Edgar Wallace
21-24
Scottie kam am Morgen, noch bevor Andy aufgestanden war. Er hatte die Hände in den Hosentaschen und sah sehr unzufrieden aus.
»Hallo, Scottie«, sagte Andy und stützte sich auf den Ellenbogen. »Was gibt's?«
»Nichts, nur die allgemeine Moral gefällt mir hier nicht.« Scottie setzte sich. »Ich gehe wieder in die Stadt, Macleod. Hier ist es mir zu aufregend. Sie machen sich hier auch nur einen schlechten Namen. Ich habe diesen Federfuchser, diesen Downer, heute morgen getroffen. Er sagte, das sei der schlechteste und undankbarste Fall, der ihm je untergekommen ist, und er habe einen guten und aussichtsreichen Mord dafür weggegeben.«
»Haben Sie seinen Artikel in der Zeitung gesehen?«
Scottie nickte.
»Er ist sehr zahm, Macleod. Er sah, in welche Gefahr er sich gebracht hatte, und außerdem sprang doch dieser maskierte Mann hinter dem Vorhang hervor und bedrohte ihn mit der Waffe.«
»Ob er maskiert war oder nicht, weiß niemand. Ich glaube es nicht. Was hat er über Miss Nelson geschrieben?«
»Er hat sie freigesprochen. Es sei alles zufriedenstellend aufgeklärt worden. Er entschuldigte sich fast in dem Artikel.«
»Dann geht er also fort?« fragte Andy befriedigt.
Scottie schüttelte den Kopf. »Das sagt er bloß. Er wird sicher noch eine Woche hierbleiben!« Er ging zur Tür. »Vielleicht komme ich noch mal zurück, Macleod. Auf Wiedersehen.«
Er war gegangen, bevor Andy ihn fragen konnte, ob Stella Nelson schon zu sprechen sei.
Andy war nun auf dem toten Punkt angekommen, er war in eine Sackgasse geraten. Er würde bald nach London zurück müssen, und der Mord würde dann unter die ›unaufgeklärten Fälle‹ eingereiht werden.
Das eigentliche Geheimnis lag in der Verkettung, die Darius Merrivan, Albert Selim und den Mörder miteinander verband.
Andy wollte gerade Stella aufsuchen, als ein Telegramm von Scotland Yard eintraf.
›Kommen Sie sofort zurück. Wentworth verschwunden. Geschäftsmann Ashlar Building. Nachforschungen bei Bank ergaben hohes Konto. Grund zu Annahme, daß Selim und Verschwinden Wentworth in Zusammenhang.‹
Andy hatte schon verschiedenes über den Stand der Firma erfahren, bevor er die Stenotypistin befragte.
»Am letzten Freitag war er zum letztenmal hier«, sagte sie niedergeschlagen, »er hat mir mein Gehalt ausgezahlt und Geld für die Portokasse und andere Kleinigkeiten gegeben. Er sagte, daß er am Montag oder Dienstag wiederkommen werde. Ich sprach mit ihm über das Geschäft, denn wir tun eigentlich überhaupt nichts. Ich fragte ihn, wie lange dieser Zustand noch anhalten könne, bevor er das Büro ganz schließen würde. Aber er war guter Laune und erwiderte, daß er mir bald etwas Angenehmes mitteilen könne. Er sagte das in der scherzhaften Art, in der er stets mit mir zu sprechen pflegte.«
»Sie wissen, wo er wohnt?«
»Nein. Ich vermute nur, daß er sich häufig in Hotels aufhält. Er schrieb ein paarmal, wenn er abwesend war, und gab als Absender immer ein Hotel an, obwohl ich ihm nie Briefe nachsandte. Ich erinnere mich noch an eine andere Bemerkung, die er machte, als ich ihn das letztemal sah. Er sagte, es sei doch merkwürdig, daß man nie etwas von Mr. Selim zu sehen bekäme.«
»Erinnern Sie sich an ein Hotel, von dem aus er Ihnen schrieb, und wissen Sie, an welchem Datum er den letzten Brief absandte?«
»Ich habe die Korrespondenz aufbewahrt. Ich dachte schon, daß Sie danach fragen würden.«
Andy durchblätterte kurz die Briefe. Es waren bekannte Hotels in den verschiedensten Teilen Englands. Er notierte die Namen.
»Haben Sie eine Fotografie von Mr. Wentworth?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wie sah er denn aus?«
In diesem Punkt war sie sehr unsicher, sie war selbst erst neunzehn Jahre und hielt jeden Mann über Fünfunddreißig für ›alt‹.
Er ging etwas gebeugt, erinnerte sie sich, und trug eine große Hornbrille. Von seinen Geschäften wußte sie fast gar nichts, sie war auch erst seit einem Jahr bei ihm angestellt. Sie kannte auch keine anderen Firmen, mit denen er irgendwelche Geschäfte getätigt hatte. Sie schickte nie Rechnungen aus, und offenbar war ihre einzige Aufgabe, Besucher zu empfangen, die nicht erschienen und Auszüge aus der Tagespresse über die Lebensmittelbörse zu machen. Sie zeigte eine Menge Blätter, die sie im Lauf der Zeit zusammengestellt hatte. Jeden Freitagnachmittag erhielt sie pünktlich ihr Gehalt.
Andy suchte die beiden Londoner Hotels auf, die auf seiner Liste standen. Die Fremdenbücher wurden nachgeschlagen, und man fand tatsächlich, daß Mr. Wentworth an den betreffenden Daten dort gewohnt hatte. Aber die Hotelangestellten wußten auch nichts Näheres über ihn, für sie war er nur eine Nummer.
Andy ging zu Scotland Yard zurück und berichtete.
»Wentworth und Albert Selim sind ein und dieselbe Person«, sagte er. »Wentworth & Wentworth ist eine Schwindelfirma und hat nur den Zweck, Selim Zutritt zum Gebäude zu verschaffen. Erinnern Sie sich daran, daß Selims einziger Angestellter nur zwischen elf und ein Uhr im Büro sein durfte? Wentworth selbst erschien im Ashiar Building nie vor zwei und auch nur an bestimmten Tagen. Der Sekretär Selims hatte dann frei. Für Wentworth war es eine leichte Sache, in Selims Büro zu gehen, die Briefe zu holen und dann wieder in den Räumen der Firma Wentworth & Wentworth zu erscheinen. Wentworths Bankier hat mir gesagt, daß er etwa ein Dutzend große Kästen voll Dokumente hat. Die werden es uns vielleicht möglich machen, die Identität endgültig festzustellen.«
»Hat Wentworth Geld von der Bank abgehoben, seitdem er verschwunden ist?«
»Dieselbe Frage habe ich auf seiner Bank auch gestellt, und man sagte mir, daß das nicht der Fall ist. Das ist sehr leicht erklärbar. Albert Selim wußte, daß wir sofort in sein Büro gehen würden. Er vermutete vielleicht auch, daß wir den Zusammenhang zwischen ihm und Wentworth durchschauten. Wenn er nun als Wentworth einen Scheck von der Bank zog, setzte er sich der Gefahr aus, gefaßt zu werden.«
Andy erhielt die notwendige Vollmacht, um zu den Depots von Wentworth Zutritt zu erhalten. Er saß den ganzen Nachmittag bis in die Nacht hinein im Privatbüro des Bankdirektors und prüfte den Inhalt von sechs übervollen Stahlkassetten.
