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SPRUCH DES JAHRES

Die Zensur ist das lebendige Geständnis der Großen, daß sie nur verdummte Sklaven treten, aber keine freien Völker regieren können.

Johann Nepomuk Nestroy

SPRUCH DER WOCHE

Duldet ein Volk die Untreue von Richtern und Ärzten, so ist es dekadent und steht vor der Auflösung.

 

Plato

 

LUSTIGES

Quelle: Aus dem umgestülpten Papierkorb der Weltpresse (1977)

Rubrik: Das süße Leben

Dallas, Texas - Vor einem Gericht gab Jack Stinney an, er habe seine Frau nur des Spaßes wegen verprügelt. Auf die erstaunte Frage des Staatsanwaltes ergänzte Stinney dann seine Aussage: "Allerdings verprügelte ich meine Frau nur wegen des Spaßes, den sie mit drei anderen Männern gehabt hatte."

Die Lehmänner
Die Lehmänner

Der vierte Mann

Sven Elvestad

 

15-28

 

Die Aktiengesellschaft

 

»Zum Donnerwetter, wo bleiben Sie denn so lange? Wir warten. Der Tisch ist gerichtet.«

So sprach mit gereizter Stimme Oedegaard, der lang, dünn und ungeduldig vor ihnen stand, als Reismann die Doppeltür zu dem großen Zimmer geöffnet hatte. Neben ihm stand ein Spieltisch mit Karten und Spielmarken. Doch war es nicht dieser Spieltisch, der beim ersten Blick Krags Interesse weckte, sondern eine gewaltige Leinwand, die an der einen Wand ausgespannt war und von der Decke zur Erde reichte. Was diese Leinwand vorstellte, war nicht leicht zu sehen, jedenfalls aber war eine Menge Farbe darauf verschwendet. Wenn man das Bild eine Weile aufmerksam betrachtet und förmlich die Augen hineingebohrt hatte, glückte es einem, schließlich eine Gestalt zu unterscheiden, offenbar eine seltsam grüngemalte Dame, die im Begriff war, einen Vorhang beiseitezuziehen. Ueber dem Kopf der Dame stand mit großen roten Buchstaben:

 

Das Geheimnis wird enthüllt!

 

und unter ihren Füßen war die wenig idyllische Auskunft gemalt, daß das Entree zwanzig Kronen kostete. Die Tatsache, daß Karl-Erich von Brakel, in Malerkittel, mit Pinsel und Palette in der Hand, vor der Leinwand stand, ließ es außer allem Zweifel, wer der Schöpfer dieses Meisterwerkes sei.

Einige Augenblicke herrschte allgemeines Schweigen. Beide Parteien waren erstaunt und verwirrt. Krag war nicht auf dieses Idyll vorbereitet, obgleich er die Nähe des Spieltisches wohl geahnt hatte, und die beiden Künstler hatten alles andere als Krags Person erwartet.

»Wo ist Jos?« fragte Oedegaard.

»Er ist nicht gekommen,« sagte Reismann, »dank eurer verfluchten Sensationslust. Statt dessen haben wir von diesem Herrn Besuch bekommen.«

Von Brakel legte Palette und Pinsel aus der Hand und fragte:

»Spielen Sie Karten, mein Herr?«

Der lange Oedegaard starrte Krag noch eine Weile unbeweglich an. Sein Gesicht verzog sich zu einer seltsamen Grimasse. Dann setzte er sich auf einen Stuhl, beugte sich vor und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Aber Oedegaard,« sagte Reismann, »wer wird denn seinen Verdruß so unverhüllt zu erkennen geben?«

Oedegaards Schultern zuckten, als ob sein ganzer Körper von heftigem Schluchzen geschüttelt würde, und ein eigentümlicher Laut drang durch seine Finger.

Reismann faßte ihn bei der Schulter und rüttelte ihn. Als er die Hände vom Gesicht nahm, sah man, daß er fast vor Lachen erstickte.

»Zum Donnerwetter, was ist denn hier so komisch?« fragte der Maler. »Spielen Sie Karten, frage ich?«

Inzwischen begrüßte Oedegaard seinen alten Freund Krag, obgleich, wie er sich ausdrückte, »es ihn nicht unbedingt freute, ihn hier zu sehen«.

»Aber wie in aller Welt hast du uns gefunden?« fragte er und betrachtete den Detektiv halb bewundernd, halb neugierig.

»Nichts leichter als das,« erklärte Krag. »Ich legte Beschlag auf den Brief, der an Jos gerichtet war, und dieser Brief hat mich hierhergeführt. Aber ich will gestehen, daß ich keine Ahnung von dem Bestimmungsort hatte, bevor ich hier war. Ich fuhr und fuhr nur. Indessen freut es mich, die Herren so wohl und munter anzutreffen.«

Und zum Maler gewandt, fügte er hinzu:

»Ja, ich spiele Karten. Vorher aber wüßte ich gern, was dieses Bild vorstellt. Es ist wahrhaftig sehr originell. Modern, nicht wahr? Die Aufschrift läßt vermuten, daß das Bild mit den Ereignissen, die die Hauptstadt in der letzten Zeit in Aufregung versetzt haben, zusammenhängt.«

»Ja, nicht wahr?« rief Oedegaard froh und eifrig. »Alle Welt redet von uns. Es wird ein Riesengeschäft werden.«

»Geschäft!« Krag legte starken Nachdruck auf dieses Wort. »Also um ein Geschäft handelt es sich? Ist das recht und billig gegen ein gutgläubiges Publikum gehandelt? Auch glaube ich kaum, daß es auf die Dauer ein gutes Geschäft sein wird.«

»Wir wollen nicht an diesem Geschäft verdienen,« versicherten Oedegaard und Reismann gleichzeitig. »Wir haben uns nur im Dienste einer großen Idee geopfert.«

»Eine wunderbare, eine einzig dastehende Idee!« bemerkte der Maler stolz.

Asbjörn Krag stellte sich vor das Bild.

»Wenn ich das Gemälde näher betrachte,« sagte er, »so wird es mir klar, daß die junge Dame dort den Schleier von dem Geheimnis lüftet. Lassen Sie nun auch mich an der Enthüllung teilnehmen.«

»Eigentlich ist es kein Bild, sondern ein Plakat,« bemerkte von Brakel.

Oedegaard fiel ein:

»Wir wollen Krag lieber alles ausführlich erklären,« sagte er. »Ich bin überzeugt, daß er unser Vorhaben billigt, wenn er es im Zusammenhang erfährt. Um so mehr als ganz Christiania es ja morgen früh erfahren soll. Er muß nur unverbrüchliches Schweigen geloben.«

»Ich habe sein Ehrenwort verlangt, aber er wollte es nicht geben.«

»Nachdem ich dieses Plakat gesehen habe, gebe ich es mit Vergnügen,« antwortete Krag.

Oedegaard nahm die Karten und schob die Spielmarken vom Tisch.

»Das Komitee hat Sitzung!« sagte er. »Ich schlage vor, daß wir Herrn Asbjörn Krag als beigeordnetes Mitglied aufnehmen. Herr Wortführer, nehmen Sie Ihren Platz ein.«

Reismann setzte sich auf den angewiesenen Platz und legte einen Haufen Dokumente vor sich auf den Tisch. Auch die anderen Herren nahmen am Tische Platz. Nur Karl-Erich von Brakel sah unzufrieden aus.

»Kartenspielen ist mir lieber,« sagte er. »Diese Komiteesitzungen sind immer so furchtbar langweilig!«

Reismann beschwichtigte ihn.

»Lieber Karl-Erich, die Sitzung kann interessant genug werden, Herr Asbjörn Krag führt auch ein kleines Geheimnis mit sich, das er zu enthüllen versprach. Und dieses Geheimnis betrifft dich, Karl-Erich.«

»Mich?« fragte Karl-Erich erstaunt.

»Ja, Krag hat entdeckt, daß du deine Wäscherechnung zerrissen hast.«

»Meine Wäscherechnung! Sehr möglich.«

»Warum hast du das getan?«

Von Brakel schüttelte den Kopf.

»Was weiß ich.«

»Sehr richtig,« fiel Krag lachend ein, »ich hatte auch angenommen, daß Sie sie zerrissen haben, ohne es zu wissen. Es war in der Nacht, als Sie verschwanden. Ihr Zimmer sah aus, als ob ein entflohener russischer revolutionärer Student darin gewohnt hätte. An den Papierfetzen aber, die herumlagen, konnte ich sehen, daß Sie nur ganz unwichtiges Zeug zerrissen hatten, dazwischen, wie gesagt, die Wäscherechnung. Sie wünschten Ihrer Flucht ein gewisses mystisches Relief zu geben, das Ganze sollte einen lebensgefährlichen Eindruck machen. Aber es war schlecht inszeniert. Von dem Augenblick an, wo ich dies begriffen hatte, konnte ich den Standpunkt Ihrer Freunde, daß die Herren in Gefahr seien, nicht mehr teilen.«

Von Brakel warf Krag einen Seitenblick zu, gähnte und sagte:

»Ich sage ja, Komiteesitzungen sind furchtbar langweilig.«

»Abermals die verfluchte Sensationslust der Herren Künstler!« murmelte Reismann, »damit hättet ihr uns große Unannehmlichkeiten auf den Hals schaffen können. Ich danke Gott, daß wir so weit gekommen sind.«

Er blätterte in seinen Papieren.

»Also, meine Herren, um mit dem Anfang zu beginnen, welches Datum haben wir heute?«

»Den 6. Dezember,« antworteten Krag und Oedegaard. Von Brakel wußte es nicht und schwieg darum.

»Gut! Als Vorsitzender eröffne ich hiermit die Sitzung der Aktiengesellschaft der 7. Dezember. Finden Sie nicht, daß es ein seltsamer Name ist, Herr Krag?«

»Ich wundere mich über nichts mehr. Wie groß ist das Aktienkapital?«

»Das ist noch nicht festgesetzt.«

»Das wäre! Wieviel Aktionäre hat die Gesellschaft?«

»Wir haben ausgerechnet,« antwortete Reismann ernsthaft, indem er in seinen Papieren nachsah, »daß die Aktiengesellschaft der 7. Dezember ungefähr fünftausend unglückliche Aktionäre hat.«

»Unglückliche?« fragte der Detektiv.

»Ja,« antwortete Reismann, »alle Aktionäre der Gesellschaft sind sehr unglücklich.«

»Die Mitglieder der Direktion aber scheinen nichtsdestoweniger bei bester Laune zu sein.«

»Sehr richtig,« antwortete Reismann und sah den Detektiv über seinen Kneifer hinweg fest an, »es ist die Pflicht der Direktion glücklich zu sein.«

Krag dachte bei sich: »Sind denn alle diese Leute verrückt?«

 

Die Direktionssitzung

 

Krag blickte sich im Zimmer um und fand seine Vermutung nicht unberechtigt.

Sogar Direktor Reismanns sonst so gleichgewichtige Persönlichkeit hatte etwas Nervöses und Gejagtes. Er wühlte in dem Dokumentenhaufen, der vor ihm lag, als suchte er nach einem Papier, das er nicht finden konnte.

Der lange Oedegaard starrte mit großen matten Augen in einem grauen, müden Gesicht vor sich hin. Von Brakel sah man an, daß er längere Zeit von seinen Toilettensachen getrennt gewesen war. Seine sonst so tadellose Gestalt hatte einen Anflug jener Eleganz, die stark nach Erneuerung verlangt. Außer der lächerlich großen Leinwand, die die ganze eine Wand einnahm, sah man noch andere Malereien und Zeichnungen rings im Zimmer, einige waren an die Wände gestiftet, andere lehnten gegen Spiegel und Stühle. Alle hatten jenen seltsamen Charakter, der bei einer feierlichen Ausstellung zu sinnreichen Analysen herausfordert, in dieser Umgebung aber das Sinnverwirrende noch erhöhte. Zwischen Malgerätschaften und halb ausgedruckten Farbentuben, deren Inhalt über Stuhlsitze und Tischdecken geschmiert war, standen oder lagen Gläser verschiedenartigsten Formats, Whisky- und Champagnerflaschen. Auf dem Fußboden stand ein leerer Champagnerkorb, und Strohhüllen, Zigarren- und Zigarettenstummel, Kragen und kassierte Kartenspiele lagen überall herum. Mittendrin aber saß, um den grünen Spieltisch vereint, die glückliche Direktion der fünftausend unglücklichen Aktionäre der »Aktiengesellschaft der 7. Dezember«! Krag konnte sich mit Recht die Frage stellen: »Bin ich in eine Gesellschaft von Verrückten geraten?«

»Ist es den Herren hier draußen nicht langweilig geworden?« fragte er.

»Ja, wir haben uns etwas geödet,« antwortete Oedegaard, »der vierte Mann hat uns gefehlt. Bevor ich kam, war es aber noch schlimmer,« fügte er selbstbewußt hinzu.

Jetzt ergriff der Vorsitzende das Wort.

»Meine Herren,« sagte er, »die Sitzung ist eröffnet, und Unterbrechungen sind nicht am Platz. Gestatten Sie mir, daß ich, der einstimmig gewählte Vorsitzende, vortrage, was die ›Aktiengesellschaft der 7. Dezember‹ bisher ausgerichtet hat.«

Alle gaben durch Nicken ihren Beifall zu erkennen, worauf der Direktor Reismann fortfuhr:

»Die Aktiengesellschaft wurde eines Abends vor ungefähr vierzehn Tagen im Grand Hotel gegründet.«

»War es sehr spät am Abend?« fragte Krag.

»Da das neue Direktionsmitglied extra Aufschlüsse verlangt,« antwortete der Vorsitzende, »sei es mir gestattet, ihn darüber aufzuklären, daß der Beschluß morgens um vier Uhr gefaßt wurde. Sollte die Frage des geehrten Interpellanten eine schlecht verhehlte Beleidigung enthalten, so weise ich sie hier aufs entschiedenste zurück. Ich glaube, daß die Idee der Gründung ursprünglich von Oedegaard herrührte. Sie ehrt seine Phantasie und sein Mitgefühl, das er stets für unglücklich gestellte Aktionäre gehabt hat. Der Vorschlag wurde einer Versammlung vorgelegt, die, außer aus mir und Herrn Oedegaard, aus Herrn von Brakel und unserm lieben Jos bestand, der leider augenblicklich nicht gegenwärtig ist. Daß keine anderen bei jener Gelegenheit zugegen waren, hat seinen Grund ausschließlich darin, daß wir in jener Nacht zu einem äußerst angenehmen Bridge mit hohem Einsatz versammelt waren.«

Hier sah der Vorsitzende auf seine Uhr, als ob es von größter Wichtigkeit sei, daß er keine Sekunde an gleichgültige Dinge verschwende.

»Warum siehst du denn beständig nach der Uhr?« fragte Oedegaard.

»Weil ich aufpassen muß, daß wir nicht zu spät bei den Zeitungen ankommen. Ich habe mir bei allen Zeitungen für heute nacht Platz offenhalten lassen, sowohl im redaktionellen wie im Inseratenteil.«

»Das hast du getan?« rief Oedegaard erschrocken. »Dann wissen ja alle Zeitungen, daß wir in Sicherheit sind, und die ganze Sache ist ins Wasser gefallen.«

»Rege dich nicht auf, lieber Freund,« antwortete Reismann. »Du vergißt meine Verbindung in Christiania. Durch diese ist alles besorgt worden. Die Zeitungen ahnen nichts.«

»Ach so, du meinst Billington,« sagte Oedegaard beruhigt. »Fahre fort, lieber Freund.«

»Billington,« dachte Krag bei sich. »Das ist Jos' Geschäftsführer. Er war also eingeweiht.«

Ohne sich anmerken zu lassen, daß der Name ihm aufgefallen war, ließ er Reismann in seinem Bericht fortfahren. Reismann sprach in einem ernsten, geschäftsmäßigen Ton, als ob er vor einer tausendköpfigen Versammlung spräche. Hin und wieder ließ er seinen Blick über den Raum schweifen, als ob er sich die Aufmerksamkeit und den Beifall der Menge sichern wollte. Die verzerrten Formen auf von Brakels Gemälden störten ihn nicht.

»Wie Sie sich erinnern werden, meine Herren,« fuhr Reismann fort, »unterbreitete ich Ihnen bei jener Gelegenheit meinen Plan, eine Weihnachtsvorstellung für die Notleidenden zu arrangieren. Diese Vorstellung sollte in meinem Tanzlokal stattfinden, das zweitausend Personen faßt, und ich äußerte die Besorgnis, daß das Unternehmen wegen der zunehmenden Gleichgültigkeit des Publikums gegen Wohltätigkeitsveranstaltungen nicht genügend Beteiligung finden würde. Da machte mein vortrefflicher Freund Oedegaard den Vorschlag, die ›Aktiengesellschaft der 7. Dezember‹ zu gründen. Wie Ihnen bereits aus den Zeitungen bekannt ist, meine Herren, ist der 7. Dezember der Tag, an dem die Vorstellung vom Stapel gehen sollte, und das soll sie auch, obgleich die Zeitungen pessimistisch voraussagen, daß das Fest wegen des unerwarteten und unerklärlichen Verschwindens des Hauptunternehmers nicht stattfinden wird.«

Obgleich Reismann die ganze Zeit wie zu einem großen Publikum sprach, war es Krag dennoch klar, daß die Ausführungen nur ihm galten. Oedegaard hörte müde, und von Brakel unendlich traurig zu.

