Edgar Wallace
17-20
Es war neu für Andrew Macleod, vor einem Gericht zu stehen und mit vollem Bewußtsein einen Meineid zu leisten. Er konnte kaum glauben, daß er es selbst war, der so ruhig sprach.
»Ja«, sagte er, »es stimmt. Ich sah, wie sich die Tür von Merrivans Haus öffnete und kurz darauf eine Frau über den Rasen kam.«
»Wann war das?«
»Um elf Uhr. Die Kirchenuhr von Beverley schlug gerade, als sie vorüberging.«
»Haben Sie ihr Gesicht nicht erkennen können?«
»Nein – der Mond war durch Wolken verdeckt.«
Hiermit war die Verhandlung zu Ende, und die Geschworenen zogen sich zurück. Eine halbe Stunde später erschienen sie wieder, und ihr Spruch lautete auf Anklage gegen Albert Selim wegen vorsätzlichen Mordes.
Downer war nicht erschienen, Andy hatte sich vergeblich nach ihm umgesehen, der Journalist saß weder bei den Berichterstattern, noch war er unter den Zuschauern zu sehen.
Andy blieb noch einen Augenblick stehen, um sich mit Mr. Salter und einem Vertreter der Staatsanwaltschaft zu unterhalten, dann ging er zurück. Er ging so langsam, daß Mr. Vetch, der Rechtsanwalt Mr. Merrivans, ihn überholte.
»Es ist reiner Unsinn, daß Mr. Merrivan in den Klauen eines Geldverleihers gewesen sein soll«, erklärte er. »Ich weiß, daß er sehr vermögend war.«
»Hinterließ er ein Testament? Sie haben das in Ihrer Zeugenaussage leider nicht erwähnt«, entgegnete Andy.
»Bis jetzt hat man nichts finden können.« Mr. Vetch schüttelte den Kopf. »Das ganze Vermögen wird in den Besitz Mr. Wilmots übergehen, wenn sich kein näherer Verwandter meldet.«
Andy hätte zu gern erfahren, ob Merrivan wirklich verheiratet gewesen war. Man hatte die Trauungsregister durchsucht, aber man konnte keine Spur davon finden, daß er jemals eine Ehe geschlossen hatte.
»Sie haben Mr. Merrivan einen Kaufmann genannt. Welcher Art waren denn seine Geschäfte?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Über seine geschäftlichen Angelegenheiten sprach er nie. Ich habe seine Vertretung auch erst übernommen, nachdem er sich schon zurückgezogen hatte. Ich glaube aber, daß er früher im Teehandel tätig war.«
»Wie kommen Sie darauf?« fragte Andy schnell.
»Er kannte sich in Teesorten sehr gut aus. Das war wohl das einzige, wofür er sich in seinem Haushalt interessierte. Wenn ich ihn besuchte und mit ihm Tee trank, fragte er mich öfters, wie mir diese oder jene Sorte schmeckte. Er sprach darüber wie ein Weinkenner, der Sie nach Ihrer Meinung über einen alten Wein fragt.«
Sie waren in die Straße nach Beverley Green eingebogen, als sie einen Mann sahen, der in derselben Richtung wie sie ging.
»Ist das nicht der Zeitungsberichterstatter – ein gewisser Downer? Ich sah ihn heute morgen. Ein sehr kluger Kopf«, bemerkte Vetch. »Ich sprach mit ihm über das letzte Urteil des obersten Berufungsgerichtes. Er scheint in juristischen Dingen sehr beschlagen zu sein.«
»Er ist in allen Dingen beschlagen«, erwiderte Andy grimmig. »Hat er Sie nicht über Mr. Merrivans Privatangelegenheiten ausgefragt?«
»Er hätte keine Antwort bekommen. Dazu bin ich denn doch ein zu alter, ausgepichter Rechtsanwalt, um mit solchen Leuten über die Angelegenheiten meiner Klienten zu reden! Unser Thema war vollständig harmlos – wir sprachen davon, was heute ein Haushalt kostet.«
»Wie kamen Sie denn darauf?« fragte Andy neugierig.
»Er sagte, es müßte Merrivan doch viel Geld gekostet haben, das große Haus zu unterhalten. Bis jetzt hatte ich seine monatlichen Ausgaben nicht zusammengestellt, und ich machte mir nur eine kurze Aufstellung. Die Rechnungen habe ich ihm natürlich nicht gezeigt.«
»Es genügte, wenn sie auf dem Tisch lagen. War nicht vielleicht irgendeine ganz besondere Rechnung darunter, eine außergewöhnliche Ausgabe?«
»Ja, über hundertdreißig Pfund. Es war keine Rechnung, sondern nur eine Notiz Merrivans, die er selbst geschrieben hatte. ›Stelling Bros, hundertdreißig Pfund‹. Ich selbst weiß nicht, was für eine Ausgabe das gewesen sein kann. Kennen Sie eine Firma Stelling?« Andy klärte ihn darüber nicht auf.
Stelling war die größte Juwelierfirma in London, und die kurze Notiz, die der gewissenhafte Mr. Merrivan aufgeschrieben hatte, weil ihm wahrscheinlich die Rechnung verlorengegangen war, gab den Preis des großen Brillantringes an. Merrivan hatte ihn gekauft, weil er seiner Sache mit Stella schon sicher war.
Sie waren jetzt in Hörweite von Mr. Downer angekommen, und Andy wechselte deshalb das Thema der Unterhaltung.
»Ich bin nicht zur Leichenschau gegangen«, erklärte Downer. »Solche Verhandlungen langweilen mich. Ich hatte außerdem noch einiges zu erledigen. Es ist doch nichts Besonderes mehr zur Sprache gekommen?«
»Nichts, was nicht schon bekannt wäre«, entgegnete Andy.
Der Rechtsanwalt verabschiedete sich.
»Ist bei der Verhandlung etwas über einen Brillantring gesagt worden, den Merrivan vier oder fünf Tage vor seinem Tod gekauft hat?« fragte Downer, indem er mit einer Gerte ins Gras schlug und sich für nichts anderes als die Vernichtung von Gänseblümchen zu interessieren schien. »Das ist wahrscheinlich derselbe Ring, der auf dem Rasen gefunden wurde. Es ist doch merkwürdig, daß der alte Merrivan einen solchen Ring kauft und ihn dann fortwirft. Es scheint fast, daß er ihn einer Frau schenkte, die aber den alten Merrivan so haßte, daß sie ihn sofort wegwarf, als sie sein Haus verließ – wir wollen einmal sagen – um elf Uhr nachts. Sie zog ihn vom Finger und schleuderte ihn fort, so weit sie nur konnte.«
»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen«, erwiderte Andy. »Die Frau, die unter meinem Fenster vorbeikam, könnte das getan haben.«
Ein Schweigen folgte.
»Aber es war doch ein Streifenbeamter am Ende der Beverley High Street«, meinte Downer nach einer Weile. »Er stand dort vor einem Haus. Ein Dienstmädchen hatte ihm eine Tasse Kaffee gebracht, und er plauderte gerade zwischen elf und halb zwölf mit ihr. Während dieser Zeit ist niemand vorbeigekommen.«
Er schlug noch immer mit der Gerte nach den Blumen und schaute Andy nicht an.
»Es ist ja möglich, da sie einen anderen Weg gegangen ist es gibt doch eine Abzweigung von der Straße.«
Wieder folgte eine Pause.