Seine Tätigkeit wurde erleichtert, als er entdeckte, daß zwei Kästen die Akten der eigentlichen Firma Wentworth enthielten. Offenbar hatte Selim das Geschäft vor einigen Jahren aufgekauft, das schon damals nicht gut ging. Aber unter seiner Leitung waren die Verhältnisse immer schlimmer geworden. Er hatte ja auch keine Veranlassung, Geld durch legitimen Handel zu verdienen, wenn er einen viel leichteren Weg gefunden hatte, zu Reichtum zu kommen. Dieser Weg brachte zwar einige Gefahren mit sich, aber er warf ungeheure Verdienste ab.
Die anderen Stahlkassetten waren gefüllt mit Besitzurkunden und alten Verträgen, die alle zugunsten Albert Selims lauteten.
Dieser Mann schien in allen Teilen des Landes Besitzungen zu haben, hier eine Farm, dort ein Haus, an einer anderen Stelle eine Kohlenmine. Andy fand auch Einzelheiten über erworbene Schürfrechte, Details über eine Zuckerplantage in Westindien und viele andere Dokumente, die den ungeheuren Reichtum Selims bekundeten.
Es war beinahe Mitternacht, als der letzte Stapel Akten auseinandergenommen und durchgesehen wurde. Andy entdeckte plötzlich einen bekannten Namen auf einem alten Vertrag.
›John Aldayn Severn.‹
Severn!
Der Vertrag war zwischen Albert Selim auf der einen Seite, ›hierin später der Verleiher genannt‹, und John Aldayn Severn auf der anderen Seite geschlossen. Als Andy las, staunte er mehr und mehr über die ungewöhnlichen Bedingungen, die hier festgelegt waren. Die Abmachung besagte, daß der Verleiher dem ihm unbekannten Severn lebenslänglich eine Summe von fünftausend Pfund jährlich zur Verfügung stellte. Severn beurkundete, daß er an Selim regelmäßig die Hälfte seiner Einkünfte zahlen werde, falls er einen Besitz erbte, aus dem er Einnahmen habe, und zwar würde er diese Zahlungen ›für ihm erwiesene besondere Dienste‹ leisten. Auf die Erbschaft selbst war nicht näher eingegangen.
Andy schaute das Dokument nachdenklich an. Es war fünf Jahre nach Severns Heirat datiert, wenn Artur Wilmots Angaben richtig waren. Hatte Severn wohl jemals eine Summe erhalten? Und, wenn ja, hatte er den Vertrag erfüllt?
Der Bankdirektor hatte zwei Angestellte zurückgelassen, die Andy bei seinen Arbeiten behilflich waren. Alle Unterlagen, die Selims Konto betrafen, standen zu seiner Verfügung, aber es war schwer, die Herkunft aller Eingänge festzustellen.
Andy las den Vertrag noch einmal genau durch. Die Zahlungen sollten jeweils am 1. März und 1. September geleistet werden. Er ging wieder die Eingänge während der letzten zwanzig Jahre durch. Am 1. März und 1. September jeden Jahres waren auf Selims Konto Summen eingezahlt worden, die zwischen sieben- und neuntausendfünfhundert Pfund schwankten. Also hatte Severn tatsächlich seine jährlichen Zahlungen bekommen und selbst vereinbarungsgemäß gewisse Summen an Selim abgeführt.
Das ist der Mann, den ich suche, sagte sich Andy. Wenn ich Severn habe, werde ich auch Selim finden.
Am nächsten Morgen durchsuchte er sorgfältig alle Adreßbücher von Grundbesitzern, die er finden konnte. Der Name Severn erschien dreimal, aber in jedem Fall handelte es sich nur um kleinen Besitz, und Andys telegrafische Anfragen waren ergebnislos. Er konnte über die Person von John Aldayn Severn, der in dem Vertrag erwähnt war, nichts ermitteln. Der Name war in der Gegend von Beverley vollkommen unbekannt. Aber Andy besann sich, daß es ja einen Mann gab, der ihm Auskunft geben konnte.
Mr. Boyd Salter war so etwas wie eine Autorität auf diesem Gebiet, er kannte sehr viele Gutsbesitzer. Andy machte ihm an dem Morgen, als er nach Beverley zurückkam, sofort einen Besuch.
»Ich glaube, daß der Severn, den Sie suchen, vor einigen Jahren nach Australien ausgewandert ist. Ich sagte Ihnen schon, daß es einem meiner Freunde einmal sehr schlecht erging, als er sich in den Klauen des Wucherers Selim befand. Der Mann, den ich damals erwähnte, war Severn. Ich kannte ihn sehr gut, und ich wußte auch, daß er von dem Geldverleiher ausgesogen wurde.«
»Warum hat Merrivan aber Severns Trauschein aufbewahrt?«
»Keine Ahnung! Da wir gerade von Merrivan sprechen, ich habe den Einbrecher tatsächlich verwundet.«
»Das interessiert mich sehr – woher wissen Sie das?«
»Wir fanden am nächsten Morgen einige Blutspuren an einem Blatt. Während Ihrer Abwesenheit habe ich mir erlaubt, Inspektor Dane davon in Kenntnis zu setzen; soviel ich weiß, sind seine Anfragen bei den Ärzten der Umgegend erfolglos gewesen.«
Andy fuhr nicht im Auto nach Beverley Green zurück, sondern ging zu Fuß. Er ließ seinen Wagen durch den Chauffeur Salters zum Gästehaus bringen und folgte selbst der vermutlichen Spur des Diebes. Madding, der Parkwächter, zeigte ihm die Stelle, wo die Blutspuren gefunden worden waren. Er betrachtete das rote Baumblatt; auch die Zweige der Sträucher in der Nähe waren mit Blut befleckt.
