Edgar Wallace
29-31
Diesmal wollte Andy nicht wieder bis zum Morgen auf eine Erklärung warten, die wahrscheinlich sehr einfach sein würde. Er ging auf das Haus zu. In der Eingangshalle wurde gerade Licht gemacht. Er klopfte leise an die Haustür, und Stella antwortete sofort: »Wer ist dort?« Ihre Stimme klang ängstlich.
»Ich bin es – Andy.«
»Ach, du!« Er hörte, wie sie die Sicherheitskette löste und den Riegel zurückschob. »Ach, Andy!« rief sie, als er ihr entgegentrat, und fiel ihm schluchzend in die Arme. »Ich fürchte mich so, ich bin außer mir vor Angst!«
»Heute nacht scheinen sich alle Leute zu fürchten und den Verstand zu verlieren.« Andy strich über ihr braunes Haar. »Was hast du denn gesehen?«
»Hast du denn nichts gesehen?« fragte sie und schaute ihn an.
Von oben hörte man die Stimme Mr. Nelsons.
»Es ist Andy, Vater. Willst du nicht herunterkommen?«
»Ist etwas nicht in Ordnung?« Nelson knöpfte seinen Schlafrock zu, als er die Treppe herabkam.
»Das eben will ich gerade ausfindig machen«, erwiderte Andy. »Halb Beverley Green scheint diese Nacht in Aufruhr zu sein.«
Mr. Nelsons Schlafrock hatte eine dunkelrote Farbe. Der Maler schien eben aufgewacht zu sein.
»Haben Sie vorhin geklopft? Ich könnte schwören, daß jemand geklopft hat.«
»Nein, Vater, das war nicht Andy«, sagte Stella zitternd.
»Hat denn jemand geklopft?« fragte Andy. Sie nickte.
»Ich habe einen sehr leichten Schlaf und habe das Klopfen sofort gehört. Ich dachte, du seiest es und öffnete das Fenster, um hinunterzusehen. Und ich sah auch jemand unten auf dem Weg stehen, er war deutlich zu sehen.«
»Wie war er denn gekleidet? Trug er einen Schlafrock?«
»Hast du ihn gesehen? Wer war es, Andy?«
»Erzähl doch weiter, Liebling – was geschah dann?«
»Ich rief hinunter: ›Wer ist dort?‹ Er antwortete zuerst nicht, aber dann fragte er mit einer tiefen Stimme: ›Haben Sie Ihren Schal bekommen?‹ Ich wußte nicht gleich, was er meinte, aber plötzlich erinnerte ich mich an den Schal, der im Obstgarten gefunden wurde. ›Ja‹, sagte ich, ›wer sind Sie denn?‹ Aber er sagte nichts mehr, und ich sah, wie er fortging. Ich saß lange im Dunkeln und überlegte, wer es gewesen sein konnte. Es war nicht deine Stimme, es war auch nicht die Stimme eines anderen Bekannten, wenn nicht – aber das ist unmöglich!«
»Glaubst du, es war Merrivans Stimme?« fragte Andy ruhig.
»Natürlich nicht, aber sie war genauso tief wie die seine, und je länger ich darüber nachdachte, desto ängstlicher wurde ich. Ja, ich dachte, es wäre Mr. Merrivans Stimme gewesen, aber ich konnte es nicht glauben. Dann drehte ich das Licht in meinem Zimmer an und ging hinunter. Ich wollte mir ein Glas Milch holen und meinen Vater wecken. Und dann kamst du, Andy.«
»Das ist sehr merkwürdig.« Andy erzählte ihnen, was er gesehen und gehört hatte. »Johnston ist vollkommen fertig, Sie müssen dafür sorgen, daß er Urlaub bekommt, Mr. Nelson.«
»Aber wer könnte denn das gewesen sein? Glauben Sie, daß uns jemand einen Schrecken einjagen wollte?«
»Das wäre ihm ja vollkommen gelungen«, meinte Andy.