»Eine Fahrradstreife der Polizei fuhr zehn Minuten vor elf von Hylton Gross Road ab«, begann Downer wieder in seiner monotonen Art. »Das ist das andere Ende des Weges – sie fuhr nach Beverley. Sie hat niemand gesehen, bis sie zu dem Polizisten kam, der mit dem Dienstmädchen sprach.«
»Die ganze Sache ist sehr merkwürdig«, gab Andy zu. »Vielleicht ist sie auch wieder umgekehrt. Ich war gleich darauf zu Bett gegangen.«
»Sie glauben, sie sei wieder zu Merrivan zurückgegangen?« Downer sah ihm jetzt voll ins Gesicht. »Nachdem sie erst den Ring weggeworfen hatte?«
»Sie kann ihn doch auch verloren haben. Sie kann noch einmal die Straße abgegangen sein, um ihn zu suchen.«
»Der Ring wurde aber dicht neben der Straße gefunden«, erwiderte Downer hartnäckig. »Entweder hat sie ihn fortgeworfen, oder sie ist nicht quer über den Rasen gegangen, wie Sie gesagt haben. Der Mittelpunkt der Rasenfläche liegt ungefähr achtzig Meter von dem Platz entfernt, wo der Ring gefunden wurde.«
»Nein, einundachtzig Meter«, sagte Andy ernst, und Downer lachte.
»Ich gebe ja zu, daß an der ganzen Geschichte mit der Frau nicht viel ist. Diese älteren Herren haben gewöhnlich allerhand merkwürdige Freundschaften. Wahrscheinlich war es irgendein Frauenzimmer aus Beverley.«
Er sah den Detektiv scharf an, aber Andy zuckte nicht mit der Wimper. Dieser Mann wußte alles. Andy gab sich nicht die Mühe, darüber nachzudenken, woher er es wußte.
»Ich glaube nicht, daß wir schlecht über Mr. Merrivan sprechen sollten. Der Mann lebte sehr vernünftig, soweit man weiß.«
»Die Frau beging den Mord jedenfalls nicht«, sagte Downer überzeugt, »aber die Angelegenheit muß schließlich aufgeklärt werden. Ist Scottie wieder an der Arbeit?« fragte er plötzlich unvermittelt.
Andy mußte lachen.
»Ja, er ist sehr aktiv. Aber augenblicklich hat er sich gebessert. Soviel ich weiß, sitzt er Mr. Nelson zu einem Bild.«
»Ich habe auch so etwas gehört, daß Scottie sich bessern will, ich habe einige Erkundigungen darüber eingezogen. Diese Miss Nelson ist ein charmantes Mädchen.«
»O ja, sie ist wirklich entzückend.«
Downer nickte.
»Der Mord ist ihr sicher sehr nahegegangen. Sie war doch eine Freundin Mr. Merrivans? Er lieh ihr vor etwa neun Monaten dreihundert Pfund. Aber das geht uns natürlich nichts an. Es ist ja kein Unrecht, wenn eine Dame von einem Herrn Geld borgt, der dem Alter nach ohne weiteres ihr Vater sein könnte.«
Das war nun etwas Neues für Andy; er war überzeugt, daß Downer es nicht aufs Geratewohl sagte.
»Ich habe vergessen, wer es mir erzählte«, erklärte Downer gähnend. »Also auf Wiedersehen, ich komme später einmal bei Ihnen vorbei.«
*
Ein Beamter von Scotland Yard war nach Beverley Green gekommen, um Andy bei der Abfassung eines Berichtes über das Verbrechen zu helfen. Diesem Mann gab er einen dringenden Auftrag.
»Gehen Sie nach Beverley und versuchen Sie herauszubringen, ob Downer gestern schon hier war und mit wem er gesprochen hat. Wahrscheinlich ist er im Beverley-Hotel abgestiegen.«
Andys Vermutung kam der Wirklichkeit sehr nahe. Mr. Downer war mit dem Abendzug angekommen, und er hatte sich zum Abendessen einen Angestellten der Michan Farmer's Bank eingeladen.
»Er ist ein entfernter Verwandter von Downer«, berichtete der Beamte durch das Telefon. »Der junge Mann ist erst kurze Zeit in Beverley.«
»Und er wird auch nicht mehr lange dort bleiben«, sagte Andy.
Dieser Angestellte war offenbar Downers Informationsquelle. Die Tatsache, daß sein Verwandter seine Stellung verlieren würde, wenn er Bankgeheimnisse ausplauderte, bedeutete Mr. Downer nicht mehr, als ob es seinen schlimmsten Feind getroffen hätte.
*
Am Nachmittag unterhielt man sich bei Nelson über Geldangelegenheiten. Der Maler kam in seinem langen, weißen Arbeitskittel aus dem Atelier. Er war schon den ganzen Morgen auffallend ruhig gewesen, hatte beim Mittagessen kaum ein Wort gesprochen, und Stella war etwas beunruhigt, denn diese Anzeichen bedeuteten nichts Gutes.
Er schloß die Tür sorgfältig und vergewisserte sich, daß sie auch wirklich geschlossen war.
»Stella, ich bin heute morgen sehr früh aufgewacht und habe über allerhand nachdenken müssen. Erinnerst du dich noch an das Geld, das wir von dem armen Merrivan borgten, oder vielmehr, das du borgtest?«
Sie nickte.
»Haben wir das eigentlich zurückbezahlt?«
Sie nickte wieder.
»Woher hast du denn das Geld dafür genommen? Ich erinnere mich, daß ich damals in der größten Verlegenheit war, als ich dich bat, es zu besorgen.«
Sie antwortete nicht.
»Es waren doch dreihundert Pfund?«
»Ja, dreihundert«, erwiderte sie ruhig.
»Woher in aller Welt haben wir denn dreihundert Pfund genommen, um sie ihm zurückzugeben? Bist du auch sicher, daß du sie wirklich zurückgezahlt hast?«
»Ja, Vater, ich habe die Quittung.«
Er ließ sich am Tisch nieder und schien nachzudenken.
»Ich habe allerdings nur noch eine ganz unbestimmte Vorstellung von der Sache, ich besinne mich nur dunkel darauf – wie auf einen bösen Traum. Aber hast du das Geld damals« – er zögerte – »während jener schrecklichen Woche zurückgegeben?«
Er war während dieser schrecklichen Woche nicht einmal nüchtern nach Hause gekommen.
»Ich hatte doch damals eine Menge Geld – woher hatte ich das nur?«
»Ich weiß es nicht.«
Er trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte.
»Es ist doch zu merkwürdig. In dieser Zeit muß irgend etwas Schreckliches vorgefallen sein. Aber ich kann nicht sagen, was es war. Du kannst dich wirklich an nichts erinnern?« Er sah sie scharf an. »Ich hatte sogar damals Augenblicke der Zerknirschung und Reue, und wenn ich etwas getan hätte, würde ich es sicher gesagt haben. Ich möchte nur wissen, woher in aller Welt ich das Geld bekommen habe.«
Sie half ihm nicht, sie hatte die Folgen seines Vergehens tragen müssen und war fast darunter zusammengebrochen. Sie wollte ihm nicht auch noch diese Gewissenslast aufbürden.
In der Dämmerung goß Stella ein Blumenbeet, das bei der Hecke lag, die den vorderen Garten von der Straße trennte. Zwei Herren gingen vorbei, und sie hörte einen Teil ihrer Unterhaltung, die allerdings recht einseitig war, denn der eine gab dem anderen nur wenig Gelegenheit, auch einmal ein Wort einzuwerfen.
»Als ich Sie zum erstenmal sah, Mr. Wilmot, dachte ich, daß es schwer sei, Sie näher kennenzulernen. Ruhige, tief veranlagte Naturen wie Sie bleiben uns Zeitungsleuten immer ein Rätsel.«
Mr. Downer sprach mit Mr. Wilmot über ein Thema, das diesen sehr interessierte, nämlich Mr. Wilmot.