Andy ging auf dem Waldweg nach Beverley Green zurück. Er kam durch den Obstgarten, in dem Sweeny gefunden worden war. Sein Weg führte ihn am Tennisplatz vorbei, und er gelangte schließlich auf dem Umweg über Merrivans Grundstück zur Hauptstraße.
Er läutete an Stellas Tür, ein Dienstmädchen öffnete ihm.
»Miss Nelson ist nicht zu Hause, Sir.«
»Wo ist sie denn hingegangen?« fragte Andy erstaunt.
»Würden Sie nicht lieber mit Mr. Nelson sprechen? Er ist im Atelier. Sie kennen ja den Weg.«
Andy fand den Maler, der ganz verstört vor seiner Arbeit saß. Nelson begrüßte seinen Gast herzlich.
»Sie wissen gar nicht, wie froh ich bin, daß Sie wieder zurück sind, Macleod. Ich bin in großer Sorge.«
»Wo ist Stella?«
»Sie sollte eigentlich bei ihren Tanten sein«, erwiderte Nelson.
»Wie – sie sollte sein – ist sie denn nicht dort?«
»Ich schickte ein Telegramm und fragte an, wann sie zurückkommen würde, und meine Schwester antwortete, daß sich Stella nur einen Nachmittag dort auf gehalten, habe und in Geschäften nach dem Norden weitergereist sei.«
»Das wird auch stimmen«, meinte Andy erleichtert.
Er hätte nicht sagen können, was er eigentlich erwartet hatte, aber die Nachricht klang nicht beunruhigend. Er verstand, daß Stella ihren Vater nicht ins Vertrauen zog, selbst wenn es sich um sein eigenes Wohl handelte.
»Das würde mich ja auch nicht bedrücken«, sagte Nelson, als ob er Andys Gedanken erraten hätte. »Ich werde Ihnen zeigen, warum ich so besorgt bin.«
Er ging mit dem verwunderten Andy die Treppe hinauf und öffnete die Tür zu einem hübschen, kleinen Schlafzimmer.
»Dies ist Stellas Zimmer«, erklärte Nelson überflüssigerweise, denn Andy kannte die Lage ja ganz genau.
»Ich ging an dem Tage, als sie abreiste, herauf – Sie fuhren übrigens an demselben Tag in die Stadt. Ich wollte ein paar weiche Lappen holen – Stella verwahrt immer einige für mich. Aber der Schrank war zugeschlossen. Glücklicherweise hatte ich einen passenden Schlüssel. Das erste, was ich sah, als ich die Tür öffnete, war das.«
Er reichte zu einem Wandbrett hinauf und nahm ein kleines Bündel Leinen- und Mullstücke herab, die voll braunroter Flecken waren.
»Und sehen Sie einmal hier.«
Er zeigte auf den Fußboden, wo man deutlich Blutspuren sehen konnte.
»Und dort am Rand der Waschschüssel waren auch Flecke. Sie muß sich geschnitten haben, ohne mir etwas davon zu erzählen. Wahrscheinlich hat sie sich an der Hand verletzt. Sie kann sich selbst verbinden, denn sie hat während des Krieges einen Krankenschwesterkurs mitgemacht. Sie hat sich damals sehr dafür interessiert.«
Andy starrte auf die Bandagen, ohne sie zu sehen. Er erinnerte sich plötzlich an das Licht, das er nach dem Raub in Beverley Hall in Stellas Zimmer gesehen hatte. An die Blutspuren, die im Park gefunden worden waren. Es war doch unmöglich, daß Stella diesen Einbruch begangen hatte! Aber ihr plötzliches Verschwinden bestätigte fast seinen Verdacht. Warum war sie so unerwartet abgereist?
»Haben Sie Stellas Hand gesehen, als sie fortging?«
»Nein, sie hatte sie im Muff. Es war schon sonderbar, daß sie an einem so warmen Tag überhaupt einen Muff trug. Ich erinnerte mich sofort daran, als ich das blutige Verbandzeug hier oben fand. Sie schien auch sehr nervös zu sein, was doch sonst nicht ihre Art ist.«
»Ich gebe mich geschlagen«, sagte Andy verzweifelt.
Noch am selben Nachmittag packte er seinen Koffer. Er warf noch einen letzten Blick auf das Tal zurück, bevor er die Richtung nach London einschlug.
Mr. Downer kam aus dem Presseklub. Er trug seinen Regenschirm unter dem Arm und hatte eine lange Zigarre im Mundwinkel.
Der Tag war heiß; nicht der leiseste Wind regte sich. Der Schirm schien völlig überflüssig zu sein, aber Mr. Downer wäre ebensowenig ohne seinen Regenschirm ausgegangen wie ein anderer ohne Kragen und Krawatte. Er freute sich auf das Wochenende in seinem kleinen Häuschen an der Küste.
Unangenehm war dagegen das Bewußtsein, einen Mißerfolg gehabt zu haben. Die Zeitungen brachten auf den hinteren Seiten nur noch ein paar Zeilen über den Verlauf der Nachforschungen. Downer wußte, daß Andrew Macleod in die Stadt zurückgekehrt war, er hatte zweimal wegen anderer Dinge mit ihm zu tun gehabt.
Es war bei der zuständigen Behörde darum nachgesucht worden, Artur Wilmot als Erben des Merrivanschen Nachlasses zu bestätigen, und der junge Mann hatte die Absicht geäußert, Merrivans Haus zu verkaufen, sobald er ein passendes Angebot dafür bekommen würde.
Downer war auf dem Weg, ein Manuskript bei der Redaktion eines Magazins abzugeben. Die Redaktion lag in einer wenig vornehmen Stadtgegend, und er kam durch viele kleine Straßen. Er machte gerade an einer Straßenecke halt, an der ein kleines Warenhaus stand, als eine junge Dame, die ein Paket unter dem Arm trug, aus der Tür trat und schnell davonging. Ihre Gestalt kam ihm bekannt vor, und anstatt weiterzugehen, folgte er ihr. Sie bog um eine andere Straßenecke, und bei dieser Gelegenheit konnte er ihr Gesicht einen Augenblick sehen. Es war Stella Nelson. Was mochte sie hier, in dieser Gegend, zu tun haben? Er ging ihr vorsichtig nach.
Vor der Tür eines kleinen Hauses blieb sie stehen, schloß auf und ging hinein. Es war ein sehr kleines Gebäude. Downer merkte sich die Hausnummer und schlenderte die Straße entlang, bis er eine Frau müßig an ihrer Tür stehen sah. Sie hatte die Arme verschränkt und schien nur auf jemand zu warten, der Zeit hatte, mit ihr zu klatschen.
»Nein, Sir, sie wohnt nicht hier«, sagte sie, als Downer fragte und einen falschen Namen nannte.
