlose Kampf der Kirche wider dem Staat, der päpstlichen Kurie wider die kaiserliche Krone vermochte aus diesen Getheiltsein des Stauferthums zwischen Deutschland und Italien immer neue Streitmittel zu ziehen.
2. Von Wittenberg bis Münster und Osnabrück
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Derweil hatte die Bewegung alle Stände und Klassen im deutschen Reiche ergriffen, sei es, daß sie anziehend oder abstoßend wirkte. Die Frage war, ob sie mächtig genug wäre, auch die widerstrebenden Elemente lawinenartig einzuwickeln und mit sich fortzureißen. Das Ja oder das Nein stand, wie die Sachen lagen, zunächst beim Reichsoberhaupt, beim Kaiser. Selten hatten die Deutschen – wenigstens die Ritterschaft, das Bürgerthum und die Bauerschaft – einen Kaiser mit so frohen Hoffnungen auf dem Throne begrüßt, wie sie den Enkel Maximilians, Karl den Fünften, begrüßten, und selten auch ware die Hoffnungen eines Volkes so arg getäuscht worden wie diesmal. Der Kaiser der Deutschen war und blieb ein Fremdling in Deutschland, Halb Wallone, halb Spanier, hat er wie die deutsche Sprache, welche er nur in der flämischen Mundart nothdürftig radbrechen konnte, so alles Deutsche verachtet. Den Gedanken der Reformation zu fassen, diesen Gedanken geistig und gemüthlich zu begreifen, dazu hatten ihn natürliche Anlagen und spanisch-bigotte Erziehung untauglich gemacht. Ein fanatischer Anhänger der römischen Kirche war er nicht, weil er überhaupt viel zu kaltsinnig, um ein Fanatiker sein zu können. Er stand nicht an, den Papst in Rom belagern und die „Hauptstadt der Christenheit“ nach ihrer Erstürmung allen Gräueln der „Kriegsfurie“ von damals preisgeben zu lassen, wann das seinen Interessen entsprach.Aber er spürte instinktmäßig die im Reformationsprincip liegenden Freiheitskeime und er besann sich, dieselben zu zertreten, soweit er es vermochte, Er war, was man heute einen Realpolitiker nennt, ein Realpolitiker des 16. Jahrhunderts. Was er verstand, glaubte und handhabte, ist demnach jener Inbegriff von diplomatischer Schlauheit, Findigkeit und Skrupellosigkeit gewesen, welche man die „Welsche Praktik“ nannte, weil diese Staatskunst, die von Idealen so wenig als von Völkern wußte oder wissen wollte und rein nur auf die dynastische Selbstsucht berechnet war, an den italischen Höfen ihre bis zur äußersten Ruchlosigkeit gediehene Ausbildung erhalten hatte. Wie hätte ein Politiker dieses Schlages, ein Absolutist in jeder Faser, welcher die Brauchbarkeit des römischen Autoritätsglaubens für sein System gar wohl erkannte und außerdem in dem angehobenen Kampfe zwischen Habsburg und Valois-Bourbon der Allianz des päpstlichen Stuhls gegen franz von Frankreich sich versichern wollte, ein Fürst, welchem Deutschland als solches ganz gleichgiltig war und der nur Sinn hatte für die Größe seines Hauses und die Macht Spaniens, wie hätte er sich der Reformation annehmen können? Es war unmöglich.