Andy Macleod hatte alle Morgenzeitungen abonniert, und sie wurden ihm schon gebracht, während er noch im Bett lag. Er griff zuerst nach dem ›Megaphone‹, denn er hatte erfahren, daß Downer im Auftrag dieser Zeitung nach Beverley gekommen war.
Er öffnete das Blatt mit einem unangenehmen Gefühl. Es hatte ihn nicht getäuscht. Im allgemeinen ist das ›Megaphone‹ kein Sensationsblatt. Es hat eine neutrale Einstellung und bringt ausgezeichnete Nachrichten aus dem Ausland, außerdem hat es ein recht gutes Feuilleton. Berichte über Verbrechen erschienen gewöhnlich nur auf den hinteren Seiten. Aber diesmal hatte das ›Megaphone‹ eine Ausnahme gemacht und dem Gerichtsbericht das erste Blatt eingeräumt.
Andy betrachtete die Überschrift.
›Die mitternächtliche Frau‹
Aber erst als er die zweite Zeile las, sprang er mit einem Fluch aus dem Bett.
›Die Beziehungen Miss Nelsons zu dem verstorbenen Mr. Merrivan.‹
Er konnte den Artikel nicht gleich lesen, er war zu wütend. Er legte die Zeitung wieder aus der Hand. Bestürzt dachte er daran, was Stella durchmachen mußte, wenn sie diese Überschrift sah. Dieser Downer! Andy hatte bisher noch keinen Zeitungsmenschen umgebracht, aber er war jetzt davon überzeugt, daß eine solche Tat unter gewissen Umständen ein besonderes Vergnügen bereiten konnte.
Schließlich nahm er die Zeitung auf. Er las:
›Die Leichenschau in Beverley, die wegen der beiden unter ungewöhnlichen Umständen ermordeten Männer stattfand, war nur eine reine Formalität, wie unser Sonderkorrespondent berichtet. Es kamen dabei keine Tatsachen ans Licht, die die Öffentlichkeit nicht schon vorher gewußt hätte. Auch brachte uns die Verhandlung der Aufklärung des Geheimnisses um keinen Schritt näher.
Aus irgendeinem geheimnisvollen Grund behauptet die Polizei, daß der Name der Frau nicht bekannt sei, die Mr. Merrivans Haus um halb elf aufsuchte und um elf wieder verlassen haben soll. Doktor Andrew Macleod, der nicht nur ein bedeutender Pathologe, sondern auch ein hervorragender Detektiv und der Schrecken aller Übeltäter ist, bestätigte durch seine Zeugenaussage, daß er eine Frau gesehen habe, die das Haus um elf Uhr verließ. Die Nacht aber war sehr dunkel und der Mond hinter Wolken verborgen, so daß es Doktor Macleod unmöglich gewesen sein muß, die Frau über den Rasen gehen zu sehen. Daß eine Frau um diese Zeit in Beverley Green über die Straße ging, konnte festgestellt werden. Es war ein Dienstmädchen, das zum Briefkasten am Ende der Straße ging, um einen Brief einzuwerfen. Der Kasten steht an der Verbindung der Haupt- mit der Seitenstraße. Das war bestimmt die Frau, die Doktor Macleod gesehen hat, und nicht die Frau, die Mr. Merrivans Hausmeister hörte. Diese hatte mit dem Ermordeten einen Streit. Wer war sie? Es ist in Beverley bekannt, daß es Miss Stella Nelson war, die Tochter des bekannten Malers Kenneth Nelson, der in Beverley Green wohnt.
Es ist kein Geheimnis, daß Mr. Merrivan vor dieser Dame die größte Hochachtung empfand. Ich darf auch hinzufügen, daß er ihr mehr als freundschaftlich zugetan war. Er hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht, und sein Angebot scheint nicht ungünstig aufgenommen worden zu sein, denn drei Tage vor seiner Ermordung kaufte er einen Verlobungsring bei der Firma Stelling in London. Am Tag nach dem Mord wurde der Ring ungefähr fünfzig Meter vom Gartentor des Nelsonschen Hauses entfernt auf dem Rasen gefunden. Es ist ferner bekannt, daß Miss Nelson vor einiger Zeit in finanziellen Schwierigkeiten war und von Mr. Merrivan ein Darlehen von dreihundert Pfund erhielt. Dieses Darlehen wurde zurückgezahlt mit einer Summe, die durch zwei Wechsel gedeckt wurde. Albert Selim hat ihr das Geld beschafft – der Mann, der als Mörder Mr. Merrivans gilt.
Diese Wechsel, die sich noch am Tage vor der Tat im Haus des Ermordeten befanden, sind verschwunden. Wie lernte die junge Dame den berüchtigten Albert Selim kennen? Wie wurde sie so gut mit ihm bekannt, daß er ihr eine große Summe vorstreckte, ohne die geringste Sicherheit in der Hand zu haben? Dieser Punkt muß aufgeklärt werden. Es steht aber außer allem Zweifel, daß der Name von Darius Merrivan als Akzeptant auf den Wechseln stand. Die Neuigkeit, daß diese Scheine tatsächlich in den Besitz des Verstorbenen übergegangen waren, kam wie ein Donnerschlag. Man kann sich dies nur dadurch erklären, daß die Unterschriften des Akzeptanten gefälscht waren. Ich will hiermit nicht sagen, daß Miss Nelson dies wußte oder daß sie in irgendeiner Weise an dem Betrug beteiligt war, der wahrscheinlich mit diesen Scheinen vorgenommen wurde. Eine Woche vor der Mordtat hat Mr. Merrivan seinem Neffen, Mr. Artur Wilmot, die Wechsel gezeigt. Er verwahrte sie zusammen mit der Heiratsurkunde eines früheren Dienstboten, die er wahrscheinlich als Erinnerung aufhob, und mit verschiedenen anderen Dokumenten in dem Raum, in dem Mr. Merrivan die letzte Unterredung mit Miss Nelson hatte und wo er ermordet wurde.
Auch diese Dokumente sind verschwunden. Als die Polizei das Haus durchsuchte, fand man im Kamin des Mordzimmers einen Haufen verbrannten Papiers. Es ist klar, daß der Mörder den kleinen Geldschrank im Zimmer plünderte und durchsuchte, um in den Besitz dieser Papiere zu kommen, und sie dann verbrannte, bevor er floh. Wer hätte schon Interesse an ihnen gehabt haben können? Offensichtlich doch nur die Person, die die Unterschrift Mr. Merrivans fälschte!
Was nun den Aufenthalt Miss Nelsons am Abend des Verbrechens angeht, so ist ein Zeuge vorhanden, der sie das Haus Mr. Merrivans betreten sah. Auf der anderen Seite ist es eine untrügliche Tatsache, daß niemand sie wieder herauskommen sah. Doktor Macleods Aussage kann als ein entschuldbarer Irrtum übergangen werden. Er sah eben eine Frau unter seinem Fenster vorbeikommen und bildete sich ein, daß sie aus Mr. Merrivans Haus gekommen sei. Der Schreiber dieser Zeilen ist inzwischen in dem Zimmer gewesen, das Doktor Macleod bewohnte, und von dessen Fenster aus er die Wahrnehmung gemacht haben will. Er hat selbst feststellen können, daß es absolut unmöglich ist, von dort aus die Haustür Mr. Merrivans zu sehen. Doktor Macleods Irrtum hat dazu beigetragen, die Untersuchungen noch zu erschweren.