»Ich nehme an«, sagte Nelson, der nie um eine Theorie verlegen war, »daß Sie beide durch den Zusammenbruch dieser geschmacklosen Frau nervös geworden sind. Ich sah sofort, wie aufgeregt Sie waren, als ich zurückkam.«
»Aber Johnston war doch gar nicht da, der kann doch davon nicht nervös geworden sein! Außerdem glaube ich, daß meine Nerven in bester Ordnung sind.« Er nahm den Schlüssel aus der Tasche. »Gehen Sie doch hin und sehen Sie sich Merrivans Haus einmal an«, schlug er lächelnd vor.
»Und wenn Sie mir tausend Pfund gäben, täte ich es nicht. Geh zu Bett, Stella, sonst bist du morgen krank.«
»Es ist schon Morgen geworden«, sagte sie und zog die Vorhänge beiseite. »Ich wüßte gern, ob Artur Wilmot auch wach ist.«
Andy war derselbe Gedanke gekommen. Nachdem Stella ihm das feierliche Versprechen gegeben hatte, sich sofort hinzulegen, verabschiedete er sich und machte sich auf den Weg zu Wilmots Häuschen.
Es dauerte nicht lange, bis er ihn geweckt hatte. Artur Wilmot hörte sich die Neuigkeiten mit merkwürdiger Ruhe an.
»Es ist sonderbar«, sagte er. »Ich war gestern noch in dem Haus. Ich bin es auch gewesen, der das hintere Fenster verriegelt hat. Es war nach dem Mord nicht wieder geschlossen worden.«
»Haben Sie denn nichts gesehen?« fragte Andy.
»Nichts. Wenn Sie eine Minute warten, bis ich mich angezogen habe, können wir zusammen hinübergehen. Es wird bis dahin hell genug sein, um Fußspuren im Garten erkennen zu können.«
»Damit brauchen Sie gar nicht zu rechnen. Ein mit Asche bestreuter Weg und ein asphaltierter Hof sind nicht das beste Material, um Fußabdrücke zu bewahren.«
Trotzdem begleitete er Artur; sie durchsuchten alle Räume und begannen beim Eingangsflur.
»Hier ist etwas.«
Wilmot zeigte auf den Boden.
»Tropfen von einer Kerze!« rief Andy interessiert. »War jemand mit Kerzen hier?«
Wilmot schüttelte den Kopf.
Sie fanden noch weitere Kerzenspuren in Merrivans Arbeitszimmer und entdeckten im Kamin auch einen Kerzenstumpf.
»Es war nicht einmal dieser Beweis nötig, um zu erkennen, daß ein Mensch von Fleisch und Blut und kein Gespenst hier sein Wesen getrieben hat«, sagte Andy. »Ohne eine Autorität auf dem Gebiet zu sein, weiß ich doch, daß sie keine Kerzen brauchen.«
Er wickelte den Stumpf sorgfältig in ein Stück Papier.
»Was wollen Sie damit anfangen?« fragte Wilmot erstaunt.
Andy lächelte.
»Für einen Mann, der mir noch eben vorschlug, mich nach Fußspuren auf dem Asphalt umzusehen, sind Sie eigentlich sehr schwerfällig, Wilmot. Dieser Kerzenstumpf ist doch mit Fingerabdrücken bedeckt. Der Mörder, ob er nun bei klarem Verstand oder wahnsinnig war, fühlte sich zu dem Ort der Tat hingezogen, wahrscheinlich war er schon häufig hier.«
*
Andy sagte Wilmot und Nelson nichts von seinen Plänen. Zuerst mußte er Mrs. Crafton-Bonsor aufsuchen. Aber sie ließ sich nicht sprechen, und als Andy die Dringlichkeit seines Besuches betonte, weigerte sie sich noch hartnäckiger, ihn zu empfangen. Scottie war ihr Bote.
»Das sind so Weiberlaunen«, sagte er halblaut. »Es hat keinen Zweck, Macleod, sie ist in dieser Beziehung unnachgiebig und hart wie ein neolithisches Fossil. Ich habe mein Bestes getan, aber sie will Sie nicht sehen.«
»Scottie, ich habe Sie immer gut behandelt, Sie müssen mir jetzt helfen. In welchen Beziehungen stand Albert Selim zu ihr?«
Scottie zuckte die Schultern.