»Da war es, daß mein Freund Oedegaard auf den Gedanken kam, daß wir des guten Zweckes wegen eine riesige Sensation machen wollten. Eine Sensation, von der Christiania tagelang sprechen und die schließlich mit der Vorstellung am 7. Dezember kulminieren sollte. Leider ist das Publikum bereits mit Sensationen so überfüttert, daß wir uns etwas ganz Besonderes ausdenken mußten. Wir einigten uns, daß wir eine Aktiengesellschaft bilden wollten, das heißt, wir vier wollten die Direktion sein, und die Aktionäre sollten aus den fünftausend Notleidenden bestehen, die unsere Hilfe nötig haben. Mit anderen Worten, meine Herren, die Aktionäre haben keine anderen Verpflichtungen, als die Einnahmen der Aktiengesellschaft entgegenzunehmen. Nun ist ja bei Wohltätigkeitsveranstaltungen gang und gäbe, daß man bekannte Künstler gewinnt, die das Publikum locken sollen. In letzter Zeit aber sind die Leute so blasiert geworden, daß es uns von vornherein klar war, daß die Mitwirkung von Kabarettisten, Filmstars, Sängerinnen und rezitierenden Poeten nicht genügen würde, sondern daß wir etwas ganz Besonderes bringen mußten, wollten wir einen Erfolg erzielen, der meinem Namen und meinem Etablissement ansteht. Damit das Geheimnis nicht bekannt wurde, einigten wir uns, daß nur wir vier und ein Vertrauensmann davon wissen sollten. Dieser Vertrauensmann ist Jos' Geschäftsführer Billington. Meine Herren, bisher hatten wir allen Grund, mit unserem Unternehmen zufrieden zu sein. Auf äußerst mystische Weise haben wir uns entführen lassen, einer nach dem anderen, und haben uns hier versammelt, um in Ruhe, doch unter Wahrung gewisser gesellschaftlicher Formen« – er wies auf die geleerten Flaschen und den Champagnerkorb – »über die Strategie des Feldzuges zu beraten. Jetzt ist alles fertig: Plakate, Zeitungsnotizen, Anzeigen, Reklame. Ich brauche Ihnen nur diese kleine Notiz vorzulegen, die morgen in allen Zeitungen stehen soll, um Ihnen die besondere Form unserer Sensation zu erklären.«

Damit schob Reismann ein Stück Papier zu Krag hinüber und lehnte sich befriedigt in den Stuhl zurück.

»Lesen Sie vor!«

Krag las:

 

» Das Schicksal der Verschwundenen.
Das Rätsel, das seit mehreren Tagen allgemeines Gesprächsthema war, hat, wie wir erfahren, gestern eine glückliche Lösung gefunden. Smart wie immer, will Direktor Reismann das Ereignis benutzen, um ein großes Publikum zu der Wohltätigkeitsvorstellung heranzuziehen, die heute abend in seinem Vergnügungsetablissement ›Die blaue Eule‹ stattfindet. Die verschwundenen Herren, die ein Abenteuer, das in unserer friedlichen Stadt einzig dastehend ist, glücklich überstanden haben, wollen dem Publikum heute abend davon berichten, anstatt es der Allgemeinheit durch die Zeitungen bekanntzugeben. Wir müssen uns also bis heute abend gedulden und verweisen im übrigen auf das Inserat.«

 

Kaum hatte Krag zu Ende gelesen, als Oedegaard auf den Tisch schlug und ausrief:

»Da kommt Jos!«

Alle horchten auf.

Draußen arbeitete sich ein Auto durch den Schnee. Gleich darauf erklangen schnelle und polternde Schritte auf der Treppe, und die Tür wurde aufgerissen.

Es war nicht Jos. Es war ein Herr, den Krag nicht kannte.

»Billington, Sie?« sagte Reismann erstaunt. »Was soll das bedeuten?«

Billington blieb in der Tür stehen, von Schnee triefend, eifrig und nervös.

»Ist Jos hier?« fragte er.

»Nein.«

»Er muß hier sein,« sagte Billington.

»Er ist nicht hier und ist auch nicht hier gewesen.«

»Dann ist ein Unglück geschehen.«

»Pfui, wie blaß der Mensch aussieht!« sagte von Brakel.

Krag dachte bei sich: »Keiner der würdigen Herren hat bisher mit dem neuen Glied in der Kette: dem Brief, der um drei Uhr kam, gerechnet. Also ist doch noch zum Schluß aus dem Spiel Ernst geworden.«

 

Jonassen

 

Billingtons Worte wurden mit unheimlichem Schweigen aufgenommen. Reismann erhob sich.

»Erklären Sie sich näher,« sagte er. »Was sollte unserem lieben Freund zugestoßen sein?«

Herr Billington blickte sich im Zimmer um und konnte sein Mißfallen über die seltsame Umgebung kaum unterdrücken. Als sein Blick auf von Brakels Plakat fiel, murmelte er:

»Oh, diese ewigen Narrenstreiche!«

Von Brakel stand auch auf und sagte:

»Sie meinen, mein Herr?«

Die zierliche Gestalt des Malers drückte formvollendete, aber kalte Höflichkeit aus, die ganz drohend wirkte. Billington sah ein, daß seine schlechte Laune ihn zu weit geführt hatte.

»Verzeihen Sie,« sagte er, »ich bin so nervös. Den ganzen Nachmittag bin ich im Auto herumgefahren.«

Er griff nach einer Flasche und einem Glas.

»Ist das Kognak?« fragte er. Und ohne die Antwort abzuwarten, goß er das Glas bis an den Rand voll und leerte es in einem Zuge.

»Das hat geholfen,« sagte er, »ich bin schon viel ruhiger geworden.«

Er wandte sich jetzt mit freundlicherer Miene zu den anderen.

»Ich bin in Sorge um Jos,« sagte er. »Seit ich ihn um drei Uhr sprach, hat er nichts wieder von sich hören lassen. Ich dachte natürlich, daß er hier draußen säße und Reklamen und Anzeigen verfaßte; anstatt seine wichtigen Geschäfte zu erledigen.«

Herr von Brakel fühlte sich wieder verletzt und bemerkte:

»Sind Sie nicht von Jos angestellt? Mich dünkt, Sie äußern sich ziemlich ungeniert über Ihren Chef?«

Direktor Reismann besänftigte den Maler.

»Ruhe!« ermahnte er. »Du kennst die Verhältnisse nicht, Karl-Erich. Herr Billington ist eher Jos' Kompagnon als sein Untergebener. Soweit ich weiß, hat Jos augenblicklich mehrere große Geschäfte im Gange, und Herrn Billingtons Nervosität ist verständlich.«

Reismann stellte Asbjörn Krag vor und sagte:

»Seltsam genug hat auch Herr Krag von einem Brief gesprochen, den wir Jos um drei Uhr geschickt haben sollen. Ich wiederhole, was ich bereits Herrn Krag gesagt habe: Diesen Brief haben wir nicht gesandt. Sofern nicht einer von euch –«

Er wandte sich fragend an von Brakel und Oedegaard, beide aber schüttelten energisch den Kopf.

»Sie werden also begreifen, lieber Billington, daß dieser Brief uns ein völliges Rätsel ist. Vielleicht hat Jos ihn als Vorwand gebraucht, um irgendwoanders hinzufahren?«

»Wie die Sache jetzt aber liegt, meine Herren,« fuhr er nach einer kurzen Pause fort, »möchte ich Ihnen die Mitteilung machen, daß die Aktiengesellschaft der 7. Dezember in genauer Uebereinstimmung mit ihrem Programm heute abend ihre Vorbereitungen beendet hat. Bereits morgen früh werden die Zeitungen die ersten Mitteilungen bringen – ich halte gerade diese Notiz in der Hand – und morgen abend wird halb Christiania zur ›Blauen Eule‹ strömen, um das Geheimnis zu erfahren. Oedegaard hat ein Protokoll verfaßt, das von unserem Schicksal Rechenschaft ablegt, vom ersten Verschwinden bis jetzt. Es bringt eine Menge feierlicher Paragraphen, und ich darf wohl behaupten, daß noch nie in Christiania ein so witziger Vortrag gehalten wurde. Mit der Sensation im Rücken ist uns ein großartiger Erfolg gewiß. Sie werden zugeben, meine Herren, wenn der vornehmste Varieté-Direktor der Stadt – das bin ich, meine Herren – der eleganteste und witzigste Causeur – das ist der Herr dort mit den großen Augen – und der allermodernste Maler – das ist der zierliche Herr dort, der die ganze Zeit gähnt – von dem tüchtigsten Geschäftsmann der Stadt unterstützt, eine Wohltätigkeitsvorstellung arrangieren, dann kann man auf das Großartigste gefaßt sein.«

»Auf wieviel rechnen Sie netto?« fragte Billington trocken und geschäftsmäßig.

»Auf dreißigtausend Kronen,« antwortete Reismann schnell.

»Eine ganz hübsche Summe,« gab Billington zu, »dreißigtausend aber hätte Jos ohne weiteres stiften können. Neulich abend hat er diesen Betrag im Poker gewonnen.«

Direktor Reismann schlug ärgerlich mit seinen Papieren auf den Tisch.

»Natürlich!« rief er. »Was ist ein Scheck auf dreißigtausend Kronen heutzutage! Aber es kommt hier nicht allein aufs Geld an. Die Leute sollen begreifen, daß wir einen persönlichen Einsatz gegeben haben, um den Notleidenden zu helfen. Das ist mehr wert, als einen Scheck auf den Tisch zu werfen, denn es stimuliert andere, sich auch ins Zeug zu werfen.«

»Für Jos' Ansehen als Geschäftsmann aber wäre es besser gewesen, er hätte sich nicht an dieser Zirkusnummer beteiligt.«

»Ach was, wenn das Ansehen eines Geschäftsmannes solchen Einsatz in einer schwierigen Zeit nicht vertragen kann, dann ist es nicht viel wert,« sagte Reismann entschieden und abschließend.

Er sprach ernst und mit Ueberzeugung.

»Im übrigen«, fügte er hinzu, »sind wir ja darauf eingegangen, daß Jos sich morgen nicht auf der Bühne zu zeigen braucht.«

»Das hätte er auch gar nicht gekonnt,« sagte Billington trocken, »denn am 8. Dezember morgens früh muß Jos in Kopenhagen sein.«

Reismann stutzte.

»Es handelt sich um ein Millionengeschäft,« fuhr Billington fort.

Jetzt griff Asbjörn Krag ein.

»Abgesehen von dem geheimnisvollen Brief um drei Uhr,« sagte er, »finde ich es merkwürdig, daß Sie ihm um sieben Uhr einen Brief schickten, wenn er gar nicht an der Sache beteiligt sein soll.«

»Du vergißt den Inhalt des Briefes,« fiel Oedegaard ein. »Wir brauchten einen vierten Mann zum Bridge.«

»Und außerdem«, sagte Reismann, »hatte Jos versprochen, daß er beim Abschluß des Protokolls dabei sein wollte. Er müsse doch des Wegs, sagte er. Und jetzt verstehe ich, was er meinte, denn dies ist ja der Weg nach Kopenhagen. Wollte er im Auto nach Kopenhagen fahren?«

»Das weiß ich nicht,« antwortete Billington.

»Ist er vielleicht schon abgereist?« fragte Krag.

»Unmöglich,« sagte Billington. »Seine Brieftasche, die er notwendig braucht, liegt im Bureau.«

Billington stand auf und schritt ungeduldig durchs Zimmer. Hin und wieder warf er einen Blick auf von Brakels Gemälde, und es sah aus, als ob er sich nur mit Mühe und Not beherrschte, um ihnen nicht einen Fußtritt zu versetzen.

»Wenn er nur ein einziges Lebenszeichen von sich gegeben hätte,« murmelte er. »Wir haben so verflucht wenig Zeit, und da liegen Briefe, die unterschrieben, und eine ganze Menge Sachen, die besprochen und entschieden werden müssen.«

Im selben Augenblick entdeckte er einen Telephonapparat auf dem Fensterbrett und rief sofort im Bureau an.

»Fräulein Erko?« fragte er. »Nichts Neues? Nichts. Ja, wir müssen warten. In einer halben Stunde bin ich wieder da.«

Mißmutig legte er den Hörer nieder.

»Kein Wort von Jos!« sagte er. »Ich begreife es nicht. Wenn ich nur wüßte, woher der verdammte Brief um drei Uhr gekommen ist! Jos selbst glaubte, daß er von hier sei.«

»Hat er mit Ihnen von dem Brief gesprochen?« fragte Krag.

»Ja. Ich sprach ihn auf der Treppe, als er aus seinem Kontor kam. Er hatte den Brief so früh nicht erwartet. ›Ich fahre nun auf alle Fälle hinaus,‹ sagte er, ›dann ist es gemacht und ich habe den ganzen Nachmittag zu meiner Verfügung.‹ Er war etwas ärgerlich, daß er sich auf diese Komödie eingelassen hatte. Ja, er war sogar sehr ärgerlich. Er fluchte.«

»Fuhr er in einem Auto fort?« fragte der Detektiv.

»Ja.« Billington knipste mit den Fingern und wurde plötzlich ganz eifrig. »Es war ein großes geschlossenes Auto, ein ›Excelsior‹, glaube ich, und Jos kannte den Chauffeur. Wie hieß er doch noch? Ein Mann in den Dreißigern, mit einem roten Vollbart.«

»Jonassen?« fragte Krag etwas unsicher.

»Richtig! Jonassen. Ich hörte, wie Jos ›Guten Tag, Jonassen‹ zu ihm sagte.«

Die drei Direktionsmitglieder sahen sich ratlos an.

»Aber das ist ja ganz unmöglich,« sagte Reismann bestürzt. »Jonassen ist den ganzen Tag hier draußen gewesen. Er ist erst um sechs Uhr zur Stadt gefahren.«

Oedegaard ging hastig auf die Tür zu und rief nach Jonassen, daß es durchs ganze Haus schallte.

Kurz darauf erschien der Chauffeur, derselbe, der Krag gefahren hatte. Er hatte ganz richtig einen roten Bart und schien in den Dreißigern zu sein. Kaum erschien er in der Tür, als Billington rief:

»Da ist er ja!«

»Kennen Sie Schiffsreeder Joh. P. Christensen, auch Jos genannt?« fragte Reismann ihn.

Jonassen zeigte auf Krag.

»Da steht er,« sagte er.

»Der Herr dort behauptet,« fuhr Reismann ganz verzweifelt fort, »daß Sie um drei Uhr mit dem Auto in der Stadt waren.«

»Ich? Das ist 'ne ganz gemeine Lüge. Ich bin doch den ganzen Nachmittag hier gewesen und hab' Champagner serviert. Das müssen die Herren doch selbst wissen.«

»Unmöglich,« rief Billington, »er war es, er ist es. Ich erkenne ihn wieder.«

»Ich kenne ihn auch,« sagte Reismann, »Jonassen lügt nicht.«

 

»Excelsior«

 

Die Stimmung begann hitzig zu werden. Billington arbeitete sich in Wut, weil der Chauffeur ihn zum Lügner stempeln wollte. Er stand mitten im Zimmer, die Hände in den Hosentaschen, den Hut im Nacken und sah Jonassen unverwandt und drohend an. Die Situation war wirklich ganz theatralisch. Am Tisch stand Reismann, die raschelnden Papiere in der ausgestreckten Hand, und Krag folgte von seinem Platz aus aufmerksam dem Streit. Nur von Brakel war uninteressiert wie gewöhnlich und schien das Ganze langweilig zu finden.

»Wie hieß die Dame, der Sie soeben telefonierten?« fragte er Billington. »Fräulein Erko? Eine Finnin, nicht wahr? Ich kenne sie vom Ansehen, ein sehr hübsches Mädchen.«

Reismann drohte ihm ärgerlich.

»Sei still, Karl-Erich!« rief er. »Du irritierst mich mit deinem ewigen Phlegma.«

Karl-Erich blickte wehmütig auf seine Lackschuhe herab.

»Gott,« seufzte er. »Dies ist noch langweiliger als eine Komiteesitzung. Schickt diesen Jonassen doch hinaus, er hat ein zu dummes Gesicht.«

Auch Billington fiel über Jonassen her.

»Glauben Sie wirklich, daß ich Leute von einer zur anderen Stunde nicht wiedererkennen kann? Wollen Sie wirklich leugnen, daß Sie heute nachmittag um drei Uhr mit Ihrem Auto auf dem Eichenmarkt hielten?«

»Ja, das leugne ich. Und ich habe Zeugen, daß ich die ganze Zeit hier war.«

Jetzt fing auch Jonassen an, gereizt zu werden, auf die treuherzige Art, die einfachen Menschen eigen ist und die Zutrauen erweckt. Er wollte sich zurückziehen und ging auf die Tür zu, Reismann aber hielt ihn zurück.

»Hier muß irgendein Mißverständnis vorliegen,« sagte er. »Ich stehe für Jonassen ein. Er ist seit Jahren bei mir gewesen und ich habe noch nie Grund gehabt, seine Wahrhaftigkeit zu bezweifeln. Betrachten Sie ihn genau, lieber Billington, glauben Sie wirklich, daß er imstande wäre, eine solche Komödie zu spielen?«

Billington musterte ihn.

»Es ist doch fast unmöglich, daß zwei Menschen sich in dem Maße ähneln,« sagte er, »auf alle Fälle aber weiß ich mit Bestimmtheit, daß Jos ihn mit Jonassen anredete.«

»Soll ich heute abend noch fahren?« fragte Jonassen beleidigt – er würdigte Billington keiner Antwort mehr.

»In einer halben Stunde wollen wir zur Stadt,« antwortete Reismann, »das Fest hier draußen ist nun vorbei. Und ich muß vor ein Uhr im Freisinnigen Klub sein.«

»Dann mach' ich alles zur Abfahrt bereit,« sagte Jonassen. »Es wird 'ne tolle Fahrt durch den Schnee werden, aber ich werd's schon schaffen.«

Damit ging er hinaus.

Karl-Erich begann seine Malereien sorgfältig zusammenzupacken. Er wollte keinen Augenblick länger als notwendig hier draußen bleiben. Reismann erinnerte ihn daran, daß er ihm versprochen hatte, sich nicht im Hotel zu zeigen. Sonst konnte die Sensation darunter leiden. Bevor die Zeitungen morgen erschienen, mußte die große Allgemeinheit in völliger Ungewißheit über die Entwicklung der Dinge gelassen werden. Darauf antwortete von Brakel nichts. Er wechselte nur einen vielsagenden Blick mit Oedegaard.

»Meine Herren, wenn Sie Lust zu einem Glas Champagner heute nacht um vier Uhr haben, dann sind Sie freundlichst zu einer Soirée intime mit Tanz im Atelier eingeladen,« sagte Oedegaard.