Die bemerkenswerteste Tatsache ist aber die außerordentliche Vorsicht, mit welcher er diesen Damenbesuch kommentierte. Er sagte zu einem Berichterstatter, es sei wahrscheinlich eine Nachbarin gewesen. Diese Angabe steht in direktem Widerspruch zu seiner Aussage, daß die Frau unter seinem Fenster vorüberging. Einem zweiten Berichterstatter erzählte er noch eine andere Version. Die Entdeckung des Ringes behandelte er als nebensächlich. Nur in einer Beziehung war er konsequent: Er versuchte mit allen Mitteln, den Namen Miss Nelsons aus der Diskussion des Falles herauszuhalten. Er stellte sich zwischen sie und alle, die – wie er selbst – sich bemühten, den Mörder von Darius Merrivan zu entdecken.‹
Andy las den Artikel noch einmal. Er war in seiner Art ein Meisterstück: Die Wahrheit war so boshaft mit Verfälschungen gemischt, daß nur ein Eingeweihter wissen konnte, wo sich die wirklichen Tatsachen von den Entstellungen schieden. Es waren natürlich Artur Wilmots Aussagen, die dieser Downer so glänzend verwertet hatte.
Andy zog sich schnell an und eilte zu Stella. Sobald er sie sah, wußte er, daß sie den Artikel gelesen hatte.
»Mr. Scottie hat ihn zuerst gesehen. Er hat meinen Vater auf einen Spaziergang mitgenommen, damit er draußen skizzieren solle. Glücklicherweise hatten sie das schon vor mehreren Tagen verabredet.«
»Dein Vater hat also den Artikel nicht gelesen?«
Sie schüttelte den Kopf.
Er war erstaunt über ihre Selbstbeherrschung. Er hatte erwartet, sie vor einem Nervenzusammenbruch zu finden.
»Artur hat es Downer erzählt«, erklärte sie, »Nun weißt du die Wahrheit, Andrew.«
»Ich wußte sie schon lange. Nur daß du Geld geliehen hattest, war mir neu. Du hast es natürlich für deinen Vater besorgt?«
»Ja«, sagte sie ohne Zögern. »Es hat jetzt keinen Zweck mehr, es zu verheimlichen.«
In ihrem Blick lag ein sonderbares Leuchten, wie er es noch nie an ihr bemerkt hatte.
»Du hast mich beschützt, aber was wird jetzt geschehen?«
»Ich will dir sagen, was Downer erwartet – er glaubt, daß ich noch heute meinen Abschied einreiche«, erwiderte er in sachlichem Ton.
Sie erschrak.
»Dann hat diese Sache also deine Karriere ruiniert, Andy?«
»Ich gebe zu, daß ich mir darüber keine falschen Vorstellungen mache. Aber ich habe meine Pflicht nur insoweit vernachlässigt, als ich mich weigerte, eine Spur aufzunehmen, die mich doch zu keinem positiven Ergebnis geführt hätte. Ich weiß, daß du den Mord nicht begangen hast. Wenn ich meinen Abschied einreiche, dann muß ich die Redaktion des ›Megaphone‹ wegen Verleumdung verklagen, und du würdest zu einem gleichen Schritt gezwungen. Aber wir wollen die Sache nicht vors Gericht bringen, Stella, ich weiß noch einen besseren Weg. Diese verfluchte Frau unter dem Fenster! Ich habe natürlich niemand gesehen«, sagte er ganz offen, »ich wollte nur ein Alibi für dich schaffen. Es war wirklich ein glücklicher Zufall, daß Sheppards Dienstmädchen noch um diese Zeit ausging, damit sie Downer meine Aussage erklären konnte.«
»Ist das Mädchen tatsächlich ausgegangen?«
»Downer ist in solchen Dingen zuverlässig. Wenn er sagt, daß sie um elf Uhr ausging, dann kannst du dein ganzes Vermögen darauf wetten, daß er recht hat. Wilmot gab ihm die Informationen, er ist natürlich unrechtmäßig in den Besitz der Schriftstücke gekommen. Du hast doch die Wechsel selbst hierhergebracht?«
Sie schwieg eine Weile.
»Andy, ich muß dir ein Geständnis machen«, sagte sie dann. »Ich hätte es dir gleich sagen sollen, aber Scottie riet mir dringend, es nicht zu tun.«
Sie erzählte ihm von dem Besuch Artur Wilmots, wie er ihr die richtigen Wechsel zeigte und wie Scottie sie ihm abgenommen hatte. Andy hörte interessiert zu, und plötzlich wurde ihm alles klar.
»Nun verstehe ich. Dieser erpresserische Schurke! Durch das Ausplaudern suchte er sich auf billige Weise an dir zu rächen. Niemand kann beweisen, daß sein Onkel ihm die Wechsel nicht eine Woche vor seinem Tod gezeigt hat, und ihr Verschwinden sieht natürlich sehr verdächtig aus, wenn man bedenkt, daß in Merrivans Kamin tatsächlich Asche von verbranntem Papier gefunden wurde. Was sollen wir nun tun, Stella?« Er war im Zimmer auf und ab gegangen. »Ich habe Wilmot die Erlaubnis gegeben, das Haus zu betreten, und dabei hat er diese Dinge gefunden. Was war es doch? Die Heiratsurkunde eines früheren Dienstboten, einige wichtige Dokumente und die Wechsel. Warte einen Moment!«
Er eilte mit großen Schritten davon.
Andy hatte Glück, den Sergeanten gleich zu treffen, der zugegen gewesen war, als Artur Wilmot das Haus betreten hatte.
»Nein, Sir, ich glaube, er war fast die ganze Zeit im Schlafzimmer. Er war überhaupt nicht lange hier«, erwiderte der Beamte auf seine Frage.
Andy lief die Treppe hinauf, jedesmal zwei Stufen zugleich nehmend. Er hatte Merrivans Schlafzimmer schon drei- oder viermal durchsucht. Rein gefühlsmäßig wußte er, daß das Geheimfach irgendwo in der Nähe des Bettes sein mußte. Das Wappen und die Tudor-Rose zogen seine Aufmerksamkeit auf sich, da er bemerkte, daß das eine flache Ende des Blumenblattes geradestand und mit dem Bettpfosten einen rechten Winkel bildete, während es an dem anderen Pfosten nach der Seite gedreht war. Er zog an der Rose, und als das nichts half, versuchte er, sie zu drehen. Plötzlich knackte es, und eine Schublade öffnete sich.
Sie schien leer zu sein. Als er aber genauer hinschaute, sah er ein Stück Papier, auf dem drei verschiedene Geldbeträge notiert waren. Die erste Zahl war 6700 Pfund, sie war durchgestrichen. Die zweite 6500 Pfund, aber auch dieser Betrag war gestrichen und darunter geschrieben: 6370 Pfund. Die Differenz zwischen den beiden letzten Summen betrug 130 Pfund. Das war der Preis des Brillantringes. Andrew war nun klar, daß in dieser Schublade auch die Wechsel und die Heiratsurkunde jenes ehemaligen Dienstboten verborgen gewesen sein mußten und außerdem bestimmt noch diese 6370 Pfund!
Merrivan war doch ein gewissenhafter Mann gewesen. Er hatte genau Buch geführt über das Geld, das im Geheimfach aufbewahrt wurde. Wenn er etwas davon genommen hatte, strich er die alte Summe aus und schrieb den Betrag darunter, der übrigblieb.
Andy ging zu Stella zurück, er war jetzt viel zuversichtlicher. Sie saß noch genauso da, wie er sie verlassen hatte.