»Ich bin seit Jahren nicht mehr in dieser Straße gewesen«, bemerkte Downer lächelnd, »es hat sich nicht viel verändert.«
»Hier verändert sich überhaupt nichts«, erwiderte die Frau redselig. »In hundert Jahren wird die Gegend noch genauso aussehen.«
»Und nun glaube ich, die junge Dame zu kennen, die in Nummer 73 wohnt. Es ging ihr sonst immer recht gut.«
»Sie wohnt nicht wirklich hier; sie kommt jeden Morgen und geht abends wieder fort. Sie ist eine vornehme Dame, und doch macht sie die ganze Hausarbeit selbst. Ich habe sogar gesehen, wie sie die Straße gekehrt hat.«
»Wer wohnt denn dort?«
»Ach, ein Seemann, soviel ich weiß. Vielleicht ihr Vater.«
»Ein Seemann? Ein Matrose?«
»So etwas Ähnliches muß er sein. Manchmal ist er monatelang fort, aber sie habe ich früher nie hier gesehen.«
Mr. Downer sog an seiner kalten Zigarre. Er witterte einen neuen Skandal.
»Er ist wohl ein hübscher Kerl – groß und schlank?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Man kann nicht gerade behaupten, daß er sehr gut aussieht. Obendrein ist er jetzt krank, und ich glaube, daß sie gekommen ist, um ihn zu pflegen. Sie hat es zu etwas gebracht in der Welt, hat aber ihren alten Vater nicht vergessen. Das finde ich nett von ihr.«
Die Frau war nun im besten Fahrwasser und wollte einen längeren Vortrag über junge Mädchen im allgemeinen halten, doch Mr. Downer wußte genug. Er zog den Hut tiefer ins Gesicht, nahm den Schirm von einem Arm unter den anderen und ging den Weg zurück, den er gekommen war.
Es war bezeichnend für ihn, daß er die Frau mitten in ihrer Erzählung einfach stehenließ, ohne sich zu entschuldigen. Er hatte erfahren, was er wissen wollte, das genügte. Er gab sich zwar die größte Mühe, neue Bekanntschaften zu machen, aber er verschwendete keinen Augenblick damit, nutzlose Bekanntschaften fortzusetzen.
Nach seinem Besuch auf der Redaktion kam er auf seinem Weg zum Bahnhof an Scotland Yard vorbei. Er blieb ein wenig stehen und überlegte. Nachdem er einen Entschluß gefaßt hatte, ging er auf das düstere Gebäude zu.
»Doktor Macleod ist im Laboratorium, Mr. Downer.« Der Sergeant in der Portierloge schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß er Besuch empfängt.« Er dämpfte seine Stimme. »Er ist mit dem Giftmord beschäftigt – Sie wissen doch, die Frau, die von ihrem Mann umgebracht wurde – Fall Sweitzer. Inspektor Reeder bearbeitet die Sache. Aber der Doktor hat die ärztliche Untersuchung zu machen. Heute nachmittag hat er den berühmten Spezialisten Tensey zugezogen. Das wäre eine Geschichte für Sie.«
Downer nickte. Er hatte selbst schon die Absicht gehabt, diesen Fall aufzugreifen. Der ›Daily Globe Herald‹ hatte ihn dazu aufgefordert, aber diese Zeitung zahlte bekanntermaßen etwas schlecht.
»Sehen Sie einmal zu, ob er sich sprechen läßt, und wenn es möglich ist, geben Sie ihm meine Karte.«
Der Beamte verschwand. Es dauerte einige Zeit, bis er wieder erschien und mit der Visitenkarte winkte: »Kommen Sie, Mr. Downer.«
Andy trug noch seinen weißen Arbeitskittel. Er wusch sich gerade die Hände, als Downer eintrat.
»Nehmen Sie Platz. Ich kann Ihnen nicht viel über diesen Fall mitteilen. Die Obduktion der Leiche ist noch nicht beendet, aber Sie können schreiben, daß Sweitzer heute morgen verhaftet wurde, als er an Bord eines französischen Passagierdampfers ging.«
Andy trug Downer nichts nach. Der Mann mußte ja schließlich auch leben. Zweifellos war er sonst sehr gewissenhaft in seinen Berichten und hatte die Polizei bei ihren Nachforschungen früher wirksam unterstützt. Das würde auch in Zukunft der Fall sein.
»Ich bin nicht deswegen hergekommen. Die Nachricht von seiner Verhaftung wird ja sowieso in den Abendzeitungen erscheinen.« Downer warf seinen Zigarrenstummel in den Papierkorb. »Ich kam, um mit Ihnen über Miss Nelson zu sprechen.«
Andy hatte sich die Hände abgetrocknet und hängte das Handtuch auf.
»Ich dachte, Ihr Interesse an Miss Nelson hätte sich inzwischen verflüchtigt. Was haben Sie denn schon wieder entdeckt?«
»Sie ist hier in London.«
»Hier?«
Andys Überraschung war nicht geheuchelt.
»Wohnt sie hier – oder haben Sie sie nur auf der Straße gesehen?«
»Ich weiß nicht, wo sie wohnt, aber seit zwei Wochen besucht sie regelmäßig einen kranken Matrosen in der Castle Street Nummer 73.«
»Castle Street Nummer 73?«
Downer hatte den Eindruck, daß diese Nachricht Andy irgendwie beunruhigte.
»Das ist doch eine ziemlich armselige Gegend, nicht wahr?«
Downer nickte. »Ich dachte, es würde Sie interessieren.«
»Ich wüßte nicht, warum sie nicht einen kranken Matrosen pflegen sollte.«
»Nein, da ist nichts dabei.«
»Sie wissen doch wahrscheinlich, daß Miss Nelson eine ausgebildete Krankenpflegerin ist – im Krieg war sie lange in Lazaretten tätig.«
»Das wußte ich allerdings nicht.« Downer nahm sein Etui heraus und nahm sich eine neue Zigarre. »Vielleicht setzt sie jetzt ihre guten Werke fort.«
»Sehr wahrscheinlich.«
Downer erhob sich.
»Ich dachte schon daran, nächste Woche einmal wieder nach Beverley zu gehen, vielleicht kann man dort einen neuen Anhaltspunkt finden.«
»Auf Ihren alten Gewährsmann können Sie wohl nicht mehr rechnen«, sagte Andy lächelnd.
»Sie meinen Wilmot?«
Andy nickte.