Reismann steckte die Papiere in seine schwarze Aktentasche.

»Hiermit erkläre ich die Sitzung für aufgehoben und wünsche der Aktiengesellschaft ein gutes Resultat,« sagte er, indem er sich ein Glas Champagner eingoß. »Auf das Wohlergehen unserer Aktionäre! Ein ungewöhnlicher Wunsch für die Direktion einer Aktiengesellschaft heutzutage, aber es ist ja auch eine ungewöhnliche Aktiengesellschaft. Und was Jos, den verschwundenen Jos, betrifft, so habe ich eine glänzende Idee.«

»Glauben Sie, daß diese Idee ihn wieder herbeischaffen kann?« fragte Billington.

»Davon bin ich fest überzeugt,« antwortete Reismann. »Liebe Freunde, wir alle kennen Jos und wissen, wie impulsiv er ist. Prost, liebe Freunde, ein letztes Glas, bevor wir scheiden! Was sagte man mir nach, als ich vor einer Woche allem Anschein nach so unmotiviert den Pokertisch im Freisinnigen Klub verließ? Was sagte man? Nicht viel. Man flüsterte nur: Frauenzimmergeschichten! Dasselbe flüstere ich jetzt fast lautlos, wenn ich an Jos denke: Frauenzimmergeschichten, meine Herren! Kommt Zeit, kommt Rat.«

»War das die glänzende Idee?« fragte Billington ärgerlich. »Sehr originell ist sie nicht. Ich ...«

»Nein, meine große Idee kommt jetzt erst,« unterbrach Reismann ihn. »Jos ist einer der leidenschaftlichsten Kartenspieler der Welt, und er weiß, daß ich mich auf Grund der strengen Spielregeln des Klubs heute nacht vor ein Uhr im Freisinnigen Klub einfinden muß, um meine große Partie zu Ende zu spielen. Ich wette, daß er sich ebenfalls einfindet.«

Reismann leerte sein Glas selbstzufrieden. Er füllte es von neuem und brachte ein weiteres Wohl aus. Mit Wehmut verlasse er diesen Raum, erklärte er, der Zeuge von der Organisation und Vollendung eines der schönsten philanthropischen Unternehmen der Gegenwart geworden sei.

Billington wurde immer ungeduldiger, und wenn Jonassen nicht in diesem Augenblick heraufgerufen hätte, daß das Auto zur Abfahrt bereit sei, wäre Reismanns Redseligkeit wahrscheinlich ziemlich schroff unterbrochen worden.

Reismann stieg voran die Treppe herab, langsam und feierlich, mir seiner schwarzen Aktenmappe unterm Arm. Nach ihm kam Karl-Erich von Brakel, mit seinen Kunstwerken aufgerollt unterm Arm. Das große Reklameplakat war so groß, daß es auf der Treppe nachschleifte. Dann folgte Oedegaard. Aus seinen Rocktaschen ragten mehrere Flaschenhälse, er dachte offenbar an das Atelierfest. Zuletzt kamen Krag und Billington. Der große Raum blieb in voller Beleuchtung liegen. Selten oder nie hat wohl der Schauplatz einer Direktionssitzung so ausgesehen. Die Sitzung hatte allerdings auch mehrere Tage gedauert. Der Raum glich einer Junggesellenbude, wo jede Spur einer ordnenden, weiblichen Hand fehlte. Der Spieltisch war jetzt leer, aber der Fußboden mit seinem grünen Teppich glich fürwahr einem Spieltisch nach längerem Gebrauch, mit den umgeworfenen Aschenbechern, Zigarren- und Zigarettenstummeln, Gläsern, Flaschen, leeren Zigarrenkisten, Karten und verstreuten Spielmarken.

Bevor die Herren ins Auto stiegen, zog Reismann Krag beiseite und sagte zu ihm:

»Sie sind ja Mitglied des Freisinnigen Klubs. Kommen Sie mit?«

»Ich komme nach. Billington will erst ins Bureau, und ich werde ihm Gesellschaft leisten.«

»Gut. Wenn Sie aber vor Beendigung des Spiels kommen, dann erinnern Sie sich wohl, was ich Ihnen von meinen Karten sagte?«

»Sie haben vier Asse in einem versiegelten Kuvert. Das ist das höchste Gebot. Sie können nicht verlieren. Ich erinnere mich wohl.«

»Sie müssen es aber vergessen. Ganz und gar, verstehen Sie?«

Krag lachte.

»Ich bin kein Neuling im Hasardspielen und mische mich nie in anderer Leute Angelegenheiten.«

Es hatte aufgehört zu schneien. Der Sturm hatte nachgelassen und das Auto glitt leichter durch den Schnee. Auf dem Eichenmarkt, vor Jos' Kontor, stiegen Billington und Krag aus. Die beiden Künstler sollten beim Atelier abgesetzt werden, und Reismann wollte allein weiterfahren.

Billington, der begriffen hatte, daß Krag sich mit Absicht von den anderen trennte, lud ihn ein, mit ins Kontor hinaufzukommen. Krag aber zog es vor, unten zu warten. Er sah, daß in zwei Fenstern des vierten Stockwerkes Licht war. Billington erklärte ihm, daß Fräulein Erko oben auf ihn warte. Billington ging nach oben, um sich zu erkundigen, ob eine Nachricht von dem verschwundenen Jos eingetroffen sei. Krag schlenderte auf dem Fußsteig auf und ab. Hier im Zentrum der Stadt waren noch viele Leute unterwegs, die Cafés hatten noch nicht geschlossen. Die Passanten hatten den Schnee auf den Fußsteigen bereits festgetreten, auf den Fahrwegen aber glitten die Wagen wie auf Daunenbetten lautlos vorbei. In der Nähe war ein Autohalteplatz, und die Chauffeure standen in Gruppen und scherzten laut miteinander.

Plötzlich glitt ein Mann aus dem Hause, wo Jos sein Kontor hatte. Es war ein Herr im Pelz, der den Kragen bis über die Ohren geschlagen und die Pelzmütze tief in die Stirn gedrückt hatte, obgleich es nach dem Schneefall ganz milde geworden war.

Krag ging dicht an diesem Mann vorbei, es fiel ihm auf, daß er seine behandschuhten Hände gegen die Backen hielt, als ob ihn fröre. Er trat auf den Fahrweg und pfiff nach einem Auto. Krag dachte bei sich: »Er will mir sein Gesicht nicht zeigen.«

Aber Krag hatte dennoch einen Schimmer von diesem Gesicht gesehen.

Ein Auto löste sich aus der Reihe und näherte sich dem Wartenden, der dem Wagen auf halbem Wege entgegenkam und rasch einstieg. Der Mann gab dem Chauffeur keinen Bescheid, er stieg nur ein und schlug die Tür hinter sich zu, worauf das Auto schnell davonfuhr.

Krag blieb stehen und sah ihm nach – und plötzlich kam ihm der Gedanke: »Das war ja ein Privatauto!«

Warum aber wartete dieses Auto zwischen den anderen Mietsautos? Krag kannte die Marke. Es war ein »Excelsior« gewesen. Ein »Excelsior«!

Jetzt trat Billington aus dem Hause.

»Noch immer kein Lebenszeichen von Jos,« sagte er.

»Sind Sie besorgt?« fragte Krag.

»Ja, es beunruhigt mich,« antwortete Billington. »Jos pflegt in geschäftlichen Dingen nicht unzuverlässig oder zu Scherz aufgelegt zu sein. Und diesmal handelt es sich um sehr große Geschäfte. Noch aber ist nichts versäumt.«

»War Fräulein Erko allein?« fragte der Detektiv.

»Ja.«

»Ist Ihnen jemand auf der Treppe begegnet?«

»Nein.«

Billington schien erstaunt über diese Fragen.

»Verstehen Sie sich auf Autos?« fragte Krag weiter. »Ich meine, können Sie die verschiedenen Automarken voneinander unterscheiden?«

»Mit Sicherheit. Ich habe selbst früher mit Autos gehandelt.«

»Und Sie wissen bestimmt, daß es eine Excelsior-Maschine war, die heute nachmittag um drei Uhr mit Jos davonfuhr?«

»Ganz bestimmt.«

»Es ist Ihnen wohl bekannt, daß diese Marke hier in Christiania wenig vertreten ist?«

»Ich weiß. Es gibt höchstens zwei oder drei von der Sorte.«

»Schön. Begeben wir uns jetzt in den Klub.«

Sie riefen ein Auto herbei.

 

Achtundfünfzigtausend Kronen

 

Bereits draußen im Vorraum wurden Billington und Krag mit der freudigen Mitteilung empfangen:

»Reismann ist wieder da!«

Billington gab sich Mühe, gleichgültig auszusehen, aber es glückte ihm nur teilweise.

»Was Sie sagen!« rief er. »Ich glaubte schon, er sei tot. Wo ist er gewesen?«

»Wer das wüßte! Der ganze Klub platzt vor Neugierde. Hören Sie nur den Lärm!«

Und wirklich. Aus den Klubräumen klang wildes Stimmengewirr, mit Gelächter und lauten Ausrufen untermischt.

»Er behauptet, es sei ein Geheimnis, von dem keiner etwas vor morgen erfahren soll,« berichtete der Portier weiter, während er die Mäntel aufhängte. »Aber Gott weiß,« fügte er mit jenem allwissenden Lächeln hinzu, das alte erfahrene Klubdiener anzunehmen pflegen, »ob nicht doch Frauenzimmer mit im Spiel waren. Wir kennen ja Reismann, nicht wahr?«

Auf diese reichlich familiäre Bemerkung antworteten die Herren nichts, sondern begaben sich schnell in den Klubraum. Man konnte der dort versammelten Gesellschaft ansehen, daß die größte Sensation sich bereits um Reismann verflüchtigt hatte. Alle waren natürlich froh, daß sie ihn wiederhatten, denn Direktor Reismann war eine sehr populäre Persönlichkeit in der Stadt. Nachdem die Freunde ihn aber mit der Ursache zu seinem Verschwinden weidlich geneckt hatten, ließ man ihn in Frieden. Denn hier waren ernsthafte Herren versammelt, die an ganz andere Dinge zu denken hatten. Die Karten kamen bereits hier und dort auf den Spieltischen zum Vorschein, und der Kreis um den Helden des Abends lichtete sich.

Reismann stand gegen den Kamin gelehnt. Die lange Autofahrt hatte den letzten Rest des Champagnerrausches aus ihm herausgerüttelt, er fühlte sich der Situation vollkommen gewachsen. Die erforderlichen Vereinbarungen mit den Nachtredaktionen waren bereits getroffen, jetzt wartete er nur auf den dicken Stenesen, der sich telephonisch bereits angemeldet hatte. Seine Rolle gefiel ihm. Er fühlte sich wie ein Held aus Jules Vernes Romanen, der im letzten Augenblick unerwartet aus dem Weltenraum auftaucht und die Wette gewinnt. Allen Fragen gegenüber bewahrte er tiefen Ernst und antwortete kurz und offen: »Ich kann noch nichts darüber sagen. Es ist unmöglich, meine Herren. Aber ich kann Ihnen versichern, es ist das merkwürdigste Erlebnis, das ich je gehabt habe.«

Da kam der dicke Stenesen.

Krag interessierte sich nicht sehr für Kartenspiel, am wenigsten für Hasard. Außerdem kannte er ja Reismanns Karten. Sie waren nicht zu übertrumpfen. Vier Asse. Der Gewinn war ihm sicher. Auf solche Karten hätte er jedweden Betrag setzen können. Das Spiel hatte also keinen Reiz mehr für Krag und anstatt dem Schauspiel zuzusehen, schlenderte er durch die Räume und wechselte hier und dort einige Worte mit Bekannten. Krag ging selten unter Menschen, er hatte nur wenig Freunde, und die wenigen respektierten seinen Wunsch, allein zu sein.

Während Krag so mit einem dieser Freunde sprach, ging ein Herr vorbei und grüßte den Freund. Es war keine ganz junge, aber elastische Gestalt. Das Merkwürdigste war sein Gesicht, das Krag auch sofort auffiel. Es war eigentlich nicht besonders ausgeprägt, aber es wirkte dennoch fremd und eigenartig, weil in der Gesichtsform Andeutungen einer fremden Rasse waren. Die Züge waren kräftig, die Stirn breit, das Haar gelockt. Die Augen waren so hell, daß sie fast steingrau wirkten. Als er grüßte, lächelte er leicht, und das Lächeln war gewinnend. Doch war es nicht sein Aeußeres, das Krag fesselte, sondern mehr der Umstand, daß er ihn schon mal gesehen hatte. Eine flüchtige Erinnerung schoß dem Detektiv durch den Kopf, diese Erinnerung aber war so vage, daß er sich nicht einmal darauf besinnen konnte, ob er den Mann kürzlich oder vor langer Zeit gesehen hatte.

»Wer war das?« fragte er.

»Suron heißt er,« antwortete der Freund, »ein Finne. Prächtiger Mensch, sehr beliebt. Auch soll er ein tüchtiger Geschäftsmann sein.«

»In welcher Branche?« fragte Krag.

»Man sagt, daß er im Norden Gruben besitzt. Uebrigens soll er auch mit Erfolg spekulieren.«

Der Freund verabschiedete sich, und bald darauf kehrte Krag zu dem Zimmer zurück, wo Reismann und der dicke Stenesen sich am Spieltisch niedergelassen hatten, von einem Haufen neugieriger Zuschauer umgeben. Dazwischen war auch Suron. An den vielen Begrüßungen und Händedrücken, die er austauschte, sah man, daß er viele Freunde hatte. Krag hatte den Raum betreten, weniger um das Spiel zu verfolgen, als um den Finnen zu beobachten. Es reizte ihn rein sportsmäßig, daß er sich nicht darüber klar werden konnte, wo er ihm schon früher begegnet war.

Krag nahm auf einem Stuhl in der Nähe Platz. Und jetzt begann das Schlußspiel zwischen Reismann und Stenesen, dieses Spiel, das durch seinen überraschenden Ausgang lange den Gesprächsstoff im Klub bilden sollte.

Der Spielinspektor des Klubs, der aller Zutrauen besaß, hatte die versiegelten Karten aus dem brandsicheren Geldschrank des Klubs genommen. Die Karten lagen in einem kleinen Holzschrein, der auf den Tisch gestellt wurde. Der Inspektor hob den Deckel, und darunter lagen ganz richtig die drei Kuverts mit den Karten und die übrigen Karten des Spiels.

Nachdem der Spielinspektor die drei Siegel sorgfältig geprüft hatte, legte er die Kuverts vor sich auf den Tisch und sagte:

»Wie Sie alle wissen, meine Herren, blieb uns neulich, als Herr Reismann den Klub so plötzlich verließ, nichts anderes übrig, als die Karten zu versiegeln. So lauten unsere Klubregeln, und es ist nicht das erstemal, daß so etwas vorgekommen ist. Dieselbe Regel kommt ja auch zur Anwendung, wenn einem Spielteilnehmer Gelegenheit gegeben wird, Deckung für seinen Einsatz herbeizuschaffen. Ich stehe dafür ein, daß die Karten versiegelt wurden, ohne daß ein Unbefugter Einblick darin bekam. Wie Sie sehen, meine Herren, sind die Siegel unberührt. Hier, Herr Reismann, sind Ihre Karten, dies sind Ihre, Herr Stenesen, und dies sind die übrigen zweiundvierzig Karten des Spieles. Wünschen Sie, meine Herren, daß ich die Pakete öffne?«

»Ich schlage vor,« sagte Reismann, »daß die Siegel nicht erbrochen werden, bevor das Spiel abgeschlossen ist. Wir kennen ja beide unsere Karten. Ich jedenfalls kenne meine.«

Der Koloß Stenesen ließ ein beifälliges Grunzen hören. Er hatte schon zwei Grogs hinter die Binde gegossen und war jetzt beim dritten.

Der Inspektor markierte mit Spielmarken den Einsatz, der bereits gesetzt war, als das Spiel durch Reismanns Verschwinden unterbrochen wurde.

Der Einsatz war fünfzehntausend Kronen.

»Herr Stenesen hat um fünftausend Kronen erhöht und Direktor Reismann muß erklären, ob er dafür mitgeht,« sagte der Inspektor und zog sich zurück.

»Ich gehe mit und erhöhe um fünftausend Kronen,« sagte Reismann, ohne sich zu besinnen.

Um den Tisch herum wurde gelacht.

Man wußte, daß Reismann ein starker Bluffer war.

Stenesen wühlte mit seinen dicken Fingern im Markenhaufen und sagte:

»Diese fünftausend Kronen und nochmals fünftausend Kronen.«

Jetzt waren fünfunddreißigtausend Kronen gesetzt.

Reismann bedachte sich einen Augenblick. Dann sagte er:

»Ihre fünftausend Kronen und weitere tausend Kronen.«

»Hier sind sie und noch dreitausend Kronen dazu,« grunzte Stenesen.

Jetzt lagen fünfundvierzigtausend Kronen auf dem Tisch, obgleich die Spieler schon nicht mehr das Maximum setzten, sondern sich mit kleineren Beträgen begnügten.

Krag wußte, daß Reismann mit seinen unüberwindlichen Karten das Maximum weiter hätte bieten können, aber er fürchtete wohl, daß Stenesen abspringen würde, und zog es vor, ihn mit kleineren Beträgen zu reizen.

Reismann überlegte wieder und blickte Stenesen durchdringend an, als wollte er dessen innersten Gedanken durchschauen. Auch Stenesen war als starker Bluffer bekannt. Es war wahrlich eine köstliche Komödie.

In diesem Augenblick berührte jemand Krags Schulter. Es war Billington.