»Andy, du wirst doch nicht wirklich deinen Abschied einreichen?« sagte sie, als er wieder in das Zimmer trat. »Ich werde den ganzen Sachverhalt wahrheitsgetreu aufschreiben und dir dieses Schriftstück übergeben.«
»Wie willst du denn Scotties Eingreifen erklären?«
Sie senkte den Kopf.
»Daran habe ich nicht gedacht.«
»Nein, meine Liebe, wir sind das beste Beispiel für das nette, alte Sprichwort von den Betrügern, die sich in ihren eigenen Netzen fangen. Wir sind so miteinander verkettet, daß keiner von uns ohne den anderen herauskommen kann. Aber ich werde meinen Abschied trotzdem nicht nehmen. Wir wollen die Sache auf sich beruhen lassen, bis ich höre, wie man in Scotland Yard darüber denkt.«
Zwischen dem Yard und der Redaktion des ›Megaphone‹ herrschte eine alte Spannung. Andy erhielt also lediglich eine Aufforderung, persönlich zum Yard zu kommen. Er sprach dort eine Stunde mit seinem unmittelbaren Vorgesetzten. Das Ergebnis dieser Unterredung war, daß er sich nicht nur vollständig rechtfertigen, sondern sogar seine Stellung festigen konnte. Und als er nach Beverley Green zurückkehrte, fand er ein Schreiben von Downer vor, in dem sich dieser halb und halb entschuldigte. Das war sonst nicht seine Art.
Mr. Nelson hatte inzwischen auch den Artikel gelesen. Er tobte. Glücklicherweise traf er weder Downer noch Artur Wilmot. Scottie versuchte, ihn zu besänftigen.
»Es ist einfach ungeheuerlich, Macleod«, rief er wütend. »Ich werde diese Kerle wegen Verleumdung verklagen. Am besten wäre es, diesen Schuften den Schädel einzuschlagen!«
»Bezüglich der Klage können Sie natürlich tun, was Sie wollen«, erwiderte Andy. »Immerhin würden Sie mich in eine sehr schwierige Lage bringen, wenn Sie sich jetzt in die Sache einmischen wollten. Ich werde schon etwas unternehmen, um Downers Ausführungen zu entkräften. Er hat wahrscheinlich schon einen neuen, scharfen Artikel für morgen zurechtgebaut, aber wenn ich mich nicht sehr irre, wird er nicht gedruckt werden. Man kann einen Berichterstatter in derselben Weise angreifen wie einen Staatsanwalt. Man muß nur die Glaubwürdigkeit ihrer Zeugen erschüttern. Und ich werde jetzt Artur Wilmot einen Schrecken einjagen, an den er sein Leben lang denken soll.«
Wilmot hatte in Downer einen klugen und urteilsfähigen Menschen gefunden. Er versicherte dem Journalisten verschiedene Male, daß er keine schnellen Freundschaften schließe. Downer behauptete natürlich, er habe diesen Eindruck auch gehabt. Sie speisten zusammen im Beverley-Hotel zu Abend.
»Ihr Artikel war ein wenig scharf, Mr. Downer.«
»Nein, ich glaube nicht«, sagte Downer gleichgültig, »Er bringt allerdings die junge Dame in eine unangenehme Lage, aber wir haben doch zunächst einmal unsere Pflichten als Staatsbürger. Und obgleich ich nicht annehme und niemals angenommen habe, daß sie etwas von dem Mord weiß, hat sie sich doch recht sonderbar benommen.«
»Das ist auch meine Meinung. Ich möchte nur betonen, daß ich unter keinen Umständen als derjenige erscheinen möchte, der Ihnen diese Informationen gegeben hat. Als ich Ihnen sagte, daß ich sie in das Haus gehen sah, versprachen Sie mir hoch und heilig, meinen Namen nicht zu erwähnen.«
»In Verbindung mit dieser Tatsache«, verbesserte Downer. »Sie können versichert sein, daß ich nicht ein Wort über Sie schreibe, das Sie auch nur im leisesten kompromittieren könnte. Sie haben mir eigentlich noch nichts von Ihren Privatangelegenheiten erzählt, Mr. Wilmot. Ich verstehe das, Sie sind eben einer dieser zurückhaltenden Menschen, die ihr Herz nicht auf der Zunge tragen, aber ich vermute, daß diese junge Dame Sie nicht gerade sehr gut behandelt hat.«
»Das ist richtig«, erwiderte Wilmot kurz. »Aber wir wollen nicht darüber sprechen. Ich habe durchaus nichts gegen sie, und wie Sie vorhin schon bemerkten, haben wir gewisse Pflichten als Bürger dieses Landes.«
»Ganz gewiß.«
Sie gingen langsam nach Beverley Green zurück und benützten den Weg, der am weitesten von Nelsons Haus entfernt war. Downer wurde ein wenig ungeduldig. Er hatte eine ganze Anzahl von Tatsachen gesammelt, aber gerade dieses eine Mal brauchte er Wilmots Erlaubnis, sie zu veröffentlichen, bevor er seinen Artikel abschicken konnte. Später, wenn er erst alle Fäden in der Hand hatte, würde er sich nicht mehr um seine Genehmigung oder Zustimmung zu kümmern brauchen.
Es war schon spät, aber er nahm Artur Wilmots Einladung an, noch auf ein paar Minuten zu ihm hinaufzukommen. Er wurde in denselben Raum gebeten, in dem Andy den halbfertigen Damenhut auf dem Tisch gesehen hatte.
Es war ein schönes Eckzimmer mit harmonischen Proportionen. Zwei bunte Glasfenster waren in tiefe Nischen eingelassen und von dunkelblauen Samtvorhängen verdeckt. Wilmot hatte die Wahrheit gesagt, als er Andy erklärte, daß kein Dienstbote den Raum betreten durfte, denn er mußte die Tür erst aufschließen, bevor sie hineingehen konnten.
»Nehmen Sie bitte Platz«, sagte Artur und drehte das Licht an. »Der Stuhl drüben ist bequemer. Trinken Sie etwas?«
»Nein, danke. Ich habe noch viel vor. Nun erzählen Sie mir mal etwas von der jungen Dame. Ich muß die Fortsetzung meines Artikels von gestern bringen. Haben Sie begründete Ursache zu der Annahme, daß Macleod in das Mädchen verliebt ist?«
»Einen Augenblick«, erwiderte Wilmot, stand auf, ging zu den zugezogenen Vorhängen am anderen Ende des Raumes und schob sie beiseite. »Ich wußte es doch, ich habe einen Luftzug gefühlt – das Fenster steht auf! Der Himmel mag wissen, wer es aufgemacht hat.« Er schloß es, zog die Vorhänge wieder zu und setzte sich. »Das ist nun gerade die Sache, die ich Sie bitten möchte, nicht zu berühren. Das Mädchen ist eben in dem Alter, in dem man leicht zu beeinflussen ist, und er hat wahrscheinlich großen Eindruck auf sie gemacht.«
»Also bestehen zwischen den beiden doch Beziehungen?« fragte Downer schnell.
»Ja, es ist eine Art von« – Wilmot zögerte – »ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll. Er ist bedeutend älter als sie, und er hat alle Tricks gebraucht, um ...«
»Nein, ich glaube kaum, daß man es so bezeichnen kann«, entgegnete Mr. Downer. »Sollen wir nicht lieber sagen, daß sich eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt hat? Die Leser verstehen schon, was ich damit sagen will. Ich möchte nämlich die Vorstellung hervorrufen, daß er sich mit dem Mädchen eingelassen hat.«
Es klopfte leise an die Tür, und ein Dienstmädchen trat ein.