»Das ist ein merkwürdiger Mensch.« Downer steckte seine Zigarre an. »Was treibt der denn eigentlich? Er muß doch irgend ein Büro hier in der Stadt haben?«
»Ich weiß es nicht, ich habe mich noch nie darum gekümmert.«
»Könnte er vielleicht mit Albert Selim identisch sein?«
»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen, aber ich habe ihn nicht weiter verfolgt. Warum versuchen Sie sich nicht an dieser Aufgabe? Ich glaube, Sie würden eine glänzende Geschichte daraus machen.«
Andy atmete erleichtert auf, als Downer gegangen war, der ihm eine so überraschende Nachricht gebracht hatte. Er hatte von Stella weder etwas gesehen noch gehört, seitdem er Beverley verlassen hatte. Es war nur ein Brief von ihrem Vater gekommen, in dem er ihm mitteilte, daß sie sich einen Monat bei Verwandten aufhalten wollte. Kenneth Nelson hatte sich offenbar damit zufriedengegeben. Es wäre Andy nicht schwergefallen, die Personalien des kranken Matrosen feststellen zu lassen, aber er wollte Stella nicht nachspionieren, welches Geheimnis sie auch haben mochte. Noch mehr allerdings haßte er die Unruhe, die ihn befallen hatte, als er in die Stadt zurückgekehrt war. Das Leben hatte viel von seinem Reiz für ihn verloren, seitdem er das Mädchen nicht mehr sah. War er gekränkt? Ja, er war ein wenig verletzt, weil sie mit ihren Sorgen nicht zu ihm gekommen war. Er wünschte, er hätte Downer gefragt, ob sie noch einen Verband trug. Warum hatte sie ihm nicht alles erzählt? Er hatte es erst von anderer Seite hören müssen – und das verletzte ihn.
Der kranke Matrose –? Er zuckte die Schultern. Stella hatte niemandem Rechenschaft abzulegen. Wenn es ihr gefiel, ihre Zeit einem armen Kranken zu widmen, so war das ihre Sache. Und doch war er neugierig, wer dieser Kranke wohl sein mochte. Das redete er sich aber nur ein, denn in Wirklichkeit wollte er Stella wiedersehen.
Er setzte sich hin, um einen Brief an sie zu schreiben. Aber nach drei vergeblichen Versuchen faßte er einen anderen Entschluß. Sie kannte ihn gut genug, daß sie nicht glauben würde, er wolle sie bespitzeln oder etwas gegen sie unternehmen.
Er nahm seinen Hut und machte sich auf den Weg nach der Castle Street. Er wollte zu Fuß gehen. Unterwegs überlegte er, ob er in das Haus gehen solle oder nicht; aber als er vor Nr. 73 angekommen war, zögerte er keinen Augenblick zu klopfen.
Er hörte Stimmen flüstern und Treppen knacken. Nach kurzer Zeit öffnete sich die Tür. Stella wurde verlegen, als sie ihn sah.
»Ach!« Zum erstenmal sah er sie verwirrt. »Das ist aber eine Überraschung, Andrew! Wie hast du denn erfahren, daß ich hier bin? Ich machte hier nur einen Besuch.«
Sie war sichtlich nervös. Aber noch seltsamer war es, daß sie mitten in der Türöffnung stand und keine Anstalten machte, ihn hereinzubitten.
»Ich wollte mich einmal nach dir umsehen«, erwiderte Andy ruhig. »Ich habe gehört, daß du hier jemand pflegst.«
»Wer hat dir das gesagt? Vater weiß es doch nicht?« fragte sie schnell.
Sie war rot geworden. Es schien ihr entsetzlich peinlich zu sein, daß er sie in dieser Lage antraf. Niedergeschlagen wandte er sich wieder zum Gehen, aber sie hielt ihn zurück.
»Willst du nicht einen Augenblick warten?«
Sie ging den Gang entlang, trat in ein Zimmer und kam gleich wieder heraus.
»Komm bitte herein. Ich möchte dir meinen Patienten vorstellen.«
Andy zögerte einen Augenblick, dann folgte er ihr. Sie stand im Zimmer und hielt die Tür für ihn offen. Vom Gang aus konnte er nur das Fußende eines Bettes sehen.
»Komm nur herein«, sagte sie noch einmal.
Andy trat näher und wollte seinen Augen nicht trauen, als er den Kranken sah – es war Scottie.
»Donnerwetter!« Andys Staunen war begreiflich.
Scottie sah nicht sehr krank aus und war vollständig angezogen, obwohl er unter einer leichten Decke lag.
»Was ist denn mit Ihnen los, Scottie?«
»Ich habe eine böse Malaria mit allerhand Nebenerscheinungen«, erwiderte Scottie prompt.
»Was fehlt ihm?« wandte sich Andy an Stella.
Sie sah zu Scottie hinüber, dann schaute sie wieder Andy an.
»Ich muß es wohl sagen. Scottie hat sich verletzt und wollte zu keinem Arzt gehen. Ich bin ja Krankenpflegerin. Obwohl es eine schreckliche Wunde war, ist sie doch recht gut geheilt.«
Scottie nickte.
»Stimmt auffallend, Macleod. Bei allem Respekt vor Ihrer Kunst muß ich doch sagen, daß sie der einzige mir bekannte Mensch ist, der ein Wunder getan hat.«
»Sie haben sich also verletzt – doch nicht etwa an der Hand?«
Scottie nickte wieder.
»Vielleicht durch einen Schuß, den ein wütender Hausbesitzer abgab, in dessen Haus eingebrochen wurde?«
»Er hat schon wieder alles herausgebracht«, sagte Scottie ärgerlich. »Ich war zufällig im Park und lief ihm gerade in die Schußlinie.«
»Ich verstehe.« Andy war erleichtert. »Dann waren Sie es also, dessen Hand verletzt wurde. Und Miss Nelson nahm Sie mit auf ihr Zimmer, um Sie zu verbinden. Ich bemerkte aber nichts von Ihrer Verletzung, als Sie damals von Beverley fortgingen.«
»Ich hatte doch meine Hände in die Hosentaschen gesteckt. Ich hatte verdammte Schmerzen, das können Sie mir glauben.«
Stella legte ihre Hand auf seinen Arm.