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6. Hütte und Haus, Schloß und Palast
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Die Wahrheit ist, daß edlere Sitte und Lebensführung in unserem Lande nicht im ehernen Zeitalter der katholischen und protestantischen Orthodoxie aufkam, sondern erst im Zeitalter des Zweifels und des entschieden angehobenen Kampfes gegen die „Rechtgläubigkeit“. Uebrigens versanken in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Deutschland die Städter in kaum minder großes Elend wie die Landleute. Die dreißigjährige Kriegsfurie nahm auch die Städte grausam mit, so grausam, daß z. B. Augsburg während der Kriegstrübsal nahezu 60.000 seiner Bewohner einbüßte. Die erbarmungslosesten Brandschatzungen und Plünderungen vernichteten den städtischen Wohlstand und damit auch das städtische Wohlleben. Die Gewerbe lagen darrnieder, der Handel stockte, die Künste verkümmerten. Armuth, Drangsal, Noth überall. Erst von 1650 an vermochte das tiefgebeugte deutsche Bürgerthum sich allmählich wieder aufzurichten und seine Arbeiten wieder aufzunehmen. Während des dreißigjährigen Krieges dagegen gehörte es wohl zu den Seltenheiten, wenn ein Mann aus dem Mittelstande eine Hinterlassenschaft hatte wie zu Ende des Jahres 1631 jener Johannes Zisenisen, beider Rechte Doktor, zu Hannover, welcher in Kapitalbriefen die Summe von 5000 Reichsthalern hinterließ, etwa 50 Reichsthaler bar, viele goldene und silberne Kleinode, Schaumünzen, Ringe, Ketten und Becher. „Item an Waffen einen Harnisch, Bruststück, Halskragen und Sturmhaube, einen Doppelhaken, eine Muskete und einen Degen mit versilbertem Griff. Item an Büchern einen Horatius und einen Hesiotus, etzliche Bücher in frantzösischer Sprach, auch etzliche wenige Juristenbücher, ein Konvolut allerhandt Disputationen, ein eingenähtes Buch in Pergament, eine Synopsis juris civilis, ein klein Buch in italienischer Sprach, das Hirten Ambt Christi und etzliche Leich-Predigten.“ Achtundsechzig Jahre später wies der Nachlaß des Stadtsekretärs Daniel Mäder zu Hannover doch schon eine verhältnismäßig stattliche Bibliothek von mehr als 300 Bänden auf. Darunter waren die griechischen und römischen Klassiker ziemlich vollständig, dann Grammatiken und Wörterbücher der neuen Sprache, auch die juristischen, philosophischen und schönwissenschaftlichen Werke der Zeit…
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5. Idealismus und Materialismus
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Das Jahr 1850 markirt ziemlich scharf den Übergang vom Idealismus zum Materialismus. Das Jahr 1848, welches unserem Volke die Verwirklichung seiner Ideale von Freiheit und Freiheit hätte bringen sollen, hatte nur grausame Enttäuschungen gebracht. Der Liberatusmis, der Hauptträger patriotischer Hoffnungen und Wünsche, hatte sich ebenso unfähig als muthlos erwiesen. Die Demokratie ihrerseits hatte es auch nur zu unzulänglichen Versuchen gebracht, welche der siegreiche Absolutismus mit blutiger Härte niedertrat und ahndete. Mit stumpfer Ergebung stand das Volk an den Gräbern seiner Märtyrer in der Brigittenau, in Mannheim, Rastatt und Freiburg. Wer von denen, welche treu zur Sache gestanden, nicht dafür gefallen war, verkümmerte im Kerker oder irrte im Exil umher. Der Liberalismus beugte sich der Gewalt oder er lernte, wie er selbst das ausdrückte, mit Thatsachen rechnen und das Facit dieser Rechnung war, daß die Summe staatsmännischer Weisheit, die richtige, die alleinseeligmachende „Realpolitik“ enthalten wäre in den zwei inhaltschweren Worten „opportun“ und „inopportun“. Davon lebte er fortan.