»Mr. Macleod möchte Sie sprechen.«
Die beiden wechselten einen schnellen Blick, und Downer nickte.
»Bitten Sie ihn herein«, sagte Wilmot, dem es plötzlich sehr unbehaglich wurde.
»Guten Abend, Downer – guten Abend, Mr. Wilmot.«
Andy blieb an der Tür stehen und betrachtete sie.
»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« fragte Wilmot nervös. »Sie kennen Mr. Downer?«
»Sehr gut sogar«, erwiderte Andy gelassen.
»Sie sind doch nicht etwa über meinen Artikel ärgerlich?« fragte Downer mit gutgeheucheltem Erstaunen. »Sie sind schon zu lange im Fach, um sich darum zu kümmern, was die Zeitungen sagen.«
»Dieser Herr ist also die Quelle Ihrer Informationen?« Andy wies mit dem Kopf zu Wilmot hinüber.
»Das möchte ich nicht behaupten.«
»Downer, Sie halten sich in Ihren Artikeln gewöhnlich so eng wie möglich an die Wahrheit. Aber diesmal haben Sie einen Bericht losgelassen, der dazu bestimmt war« – Downer lächelte – »die Ziele der Justiz zu durchkreuzen. Unterbrechen Sie mich nicht. Ich habe Ihnen so etwas noch nie sagen müssen, und ich hoffe, daß ich es nicht wieder tun muß. Miss Nelson mag eine Klage gegen Ihre Zeitung erheben, oder nicht, das steht in ihrem Ermessen. Wenn sie es aber tut, dann wird es Ihre Zeitung zwanzigtausend Pfund kosten.«
»Mein Bericht geht auf eine zuverlässige Quelle zurück.«
»Sie meinen damit doch nicht etwa diesen Mann?« Andy zeigte auf den düster dreinschauenden Wilmot. »Ich werde Ihnen gleich zeigen, wie sehr Sie sich auf ihn verlassen können.« Er trat auf Arthur Wilmot zu und schaute verächtlich auf ihn hinunter. »Ich bin gekommen, um mich nach dem Verbleib einer Summe von 6370 Pfund zu erkundigen, die aus einem Geheimfach in Mr. Merrivans Bett entwendet wurden.«
Wilmot sprang auf, als ob er einen Schlag bekommen hätte.
»Was – was?« stammelte er.
»Außerdem sind noch verschiedene Dokumente von Ihnen gestohlen worden!«
»Gestohlen?« wiederholte Wilmot mit schriller Stimme. »Wie dürfen Sie das sagen? Ich bin der Erbe meines Onkels!«
»Sie wurden von Ihnen gestohlen, ich sage es noch einmal mit allem Nachdruck. Ob Sie der Erbe Ihres Onkels sind, wird das Gericht entscheiden. Es lag eine gewisse Heiratsurkunde dabei« – er schaute Wilmot scharf an, als er sprach, und er bemerkte seine Verwirrung. »Ich glaube, daß Sie noch in ernste Schwierigkeiten kommen werden. Was haben Sie mir darüber mitzuteilen?«
Artur Wilmot atmete schwer, er war unfähig zu sprechen.
Andy wandte sich an den Journalisten.
»Wird es Ihnen nun klar, daß dieser Mann unter einem schweren Verdacht steht und daß auch Sie eine Anzeige zu gewärtigen haben, da Sie mit ihm unter einer Decke stecken, um eine unschuldige Frau zu verdächtigen?«
»Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu tun«, antwortete Downer. »Ich berichte nur die Tatsachen, die ich vorfinde.«
»Sie erfinden aber noch ein wenig dazu, Sie sind weit davon entfernt, objektiv zu sein, Downer. Im Gegenteil, Sie nehmen Partei. Ich muß hieraus den Schluß ziehen, daß Sie von dem Diebstahl wußten.«
»Ich würde mich doch an Ihrer Stelle hüten, von einem Diebstahl zu reden«, unterbrach ihn Mr. Wilmot, der seine Fassung wiedergefunden hatte. »Ich gebe zu, daß ich verschiedene Dinge aus jener Schublade genommen habe, aber das war der Wunsch meines Onkels.«
»Haben Sie denn die Sache seinem Rechtsanwalt gemeldet?« fragte Andy trocken.
»Das war nicht nötig.«
»Das war sehr nötig«, verbesserte Andy.
»Ich nahm diese Dinge, weil ich fürchtete, sie könnten in die Hände der Dienstboten fallen.«
»Was lag denn noch in der Schublade?«
»Wenn Sie früher gekommen wären, hätte ich Ihnen alles übergeben«, lenkte Wilmot ein.
»Ich möchte wissen, was Sie genommen haben.«
»Einen Trauschein, eine Geldsumme – es kann der Betrag gewesen sein, den Sie nannten, obgleich ich ihn nicht nachgezählt habe –, dann noch eine Liste von Sicherheiten und –«, er machte eine Pause und sprach dann mit besonderem Nachdruck weiter – »zwei gefälschte Wechsel von Mr. Nelson zugunsten Albert Selims, die von meinem Onkel akzeptiert waren. Aber die Unterschriften Mr. Merrivans waren gefälscht. Diese Wechsel sind mir von einem Verbrecher gestohlen worden, der in Ihren Diensten steht. Wahrscheinlich sind sie vernichtet worden.«
»Wann war das?« fragte Andy.
»Vor zwei Tagen.«
»Haben Sie die Sache angezeigt?«
»Nein, Sie wissen sehr gut, daß ich das nicht getan habe.«
»Warum denn nicht?« fragte Andy kühl. »Das Gesetz schützt Sie ebensogut wie jeden anderen. Sie erwarten doch nicht etwa, daß ich Ihnen glaube, Sie hätten sich ruhig zwei wertvolle Dokumente stehlen lassen und kein Wort davon gesagt, obwohl der ganze Ort von Polizeibeamten wimmelt?«
Wilmot schwieg.
»Auf alle Fälle will ich die Sachen jetzt sehen. Wo sind sie?«
»Dort im Wandschrank«, sagte Wilmot mürrisch.
Er nahm einen Schlüsselbund aus der Tasche und begann daran zu suchen.
»Wo zum Teufel ist denn der Schlüssel zum Safe?«
Wilmots Bestürzung war echt. Hastig ließ er einen Schlüssel nach dem anderen durch die Finger gleiten.
»Der Schlüssel war heute nachmittag noch an dem Bund, als ich zum Baden ging. Ich habe ihn nur einen Augenblick aus der Hand gelegt.«
Er schob das Paneel beiseite, das den Geldschrank verdeckte.
»Die Tür ist ja gar nicht geschlossen«, sagte Andy.
Mit einem überraschten Ausruf öffnete Wilmot die Tür ganz und faßte hinein.
»Großer Gott!« rief er erleichtert. »Ich dachte, jemand habe sie gestohlen!«
Er warf die Brieftasche auf den Tisch.
»Und die anderen Dokumente?«
»Hier ist die Liste der Sicherheiten und hier ...« er suchte und tastete noch einmal. Andy sah, daß er verstört war. »Aber ich kann einen Eid darauf leisten, daß ich ihn hierhergelegt habe.«
»Was denn?«
»Der Trauschein ist verschwunden!«
Andys Blick fiel in diesem Moment zufällig auf die Tür. Zwischen dem Türrahmen und den dunkelblauen Samtvorhängen, welche da ein Fenster verdeckten, war der Lichtschalter angebracht. Andy sah, wie eine Hand hinter dem Vorhang hervorkam und sich zum Schalter hinbewegte. Er war starr vor Erstaunen. Plötzlich hörte man ein Knacken, und der Raum lag vollkommen im Dunkeln. Im nächsten Augenblick blitzte eine Taschenlampe auf.