»Mr. Scottie war schwer verletzt, und wenn er zu einem Arzt gegangen wäre, hätte das doch allerhand unangenehme Folgen gehabt. Die Polizei suchte doch gerade einen Mann mit einer verletzten Hand.«
»Sie also brachen in Beverley Hall ein?« Andy setzte sich. Er schaute Scottie düster an, der sich aber nicht im mindesten einschüchtern ließ. »Wozu dann all dies Gerede von Ihrer Umkehr?«
»Sie schreitet dauernd fort«, erwiderte Scottie vergnügt. »Ich brauche mich ja jetzt nicht länger zu verstellen. Sie sollen die Wahrheit erfahren, Macleod«, sagte er dann mit überzeugender Offenheit. »Ich hatte die Vermutung, daß der Mann, der Sie und Wilmot damals bedrohte, ein Diener von Beverley Hall war, und ich bin dort hingegangen, um Nachforschungen anzustellen. Ich wollte vor allen Dingen diesen Trauschein wieder zurückholen.«
»Welcher Diener soll es denn gewesen sein?«
»Ich wußte nichts Genaues und weiß auch heute noch nicht, welcher es gewesen ist. Vielleicht wäre es auch besser gewesen, ich hätte mit Ihnen darüber gesprochen, und Sie wären mit Salter der Sache nachgegangen. Ich bin überzeugt, daß es ein Diener von Beverley Hall war. Ich habe ihn nämlich gesehen. Nachdem Sie mir erzählt hatten, was in Wilmots Wohnung passierte, bin ich heimlich aus dem Haus geschlichen und kam auf Salters Gelände. Ich dachte mir schon immer, daß Merrivans Mörder auf diesem Weg entkommen ist. Ich vermutete längst, daß es einer der Parkwächter sein müßte, und das stimmt auch ganz sicher.«
»Was!«
Scottie nickte.
»Sehen Sie, die Parkwächter waren die einzigen, die in der Nacht draußen waren und berechtigt sind, den Park und das Gelände von Mr. Salter zu betreten. Ich erzählte Ihnen doch schon von dem Mann, den ich damals im Obstgarten sah. Ich sagte Ihnen allerdings nicht, daß er wie ein Parkwächter gekleidet war – er trug einen braunen Manchesteranzug und Gamaschen –«
»Warum haben Sie mir denn das nicht gleich gesagt?«
»Weil ich auch einmal ein wenig Detektiv spielen wollte. Es hätte mir einen Heidenspaß gemacht, zu Ihnen zu kommen und zu sagen: ›Macleod, darf ich Ihnen den Mörder Merrivans und Sweenys vorstellen?‹ Das war natürlich verrückt, das gebe ich zu. Aber schließlich war es doch begreiflich.«
»Was hat sich denn in jener Nacht zugetragen?«
»Ich kam in den Park und ging geradenwegs auf das Haus zu. Wenn sich der Bursche, der in Wilmots Wohnung gewesen war, nicht sehr beeilte, mußte ich ihn noch einholen, wenn meine Vermutung richtig war. Und ich habe ihn tatsächlich gesehen! Ich lag hinter einem Gebüsch, als er vorbeikam. Ich hätte meine Hand ausstrecken und ihn berühren können. Aber ich tat es nicht. Er ging direkt ins Haus.«
»Auf welchem Weg?«
»Er kletterte durch ein Fenster, durch dasselbe Fenster, das ich später öffnete, obwohl es nicht so einfach war. Es war kein Licht in dem Raum, als er das Fenster hinter sich schloß. Ich dachte schon, ich hätte seine Spur verloren, aber dann wurde es drinnen hell – die kleine Lampe auf Mr. Salters Schreibtisch brannte.«
»War das in der Bibliothek?«
Scottie nickte.
»Er kehrte mir den Rücken zu und beugte sich über den Tisch, als ob er etwas betrachtete.«
»War es ein Parkwächter?«
»Ja. Aber welcher, hätte ich nicht sagen können. Ich war früher noch nie auf dem Gut, obwohl ich ein paar Kollegen kenne, die schon dort waren.«
Andy starrte ihn an.
»Sind Sie Ihrer Sache auch ganz sicher?«
»Vollkommen. Ich sah ihn nur ein paar Sekunden, er zog eine Schublade auf, dann noch eine andere, und dann drehte er plötzlich das Licht wieder aus. Zuerst verstand ich nicht warum, aber später wurde es mir klar. Ich hatte kaum Zeit, mich zu bücken, als er zum Fenster trat und die Jalousie herunterließ. Gleich darauf brannte das Licht wieder, und es blieb vier bis fünf Minuten hell. Dann wurde es aufs neue dunkel, und ich wartete lange, bevor ich mich rührte. Ich dachte nämlich, daß er aus der Vordertür herauskommen würde. Aber ich irrte mich. Erst nach einer Stunde sah ich, wie er den hinteren Ausgang benützte. Ich schlich um das Haus herum und überlegte, was ich nun tun sollte, als sich eine Tür nach dem Hof zu öffnete und ein Mann heraustrat. Aus seiner Kleidung schloß ich, daß es derselbe war wie vorher. Ich beobachtete ihn, bis er außer Sicht kam.«
»Haben Sie denn sein Gesicht nicht gesehen?«
»Dazu war es zu dunkel. Es war aber ein Parkwächter und bestimmt derjenige, den ich vorher schon gesehen hatte – darauf könnte ich schwören. Nachdem er verschwunden war, ging ich wieder zur Hauptfront und versuchte das Fenster zu öffnen, wo er eingestiegen war. Aber er hatte den Riegel von innen vorgeschoben, und es dauerte eine Viertelstunde, bis ich es öffnen konnte. Ich kletterte dann in die Bibliothek. Ich gebe zu, daß ich dort etwas Unordnung gemacht habe, aber ich schwöre Ihnen, Macleod, daß ich keine Wertsachen stehlen wollte. Es ist nicht meine Gewohnheit, in ein Haus einzubrechen, ohne zu wissen, wo die Wertsachen liegen.«
»Das dachte ich mir auch, Scottie, aber ich verstehe nicht, warum Sie in der Bibliothek alles durchwühlt haben?«
»Ich weiß es selbst nicht. Ich habe nur die Vorstellung gehabt, daß der Parkwächter eingebrochen war, um Privatpapiere zu lesen, und ich hätte zu gern herausgebracht, wonach er gesucht hatte.«
»Haben Sie etwas verbrannt?«
»Verbrannt?« fragte Scottie erstaunt. »Nein – wie kommen Sie denn darauf?«
»Erzählen Sie nur weiter.«
»Es ist nicht mehr viel zu erzählen. Ich war töricht genug, im Haus herumzulaufen, und geriet dabei in Salters Schlafzimmer. Ich wünschte, ich hätte die Dummheit nicht begangen«, sagte Scottie reuevoll und betrachtete seine verbundene Hand.
Stella hatte keinen Blick von Andy gewandt. Sie hatte diese Geschichte wieder und wieder gehört und ergänzte nun Scotties Mitteilungen.