»Ich habe eine erfreuliche Nachricht,« sagte er. »Jos ist gefunden.«

»Schade,« sagte Krag, »ich hatte mich schon auf ein Abenteuer gefaßt gemacht.«

»Das ist ja Ihr Geschäft,« lachte Billington. »Jos ist auf dem Wege nach Kopenhagen.«

»Von wem wissen Sie es?«

»Ich habe soeben mit dem Bureau telephoniert. Fräulein Erko hat ein Telegramm von ihm bekommen.«

Asbjörn Krag fing den Namen auf – Erko. Fräulein Erko! ... Ein finnischer Name ... Plötzlich hatte er den Zusammenhang gefunden. Während er in seinem Lehnstuhl saß, blickte er zu Suron hinüber, der am Spieltisch stand, ganz in das Spiel vertieft. Suron – auch ein finnischer Name! Und jetzt wußte Krag auch, wo er den Mann schon einmal gesehen hatte. Suron war vor einer Stunde aus dem Hause gekommen, in dem Jos' Kontor lag, und war in dem »Excelsior«-Auto davongefahren. Er hatte versucht, sein Gesicht zu verbergen, der geübte Detektiv aber hatte genug davon gesehen, um es wiederzuerkennen. Krag kam plötzlich die Ahnung, daß er hier eine Spur gefunden hatte, der er folgen mußte. Er empfand auf seltsame, unerklärliche Weise, daß dieser Mann von einem Geheimnis umgeben war.

»Diese dreitausend Kronen und nochmal fünftausend Kronen.«

»Ich sehe sie für fünftausend Kronen,« sagte Stenesen.

»Und Sie erhöhen nicht?«

»Nein,« antwortete Stenesen.

»Meine Herren, es sind jetzt achtundfünfzigtausend Kronen,« bemerkte der Inspektor trocken.

Einen Augenblick herrschte Totenstille um den Tisch; durch das Schweigen aber tönte plötzlich eine sanfte Stimme:

»Doublieren Sie nicht, Reismann?«

Suron hatte diese Worte gesagt.

 

Hundertsechsunddreißigtausend Kronen

 

Krags Interesse für das Spiel war plötzlich wach geworden. Er selbst spielte nie Poker, kannte das Spiel aber so weit, daß er wußte, Reismann sei jetzt an der Reihe zu doublieren. Er konnte »proponieren«, wie man es nennt. Bei dieser Art Spiel verdienen die richtigen Pokerspieler sich ihre Sporen. Außer dem Doublee kann man auch Teilung vorschlagen, oder man kann proponieren, daß der Gegenspieler einen Teil des Einsatzes, zum Beispiel ein Fünftel erhält, wenn er verzichtet. Hat ein Spieler gute Karten, ist seine Stellung bei diesem Auf-Akkord-Gehen natürlich günstig, aber auch ein Spieler mit schwachen Karten kann durch kühne Gebote und Vorschläge seinen Gegenspieler in dem Maße bluffen, daß er mit heiler Haut davonkommt.

Der Markenhaufen, der jetzt auf dem Tisch lag, stellte einen Wert dar von achtundfünfzigtausend Kronen. Das Spiel stockte, und Stenesen, der an der Reihe war zu bieten, hatte durch sein »Nein« weitere Gebote verhindert.

Damit wäre das Spiel tatsächlich zu Ende gewesen. Reismann hätte verlangen können, daß die Karten gezeigt werden sollten, und hätte dann unbedingt auf seine vier Asse gewonnen.

Teils aber war es Sitte, weitere Vorschläge des Gegenspielers abzuwarten, teils konnte Reismann durch geschicktes Manövrieren noch einige Tausende auf den Tisch locken. Kurz und gut, er überlegte Surons Worte tief und sagte dann mit kleidsamer Bescheidenheit:

»Unser finnischer Freund hat mir einen guten Rat gegeben. Ich doubliere indessen nicht, da ich Stenesen nicht gern in die Lage bringen möchte, eine abschlägige Antwort zu geben –« (»Oh, dieser Humbug!« dachte Krag.) »– aber ich habe einen anderen Vorschlag ...«

Reismann zählte Marken ab, die den Wert von fünftausend Kronen hatten, und schob sie zu Stenesen hinüber, indem er sagte:

»Ich biete Stenesen diese fünftausend Kronen, damit er verzichtet. Dann brauchen wir die Karten gar nicht zu zeigen.«

Damit beugte er sich vor und legte seine Hand auf den Markenhaufen, um anzudeuten, daß er annähme, sein generöses Angebot sei von vornherein angenommen.

Stenesen grunzte nur. Zwischen den Zuschauern wurde gemurmelt. Einige lachten laut. Man hielt Reismanns Angebot allgemein für Scherz. Stenesen fünftausend Kronen anzubieten, damit er verzichtete, nachdem er über fünfundzwanzigtausend Kronen gesetzt hatte!

Auch Krag hatte sich mehr und mehr von der Spannung hinreißen lassen. Er beschäftigte sich damit, den psychologischen Wert des Spieles zu analysieren, er kannte ja die unüberwindliche Stellung des einen Spielers. Er dachte bei sich: Reismann ist zu übermütig. Er gibt sich nicht nervös genug, um den anderen hereinzulegen. Dies letzte Angebot war wirklich nur eine dumme Geste. Ein scharfer Beobachter muß gemerkt haben, daß Reismann sich verraten hat. Ein Vorschlag zur Teilung wäre besser gewesen, überlegte Krag weiter. Andererseits hätte Reismann dabei riskiert, daß Stenesen sein Angebot annähme, und er um seinen sicheren Gewinn gekommen wäre.

Krag betrachtete die Spieler aufmerksam. Die Augen des dicken Stenesen lagen tief im Kopf, aber an Schärfe fehlte es ihnen nicht, sie waren wie zwei schwarze, brennende Flecke. Stenesen grunzte wieder, unbegreiflich, geheimnisvoll, doch klang ein gewisser gutmütiger Ton hindurch, der durchblicken ließ, daß er Reismann durchschaut habe. Er schien sagen zu wollen: »Warte, mein Junge, jetzt habe ich dich.«

Stenesen schob die fünftausend zurück, so überlegen und nonchalant, als striche er Asche vom Tisch.

»Kindereien!« brummte er. »Da du aber von fünftausend gesprochen hast, so laß uns noch jeder fünftausend setzen.«

Er schob Marken im Wert von fünftausend Kronen hin.

»Meinetwegen gern,« antwortete Reismann und setzte denselben Betrag. Darauf zündete er sich mit augenfälliger Ruhe eine Zigarre an.

Auch dies mißfiel Krag, der das bestimmte Gefühl hatte, daß Reismann vor allem seine Rolle zu spielen versuchte. Da gefiel ihm der dicke Stenesen viel besser, der nur grunzte und trank, dessen Augen aber wach und scharf in dem fetten, blassen Gesicht blitzten. Krag dachte bei sich: Stenesen muß jetzt doch gemerkt haben, daß Reismann seiner Karten sicher ist. Er selbst kann es nicht sein. Wie er sich wohl schließlich aus der Affäre zieht? Vorläufig ist er mit weiteren fünftausend ins Netz gegangen.

»Das Spiel ist jetzt achtundsechzigtausend Kronen wert, meine Herren,« sagte der Inspektor.

»Hast du noch einen Vorschlag zu machen, Reismann?« fragte Stenesen.

Reismann klopfte gemessen die Asche von seiner Zigarre, und Krag wartete mit einem peinlichen Gefühl auf seine Antwort. Darauf blies er einige feine, blaue Rauchringe über den Tisch, die sich über die neugierigen, stummen Zuschauer verflüchtigten. »Oh, diese verfluchte melodramatische Zigarre!« dachte Krag ganz erbittert.

Dann aber sagte Reismann plötzlich:

»Ich schlage vor, daß wir doublieren oder ... teilen!«

Krag horchte auf. Das war wirklich großartig. Das war Hasard. So hatte Reismanns Lust am Hasard also doch noch seine Freude am Komödiespielen übertrumpft. Er bietet Doublieren oder Teilen an, mit anderen Worten, er kann den doppelten Einsatz gewinnen, aber er muß auch darauf gefaßt sein, daß Stenesen die Teilung annimmt, die Teilung des ganzen Einsatzes, und in solchem Fall wird das ganze Spiel gleich mit plus minus null. Jedenfalls aber hat er erreicht, daß Stenesen jetzt disorientiert ist. Reismanns Angebot kann ein Zeichen dafür sein, daß es schlecht um ihn bestellt ist, und wenn Stenesen diesen Glauben hat, dann hat Reismann den wesentlichsten Triumph im Poker erreicht: dem Gegenspieler eine falsche Meinung beizubringen. Außerdem hatte Reismann seine Position in hohem Maße gestärkt. Er konnte jetzt Komödie spielen oder nicht, seine Angebote würden auf alle Fälle so weitgehende doppelseitige Konsequenzen enthalten, daß Stenesen von jetzt ab nur noch im Ungewissen schweben konnte.

Mehr Menschen strömten hinzu, um diesem merkwürdigen Spiel beizuwohnen. Krag machte die Beobachtung, daß der Finne Suron sich bis zu Stenesen durchgedrängt hatte. Aller Augen waren auf Stenesen gerichtet.

»Ein schweres Spiel,« sagte Stenesen, »ein verflucht schweres Spiel!«

Einen Augenblick war es, als ob die Spannung förmlich durch die Totenstille um den Tisch tönte. Sollte er Teilung annehmen? ...

Da aber sagte Stenesen:

»Ich fordere zur Teilnahme auf.«

Und bevor noch jemand Zeit gefunden hatte zu antworten, erklang Surons Stimme:

»Ich übernehme den Anteil beim Doublieren!«

Diese Worte wurden sofort mit munterem Lärm aufgenommen. Natürlich, hieß es allgemein, hier mußte Suron dabei sein. Er ist unverbesserlich, sagte einer. Er verbrennt sich, meinte ein anderer. Durch alle Ausrufe aber klang ein Unterton von Bewunderung. Suron war sehr beliebt. Und er hatte immer eine Art zu spielen, bei der sogar das Herz eines ungarischen Magnaten höher schlagen konnte.

In einem Fall wie diesem, wenn keiner der Umstehenden die Karten der Spielenden gesehen hatte oder sieht, gestatteten die Regeln des Klubs, daß einer der Zuschauer sich an der Partie beteiligen durfte, indem er Gewinn oder Verlust zur Hälfte mittrug. Nun also hatte Suron sich als Kompagnon gemeldet und auf Stenesens Seite gestellt.

Von diesem Augenblick an war Krags Aufmerksamkeit ausschließlich auf Suron gerichtet. Der Detektiv saß so, daß er den Finnen gerade vor sich hatte. »Armer Kerl,« dachte er, indem er nachrechnete, »der Spaß wird ihm vierunddreißigtausend Kronen kosten. Das ist doch Geld.« Gleichzeitig aber hatte er ein beunruhigendes Gefühl. Würde vielleicht noch etwas Unerwartetes eintreffen?

»Ich akzeptiere,« sagte Reismann.

»Keine weiteren Vorschläge?« fragte Suron.

»Ich habe genug,« antwortete Reismann, »wenn die Herren keinen Vorschlag mehr machen wollen?«

In Surons Zügen leuchtete es auf.

»Wie,« dachte Krag bei sich, »will er das Spiel noch höher treiben?«

»Das Spiel ist jetzt hundertsechsunddreißigtausend Kronen wert,« teilte der Inspektor kalt und geschäftsmäßig mit.

Stenesen ließ seine gewaltige Tatze mit einem Bums auf den Tisch fallen und rief:

»Genug! Schluß!«

Wie es Krag schien, ging ein Ausdruck von Enttäuschung über Surons Gesicht.

Alles drängte jetzt um den Tisch, und der Inspektor öffnete den kleinen Holzschrein, aus dem er die drei versiegelten Pakete nahm.

»Ich darf Sie bitten, meine Herren, die Pakete zu prüfen, ob die Siegel in Ordnung sind.«

Die beiden Spieler untersuchten die Siegel. Alles war in Ordnung.

Zuerst öffnete Stenesen sein Paket und legte die Karten auf den Tisch. Es waren vier Könige und eine Zehn.

»Vier Könige!« murmelte Reismann, indem er nervös das Siegel seines Pakets erbrach. »Nicht übel. Was aber sind vier Könige, meine Herren, gegen ...«

Er legte triumphierend seine Karten auf den Tisch, ohne sie anzusehen und fuhr mit einer flotten Handbewegung fort:

»... gegen vier Asse, meine Herren!«

Eine zehntel Sekunde herrschte tiefes Schweigen. Alle beugten sich über den Tisch, guckten über die Schultern der Zunächststehenden und drängten nach vorn ... Dann aber löste sich die Spannung in einen wilden Sturm von Gelächter und Ausrufen. Niemals hatten die Räume des Freisinnigen Klubs von solchen Lachsalven und wildem Geschrei widergeklungen. Man tanzte herum, schlug sich auf die Schenkel, umarmte sich und gab sich allen möglichen Ausdrücken des tollsten Entzückens hin.

Der einzige, der sich ruhig verhielt, war Reismann. Er saß und starrte seine Karten wie verhext an.

Es war nämlich nicht ein einziges Aß zwischen diesen Karten. Da waren eine Treffsieben, eine Karozwei, eine Pikzehn, eine Coeurfünf und ein Bube. Es war nichts, rein nichts, nicht mal ein einziges Paar!

Reismann war blaß geworden. Er stöhnte schmerzlich, sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, und seine Hand griff nach dem Herzen. Nach dem Herzen. Wo die Brieftasche zu stecken pflegt.

 

Versiegelte Karten

 

Kein einziger der Anwesenden bezweifelte, daß Reismann zu blüffen versuchte und gewaltig dabei hereingefallen war. Seinen Ausdruck von sprachlosem Entsetzen hielt man für die reine Komödie. Nur Krag sah, wie echt sein Schreck war – eine feine Blässe hatte sich über sein Gesicht gebreitet, die die Haut aschgrau machte, seine Finger zitterten wie bei einem Fieberkranken, und er starrte die Karten, diese schrecklichen, fünf nichtssagenden und wertlosen Karten, wie verhext an.

Plötzlich lachte er fast kindlich auf. Ratlos wandte er sich an die Umstehenden.

»Ich hatte vier Asse,« murmelte er. »Und wenn es mein letztes Wort sein sollte, ich hatte vier Asse.«

Er wurde durch Lachen und Lärmen übertäubt. Bitte, kein neuer Bluff! Es war genug für heute abend! Außerdem lag ja das Kuvert noch auf dem Tisch. Es war das Siegel des Klubs.

Reismann betastete nervös das erbrochene Siegel. Ja, gewiß, es war das Siegel des Klubs, das große künstlerisch ausgeführte Siegel, das sich in der besonderen Obhut des Spielinspektors befand, und das nach jeweiliger Benutzung diesem Vertrauensmann feierlichst wieder eingehändigt wurde. Das Zimmer begann sich mit ihm zu drehen. Plötzlich kam ihm ein Gedanke.

»Ich verlange,« sagte er, »daß auch das Paket mit den übrigen Karten geöffnet wird.«

Eine ängstliche und unwillige Bewegung ging durch das Zimmer. In Reismanns Stimme war ein Klang, den man ernst nehmen mußte. Aber was wollte er denn eigentlich?

Der Spielinspektor runzelte die Stirn und trat wieder an den grünen Tisch.

Asbjörn Krag beugte sich zu Reismann und flüsterte ihm ins Ohr:

»Schreien Sie nicht so. Beruhigen Sie sich.«

Reismann sah ihn mit verstörten, bittenden Augen an.

Krag wandte sich an den Spielinspektor und sagte:

»Direktor Reismann meint natürlich, wie Sie sich denken können, daß alle Formalitäten gewahrt werden müssen. Wir haben Herrn Stenesens und Herrn Reismanns Karten gesehen, nun müssen Sie uns auch noch die übrigen Karten des Spiels zeigen. Natürlich ist es die reine Formsache, wenn aber eine Angelegenheit bis ins letzte tadellos gehandhabt wird, kann es nachher keine Mißverständnisse geben.«

»Sie haben ganz recht, meine Herren,« antwortete der Spielinspektor, »es war ein Fehler von mir, daß ich es nicht von selbst getan habe.«

Auf diese Weise hatte Krag die Sache so gedreht, daß es den Anschein hatte, er habe den Vorschlag gemacht. Seine Absicht war, Reismann Zeit zu geben, so daß er sich fassen und seine Interessen wahrnehmen konnte, ohne sich eine zu große Blöße zu geben.

»Hier sollen also zweiundvierzig Karten sein,« sagte der Spielinspektor, indem er das versiegelte Paket aus dem Schrein nahm.

Er wollte den Umschlag schnell erbrechen, als Krag ihn zurückhielt.

»Es ist nur eine Formsache,« sagte er, »aber ich möchte Sie doch bitten, das Siegel zu untersuchen, bevor Sie es erbrechen. Sie haben das Paket ja selbst versiegelt und niemand kann es darum besser kontrollieren als Sie.«

Der Inspektor prüfte das rote Siegel.

»Es ist in Ordnung,« erklärte er.

Darauf öffnete er das Kuvert und zählte die Karten auf den Tisch.

»Stimmt es?« fragte er, indem er Krag einen Seitenblick zuwarf. »Aber Sie sehen ja gar nicht auf die Karten,« rief er indigniert, »Sie sehen ja ganz woanders hin.«

Er folgte der Richtung von Krags Blick und sein Auge fiel auf Suron, der neben Stenesen stand. Der Finne rauchte eine Zigarette und betrachtete die Szene am Spieltisch mit offenkundigster Gleichgültigkeit. Krag versuchte einen Blick seiner grauen Augen zu fangen, aber es war ihm nicht möglich. Er hielt die ganze Zeit seinen Blick gesenkt, während er recht laut mit Stenesen über die enorme Steigerung der Tonnagepreise sprach. Die kürzlich stattgehabte Sensation schien er bereits vergessen zu haben.

»Zählen Sie die Karten,« sagte Krag.

»Sie sind bereits gezählt,« antwortete der Inspektor. »Es waren zweiundvierzig Karten. Alles stimmt, meine Herren.«

Zwischen den zweiundvierzig Karten, die jetzt auf dem Tisch ausgebreitet lagen, waren auch die vier Asse.

Reismann war der einzige, der noch auf seinem Platz saß, die anderen waren alle aufgestanden. Er starrte die vier Asse einen Augenblick wie geistesabwesend an. Kein Wort kam über seine Lippen. Krag beobachtete ihn und meinte zu verstehen, daß er sich während dieses Schweigens die Selbstbeherrschung zu erkämpfen versuchte, die ihm vorhin abhanden gekommen war.