»Rühren Sie sich nicht von der Stelle!« rief eine heisere Stimme. »Wenn Sie es tun, schieße ich Sie sofort nieder, wer es auch gerade sein mag!«
»Wer sind Sie?« fragte Andy.
»Mein Name ist Albert Selim.«
Schon hatte sich die Tür geöffnet und wieder geschlossen. Sie hörten, wie der Schlüssel umgedreht und gleich darauf die Haustür zugeschlagen wurde.
Andy sprang zu dem Fenster, das nach der Straße zu lag, und riß den Vorhang beiseite. Aber durch die bunten Glasfenster hätte man auch am hellen Tag nichts erkennen können. Er riß das Fenster auf und sah hinaus. Von dem Einbrecher war nichts mehr zu sehen.
»Das ist wieder so ein Abenteuer Ihres Freundes Scottie«, sagte Wilmot zähneknirschend.
Andy wandte sich ihm zu.
»Mein Freund Scottie, wie Sie ihn zu nennen belieben, hätte kaum sechstausend Pfund in Ihrem Geldschrank gelassen. Außerdem hat er nicht so gepflegte Hände wie der Mann, der das Licht ausschaltete.«
Auf Andys schrillen Pfiff stürzte ein Polizist herbei.
»Schicken Sie den Sergeanten zu mir und rufen Sie Ihre Station an, daß alle Leute zu einer Durchsuchung des Geländes ausgeschickt werden. Sehen Sie zu, daß Sie jede mögliche Unterstützung bekommen – aber machen Sie schnell!«
Um diese Zeit hätte Scottie ausgegangen sein können, aber zufällig hatte er Stella geholfen, Kenneth Nelsons neues Gemälde einzupacken. Er habe das Haus den ganzen Abend nicht verlassen, erzählte Stella. Der Detektiv ging zu Wilmot zurück. Downer war inzwischen gegangen.
»Ich will das Geld an mich nehmen«, sagte Andy und hob die Brieftasche auf. »Und nun sagen Sie mir alles, was Sie von dem Trauschein noch wissen.«
»Glauben Sie wirklich, daß es Albert Selim war?«
»Ich bin sicher, daß es der Mann war, der Mr. Merrivan tötete«, erwiderte Andy kurz. »Er bedrohte uns mit derselben Waffe, mit der er den Mord beging.«
Mr. Wilmot schauderte.
»Der Trauschein beurkundete eine Heirat zwischen einem gewissen John Severn und einem Dienstmädchen namens Hilda Masters. Die Ehe wurde vor etwa dreißig Jahren geschlossen und in der St.-Pauls-Kirche, Kensington, eingesegnet.«
Andy notierte sich diese Einzelheiten.
»Erschien der Name Ihres Onkels in irgendeiner Weise auf der Urkunde?«
Wilmot schüttelte den Kopf.
»Sie kennen John Severn nicht? Hat Ihr Onkel Ihnen gegenüber nie den Namen erwähnt?«
»Nein. Ich möchte Ihnen aber noch etwas wegen des Geldes sagen, Macleod. Ich will nicht in Ungelegenheiten kommen, wenn es sich vermeiden läßt. Ich habe es wirklich nur genommen, um es in Sicherheit zu bringen. Wie sind Sie denn dahintergekommen?«
»Sie kennen meine Methoden, Wilmot«, erwiderte Andy sarkastisch. »Die ganze Sache kann für Sie sehr übel werden. Ich gebe Ihnen den guten Rat, um Downer einen weiten Bogen zu machen. Der hat mit Ihnen kein Erbarmen und wird Sie ebenso verraten, wie er Albert Selim verraten würde, wenn er ihn fangen könnte.«
Ein ähnlicher Gedanke war Wilmot auch schon gekommen.
»Wegen der Verleumdungsklage ist auch Downer nicht ganz wohl«, meinte er. »Ich glaube, in seinem nächsten Artikel wird er zahmer sein. Außerdem wird ihm ja auch Selim genügend Stoff dafür geben.«
Andy war derselben Ansicht. Er sprach noch einmal bei Stella vor, ehe er ins Gästehaus ging. Scottie hatte sich schon zur Ruhe gelegt, er war direkt musterhaft geworden.
»Alle Leute in Beverley sind über den Artikel sehr aufgebracht und haben mir ihre Anteilnahme ausgedrückt«, sagte Stella. »Ich habe noch nie soviel Besuch gehabt wie heute. Sheppards waren hier, Masons, sogar die Gibbs, die doch so ruhige Leute sind. Alle sind sehr ungehalten über Artur Wilmot. Was wird die Zeitung wohl morgen bringen?«
»Sehr wenig. Downer wird über den Einbruch in Wilmots Wohnung berichten und den Besuch dieses geheimnisvollen Albert Selim mit allen Einzelheiten schildern. Er wird auch die Gelegenheit wahrnehmen, sich zu verteidigen. Man droht in ähnlichen Fällen den Zeitungen häufig mit Verleumdungsklagen. Downer wußte, daß er den Bogen überspannt hatte. Ich habe schon gemerkt, daß er etwas nervös war, als ich heute seinen Brief erhielt. Es gehört schon viel dazu, ihn nervös zu machen, aber wahrscheinlich waren ihm schon selbst Zweifel an der Glaubwürdigkeit Wilmots gekommen.«
Die Schleier, die über dem geheimnisvollen Mord von Beverley Green lagen, wurden immer dichter und undurchdringlicher. Auch Albert Selims Erscheinen brachte Andy der Lösung keinen Schritt näher. Warum hatte der Mann sich einer so großen Gefahr ausgesetzt, nur um einen offensichtlich wertlosen Trauschein in seinen Besitz zu bringen? Wer war dieser John Severn, und wer war das Dienstmädchen Hilda Masters?
Ins Gästehaus zurückgekommen, erhielt er von Zeit zu Zeit telefonische Berichte von den Polizeibeamten, die die Gegend nach dem Fremden absuchten. Die Polizei der Nachbarorte unterstützte sie. Die Hauptstraßen wurden abpatrouilliert und die Nebenwege überwacht. Mit der kleinen Mannschaft konnte man allerdings das offene Land nicht absperren, damit mußte bis zum Tagesanbruch gewartet werden.
Um ein Uhr nachts trat er kurz vor die Tür, um ein wenig frische Luft zu schöpfen. Das Zimmer bedrückte ihn, und er hatte Kopfschmerzen bekommen.
In Beverley Green war um diese Zeit jedes Haus dunkel, auch aus Stellas Zimmer drang kein Lichtschein.
Inspektor Dane kam eben mit dem Rad an, um ihm den letzten Bericht persönlich zu überbringen.
»Wir haben jedes Auto zwischen hier und Cranford Corner angehalten. Glauben Sie, daß es ratsam wäre, eine Durchsuchung sämtlicher Häuser von Beverley Green vorzunehmen?«
»Ich wüßte nicht, warum. Sollte Selim tatsächlich ein Bewohner des Ortes sein, so könnten wir das durch eine Haussuchung auch nicht feststellen. Außerdem wäre es gesetzwidrig, wenn wir nicht die nötigen Befehle aus London haben. Vielleicht ...«
Andy wurde plötzlich unterbrochen, denn durch die Stille der Nacht tönte ein Schuß. Gleich darauf fielen ein zweiter, ein dritter und nach kurzer Zeit noch ein vierter. Sie kamen aus der Richtung der Hügel jenseits des Ortes.