»Als Scottie zurückkam und mir alles erzählte, war ich sehr bestürzt. Zuerst dachte ich, er habe selbst eingebrochen, aber als er mir dann erklärte, daß er auf der Spur des Mörders gewesen war, tat ich alles, was in meinen Kräften stand, um ihm zu helfen. Er meinte, man würde ihn verhaften, da sicher alle Ärzte der Umgegend benachrichtigt würden, auf einen Mann mit einer Schußwunde in der Hand zu achten. Mr. Scottie erzählte, daß er ein kleines Haus in London habe, und ich versprach ihm, jeden Tag zu kommen und seine Hand zu verbinden.«
Andy atmete erleichtert auf.
»Nach meiner beruflichen Erfahrung müßte ich Scottie eigentlich für einen Lügner halten, aber ein Gefühl sagt mir, daß er die Wahrheit spricht. Sie beide machen mir fast ebenso viele Schwierigkeiten wie Albert Selim. Können Sie Ihre Hand noch gebrauchen, Scottie?«
»O ja«, entgegnete Scottie mit Genugtuung, »es tut mir leid, daß ich Sie enttäuschen muß, Macleod, aber meine Hand ist vollständig in Ordnung. Ich bin beinahe wiederhergestellt. Wenn Sie heute nicht gekommen wären, hätten Sie mich nicht mehr gesehen. Und ich wünschte wirklich, Sie hätten von der ganzen Geschichte nichts erfahren.«
»Ich mußte aber kommen«, sagte Andy langsam. »Downer hat Sie hier aufgestöbert, das heißt, er war auf der Spur von Miss Nelson. Wer wohnt übrigens oben?«
Scottie sah einen Augenblick schuldbewußt aus.
»Ein alter Freund von mir«, erwiderte er dann möglichst gleichgültig. »Ein ehemaliger Kollege.«
»Haben Sie ihn in Dartmoor kennengelernt?« fragte Andy ironisch. Scottie lächelte nachsichtig.
»Er ist wirklich nur ein alter Freund von mir. Sie kennen ihn nicht, lassen wir ihn in Ruhe«, fügte er hastig hinzu, »er ist so scheu.«
Andy war taktvoll und fragte nicht weiter.
Andy wartete, während Stella Scottie beschwor, seine Hand mindestens zweimal am Tag zu verbinden, und ihn in der Anwendung der verschiedenen Salben und Puder unterwies.
Andy begleitete sie. Er war unendlich glücklich, sie wiederzusehen, selbst unter diesen etwas sonderbaren Umständen. Und weil er so glücklich war, schwieg er. Aber sie dachte, er sei böse auf sie.
»Andrew, ich tat es nur, weil ich dachte, es sei in deinem Sinn.« Es waren ihre ersten Worte, seit sie das Haus verlassen hatten.
»Wovon sprichst du?« fragte er schnell und fuhr aus seinen Gedanken auf. »Daß du dich um Scottie gekümmert hast? Das war sehr lieb von dir. Es ist doch eigentlich eine Schwäche von mir, alles zu glauben, was Scottie sagt. In neunundneunzig von hundert Fällen wäre die Geschichte von dem Parkwächter auch Unsinn gewesen. Aber ich bin überzeugt, daß er hier die Wahrheit sagt. Ich werde wieder nach Beverley Green gehen. Dieser Parkwächter gibt mir einen Grund.«
»Brauchst du denn überhaupt einen Grund«, fragte sie. »Komm doch gleich heute abend.«
»Ich habe auch schon daran gedacht, aber ... es würde besser aussehen ...«
Sie wurde rot. »Du meinst, die Leute würden reden, wenn wir zusammen zurückkommen, nachdem wir am gleichen Tag verschwunden sind?« fragte sie ruhig. »Es ist doch merkwürdig, daß solche Dinge den Männern eher auffallen als uns Frauen. Jetzt mußt du aber warten, bis ich meinen Koffer gepackt habe. Du kannst ihn nachher tragen.«
Er ging vor dem kleinen Haus, in dem sie ein Zimmer gemietet hatte, auf und ab. Er war mit sich und der Welt zufrieden und so glücklich wie noch nie.
In derselben Stimmung war auch Stella, als sie eilig ihren Koffer fertig machte, da sie fürchtete, ihn zu lange aufzuhalten. Sie mußte aber noch ihre Miete bezahlen und stand wie auf Kohlen, während die Wirtin fortging, um Geld zu wechseln. Erst nach fünf Minuten kam sie wieder. Stella nahm das Geld, griff nach ihrem Koffer und trat schnell aus dem Haus.
Enttäuscht schaute sie die Straße hinauf und hinunter. Andy war verschwunden. Sie wartete noch zehn Minuten, bevor sie einen kleinen Jungen nach einem Auto schickte. Als der Wagen kam und sie einstieg, hätte sie weinen mögen.
Andy war so in Gedanken vertieft, daß er kaum auf seine Umgebung achtete. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße erhob sich eine hohe Mauer, hinter der sich das Glasdach einer Werkstatt zeigte. Offensichtlich gehörte diese zu einem der großen Läden in der High Street, deren Rückfront er von hier aus sehen konnte. In der Mauer war eine kleine Tür. Er sah gerade zerstreut hin, als sich diese öffnete und ein Mann heraustrat, dem eine elegant gekleidete Frau ohne Hut folgte. Sie sprachen einen Augenblick miteinander, dann verabschiedete sie sich mit einem Nicken und ging wieder hinein. Der Herr ging mit schnellen Schritten der Hauptstraße zu.
*
Andys Interesse an dem Vorgang war gering, erst als der Herr an der Straßenecke angekommen war und sich umwandte, um einem Auto zu winken, wurde er aufmerksam. Es war Artur Wilmot! Andy hatte den jungen Mann noch nie in der Stadt gesehen, und obwohl er Nachforschungen hatte anstellen lassen, war er doch nicht hinter seinen geheimnisvollen Beruf gekommen. Er schaute sich um und hoffte, Stella aus der Tür kommen zu sehen, dann wurde ihm klar, daß sie mit dem Packen noch nicht fertig sein konnte. Aber diese Gelegenheit durfte er sich nicht entgehen lassen, und obwohl es eine Ungehörigkeit sondergleichen war, ging er, wenn auch widerstrebend, doch rasch über die Straße, als Wilmot in das Auto stieg. Stella würde es verstehen, er konnte ihr ja morgen alles erklären. Diese Chance würde sich ihm wahrscheinlich nicht wieder bieten, dachte er. Trotzdem verwünschte er Artur Wilmot und hätte ihn am liebsten am Ende der Welt gewußt.
Er rief ein vorüberfahrendes Taxi an.
»Folgen Sie dem Wagen dort«, sagte er dem Chauffeur.