»Wenn er die Situation mit einiger Ueberlegenheit zu nehmen versteht,« dachte Krag bei sich, »dann bekennt er sich zu dem Verlust. Denn es liegt ja eine unantastbare Tatsache vor. Er muß sich damit abfinden, einen anderen Ausweg gibt es nicht.«

Und es schien, als ob Reismann jetzt sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte und den richtigen Weg wählte.

Er erhob sich langsam vom Tisch. Sein Gesicht zeigte ein resigniertes Lächeln, als ob er sagen wollte: »Nun wohl, meine Herren, der Bluff ist mir nicht geglückt und ich ergebe mich in mein Schicksal.«

So wurde die Situation auch allgemein aufgefaßt, und Reismanns wehmütige Selbstaufgabe, eine unwillkürliche Anerkennung des Geschehenen, löste eine heitere und ungezwungene Stimmung zwischen den Anwesenden aus. Einen Augenblick hatte man gefürchtet, daß Reismann eine Szene machen und sich als ein »schlechter Verlierer« zeigen würde, – ein Gebaren, das, wenn es ein vereinzeltes Mal vorkam, von diesen reifen Männern und tapferen Kämpfern mit Bedauern und einem gewissen stillen Kummer aufgenommen wurde.

Jetzt konnte jeder sich mit gutem Gewissen seiner Bewunderung für Reismann hingeben. Es war ein wirkliches Spiel, eine ordentliche Schlacht gewesen. Mit größerem Glanz hätte er nicht von seinem mystischen Aufenthaltsort zurückkehren können. Und wirklich schien es, als ob Reismann schließlich mit seiner Rolle ganz zufrieden sei. Er liebte es zu posieren, Leute zu bezaubern. Hin und wieder nur griff er sich krampfhaft ans Herz. Es war ein sehr teuer erkaufter Erfolg.

»Wieviel, meine Herren?« fragte er.

Sowohl Stenesen wie Suron gaben sich den Anschein, als ob die Frage sie nicht im geringsten interessierte. Der Spielinspektor antwortete:

»Herr Reismann hat achtundsechzigtausend Kronen verloren. An Herrn Stenesen vierunddreißigtausend Kronen, und Herr Suron bekommt dieselbe Summe.«

Nachdem Reismann seine Rolle einmal gewählt hatte, spielte er sie vortrefflich. Er zog gelassen seinen Füllfederhalter aus der Tasche und schrieb zwei Schecks aus. Suron legte seinen Scheck sorgfältig in seine Brieftasche. Das war ebenfalls der Ausdruck eines vollendeten Stils, ein weniger überlegener Spieler hätte den Scheck schnell in die Westentasche gesteckt.

Der Inspektor nahm die Karten vom Tisch; bevor sich aber eine neue Partie bildete, wurde noch viel über Reismann und sein flottes Spiel an den verschiedenen Tischen gesprochen.

Stenesen wurde in die Enge getrieben.

»Gestehen Sie,« sagte man zu ihm, »daß Sie einen Augenblick drauf und dran waren, sich auf Teilung einzulassen?«

»Das gebe ich willig zu,« antwortete Stenesen, »hätte ich nicht einen Kompagnon bekommen, wäre ich auf Teilung eingegangen.«

»Herrn Surons Eingreifen hat also die Sache entschieden. Er ist doch ein Glückspilz!«

Reismann zog Krag in eine Ecke. Als er sich außer Bereich der vielen neugierigen Blicke fühlte, bekam er einen neuen Anfall von Fassungslosigkeit.

»Ich starre in eine vollständige Dunkelheit,« sagte er, »mein Gehirn kann es nicht fassen. Ich hatte vier Asse, als ich den Spieltisch verließ.«

»Aber Sie sehen doch ein, daß es keinen Sinn hat, eine Szene zu machen.«

»Gewiß. Ich muß meinen Verlust mit Anstand tragen. Aber ich begreife nicht, wie es zugegangen ist.«

»Wenn Sie es sich recht überlegen, gibt es nur eine Erklärung,« sagte Krag.

»Glauben Sie wirklich, daß ...«

»Natürlich. Das Kuvert ist in der Zwischenzeit geöffnet, das Siegel erbrochen worden ...«

In diesem Augenblick kam Herr Suron auf sie zu. Er war von überströmender Liebenswürdigkeit gegen Reismann, schlug ihm auf die Schulter und sagte mit jener heiteren Freundlichkeit, die die Gewißheit eines einkassierten Gewinns verleiht:

»Na, lieber Freund, ein andermal wünsche ich Ihnen mehr Glück. Aber auf alle Fälle war es meisterhaft gemacht. Ich bewundere Sie.«

»Ja, es war gut gemacht,« sagte Krag und sah den Finnen vielsagend an.

Ein plötzliches Schweigen trat ein. Und durch dieses Schweigen tönte das Tuten einer Autohupe.

»Das ist Ihr Auto,« sagte Krag.

»Verstehen Sie sich auch auf solche Dinge?« fragte der Finne lachend.

»Autos sind meine Spezialität,« sagte Krag. »Ich kann an jeder Hupe hören, welche Firma es ist. Sie haben eine Excelsiormaschine.«

Suron lachte laut auf.

»Das muß ich sagen, heute abend ist Bluffen Trumpf,« erwiderte er. »Vor zwei Tagen erst habe ich mir eine andere Hupe gekauft.«

Krag machte eine bedauernde Handbewegung.

»Dann muß ich zugeben,« sagte er, »daß ich Ihr Auto schon kannte. Ich habe es bereits gesehen.«

»Wann?«

»Heute.«

»Heute? Wann denn?«

»Um drei Uhr.«

 

Ein Telegramm von »Jos«

 

»Um drei Uhr!«

Diese drei Worte hatte Krag mit berechnender Plötzlichkeit hervorgestoßen. In solchen Ueberraschungen war er Meister. Seine Stimme hatte keinen ungewöhnlichen Klang gehabt, und dennoch blieben die Worte noch eine ganze Weile wie ein zweischneidiges Schwert in der Luft stehen. Sie bekamen einen seltsamen Doppelklang, der weder durch die Worte an sich noch durch ihren Sinn hervorgerufen wurde, aber die Art, wie er sie aussprach, machte, daß derjenige, an den sie gerichtet waren, plötzlich aufhorchte, nachdenklich und verwirrt. Es gehörte eine ungewöhnliche Geistesgegenwart dazu, um sich bei solch plötzlichem, unerwartetem Geschoß nicht zu verraten. Und in den Augenblicken, die folgten, beobachtete Krag das Mienenspiel und den Seelenzustand des Angegriffenen aufs schärfste.

Auch in diesem Fall entstand eine Pause zwischen Krags Worten und Surons Antwort, die Krag dazu benutzte, um den Gesichtsausdruck des Finnen mit gespannter Aufmerksamkeit zu studieren. Er verriet ein gewisses Erstaunen, und Krag wollte jede Wette eingehen, daß Suron seine Antwort wohl überlegte.

»Um drei Uhr,« murmelte er, »um drei Uhr, lassen Sie mal sehen. Nein, das kann nicht stimmen. Um drei Uhr war ich zu einer Konferenz in der Börse.«

»Na, vielleicht war es etwas später,« gab Krag lächelnd zu.

Es war nicht Krags Absicht, den Angegriffenen jetzt noch mehr zu beunruhigen. Darum wich er aus.

»Sie haben mich also in meinem Auto gesehen? Vielleicht haben Sie auch meine neue Hupe gehört?«

»Freilich. Eine prächtige Hupe. Ihr Klang geht einem durch Mark und Bein.«

»Mit anderen Worten,« fuhr Suron fort, »wenn Sie die Hupe hören, dann wissen Sie, daß es mein Auto ist. Es ist keine vage Vermutung?«

»Nein, ich weiß es.«

Der Finne lachte.

»Das nenne ich Scharfsinn,« sagte er.

In diesem Augenblick wurde Krag von anderer Seite angerufen und verließ darum Suron und Reismann. In einem Wandspiegel aber konnte er verfolgen, wie uninteressiert der Finne Reismann zuhörte und wie sein Blick ihm die ganze Zeit mit eigentümlicher Wachsamkeit folgte.

Der Spielinspektor hatte Krag gerufen.

»Ich habe meine Bedenken wegen des Spieles,« sagte der Inspektor, indem er Krag an einen Tisch zog, wo sie ungestört sitzen konnten, »und ich habe Ihnen angemerkt, daß auch Sie welche haben.«

»Sie meinen, weil das Spiel so ungewöhnlich hoch war?«

»Es war ungewöhnlich hoch. Aber das ist es nicht, denn unsere Gesellschaft ist ja privat. Nein, Reismann gefällt mir nicht. Sonst pflegt er immer ganz gleichmütig zu sein, ob er gewinnt oder verliert. Heute abend aber behauptet er, daß die Karten, die wir versiegelt hatten, vier Asse waren. Was halten Sie davon?«

»Ich meine, daß Reismann entweder total verrückt sein muß, oder daß er die vier Asse gehabt hat. Und in letzterem Fall hätte er die Partie gegen Stenesens vier Könige gewonnen. Total verrückt aber ist Reismann nicht. Da haben Sie meine Meinung über die Sache.«

»Aber das ist ja entsetzlich. Was will er denn machen?«

»Nichts. Er trägt seinen Verlust, mehr kann man nicht von ihm verlangen. Ich weiß übrigens, daß es einen Augenblick gab, wo er schwankte. Fast hätte er protestiert und Betrug! gerufen. Es spricht für seine Geistesgegenwart, daß er den Verlust vorzog und auf einen Krach verzichtete. Er nahm die versiegelten Karten als eine Tatsache, daß hier eine – Unregelmäßigkeit vorliegt, so wollen wir es bis auf weiteres nennen.«

Der Inspektor sank ganz gebrochen in sich zusammen.

»Haben die Karten während der ganzen Zeit im Geldschrank gelegen?« fragte Krag.

»Ja, und außer mir hat niemand die Schlüssel dazu.«

»Schlüssel zu einem altmodischen Geldschrank nachzumachen, ist keine große Kunst,« bemerkte Krag.

»Aber die Siegel! Ich habe die Karten doch selbst versiegelt, und die Siegel waren intakt.«

Krag zuckte die Achseln.

»Ich bitte Sie, nehmen Sie die Siegel und die Kuverts in Verwahrsam,« sagte er.

»Das habe ich schon getan. Sie sind in diesem Kuvert. Alle drei Umschläge mit ihren Siegeln. Wollen Sie sie haben?«

»Ja, gern.«

»Glauben Sie, daß man Siegel abnehmen und wieder aufsetzen kann?«

»Für einen durchtriebenen Verbrecher ist es eine Kleinigkeit,« sagte Krag. »Wenn ich nach Hause komme, werde ich die Papiere einer gründlichen Prüfung unterziehen. Wann wollen Sie Bescheid haben? Morgen?«

»Ich möchte so schnell wie möglich Gewißheit haben. Ich bleibe bis fünf Uhr heute nacht hier. Wollen Sie mir bis dahin telefonieren?«

»Ja.«

Einige Minuten später stand Krag auf der Straße. Kurz vorher hatte er Billington fortgehen sehen. Reismann saß in einem großen Kreis von Bewunderern und ließ sich ob seines großartigen Spiels huldigen. Er hatte wieder eine ganze Batterie Champagnerflaschen bestellt, so daß er augenblicklich mit seinem Leben sehr zufrieden war. Man konnte ihm sein Behagen über die bedeutende Rolle, die er spielte, ansehen.

Es war in den Tagen, als alle Spekulationen glückten, als alle Papiere, sogar die verachtetsten, stiegen. Die Stadt war voll von Spekulanten, die durcheinanderrannten, halbgeleerte Champagnerflaschen hinterließen, tags an der Börse und nachts in den Klubs hoch spielten und es als einen Eingriff in ihre persönliche Freiheit betrachteten, daß es überhaupt Nächte, dunkle Stunden gab, in denen die Papiere unmöglich steigen konnten. Nächte, die eine veraltete, törichte Tradition zur Ruhe für die Menschheit bestimmt hatte.

Aehnliche Gedanken schossen Krag flüchtig durch den Kopf, während er vor dem Klub auf der Straße stand und wartete. Trotz allem hielt er viel von Reismann, weil dieser im Grunde eine vornehme, gutherzige Bohemenatur war, aufrichtig, kindlich und häufig wehmütig gestimmt.

Der »Unpolitische Freisinnige Klub«, wie der offizielle Name lautete, lag an einer Straßenecke. Vor dem Klub wartete Surons »Excelsior«-Auto. Krag stand hinter der Ecke verborgen und hörte Suron aus dem Hause kommen und dem Chauffeur folgende Anweisung geben: »Zum Telegraphenamt.« Im Vorbeigehen hatte Krag den Chauffeur angesehen. Er hatte keinen roten Vollbart und glich Jonassen überhaupt nicht.

Kurz darauf trat Krag bei dem Nachtbeamten des Telegraphenamtes ein. Suron war soeben weitergefahren.

»Ich muß unbedingt das Telegramm lesen, das der Herr eben aufgegeben hat,« sagte er zum Beamten.

»Sie sind es, Herr Krag,« sagte der Beamte. »Da können wir uns wohl die Formalitäten, die zur Auslieferung eines Telegramms vorgeschrieben sind, sparen. Hier ist das Telegramm. Ich glaube aber kaum, daß es Interesse für Sie hat.«

Krag las:

 

»Palasthotel
Kopenhagen.
Verspätet. Komme am achten morgens. Zimmer reservieren.
Johs. P. Christensen.«

 

»Eine ganz gewöhnliche Zimmerbestellung,« sagte Krag. »Sie haben recht, es hat kein Interesse für mich.«

»Außerdem haben Sie wohl die Unterschrift beachtet,« sagte der Beamte. »Joh. P. Christensen ist ja der große Schiffsreeder, den alle Welt ›Jos‹ nennt, nicht?«

»Ja, ja, Sie haben recht. Er hat das Telegramm wohl nicht selbst aufgegeben. Kennen Sie ›Jos‹?«

»Von Ansehen natürlich. Ich habe zu Tausenden Telegramme für ihn aufgenommen, aber selbst hat er sie nie gebracht, er schickt immer seine Lehrlinge, Boten, Hoteljungen oder Dienstmänner, aber selbst kommt er nie.«

»Das ist begreiflich,« sagte Krag. »Aber Sie haben recht, dieses Telegramm hat kein Interesse für mich, ich meinte nur, während ich hier in der Gegend auf Entdeckungsreisen ging, daß der Mann, der das Telegramm aufgab, mit ausländischem Akzent sprach, und wie Sie wissen, muß man heutzutage auf Ausländer ein wachsames Auge haben. Uebrigens habe ich auch ein Telegramm aufzugeben. Auch für Kopenhagen.«

»Sie wollen also selbst ein Zimmer bestellen,« sagte der Beamte, während er Krags Telegramm aufnahm. »So kurz vor Weihnachten kann es schwierig sein. Aber Sie werden wohl eines bekommen.«

Als Krag das Telegraphenamt verließ, konnte er plötzlich konstatieren, daß er ein Verbindungsglied zwischen dem Fall »Jos« und Suron bekommen hatte. Er stellte fest, daß er bereits seit den letzten Stunden eine Ahnung von der Existenz dieser Verbindung gehabt hatte.

Was aber hatte das Ganze für einen Sinn? Jos war ja bereits auf dem Wege nach Kopenhagen! Und warum hatte der Finne ein Telegramm mit Jos' Unterschrift abgesandt?

Der Hauptpunkt blieb indessen das »Excelsior«-Auto und der Brief um drei Uhr, dieser Brief, den alle vergessen hatten.

Und dennoch war es dieser Brief, der Krags Interesse am meisten in Anspruch nahm. Ihm ahnte, daß sich hinter diesem Brief ein Vorhaben verbarg, das jetzt in voller Entwicklung war.

 

Unter blauem Himmel

 

Krag fühlte plötzlich ein unbezwingliches Interesse für die Personen, die in der Burleske: »Aktiengesellschaft der 7. Dezember« mitgespielt hatten. Eine Reihe von Menschen und Situationen waren bisher an ihm vorübergewirbelt, heiter bestrahlt von dem großen Narrenspiel, das Reismann und seine Freunde arrangiert hatten. Nachts um drei Uhr, nachdem er von dem Telegraphenamt geradeswegs nach Hause gefahren war, saß er und überdachte die Ereignisse der letzten Tage. Diese Ereignisse hatten die Festlichkeit und Farben eines munteren Lustspiels. Zuerst die dramatische Sortie des Malers aus dem Grand Hotel – wie gut war das einstudiert gewesen, mit fast kokettem Raffinement. Die Szene, als er hinausging mit den Worten: »Ich bin ein unglücklicher Mensch!« gehörte ja unbedingt auf die Bühne. Dann Oedegaards Verschwinden aus Krags eigenem Fahrstuhl! Wie geschickt war auch das arrangiert gewesen, mit der erfahrenen Technik und dem sicheren Griff des mondänen Sensationsschriftstellers. Dann kam die komische Figur des Stückes – Doktor Ovesen, der vorsichtige, bequeme Spießbürger, der verwundert und widerwillig in der unerwarteten Sensation mitspielt. Ferner Rechtsanwalt Davidsen, robust, gigantisch, lärmend. Dann er selbst, der Detektiv, der von den Regisseuren rücksichtslos mit in die Posse hineingezogen wird, damit es ihr nicht an einem rein äußerlichen Effekt fehle. Ferner die melodramatische Sitzung in dem alten düsteren Wirtshaus, das im Schneewetter recht den Rahmen zu diesem Karnevalsaufzug bildet.