»Wilddiebe können es nicht gut sein«, meinte Inspektor Dane.
»Wilddiebe benützen gewöhnlich keine Pistolen.«
Das Telefon im Gästehaus klingelte stürmisch. Die Haustür war offen geblieben, und sie hörten es schon, bevor Johnston herausgestürzt kam, um Andy zu rufen.
»Mr. Salter ist am Apparat. Er möchte Sie dringend sprechen!« Andy lief hinein und nahm den Hörer auf.
»Sind Sie es, Mr. Macleod? Haben Sie die Schüsse gehört?«
»Jawohl.«
»Ich habe geschossen. Es ist ein Raubüberfall auf Beverley Hall gemacht worden. Jemand versuchte einzubrechen. Er ist in Richtung Spring Covert entflohen. Können Sie herkommen?«
Andy holte seinen Wagen aus der Garage und fuhr mit Inspektor Dane in schnellstem Tempo die Hauptstraße entlang.
Mr. Salter sah blaß und angegriffen aus. Er trug einen Schlafrock über dem Pyjama und erwartete die Beamten in seiner Bibliothek.
»Es tut mir leid, daß ich Sie stören mußte, Macleod«, begann er.
»Haben Sie den Mann zu Gesicht bekommen?« fragte Andy schnell.
»Ich konnte ihn nur von hinten sehen. Er muß mindestens schon eine halbe Stunde im Haus gewesen sein, bevor ich ihn hörte. Ich hätte ihn wahrscheinlich gar nicht bemerkt, wenn er nicht die Frechheit besessen hätte, in mein Schlafzimmer zu kommen.«
Salter zeigte ihnen das Fenster, das aufgebrochen worden war. Es gehörte zu dem kleinen Arbeitszimmer neben der Bibliothek.
»Er war auch in der Bibliothek. Sehen Sie, diese Schubladen sind gewaltsam geöffnet worden.«
Die Fächer waren ganz herausgezogen, ihr Inhalt auf den Boden verstreut.
»Vielleicht glaubte er, hier Geld zu finden. Aber ich bewahre hier nichts Wertvolles auf.«
»Ist er auch in anderen Räumen gewesen?«
»Ich glaube, er war auch im Zimmer meines Sohnes – er ist augenblicklich nicht hier, er studiert in Cambridge –, aber das kann ich nicht genau sagen.«
Er führte sie ins obere Stockwerk, aber hier war alles in bester Ordnung, obgleich die Tür zum Zimmer des jungen Salter offenstand.
»Es ist sehr leicht möglich, daß er zuerst diesen Raum mit dem meinen verwechselte. Mein Schlafzimmer liegt direkt gegenüber. Ich weiß nicht, wovon ich aufwachte. Vielleicht quietschte die Tür, obwohl sie regelmäßig geölt wird. Ich setzte mich im Bett aufrecht und hörte noch das Geräusch seiner Schritte, dann war er fort. Als ich aus der Tür herauskam, sah ich ihn noch einen kurzen Augenblick am anderen Ende des Ganges. Ich lief die Treppe hinunter und rief nach Tilling. Ich habe ihn dann noch einmal gesehen, als er durch das Bibliotheksfenster stieg. Ich habe stets eine Pistole in meinem Zimmer, und ich schoß hinter ihm her, als er die Stufen der Terrasse hinunterlief und im Dunkeln verschwand.«
»Hörten Sie ihn nicht sprechen?«
Mr. Salter schüttelte den Kopf.
Es war das Werk eines erfahrenen Einbrechers, das erkannte Andy sofort. Und wenn er nicht absolut sicher gewesen wäre, daß Scottie in diesem Augenblick den Schlaf des Gerechten schlief, hätte er schwören mögen, daß er den Einbruch verübt hatte.
Aber dieser Einbrecher hatte offenbar keinen festen Plan gehabt. Scottie hätte auch keine Papiere aus den Schubladen herausgeworfen und obendrein noch Salter in seinem Schlafzimmer gestört. Man ging wieder in die Bibliothek zurück.
»Das ist der zweite Raubüberfall heute abend in Beverley Green«, sagte Andy und erzählte von dem Vorfall bei Wilmot.
»Albert Selim?« meinte Mr. Salter nachdenklich. »Ich möchte mich Ihrer Theorie fast anschließen, Mr. Macleod.«
»Vermissen Sie etwas?«
»Ich glaube kaum, es befand sich nichts in der Bibliothek, das sich zu stehlen lohnte, höchstens ein paar Pachtverträge, die ihn aber schwerlich interessiert haben können.«
»Was ist denn das?«
Andy ging zum Kamin. Er war leer, da das Wetter ungewöhnlich warm war, aber auf der Feuerstelle lag die Asche von verbranntem Papier! Wieder eine Parallele zu der Ermordung Merrivans!
»Haben Sie etwas verbrannt?«
»Nein. Ist die Schrift noch erkennbar – manchmal ist das ja der Fall.«
Andy kniete nieder und beleuchtete die Asche mit seiner Taschenlampe.
»Nein, es ist leider fast nichts mehr zu erkennen.« Vorsichtig nahm er ein größeres Stückchen verbrannten Papiers heraus und brachte es zum Tisch.
»Es sieht aus wie ›RYL‹, meinte er. »Eine sonderbare Kombination von Buchstaben.«
»Es könnte Orylbridge geheißen haben«, erwiderte Boyd Salter. »Ich habe dort Grundeigentum.«
Bei diesen Worten hob er einige Papiere vom Fußboden auf.
»Es ist mir jetzt unmöglich, alle Dokumente zu ordnen und zu sehen, was fehlt. Vielleicht kommen Sie morgen früh noch einmal, Doktor.«
Andy wartete noch, um den Bericht zweier Parkwächter entgegenzunehmen, die aufgestanden waren und die Gegend abgesucht hatten.
»Dieser Fall geht mir langsam auf die Nerven, Dane«, sagte er, als der Wagen den Hügel hinunter zum Parktor fuhr. »Eins ist sicher: In diesem Tal verbirgt sich irgendwo ein Mörder, mag er nun Albert Selim oder sonstwie heißen. Offenbar ist er von hier. Es gibt keine andere Erklärung für seine Schnelligkeit und Sicherheit. Er kennt hier jeden Zoll Boden, und er sucht nach irgend etwas. Er tötete Merrivan, um es zu finden, er tötete Sweeny, weil ihm der zufällig im Obstgarten über den Weg lief. Er brach in Beverley Hall ein, um auch dort zu suchen. Aber warum hat er in beiden Fällen Papiere im Kamin verbrannt?«
»Wo hätte er sie sonst verbrennen sollen?« fragte Inspektor Dane. »Der Kamin war doch in beiden Fällen ganz in der Nähe.«
Andy erwiderte nichts darauf.
Er erinnerte sich jetzt daran, daß er auch ein drittes Mal verbranntes Papier gesehen hatte. Stella hatte sich in derselben Weise der Dinge entledigt, die sie vernichten wollte.
Um halb drei verabschiedete er sich von dem Polizeiinspektor. Im Osten dämmerte schon der neue Tag, als er in sein Zimmer kam. Er warf noch einen Blick zu dem Haus Nelsons hinüber und blieb erschrocken stehen. Stella mußte wach sein, denn er sah Licht durch ihre Jalousien schimmern.
Er wartete fast eine volle Stunde. Erst als es ganz hell geworden war, wurde drüben das Licht ausgemacht.
Andrew seufzte und ging zu Bett.