Erscheinungen, wie sie Zeiten der Enttäuschung, der Erschlaffung und Niedertracht eigen, traten ein. Die Rückwärtserei wurde Trumpf. Die Regierungen rächten sich für die Angst, welche die freiheitlichen Theorieen ihnen eingeflößt hatten, dadurch, daß sie der verdummend-dunkelmännischen Praxis freie Bahn gaben. Deutschland wurde das Lieblingsarbeitsfeld der Jesuiten. Klöster schossen in katholischen Gegenden auf wie Pilze und erhoben sich sogar in protestantischen. Die von Jahr zu Jahr sich steigernden Anmaßungen des römischen Stuhles wurden vonseiten der Höfe, insbesondere auch vonseiten des preußischen, mit größter Devotion anerkannt und ermuntert. Dieselbe Aufmunterung ward ebenso auch der protestantischen Orthodoxie und Hierarchie zutheil. Neben der „Kirchlichkeit“ aber wurde „Pflege der materiellen Interessen“ die Losung. Nach beiden Richtungen hin, d. h. in der Bemühung für die Wiederherbeiführung pfäffischer Finsternis und in der Hinlenkung der Gemüther auf materiellen Erwerb und Genuß, äfften die deutschen Regierungen ihr gepriesenes Vorbild nach, Napoleon den Dritten, den Ruchlosen Verbrecher vom Dezember 1851. Die Folgen kamen. Die Ideale wurden zum Spottlachen und mit breitspuriger Unverschämtheit stellte sich der Geldsack an ihren Platz. Zügellos ras’te die wilde Jagd nach dem „Glück“ einher, d. h. nach dem Geld, denn ein anderes Glück, als welches mit Geld zu erkaufen wäre, wollten die Leute bald nicht mehr kennen. Alles Geschäft wurde mehr oder weniger zum Glücksspiel. Von der Börse gingen die Orakel dieser entgötterten Zeit aus, welche des Ehrgefühls und Rechtsbewußseins ganz verlustig gehen zu wollen schien. Der Eisenbahnbau, an und für sich eine der glorreichsten Errungenschaften dieses Jahrhunderts, wandelte sich in eine Schwindelei von riesenhafter Schädlichkeit. Die Kapitalwirthschaft wandelte sich in der Form des Aktienwesens zum organisierten Diebstahl: Gauner raubten mit dem Gesetze in der Hand am hellen Tage die Gimpel aus. Der übersteigerte und überstürzte, fieberhaft hastende und raffende Industrialismus entzog dem Landbau die Arbeitskräfte, züchtete in den wassersüchtig anschwellenden Städten ein massenhaftes Proletariat und richtete in gedankenloser Selbstsucht den Boden her, welcher die Wahnsaat des Kommunismus aufnehmen, keimen und in die Halme schießen machen konnte. Die auch in Deutschland zur Geltung gekommenen Lehren der englischen Manchesterei haben keineswegs ein goldenes, sondern nur ein papierenes Zeitalter heraufgeführt und der überschwänglich gepriesenen „Gewerbefreiheit“ verdanken wir es, daß das vordem auch in der Fremde so hochangesehen deutsche Handwerk so vielfach zum Pfuschwerk geworden ist. Die moralischen Verheerungen, welche der Materialismus angerichtet hat, sind furchtbar. Betrug und Fälschung brüsten sich schamlos im Sonnenlicht. Die sittliche Laxheit hat auch die Rechtspflege angefressen und zu den Empfindeleien modischer Juristen steht die zunehmende Massenhaftigkeit und Brutalität der Verbrechen in einem schreienden Gegensatz. Die traurigsten Wirkungen der materialistischen Anschauung und Doktrin machen sich in der Frauenwelt bemerkbar. Putzwuth und Vergnügungssucht haben die Preigebung von Frauen und Mädchen auch in solchen Kreisen, wo früher kein Gedanke an eine solche Schmach hätte aufkommen können, zu einer häufigen Gepflogenheit gemacht und die massenhafte Zunahme des Kindermordes bestätigt die alte Wahrheit, daß von der Ausschweifung bis zum Verbrechen nicht weit ist. Es läßt sich auch nicht bestreiten, die vielgerühmte Leistungen der modernen Volkserziehung verringern sich bei näherem Zusehen beträchtlich. Was die Massen etwa auf der einen Seite an Wissen oder Halbwissen gewonnen, das haben sie auf der andern an gesundem Menschenverstand und Mutterwitz, an Pflichtbewußtsein, Arbeitslust, Zuverlässigkeit und Genügsamkeit eingebüßt.
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