Jetzt aber kommt zum erstenmal ein Mißklang in die heitere Stimmung. Etwas Unvorhergesehenes hat sich in die Pläne des Regisseurs eingeschlichen: die unverständliche Episode mit Jos. Die smarten Unternehmer haben indes so viele Dinge im Kopf, daß der Fall »Jos«, wenn er auch im Moment überraschend wirkt, sie auf die Dauer nicht beschäftigen kann. Doch ist es gerade dieser Punkt, der in Asbjörn Krag ein Gefühl erweckt, als ob das Leben selbst, das launenhafte und tragische Leben, in das muntere Spiel eingegriffen und sich unter die Masken des Maskenballes gemischt habe. Noch zeigt es sich nicht deutlich, es hält sich hinter der dunklen Unwirklichkeit des Lustspiels verborgen. Dennoch hat sich bereits unheilverkündender Ernst in den Scherz gemengt; beim nächtlichen Spiel im Klub bekommt Reismann zum erstenmal eine Ahnung von diesem rauhen Ernst, als er auf unbegreifliche Weise ein ganzes Vermögen verliert. Fast scheint es, als ob der Scherz seine Rolle zu Ende gespielt hat und sich zurückziehen will, der Ernst aber sagt: »Nein, hiergeblieben, das Stück ist noch nicht zu Ende. Jetzt will ich mitspielen. Ich bin eine Macht, dazu bestimmt, die Fäden des Scherzes zu Ende zu spinnen. Wer mich lenkt, das sage ich vorläufig noch nicht. Haben Sie meine Anwesenheit denn noch immer nicht bemerkt, meine Herren? Habe ich mich Ihnen nicht deutlich genug durch den Brief um drei Uhr zu erkennen gegeben? Nun, ich gedenke fortzufahren, ich bin unerbittlich. Sehen Sie – da liegt Reismann bereits auf der Nase. Achtundsechzigtausend Kronen ärmer.«

So saß Asbjörn Krag in der Nacht und phantasierte über diese neue Wendung der Dinge oder, richtiger gesagt, über die schonungslose Fortsetzung. »Der Ernst hat recht,« dachte er bei sich, »hier in meiner Hand halte ich die Beweise, daß der Ernst bereits einen tragischen Ton bekommen hat, so gewiß, wie jedes Verbrechen immer tragisch ist.«

Auf dem Schreibtisch vor ihm lag das Material, das er von dem Spielinspektor des Klubs bekommen hatte. Krag hatte es einer genauen Untersuchung unterworfen. Deren Ergebnis hatte ihn nicht überrascht. Er wußte nun, was er vordem nur vermutet hatte: die Siegel waren erbrochen und wieder aufgesetzt.

»Es stimmt also,« dachte Krag, »der Verbrecher hat sich den Scherz auf geschickte Weise zunutze gemacht und seine Arbeit zu Ende geführt. Und es stimmt auch, daß der Ernst noch nicht verraten hat, durch welche Macht er gesteuert wird.«

Krag hatte mit dem Spielinspektor vereinbart, daß man den Verdacht geheimhalten wollte. Solange es keinen Schatten von Beweis gab, konnte eine frühzeitige Aufdeckung der Sache nur schaden. Vor allem kam es darauf an, den Verbrecher in Unwissenheit darüber zu lassen, daß man den Betrug entdeckt hatte.

Am nächsten Tag, den 7. Dezember, hatte Christiania einen jener schönen Sonnenscheintage, die die Stadt als Winterstadt so berühmt gemacht haben. So schnell kann das Wetter umschlagen. Gestern noch lag die Stadt in wirbelndem Schneesturm begraben und heute strahlte ein klarer Himmel herab, mit weißen Sommerwölkchen, die still und unbeweglich in dem blauen, sonnigen Raum standen. Es war ein Grad Kälte, gerade ausreichend, daß der Schnee nicht schmolz. Die frischgebackenen Reichen der Stadt hatten Gelegenheit, einen neuen Luxus zu zeigen. Vierspännige Schlitten eilten über die weiche Schneedecke des Fahrweges, während weiße, geflochtene Schlittennetze die Vollblutpferde umflatterten. Durch alle Straßen klang melodisches Schellengeläute. Und als die Lichter in der zeitigen Dämmerung angezündet waren, glich das Zentrum der Stadt mit den erleuchteten Theatern und Restaurants einer Weihnachtsausstellung in einem Konfitürengeschäft. Die ganze Stadt war unterwegs, um diese schönen Stunden zu genießen.

Reismann hätte für die Enthüllung seines Geheimnisses keinen besseren Tag wählen können. Wenn auch mancher von den guten Bürgersleuten eine Ahnung davon hatte, daß sich hinter dem Unternehmen ein philanthropischer Schwindel verbarg, und daß einige junge, verwegene Menschen die ganze Stadt an der Nase herumgeführt hatten, so machten der schöne Tag und die allgemeine fröhliche Stimmung doch alle nachsichtig, so daß niemand Spielverderber sein wollte. Im übrigen wußte man auch nicht, was Schwindel und was Ernst sei. Die drei Teilnehmer an dem Abenteuer hielten sich standhaft zu Hause, und als die Mittagszeitungen die Mitteilung brachten, daß der Schriftsteller Oedegaard in einer Plauderei über die seltsamen Ereignisse berichten würde, und da man seinen Witz genugsam kannte, konnte »Die blaue Eule« bereits über Mittag einen Anschlag machen, daß die wenigen noch verfügbaren Billette nur zum fünffachen Preis abgegeben würden. Die Börse war auch festlich gewesen – es war, wie gesagt, zu der Zeit, als alle Papiere stiegen, und darum fand man es ganz in der Ordnung, daß auch Varietébillette dem allgemeinen Auftakt folgten.

Vor allen Dingen aber gab der schöne Tag Veranlassung zu dem sorglosen Beisammensein, das eine Eigenart von Christiania ist, gibt es doch nur wenige erstklassige Restaurants, in denen alle Welt sich trifft und beieinandersitzt. So war es denn nicht merkwürdig, daß Asbjörn Krag im Laufe von wenigen Nachmittagsstunden, ohne Verabredung, alle diejenigen treffen konnte, mit denen er sprechen wollte. Es sah ganz harmlos und »zufällig« aus und verriet keine Absicht von Krags Seite. Das paßte ihm, denn er wollte um alles in der Welt mit seinen Fragen kein Aufsehen machen. Keiner verstand es wie Krag, während eines flüchtigen und anscheinend ganz gleichgültigen Gesprächs das aus den Leuten herauszulocken, was er wissen wollte. Zuerst trank er ein Glas Wein mit Billington in der Bodega. Dann kam die vergnügliche Unterhaltung mit Suron auf der Promenade, während die Musik spielte. Und schließlich das vorzügliche Frühstück im Spiegelsaal.

Als Krag um sechs Uhr im Zug saß, der nach Kopenhagen fuhr, vertrieb er sich die Zeit damit, das zu überdenken, was er auf diese Weise erfahren hatte.

Er saß in einem Coupé erster Klasse, und ihm gegenüber saß Fräulein Erko.

Die hübsche Finnin, Fräulein Aino Erko, saß mit züchtig niedergeschlagenen Augen da.

Daß die junge Dame sich hier im Coupé befand, hing aber mit den Neuigkeiten zusammen, die Krag heute nachmittag erfahren hatte.

 

Der Reisekamerad

 

Asbjörn Krag erinnerte sich der Worte von Brakels »ein sehr hübsches Mädchen«. Der Maler hatte recht. Aino Erko war wirklich sehr hübsch. Sie war zeitig dagewesen und hatte den besten Eckplatz am Fenster bekommen. Sie las in einem englischen Magazin. Hin und wieder, wenn sie umblätterte, blickte sie auf und musterte ihre Mitreisenden. Sie war dunkel, von fast südländischem Aussehen. Sie betrachtete die anderen Passagiere mit gefühlloser Gleichgültigkeit, als ob es sie genierte, daß noch andere Menschen im Coupé seien, und jedesmal zog sie sich noch tiefer in ihre Ecke zurück. Diese reservierte Haltung wurde noch durch ihre Kleidung betont, ein dunkles, enganschließendes Reisekostüm, das bis ans Kinn zugeknöpft war. Eine schmale weiße Manschette faßte ihr Handgelenk ein. An ihrer Hand saß nur ein einziger schmaler Brillantring. Sie hatte das Gepräge einer Pflegerin, einer »Schwester«, die verschämte Zurückhaltung und das anspruchsvolle Selbstbewußtsein. Ueber der Schulter trug sie an einem Riemen eine Ledertasche mit silbernem Schloß. Dieses einfache Silberschloß gegen das schwarze Kostüm, der schmale, kaltblitzende Brillantring und die weißen Manschettenstreifen erhöhten ihre Reserviertheit. Ihre vornehme Haltung im Verein mit ihrem schönen Gesicht, das durch die Wärme im Coupé leicht gerötet war, hatte zwischen den Passagieren allgemeines Aufsehen erregt, wovon sie sich überzeugen konnte, wenn sie nur geruht hätte, ein einziges Mal die auf sie gerichteten Blicke zu erwidern. Sie war die einzige Dame im Coupé.

Asbjörn Krag hatte sie nicht gekannt, aber er wußte jetzt, daß sie es war, und er wußte auch, daß in der Ledertasche, die sie über der Achsel trug, Papiere von außerordentlicher Wichtigkeit waren. Es waren die Papiere, die Jos zu seinem großen ökonomischen Feldzug in Kopenhagen nötig hatte. Krag nahm an, daß es Bankgarantien seien und Uebertragungen von bedeutenden Werten, die zum Abschluß großer Geschäfte in einem fremden Land nötig sind. Von diesen Dingen hatte Krag mit Billington in der Bodega gesprochen. Die Papiere hatte Jos im Bureau zurückgelassen und hatte telegraphisch angeordnet, daß Fräulein Erko sie ihm nach Kopenhagen bringen sollte. Fräulein Erko war seine Privatsekretärin, der er volles Vertrauen schenkte.

Krag hatte auf seine verschlagene Art, durch die er vollkommene Gleichgültigkeit heuchelte, mit Billington über den merkwürdigen Umstand gesprochen, daß Jos Christiania so plötzlich verlassen habe, ohne die Papiere mitzunehmen. Billington aber hatte diesem Umstand kein besonderes Gewicht beigelegt, teils weil Jos sich nicht selten exzentrische Dinge leistete, teils weil Fräulein Erko seit einem Jahr die geheimste und wichtigste Korrespondenz des Chefs besorgt hatte. Im übrigen könne man nicht wissen, durch welche wichtigen Konferenzen Jos an jenem Nachmittag in Anspruch genommen gewesen sei. Jos hatte das Telegramm aus Moß abgesandt. Und so viel wußte Billington, daß große ökonomische Interessen auf dem Spiel standen, und daß ein guter Geschäftsfreund von Jos, ein Gutsbesitzer, in der Nähe von Moß wohnte.

Darauf hatte Krag mit großer Behendigkeit eine neue Attacke auf Billingtons Vertrauensseligkeit gemacht, indem er das Gespräch auf die Geschehnisse der Nacht im »Freisinnigen Klub« gelenkt hatte. Via Suron kam er wieder leicht und unbemerkt auf Jos zu sprechen. Während des Gespräches erfuhr er folgendes: Während mehrerer Monate hatte eine Verbindung zwischen Jos und Suron bestanden. Die Natur dieser Beziehungen war Billington allerdings unbekannt. Krag meinte zu bemerken, daß Billington sich Surons Existenz nur mit gewissem Widerwillen erinnerte. Vielleicht fühlte er sich zurückgesetzt, weil Jos und Suron Geschäfte miteinander vorhatten, in die er nicht eingeweiht war.

Krag dachte bei sich: »Was Billington wohl sagen würde, wenn ich ihm mitteilte, daß ich Suron im Verdacht habe, sich durch Betrügerei vierunddreißigtausend Kronen zugeschanzt zu haben, und daß Jos, der große angesehene Geschäftsmann, ihm dabei behilflich gewesen zu sein scheint?«

Und auch diese Gedanken beschäftigten ihn, während er im Coupé Fräulein Erko gegenübersaß, die nicht die geringste Notiz von seiner Anwesenheit nahm und sich nur für ihr englisches Magazin interessierte.

Krag spielte sich selbst folgendes Experiment vor: Wenn ich mich nun plötzlich vorbeugte und Fräulein Erko fragte: »Gnädiges Fräulein, wie geht es zu, daß Jos sich noch heute nacht in Christiania befand? Wie geht es zu, daß er aus Moß telegraphierte, wo er gar nicht gewesen ist?«

Ob sie ihm dann einen Blick unter ihren langen Wimpern hervorwerfen und sich verständnislos und erzürnt noch tiefer in ihre Ecke zurückziehen würde? Oder würde sie sich durch Bestürzung verraten, hervorgerufen durch den plötzlichen Ueberfall, dem selbst starke Naturen nicht gewachsen zu sein pflegen? Krag aber verhielt sich passiv. Er lehnte sich in die Ecke zurück und lauschte dem eintönigen, einschläfernden Geräusch der Räder auf den Schienen, während er sich das Bild der beiden Personen, die sein Interesse erregt hatten, ins Gedächtnis rief: Jos und Suron.

Wenn Krag sich mit einer Affäre beschäftigte, so interessierten ihn die Menschen, die darin verwickelt waren, nicht nur in ihrer äußeren Erscheinung, sondern er versuchte ihrem Dasein eine Art plastischer Form zu geben. Er vertiefte alle Einzelheiten, indem er es verstand, jeden noch so kleinen Umstand im Leben des Betreffenden mit neuen Kombinationen zu verbinden. Um das Skelett von trockenen Tatsachen schuf er neue Konturen und neue Bewegungen, so daß jeder Mensch wie eine Figur in einem lebendigen, abwechslungsreichen Spiel wurde. Die trockenen Tatsachen, mit denen seine Phantasie spielte, sahen etwa folgendermaßen aus:

Jos. – Ein Mann von ungefähr vierzig Jahren, robuster Typ. Ein tüchtiger Geschäftsmann, der ehemals ein gutgehendes Geschäft gehabt, vor einigen Jahren aber bankrott gemacht hatte, weil er nicht genug bekommen konnte. Ein Mann, der untergehen oder sehr hoch steigen muß, weil diese Spannung mit seinem Temperament in unlösbarer Verbindung steht. Ein Mann, der sich viele Freunde erwirbt, weil das gesellschaftliche Leben seine Erholung bildet und er gern Geld ausgibt, weil Geld ihn an und für sich nicht im mindesten interessiert. Aber auch ein Mann, vor dem man sich in dem großen Spiel um Reichtum und Einfluß hüten muß, weil er bei seinen Geschäftsunternehmungen mathematisch und nicht menschlich rechnet. Als sich nach seinem Bankrott neue Möglichkeiten boten, kam er zurück und verstand sie besser und sicherer auszunutzen als irgend jemand. Er hätte sich jeden Augenblick mit einem Vermögen von mehreren Millionen zurückziehen können, was ihm aber nicht anders erschienen wäre, als wenn ein gesunder Mensch sich in ein Irrenhaus hätte einsperren lassen. Er befindet sich heute abend sicher nicht mit im Zuge.

Suron. – Finne. Aus seinen Erzählungen geht hervor, daß er die ganze Welt bereist hat. Sonst aber weiß niemand etwas anderes von ihm, als daß er vor ungefähr dreiviertel Jahren in Christiania auftauchte. Er hat ein gewinnendes, offenes Wesen, aber gerade diese Offenheit entwaffnet alle Versuche, ihm näherzukommen. Durch seine Flottheit und gesellschaftlichen Fähigkeiten hat er sich viele Freunde erworben. Auch Geld hat er erworben. Seine Freunde machen gern ein Spielchen mit ihm, und wenn es Spekulationen gilt, hat er oft Ideen, die durch ihren Scharfsinn in Erstaunen setzen. Man hält ihn für eine Künstlernatur. Er ist anstandslos von der guten Gesellschaft aufgenommen worden, vielleicht, weil man es heutzutage nicht so genau nimmt. Er ist mit im Zuge, wenn auch in einem anderen Coupé.

Der Zug hält bei Moß und fährt dann weiter. Hält bei Fredriksstad und geht weiter. Die Uhr ist fast zehn, als die Tür des Abteils lautlos zur Seite geschoben wird.

Suron steht in der Tür. Fräulein Erko legt ihr englisches Magazin aus der Hand, erhebt sich und tritt zu ihm in den Korridor hinaus.

Suron trägt einen grauen englischen Anzug, der sein kosmopolitisches Aussehen vervollständigt. Ueber der Achsel hat er ein Rennglas, eine Pfeife im Munde, auf dem Kopf einen weichen Filzhut. Er sieht aus wie ein reisender Lord oder der Korrespondent einer Londoner Zeitung.

Warum aber grüßte er Asbjörn Krag nicht?

Weil Asbjörn Krag gar nicht im Coupé saß, was dem Leser merkwürdig erscheinen mag. Dort saß ein ganz anderer, ein Franzose wohl, ein jüdisch-französischer Handelsreisender mit einem langen, seidenweichen Vollbart, den er wohlgefällig zu streichen pflegt, wenn er von Geld oder Frauen spricht.

 

Alle Wege führen nach – Kopenhagen

 

Als Asbjörn Krag am nächsten Morgen aus seinem Schlafcoupé trat, begann sich gerade ein blasser Tagesschein mit den gelben Lampen auf dem Korridor zu vermischen. Der Zug war schon weit in Schweden und näherte sich Helsingborg. Nacheinander kamen die Reisenden zum Vorschein, einige graubleich und übernächtig, andere morgenfrisch. Bald war der Korridor überfüllt. Der Wagen war stark geheizt, und die Passagiere mußten beständig die Feuchtigkeit von den Fensterscheiben wischen, wollten sie die Landschaft betrachten, die der Zug durcheilte, eine durchnäßte Ebene, wo nur hier und dort noch Schneeflocken lagen. Man näherte sich dem nordischen Rivieraklima am Sund.

Krag machte einen hastigen Streifzug durch die Coupés. Einige der Schlafcoupés waren von der Bedienung bereits zurechtgemacht worden, und in einem Abteil erster Klasse für Nichtraucher saß Fräulein Aino Erko, seit langem auf, seit langem in ihrem tadellosen Reisekostüm, noch immer vornehm in eine Ecke zurückgezogen. Das englische Magazin hielt sie jetzt zusammengefaltet in ihrer behandschuhten Hand. Krags Blick suchte die Tasche mit den Dokumenten. Ja, sie hing noch immer an dem Riemen über der Achsel.

