Die Wehklage zu Hildburghausen
In einer Nacht rief der Wächter von Hildburghausen die Mitternachtsstunde ab. Dann schritt er die Häuserzeile hinauf, die beim Rathaus auf die Marktgasse führt. Plötzlich hörte der Mann hinter sich ein klägliches Wimmern. Auch schlurften Schritte hinter ihm her. Da blieb er an der Ecke stehen und leuchtete hinter sich. Mit Grauen erblickte er ein uraltes, völlig in sich zusammengedrücktes Weiblein mit einem spinnwebfarbigen Gesicht. Die in graue Laken gehüllte kleine Gestalt barmte noch einmal herzzerbrechend auf, dann zerfloß sie vor den Augen des Wächters wie ein milchiger Nebel. Der Nachtwächter dachte sich wohl, dies könnte kein gutes Zeichen sein. So behielt er die Sache für sich.
In der folgenden Nacht, als der Wächter dieselbe Straße entlang ging und an die Stelle kam, an der er zuerst das Gewimmer vernommen hatte, sah er aus einem Haus schwarze Rauchwolken heftig in die Höhe steigen. Gleich darauf schlug eine helle Flammenlohe aus dem Dach. Rasch wuchs die Glut. Obwohl der Nachtwächter sogleich Feuer rief und blies, währte es aber recht lange, bis Hilfe kam. Lagen doch die Menschen gerade im ersten Schlaf und brauchte einige Zeit, bis sie zur Besinnung kamen. Unterdessen griff das Feuer immer mehr um sich und erfaßte bald die ganze Häuserzeile. Allein an der Ecke, an der die nächtliche Wehklage verschwunden war, verharrte das Feuer wie gebannt und fraß sich nicht mehr weiter.
Dieses Gespenst der Wehklage kannte man auch in anderen Städten Thüringens, so in Weimar, wo ebenfalls ein gruseliges Klageweib wimmernd und sich jammervoll gebährend durch die Straßen zog. Es war immer ein Anzeichen dafür, daß ein Feuer ausbrechen wird oder der Stadt anderes Unheil droht.
(aus: Der pfiffige Bauer
und andere Volkssagen um Stände und Berufe aus dem Thüringischen
Verlag die Wirtschaft Berlin 1988 2. Auflage)