*
Trotz der Enttäuschung war Stella froh, wieder nach Beverley Green zu kommen, und ebenso freute sich Kenneth Nelson über ihre Rückkehr. Er nahm sie mit in das Atelier und zeigte ihr dort ein neues Gemälde und erzählte ihr, wie sparsam die neue Köchin sei. Trotzdem war sie sehr niedergeschlagen. Gleichgültig las sie einen Brief von Artur Wilmot, ohne zunächst zu wissen, wer der Schreiber war.
*
»Nun erzähle einmal, was du inzwischen alles getan und erlebt hast«, sagte ihr Vater strahlend. »Die Leute haben viel nach dir gefragt, ich sagte ihnen, du hättest noch einen Spezialkursus in Krankenpflege genommen, wie du mir ja auch geschrieben hast. Wie bist du denn eigentlich darauf gekommen, Liebling? Ich kann mir ja denken, daß die Ereignisse dich von hier fortgetrieben haben, ich wundere mich nicht darüber. Hast du unseren Freund Macleod einmal wiedergesehen?«
»Ja, ich habe ihn kurz gesprochen.«
»Die Leute reden jetzt nicht mehr über den armen Merrivan«, fuhr Nelson fort. »Und ich muß sagen, man ist ordentlich erlöst. Artur Wilmot will das Haus verkaufen – denke dir, man hat kein Testament gefunden. Ein merkwürdiger Mensch, dieser Wilmot! Er starrt mich immer an, als ob er beleidigt sei. Dabei hat er Glück gehabt, daß ich ihn an jenem Abend nicht getroffen habe, nachdem ich den Artikel dieses verdammten Zeitungsreporters gelesen hatte.«
Sie hörte kaum zu. Beverley Green ohne Andy hatte keinen Reiz mehr für sie. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie ohne ihn hier leben sollte, und doch hatte sie schon drei Jahre da gewohnt, bevor sie ihn kennenlernte. Freilich war sie damals noch ein halbes Kind gewesen.
Ob Andy je zurückkommen würde? Sicher hatte er sich alles überlegt, während sie ihre Sachen packte, und sich entschlossen, die Freundschaft mit ihr abzubrechen. Es war grausam von ihm, sie ohne ein Wort des Abschieds zu verlassen – außerdem war es feige.
»Ich gehe jetzt zu Sheppards zu einer Bridge-Partie. Willst du mitkommen? Sie würden sich bestimmt freuen.«
»Nein, danke Vater, bitte geh ohne mich.«
Sie war froh, daß sie allein sein konnte. Natürlich hatte Andy Scotties Erzählung nicht geglaubt. Schon während er auf der Straße so liebenswürdig mit ihr sprach, war er im geheimen böse auf sie und hatte nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet, davonlaufen zu können. Sie wünschte, sie hätte Andy wieder hassen können. Sie hatte Scottie doch nur geholfen, weil sie dachte, damit ihm zu helfen! Ihre Freundschaft konnte doch nicht so enden! Sie würde ihm schreiben.
Sie hatte eben ›Lieber Doktor Macleod‹ geschrieben, als sie das Mädchen die Haustür öffnen hörte. Sie war in Gedanken so mit dem Brief beschäftigt, daß sie das schwache Klingeln nicht gehört hatte, und als sie nun aufschaute, sah sie in das lächelnde Gesicht Andys. Ohne darauf zu achten, daß das Mädchen dabeistand, lief sie ihm entgegen und ergriff seine Hände.
»Bist du doch gekommen? Das war aber nicht nett von dir, Andy! Warum hast du mich im Stich gelassen?«
»Ja, es war recht unhöflich. Aber ich werde dir jetzt auch die lustigste Geschichte erzählen – du wirst lachen, Stella.«
Sie schien ihn selbst köstlich zu amüsieren, denn er lachte laut auf.
»Ich will aber gar nicht lachen«, erwiderte sie eigensinnig. »Ich wollte dir eben einen schrecklich bösen Brief schreiben. Nein, du darfst ihn nicht sehen!«
Aber er hatte den Bogen schon genommen.
»Lieber Doktor Macleod!« Er lächelte vergnügt. »Ich würde noch etwas förmlicher geschrieben haben.«
»Nun erzähl deine amüsante Geschichte. Ich bin ja so froh, daß du wieder da bist. Warum bist du denn fortgelaufen, Andy?«
»Weil ich gerade Artur Wilmot die Straße entlangkommen sah. Er war so geheimnisvoll. Ich wollte seinen Beruf ergründen. Kennst du die Firma Flora?«
»Flora?« fragte sie erstaunt.
»Hast du nie etwas von Flora gehört? Ich dachte, dieser Name wäre allen Frauen geläufig.«
»Ich kenne ein Hutgeschäft Flora.«
»Flora, die berühmte Modistin, ist Artur Wilmot!« sagte er feierlich.
Sie war sprachlos.
»Artur Wilmot! Aber das ist doch lächerlich! Artur versteht doch gar nichts von Hüten.«
»Im Gegenteil, er ist eine Autorität auf diesem Gebiet«, erwiderte Andy lachend. »Als ich vor einiger Zeit zu ihm kam, sah ich einen halbfertigen Damenhut auf dem Tisch liegen. Ich habe damals recht böse Schlüsse daraus gezogen. Das also ist Arturs Geheimnis. Er ist Damenhutfabrikant! Und er ist wirklich die berühmte Flora. Er besitzt drei Geschäfte in der Stadt, ich bin ihm von einem zum anderen gefolgt. Anscheinend fährt er immer abends herum, um die Geldeingänge in Empfang zu nehmen. Aber warum sollte er denn auch kein Hutmacher sein?«
»Warte einmal.« Sie ging zu ihrem Schreibtisch und kam mit einem Brief zurück.
»Dieses Schreiben fand ich vor, als ich zurückkam.«
Es war eine formelle, kurze Nachricht, in der Mr. Artur Wilmot Miss Stella Nelson bat, seinem Rechtsanwalt alle Einzelheiten über ihre Finanzgeschäfte mit dem verstorbenen Mr. Darius Merrivan mitzuteilen.
Andy las das Schreiben durch.
Sie begegneten Artur Wilmot am nächsten Morgen im Golfklub. Er grüßte sehr kühl mit einer kleinen Verbeugung.
»Guten Morgen, Artur«, sagte Stella liebenswürdig. »Ich habe Ihren Brief erhalten.«
Er wurde rot.
»Vielleicht besprechen Sie die Angelegenheit mit Mr. Vetch«, erwiderte er etwas hochmütig und ging zur Abschlagstelle.
»O Flora«, sagte sie halblaut, aber Artur Wilmot hatte es doch gehört. Er war an dem Tag ein schlechter Golfspieler.