Krag grüßte, indem er einen Platz dicht neben dem Korridor einnahm, und sie erwiderte seinen Gruß mit einem kurzen, ungnädigen Kopfnicken, wie, um ihm zu zeigen, daß es ihr ganz gleichgültig sei, ob er da sei oder nicht.

Suron war nicht da. Als er sie am vorhergehenden Abend im Coupé besuchte, hatte er ihr nur den Gepäckschein geben wollen. Sie hatten einige Minuten miteinander gesprochen, worauf der Finne in sein Coupé zurückgekehrt war. Das Ganze war wie ein Höflichkeitsakt gewesen, korrekter konnte man nicht auftreten. Sie waren wie Bruder und Schwester. Außerdem waren sie ja Landsleute, nichts schien darum natürlicher, als daß sie ihre Gesellschaft suchten und sich gegenseitig halfen. Und wenn ein Verhältnis zwischen ihnen bestand, so war auch das das Natürlichste von der Welt. Auf alle Fälle bekam Krag dadurch eine Erklärung für den Umstand, daß Suron an jenem Abend aus Jos' Hause gekommen war. Er mochte oben bei seiner Geliebten gewesen sein, die allein im Bureau saß und auf eine Mitteilung von ihrem Chef wartete. Auf diese Weise war alles leicht zu erklären und Krag fühlte sich wirklich von seiner Rolle als Spion ziemlich bedrückt. Gestern abend hatte er noch festgestellt, daß Suron in dem Wagen saß, der nach Malmö ging. Es war üblich, daß Leute, die morgens gern lange schliefen, über Malmö fuhren, von wo sie die Fähre nach Kopenhagen nahmen, statt die direkten Wagen Helsingborg–Helsingör. Krag hatte einen Augenblick überlegt, welchem von beiden er folgen sollte: Suron oder Fräulein Erko. Hatte dann aber schnell den Entschluß gefaßt, demjenigen zu folgen, der die Dokumente mit sich führte. So kam es, daß Krag nach Helsingborg fuhr, während Suron mit dem Kontinentalzug den Weg über die Ebene von Schonen nahm.

Es war zu der Zeit, als die Paßkontrolle noch sehr scharf war. Krag hatte außer seinem Paß, der auf seinen richtigen Namen lautete und mit seiner Photographie versehen war, noch einige andere Papiere, die ihm gestatteten, alle offiziellen Schranken ungehindert zu passieren. Als der dänische Polizeibeamte Krags Paß mit der Photographie musterte, das energische, glattrasierte Gesicht, und einen bärtigen Herrn von ausgeprägt südländischem Typ vor sich sah, konnte er sich nicht versagen, scherzhaft zu bemerken:

»Das Bild ist aber riesig ähnlich.«

Krag zeigte ihm seine Legitimation.

»Ja, ja, ich verstehe,« sagte der Beamte, indem er seinen Stempel auf das Dokument drückte.

Darauf betrachtete er wieder den maskierten Detektiv und lächelte.

»Eine glänzende Maske,« sagte er, »einfach großartig.« Und mit einer Handbewegung auf die Reisenden fügte er flüsternd hinzu:

»Ist er mit?«

»Ja,« antwortete Krag.

»Dann wünsche ich erfolgreiche Jagd, Herr Krag.«

Als Krag aus dem Zollgebäude trat, blieb er eine Weile stehen und betrachtete den Strom von Reisenden, die mit ihrem Gepäck in der Hand zum Bahnhof eilten. Unter den letzten war Fräulein Aino Erko. Doch folgte sie nicht den anderen Reisenden, sondern bog nach rechts ab und blieb auf dem Marktplatz stehen, wie um sich zu orientieren. Da wurde sie des großen Hotels am Hafen ansichtig, dessen Schild »Eisenbahnhotel« ihr entgegenleuchtete, und schnell entschlossen lenkte sie ihre Schritte dorthin.

Diese kleine Abweichung von der üblichen Route hatte Krag nicht berechnet, doch war sie ihm keineswegs unwillkommen. Eine junge weibliche Angestellte, die eine Reise macht, um ihrem Chef wichtige Papiere zu bringen, und während der Fahrt von ihrem galanten Bräutigam, oder vielleicht nur Verwandten, eskortiert wird – etwas anderes hatte bisher nicht vorgelegen. Plötzlich aber war die Veränderung eingetreten, daß die junge Dame, anstatt ihrem Chef entgegenzueilen, in Helsingör ausstieg und sich dort ins Hotel begab. Und das gab Krag Veranlassung zu Ueberlegungen, die ihm keineswegs unangenehm waren.

Er wartete, bis der Zug nach Kopenhagen abgegangen war, und folgte dann der jungen Dame ins Hotel. In dem großen Eßsaal, dessen Fenster zum Hafen und Kai hinausgingen, wurde das erste Frühstück serviert. Sein Erscheinen konnte zu dieser Tageszeit nicht das geringste Aufsehen wecken. Helsingör, ein großer Handelsplatz, hatte täglich Besuch von zahlreichen Kaufleuten, die, bevor sie ihre Runde durch die Stadt machten, sich mit einem Frühstück in dem renommierten Hotel stärkten. Krag konnte ohne weiteres als ein solcher Kaufmann gelten. Es saßen bereits mehrere Gäste drinnen. Und an einem kleinen Tisch in der Nähe des Fensters saß Fräulein Aino Erko mit ihrem Kaffee und einer Zeitung. Der Zeitung schenkte sie nicht viel Aufmerksamkeit, sie schien sich mehr für das zu interessieren, was sie vom Fenster aus sehen konnte, diese entzückende Aussicht über den Sund zwischen Dänemark und Schweden. Ueber dem Oeresund liegt eine ähnliche Stimmung wie über anderen großen Verkehrstoren, Gibraltar, Singapore, Calais, durch die die Weltsegler mit Reise- und Abenteuerlust in den Segeln, mit Grüßen aus fernen Ländern hindurchfahren. An diesem Dezembermorgen brütete der Himmel trübe und dunkel über der Landschaft, trotzdem war der Gesichtskreis voll von wimmelndem Leben – dem unaufhaltsamen, glitzernden Tanz der Wellen, Segelschiffen und Dampfern, die vorbeipassierten und schreienden Fischmöwen.

Da fuhr ein Auto beim Hotel vor, ein großes, offenes Privatauto mit einem einzigen Passagier. Er trug einen braunen amerikanischen Automobilpelz und sein Kopf war ausgerüstet, als wollte er eine Fliegertour von dreitausend Meter Höhe unternehmen. Er wickelte sich aus seinen Decken und Plaids und stieg aus, nachdem der Hoteljunge die Tür des Autos geöffnet hatte.

Asbjörn Krag erkannte diesen Mann, den er deutlich durch das Fenster sehen konnte. Es war kein Zweifel möglich. Den graugesprenkelten Spitzbart, das unnatürlich gerötete Gesicht und die hellen, fast weißen Augenbrauen hatte er häufig auf den Straßen und in den Restaurants von Christiania gesehen.

Es war Jos!

Der Schiffsreeder Joh. P. Christensen ging in die Halle des Hotels, wo er mit Fräulein Aino Erko zusammentraf. Sie hatte ihn vom Fenster des Restaurants aus gesehen und war ihm entgegengeeilt. Die Tür blieb einen Augenblick offen und Krag hörte, wie der Schiffsreeder sie freundlich, fast herzlich begrüßte. Er saß zu entfernt, um seine Worte zu verstehen, aber er fing ganz deutlich den singenden Tonfall des Westländers auf.

Bald darauf saßen beide im Auto. Fräulein Erko verschwand fast in dem großen Pelz, in den Jos sie eingewickelt hatte. Der Portier stopfte Decken und Plaids um sie herum – und dann fuhren sie davon. Der Aufenthalt hatte nur einige Minuten gedauert.

»Was kann das bedeuten?« dachte Krag, indem er eine Kombination zu Ende führte: »Aino Erko allein hier ... Suron hat sich unsichtbar gemacht ... Und Jos mit seinem Auto in Helsingör? Solche Aufmerksamkeit pflegt man seinen Angestellten nicht zu erweisen ... Sollte ich einer ganz gewöhnlichen Liebesaffäre auf der Spur sein?« dachte Krag mit einem gewissen Unbehagen.

Dann aber tröstete er sich damit, daß er ja einem Verbrecher auf der Spur sei, der sich durch Falschspiel vierunddreißigtausend Kronen angeeignet hatte. Daß bei dieser Jagd unvorhergesehene Ereignisse eintrafen, war nicht zu verwundern.

»Wohin ging die Reise?« fragte er den Portier, als er in die Halle trat.

»Nach Kopenhagen,« antwortete der Portier, indem er sich behaglich den Bart strich. Er hielt einen hübschen Schein in der Hand.

»Ein Auto,« sagte Krag. »Ich will auch nach Kopenhagen.«

 

Aino telegraphiert

 

Nachmittags um vier Uhr hatte Krag eine Konferenz im Hotel mit seinem dänischen Freund und Hilfsarbeiter, dem Detektiv Hansten-Jensen. Dieser gehörte zu dem besten Typ der Kopenhagener Polizei, verfügte über einen unverwüstlichen Humor und verstand die einheimischen Galgenvögel in ihrer eigenen Sprache sehr geschickt zu nehmen. Wenn es sich aber um elegante, raffinierte Spitzbuben nach internationalem Schnitt handelte, dann waren er und seine Kollegen ihnen nicht recht gewachsen. Darum hatten auch die internationalen Schwindler, die während der Kriegszeit nach Kopenhagen kamen, der Kopenhagener Polizei viel Kopfzerbrechen bereitet.

Er sprach gerade von solchen internationalen Verbrechern.

»Nach Kopenhagen kommen nicht mehr so viele,« sagte er, »seitdem Deutschland sich hermetisch abgeschlossen hat. Aber nach Christiania kommen eine Menge, wie ich gehört habe. Dorthin strömen sie aus Osten und Westen. Bergen soll ja das reine Port Said geworden sein. Nein, mit solchen Gaunern ist es nicht leicht. Man muß vorsichtig sein, sonst kann man seine Hand leicht in ein richtiges Wespennest stecken. Ich vergesse nie, wie ich den Grafen für einen Taschendieb gehalten habe. Und ich muß bekennen, lieber Krag, die Sache, die Sie hier bringen, scheint mir sehr kitzlig zu sein. Davon werden Sie nicht viel Freude haben. Das ist ja der reine Sport.«

»Soll es auch sein,« sagte Krag.

Er ging auf und ab, um sich zu erwärmen. Das Zimmer, das weder Kamin noch Ofen hatte, war rauh und kalt. Die Wände waren klebrig vor Feuchtigkeit.

»Ein merkwürdiges Hotel, dieses ›Lawendelhotel‹,« fuhr Hansten-Jensen fort. »Im Grunde ein ganz ordentliches Haus, aber verflucht altmodisch. Es hat unzählige Korridore und viele kleine Zimmer. Unsere einheimischen Verbrecher meinen, daß sie sich hier verstecken können. Wie oft habe ich den Herren gesagt, wenn ich sie auf ihren Zimmern begrüßte: ›Warum in aller Welt steigen Sie nicht im Hotel Continental oder im Palasthotel ab, dort würde es uns viel schwerer fallen, Sie zu finden.‹ Warum aber Sie dieses Hotel gewählt haben, Krag, das ist mir ein Rätsel.«

»Das wissen Sie ja, weil Suron hier wohnt.«

»Der Finne, ach ja. Auf den aber hätten wir für Sie achtgeben können.«

Er sah nach der Uhr.

»Merkwürdig übrigens, wie lange er auf seinem Zimmer bleibt. Ich dachte, er würde um diese Zeit ausgehen. Aber wie gesagt, es ist schwer, in dieser Sache, die so im Blauen schwebt, etwas vorzunehmen. Sind Sie mit den Aufschlüssen zufrieden, die wir Ihnen verschaffen konnten?«

Krag nahm am Tisch Platz und begann in seinem Notizbuch zu blättern.

»Außerordentlich!« sagte er. »Lassen Sie uns nun mal sehen, wie wir stehen.«

»Also,« fuhr er fort, »Suron kam um zwölf Uhr an. Das stimmt, denn der Weg über Malmö ist etwas länger als über Helsingör.«

»Und Schiffsreeder Christensen kam im Auto von Fredensborg und stieg um elf Uhr im Palasthotel ab, von seiner Sekretärin, Fräulein Erko, begleitet. Eine hübsche Dame, eine kleine Schönheit. Man kann annehmen, daß Christensen in Fredensborg übernachtet hat.«

»Ja, und das ist der Grund, daß er sie heute morgen in Helsingör mit dem Auto abgeholt hat.«

»Stimmt,« fiel Hansten-Jensen ein. »Jedenfalls hat Herr Christensen erst heute seine Zimmer im Palasthotel in Besitz genommen. Er wohnt sehr vornehm. Salon und Empfangsraum. Ja, ja, bei Ihnen in Norwegen gibt's was zu verdienen. Ich bestelle mir noch einen Pilsener. Prost!«

»Und weiter?« fragte Krag.

»Tja, dann hat sich nichts weiter ereignet, als daß Suron unmittelbar nach seiner Ankunft ausgegangen ist. Wohin, wissen wir nicht. Er kam vor einer halben Stunde zurück und sitzt jetzt unten auf Nummer 17.«

Er stampfte mit dem Fuß auf den Boden, um anzudeuten, wo das Zimmer lag.

»Und was mit Jos?«

»Ja, dieser Jos, wie Sie ihn nennen, das ist eine heikle Sache. Ihn beobachten, heißt, rein herausgesagt, die Heiligkeit des Privatlebens kränken. Wenn er etwas merkt, dann ist die Sache nicht angenehm für uns.«

»Aber das Ganze ist doch unternommen, um ihn zu schützen.«

»Zu schützen! Wogegen?«

»Das ist's ja, was ich noch nicht weiß.«

Hansten-Jensen lachte.

»Hören Sie also, was er sich vorgenommen hat. Um ein Uhr fuhr er im Auto zur Aktienbank, einer unserer vornehmsten Banken, wie Sie wohl wissen. Finden Sie das merkwürdig von einem Geschäftsmann? Dort hält er sich eine Viertelstunde auf. Was macht er dort? Das kann ich Ihnen nicht sagen, danach habe ich nicht zu fragen gewagt. Vielleicht hat er Geld abgehoben, wenn er welches nötig hatte, was weiß ich. Auf alle Fälle hat er einen glänzenden Kredit in der Bank. Denn unter dem Vorwand, daß es sich um einen Scheck handelte, rief ich einen Bekannten bei der Bank an und erkundigte mich nach Christensen. ›Joh. P. Christensen aus Christiania!‹ rief mein Freund durchs Telephon und lachte laut, als ob er sagen wollte: ›Bringen Sie einen Scheck über eine Million und wir lösen ihn anstandslos ein.‹ Von der Bank fuhr Herr Christensen direkt ins Hotel. Eine halbe Stunde später empfing er Besuch von dem Gerichtsadvokaten Annebye, einem unserer Mächtigsten, dem juristischen Beirat der großen Orient-Gesellschaft. Er kam mit einem Portefeuille unterm Arm. Nach einer halben Stunde ging er ohne Portefeuille wieder fort. Ich nehme an, daß Herr Christensen mit der Orient-Gesellschaft Geschäfte machen will. Seitdem hat Herr Christensen sich auf seinem Zimmer aufgehalten und hat sogar dem Portier Bescheid gegeben, daß er nicht gestört werden will.«

»Jetzt kommt Fräulein Aino Erko an die Reihe,« sagte Krag.

»Ja, die kleine Finnin. Mit ihr ist es uns leichter geworden. Um drei Uhr machte sie einen Gang durch die Stadt. Vom Telegraphenamt auf dem Rathausplatz sandte sie ein Telegramm nach Christiania. Hier ist es. Ein ganz gewöhnliches Geschäftstelegramm, nicht wahr?«

Er legte die Kopie auf den Tisch, und Krag las:

 

»Reismann Christiania.
Kaufe laut Verabredung fünfzigtausend Orient. Telegraphieret Deckung Aktienbank. Vertraulich.
Jos.«

 

»Was sagen Sie dazu?« fragte Hansten-Jensen.

»Das macht die Sache nur noch glaubwürdiger, wenn sie glaubwürdig ist,« sagte Krag gereizt. »Der Ansicht aber bin ich nicht, und merkwürdigerweise stützt dies Telegramm meine Auffassung.«

 

Der Brief um drei Uhr

 

»Wohin ging sie denn sonst noch?« fragte Krag. »Es war doch nicht notwendig, daß sie ausging, um ein Telegramm abzusenden. Das hätte ja der Hoteljunge für sie besorgen können.«

Hansten-Jensen lachte laut auf.

»Sie interessieren sich ja kolossal für die junge Dame,« sagte er, »aber beim besten Willen kann ich sie mit keinem Verbrechen in Verbindung bringen. Was macht eine junge Dame den ersten Tag, den sie in Kopenhagen verbringt? Alle jungen Damen in dem Alter gleichen sich. Sie nahm natürlich ein Auto und fuhr vom Telegraphenamt zum Magasin du Nord.«

»Und was tat sie dort?«

»Hören Sie mal, lieber Freund, hier gelten dieselben Regeln wie bei Herrn Christensen. Wir folgen keinem angesehenen Geschäftsmann in eine Bank, und wir folgen keiner jungen Dame, wenn sie ein Warenhaus besucht. Die junge Finnin kam um vier Uhr zurück. Sie hat ein kleines Zimmer im vierten Stock des Hotels und dort befindet sie sich augenblicklich.«

»Ich kann begreifen, daß Sie an diese Sache nicht recht glauben,« sagte Krag, »und es ist natürlich auch nicht meine Absicht, Indiskretionen zu begehen. Was Sie mir mitgeteilt haben, kann bedeutungslos erscheinen, hat aber doch seine Bedeutung. Suron ist ein guter Bekannter von Jos, und ich finde es sonderbar, daß er ihm beständig ausweicht. Bei der Ankunft, bei der Wahl des Hotels und überhaupt in allem. Noch merkwürdiger ist, daß er Fräulein Erko ausweicht, obgleich ich weiß, daß sie intim befreundet sind. Das letzte Mal trafen sie sich im Zuge, seitdem aber waren ihre Wege getrennt. Warum bleiben sie nicht zusammen? Ich möchte behaupten, daß sie bestimmte Gründe haben, sich nicht zusammen zu zeigen.«

Hansten-Jensen flötete ganz leise eine bekannte Operettenmelodie. Krag machte eine ungeduldige Handbewegung.

»Nein, Sie irren sich, wenn Sie meinen, daß eine Liebesgeschichte im Begriff ist, sich zu entwickeln, ein dreieckiges Verhältnis: Suron – Aino – Jos. Nein, es gibt zu viele merkwürdige Umstände in dieser Sache, die sich nicht so leicht erklären lassen. Eine solche Lösung würde überhaupt nichts von alledem, das ich merkwürdig finde, erklären. Warum treffen sich Aino Erko und Suron nicht ebenso offenkundig hier wie in Christiania? Und warum versteckt Suron sich? Ein Bericht über Fräulein Erkos Besuch im Magasin du Nord wäre mir übrigens sehr interessant gewesen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Suron dennoch mit seiner hübschen Landsmännin eine Verabredung gehabt hat. Vor kurzem ist ein Paket für ihn aus dem Magasin du Nord abgegeben worden. Wahrscheinlich haben sie dort eine Tasse Tee zusammen getrunken. Das wäre ein echt weiblicher Einfall, nicht wahr. In ein Restaurant wagten sie nicht zusammen zu gehen, aber ein Zusammentreffen in einem Warenhaus wirkt ja so natürlich. Ah, da kommt endlich Abraham.«

Abraham war der Portier dieses einfachen Hotels, der viele Aemter bekleidete, vom Schuhputzen bis zum Servieren von Champagner in den Einzelzimmern. Er war ein ältlicher Jütländer, der etwas Deutsch radebrechte. Er trug eine weiße Schürze und gab sich Mühe, recht vertrauenerweckend auszusehen, dabei war es aber, als ob seine nervösen Finger beständig nach Trinkgeld tasteten.

»Der finnische Herr auf Nummer 17 ist ausgegangen,« sagte Abraham. »Und hier sind die Schlüssel zu seinem Zimmer.«

Hansten-Jensen nahm die Schlüssel.

»Sie verstehen wohl, Abraham,« sagte er, »daß es sich hier nicht um einen Verdacht handelt, wir möchten das Zimmer nur besehen.«

Abraham verbeugte sich mehrfach.

»Gott bewahre,« sagte er, »wenn die Herren das Zimmer besehen wollen, braucht das weiter nichts zu bedeuten. Es ist ja ein interessantes altes Haus. Ich gehe jetzt in meine Loge, wenn ich die Herren bitten dürfte, die Schlüssel vor Ihrem Fortgang dort abzugeben.«

Er machte eine höfliche Verbeugung und verschwand.

Das Seltsamste war, daß sich in Surons Zimmer fast kein Gepäck befand. Eine kleine Handtasche stand da, die einige Kragen, Manschetten, Halstücher und Toilettengegenstände enthielt. Wenn Krag die fast peinliche Eleganz bedachte, mit der Suron in Christiania aufzutreten pflegte, so erschien ihm dieser Umstand sehr sonderbar. Es hatte den Anschein, als ob Suron in größter Eile abgereist sei.

Am Schreibtisch konnte man sehen, daß Suron dort eine Weile gearbeitet hatte. Indessen hatte er alle Papiere mitgenommen, weder in den Schubladen noch in der Handtasche war etwas Schriftliches zu finden.

Aber der Papierkorb.

Suron war so unvorsichtig gewesen, allerhand Papiere wegzuwerfen. Es hatte den Anschein, als ob er seine Brieftasche »aufgeräumt« und dabei Ueberflüssiges kassiert hatte, alte Notizen, Lotteriezettel, Rechnungen und Briefe. Einiges war zerrissen, das meiste aber war nur zerknittert und in den Korb geschleudert.

Da waren Spielabrechnungen auf Bridgeformularen; Photographien von jungen Damen – zerrissen; eine Bankquittung über den Einkauf von finnischen Mark. Diese Rechnung trug das Datum des Tages und war, merkwürdig genug, von der Aktienbank ausgestellt. Suron war also auch in der Aktienbank gewesen. Ein seltsamer Zufall. Dort hätte er leicht mit Jos zusammenstoßen können, den er doch offenbar vermied. Uebrigens hatte er nicht viele Mark gekauft, nur für einige tausend Kronen. Ferner fanden sich im Papierkorb einige Prospekte über norwegische Reederei-Aktiengesellschaften zerknittert. Und ein Zeitungsausschnitt, der eine Uebersicht über die letzte Bilanz der »Dänischen Orient-Gesellschaft« enthielt und eine Aufstellung der neugewählten Direktion. Merkwürdigerweise war Gerichtsadvokat Annebyes Name blau unterstrichen.

Krag betrachtete diesen Zeitungsausschnitt sinnend. Es war nicht so sehr der Inhalt, der ihn beschäftigte, als der Umstand, daß Suron jetzt schon zum drittenmal mit Jos und seinen Unternehmungen kollidierte: mit der Aktienbank, der Orient-Gesellschaft und Gerichtsadvokat Annebye. Natürlich konnte es Zufall sein, aber Krag hatte das bestimmte Gefühl, daß eine Verbindung zwischen Suron und Jos bestand. Es war, als ob Suron die ganze Zeit unsichtbar neben dem anderen wanderte und in sein Schicksal eingriff. Bis auf weiteres aber war es Krag unmöglich, einen Zusammenhang zu finden. Warum war Jos in Surons »Excelsior«-Auto gereist? Warum hatte Suron jenes Telegramm nach Kopenhagen gesandt? Warum hielt Suron sich hier vor Jos verborgen?

Krag suchte weiter zwischen den zerknitterten und zerrissenen Papieren. Da waren nur noch einige gleichgültige Geschäftsbriefe und dann ... ja, was war das?

Krag hielt ein Stück Papier in der Hand, bei dessen Anblick er fast erstarrte. Es war ein hellblauer Briefbogen und darauf stand:

 

»Lieber Jos!
Du mußt unbedingt auf kurze Zeit zu uns herauskommen, bevor du nach Kopenhagen fährst. Sonst geht unser ganzes Unternehmen in die Brüche. Jonassen erwartet dich mit dem Auto.
Reismann.«

 

Krag mußte das zerknitterte Schreiben mehrmals lesen. Darauf untersuchte er das Briefpapier sehr genau. Kein Zweifel, es war dieselbe Sorte Papier, die er schon besaß.

Hansten-Jensen begriff, daß Krag etwas sehr Wichtiges gefunden hatte. Er ließ sich den Brief geben und schüttelte den Kopf. Er verstand keinen Ton.

»Mein Gott, Sie sehen aus, als ob Sie in eine andere Welt blickten!« rief er aus.

»Das ist der Brief um drei Uhr,« antwortete Krag geistesabwesend. » Der Brief um drei Uhr!« wiederholte er.

»Der Brief um drei Uhr,« äffte Hansten-Jensen ihm nach. »Sie können nicht verlangen, lieber Freund, daß ich das verstehen soll. Aber ich glaube fast, Sie verstehen es selbst nicht.«

»Wie in aller Welt ist dieser Brief in Surons Besitz gekommen?« fragte Krag sich selbst.

Er trat ans Fenster und trommelte mit den Fingern gegen die kleinen grünen Scheiben. Darauf drehte er sich wieder zu seinem Kollegen um und betrachtete ihn mit einem abwesenden Blick.

»Ja,« sagte er plötzlich, »das muß ich tun.«

»Was müssen Sie tun?« fragte Hansten-Jensen ungeduldig.

Krag lächelte plötzlich.

»Ich muß das Unterste nach oben kehren,« sagte er.

 

Ein Besuch bei Jos

 

Hansten-Jensen und Krag hatten vereinbart, daß sie sich um halb sieben Uhr an einem Ort treffen wollten, wo Ausländer in Kopenhagen wenig auffallen. Es sollte in der Zentral-Bar am Rathausplatz sein. Das gewohnte Publikum war noch nicht da, an einem Tisch saßen zwei schwedische Reisende und stärkten sich nach den Anstrengungen des vorhergegangenen Tages, und die Mädchen am Büfett fröstelten und langweilten sich und telefonierten nach ihren Friseusen. Niemand kümmerte sich um Krag, der in einer Ecke mit einem Glas Kognak saß. Er las die soeben erschienenen Abendzeitungen und studierte mit besonderem Interesse die Börsennachrichten. Am Nachmittag war starke Nachfrage nach D. O. G., nach Dänischer Orient-Gesellschaft, gewesen und die Aktien waren um fünfundzwanzig Kronen gestiegen. Die Zeitungen erwähnten dies als eine Ausnahme, denn alle anderen Wertpapiere lagen still oder waren nur ganz unbedeutend gestiegen.

Als Hansten-Jensen sich einfand, machte Krag ihn darauf aufmerksam, und sie stellten gemeinsam fest, daß diese plötzliche Kurssteigerung mit Joh. P. Christensens

Spekulation in Verbindung stehen müsse. Uebrigens waren die Wege und Irrwege der Börse heutzutage so geheimnisvoll und unbegreiflich, daß es auch einen anderen Grund haben konnte. Doch der Umstand, daß die Kurssteigerung erst am Nachmittag eingetreten war, machte es wahrscheinlich, daß Jos bei seinem Besuch in der Bank um ein Uhr die Aktien aufgekauft hatte.

Im übrigen brachte der Kopenhagener Detektiv eine Mitteilung, die Krag etwas beunruhigte. Suron hatte im Nordischen Reisebureau für den nächsten Morgen zwei Billette nach Stockholm bestellt. Und er hatte außerdem zwei Billette für den Zug bestellt, der von Stockholm Anschluß nach Haparanda hatte. Zwei Coupés erster Klasse, ein Damen- und ein Herrencoupé.

»Das sieht fast wie eine Entführung aus,« sagte Hansten-Jensen. »Sie sollen sehen, ich bekomme schließlich doch noch recht, lieber Freund, das Ganze ist eine gewöhnliche Liebesgeschichte. Suron und die junge Dame lieben sich, aber sie hat sich so tief mit dem alten Walroß Jos eingelassen, daß sie ihren Liebsten nur unter äußerster Vorsicht zu treffen wagt. Darum haben sie diese Entführung arrangiert. So etwas unternimmt man am besten von Kopenhagen aus. Hallo, Amalia, gib mir einen Manhattan und sieh nicht so verflucht tugendhaft aus, das schadet dem Geschäft.«

»Das alte Walroß ist noch nicht vierzig alt,« bemerkte Krag.

Amalia gab mit lautem Lachen dem Detektiv eine Antwort, die seine Andeutung aufs kräftigste dementierte, worauf er seinen Cocktail bekam.

»Mit solchem Bart kann er doch unmöglich auf die kleine Finnin Eindruck machen,« meinte Hansten-Jensen, »obgleich ihr dort oben im Norden einen merkwürdigen Geschmack habt. Ich sah neulich einen isländischen Liebhaber in einem Film, wie ein Buschmann war er anzusehen, zum Totlachen.«

»Der Zug geht morgens um acht Uhr,« sagte Krag, »viel Zeit haben wir nicht zu verlieren.«

»Wollen Sie vielleicht mitreisen?«

»Das nicht, aber ich will Jos vorher aufsuchen.«

»Wollen Sie ihn in Ihrer wirklichen Gestalt oder maskiert aufsuchen?«

»Maskiert,« antwortete Krag. »Es ist immer noch Zeit, sich zu demaskieren. Was aber auch geschieht, wir müssen verhindern, daß Suron morgen mit Fräulein Erko abreist.«

»Das scheint mir bis auf weiteres unmöglich,« meinte der dänische Detektiv, »denn es liegt ja auch nicht der geringste Grund zu einer Verhaftung vor. Eher könnte man ihn ausweisen, weil er eine unserer bedeutendsten Geschäftsverbindungen schädigt. Sie meinen also, daß Grund vorliegt, Herrn Christensen zu warnen?«

Krag zuckte die Achseln.

»Warnen,« sagte er, »das ist ein vieldeutiger Begriff.«

»Sie wollen ihm aber mitteilen, daß Suron in der Stadt ist?«

»Wahrscheinlich.«

»Und wenn er Ihnen antwortet: ›Zum Teufel, was geht das mich an?‹ Was wollen Sie ihm dann antworten? Ich halte es übrigens für sehr wahrscheinlich, daß er Ihnen diese Antwort gibt.«

»Dann werde ich ihm sagen, wer ich bin, und um eine Erklärung bitten.«

»Weswegen?«

»Wegen des Briefes um drei Uhr. Ich werde ihn fragen, wie es möglich ist, daß dieser Brief in Surons Besitz gelangte.«

»Und wenn er dann antwortet: ›Zum Donnerwetter, was geht das Sie an?‹ was dann?«

»Was ich dann antworten werde, beruht auf den Umständen. Ich könnte ihn zum Beispiel fragen, ob Reismann oder Suron ihm als Freund näher steht. Und wenn er sich über meine Frage wundert, werde ich ihn darüber aufklären, daß seine Antwort von größtem Interesse ist, weil einer dieser beiden Herren jeden Augenblick wegen Betrügerei verhaftet werden kann.«

»Das ist eine kühne Behauptung,« sagte der dänische Detektiv.

»Ich übernehme die Verantwortung dafür,« antwortete Krag, »denn ich weiß, daß ich recht habe.«

Krag hatte erfahren, daß der Portier im Palasthotel den Bescheid bekommen hatte, Jos Christensen wollte niemanden empfangen. Darum mied Krag den Portier und stieg geradeswegs in die zweite Etage, wo Jos' Zimmer lagen. Es waren die Nummern 28-30, Vorzimmer, Salon und Schlafzimmer. Krag kannte die Wohnung vom vorigen Jahr, als dort ein Argentinier ermordet worden war. Es handelte sich um einen politischen Mord, die Täter waren nicht entdeckt worden. Krag hatte sich zufällig in Kopenhagen aufgehalten und war häufig mit den Personen, die mit der Untersuchung zu tun hatten, darunter Hansten-Jensen, zusammen gewesen.

Er klopfte an die Tür zum Vorzimmer, und als niemand antwortete, ging er hinein.

Das Zimmer war leer, aber Krag war sich gleich darüber klar, daß der Bewohner des Zimmers erst vor einigen Minuten dagewesen war. Auf der Schreibmaschine, die auf dem Schreibtisch stand, war ein Brief angefangen. Es war offenbar das Arbeitszimmer der Sekretärin, Fräulein Erko. Neben dem großen Schreibtisch stand ein Telephonapparat mit Anschluß an die anderen Zimmer. In der Mitte des Raumes stand ein runder Tisch, von niedrigen, bequemen Klubsesseln umgeben. Das Ganze wirkte wie ein vornehmes Sitzungszimmer. Der Teppich war in dunklen diskreten Farben gehalten, an den Wänden hingen Lithographien in Mahagonirahmen.

Warum kam niemand? Krag näherte sich der Tür, die zu den andern Räumen führte. Eine grüne Filztür. Ihm war, als hörte er nebenan Stimmen. Doch schienen sie von weither zu kommen.

Plötzlich läutete das Telephon, ein kurzes, gellendes Signal. Krag zog sich von der Tür zurück und erwartete die Sekretärin eintreten zu sehen. Aber niemand kam. Es ist etwas Merkwürdiges um ein Zimmer, wo das Telephon läutet, ohne daß jemand antwortet. Das Schweigen im Zimmer wird dadurch geradezu überwältigend. Der kleine blanke Apparat sendet einen verdichteten Lautappell aus, der alles im Zimmer angreift, sogar die Wände scheinen zu lauschen. Das Geräusch von der Straße, Menschenstimmen, Straßenbahngerassel, Pferdegetrappel, alles wird von diesem seltsamen, konzentrierten Lauschen aufgesogen, alles ist so unmittelbar deutlich zu hören. Jetzt konnte Krag auch die Stimmen aus dem Nebenzimmer auffangen, und er unterschied deutlich eine Frauenstimme, die mehrmals rief: »Nie, nie, nie!« Er hätte darauf schwören mögen, daß es Aino Erkos Stimme war. Aber niemand kam.

Jetzt läutete das Telephon wieder. Krag wartete noch einige Sekunden. Er wartete so lange, bis, wie er berechnete, ein kurzes, resigniertes Schlußläuten oder ein erneutes, längeres, energisches Signal ertönen würde. Just in diesem psychologischen Augenblick ergriff er den Hörer und antwortete: »Hallo!«

Wo er jetzt stand, hatte er einen Ueberblick über die Schreibmaschine und konnte den angefangenen Brief lesen. Er war an die Direktion der Orient-Gesellschaft gerichtet und begann folgendermaßen:

 

»Bezugnehmend auf unsere Unterredung mit Ihrem Rechtsanwalt, Herrn Annebye, erlaube ich mir hierdurch zu bestätigen, daß –«

 

Weiter war die Schreiberin nicht gekommen.

»Ist Herr Schiffsreeder Christensen selbst am Telephon?« fragte eine Stimme.

»Ja,« antwortete Krag.

»Hier der Portier. Ich habe soeben mit dem Nordischen Reisebureau gesprochen. Die Sache ist geordnet, die Fahrkarten sind abbestellt.«

»Schön,« antwortete Krag. »Beide Fahrkarten?«

»Ja, gewiß,« sagte der Portier erstaunt. »So lautete doch Ihr Auftrag. Zwei Fahrkarten nach Haparanda.«

»Gut. Ich danke,« antwortete Krag und legte den Hörer nieder.

Beide Billette abbestellt! – Hatte denn auch Jos die Absicht, nach Haparanda zu reisen? Oder handelte es sich hier vielleicht um Surons Fahrkarten?

Plötzlich ging die Filztür auf, und Fräulein Aino Erko trat raschen Schrittes ein.

 

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