»Man soll die Vergangenheit einer Frau nie erforschen wollen, Macleod. ›Vergangenheit ist tot, damit die Zukunft glücklich sei.‹«
»Die Zukunft interessiert mich nicht, aber über Mr. Crafton-Bonsors Vergangenheit möchte ich etwas erfahren«, sagte Andy unwillig. »Ich werde sie sprechen – oder ich mache Schwierigkeiten!«
Scottie verschwand und blieb fast eine halbe Stunde weg.
»Sie ist zweifellos krank, Macleod, als Arzt werden Sie das sofort sehen. Trotzdem will sie Ihnen zwei Minuten schenken. Aber bleiben Sie bitte nicht zu lange.«
Mrs. Bonsor lag auf einer Couch. Scottie hatte nicht übertrieben. Die Erwähnung des Mordes hatte eine schlechte Wirkung auf die Frau gehabt. Ihre vollen Wangen schienen eingesunken zu sein, die Anmaßung, die sonst in ihren blauen Augen lag, war verschwunden.
»Ich habe Ihnen nichts zu erzählen, Sir«, sagte sie bei Andys Eintritt scharf.
»Hat Scottie Ihnen nicht mitgeteilt ...«, begann er.
»Nein«, rief sie mit schriller Stimme, »und ich sehe nicht ein, mit welchem Recht Sie hier eindringen, um mich auszuhorchen!«
»Waren Sie mit Albert Selim bekannt?«
Sie zögerte.
»Ja, ich kannte ihn«, erwiderte sie dann widerstrebend. »Vor vielen Jahren. Ich werde aber mit Ihnen nicht darüber sprechen. Meine Privatangelegenheiten gehen niemand etwas an. Es ist mir ganz gleich, ob Sie Polizeibeamter sind oder nicht. Ich habe nichts zu verbergen, glauben Sie mir das.«
Andy wartete, bis sie geendet hatte.
»Sie hießen früher Hilda Masters und heirateten einen John Severn in der Sankt-Pauls-Kirche in Kensington«, sagte er dann.
Sie starrte ihn hilflos an und begann gleich darauf zu schreien.
Scottie bewahrte bei diesem Zusammenbruch der verzweifelten Frau die Ruhe. Er war zugleich behutsam und bestimmt, beruhigend und ironisch. Andy ließ die beiden taktvoll eine halbe Stunde allein, dann kam Scottie zu ihm heraus.
»Macleod, sie wird Ihnen die Wahrheit sagen. Und da Stenographie von jeher meine Lieblingsbeschäftigung war, werde ich alles mitschreiben. Ich schrieb hundertachtzig, als ich jung war, und es gab nur wenige Stenotypisten, die mich an Schnelligkeit im Maschinenschreiben übertrafen. Mirabel spricht kein erstklassiges Englisch, und es ist besser, ich bringe alles gleich in Polizeisprache. – Sie ist sommersprossig und hat Plomben im Mund, und sie mißfiel mir, als ich sie das erstemal sah. Aber ich habe die Frau jetzt gern. Sie ist nicht mehr allzu jung, aber man nimmt es nicht mehr so genau, wenn man selbst älter wird. Sie fragen sie am besten, und ich schreibe das Wichtigste aus ihren Antworten auf.«
Andy war einverstanden, und aus dieser sonderbaren Zusammenarbeit ergab sich eine noch sonderbarere Geschichte.
»Ich heiße Mirabel Hilda Crafton-Bonsor. Ich weiß nicht sicher, ob dies der wirkliche Name meines verstorbenen Mannes war. Wahrscheinlich hieß er Michael Murphy. Er war irischer Abstammung, und als ich ihn kennenlernte, war er Unternehmer in Sacramento im Staat Kalifornien.
Ich wurde in dem Dorf Uckfield, Sussex, geboren, kam aber schon mit sieben Jahren nach London. Als meine Eltern starben, zog ich zu einer Tante, Mrs. Pawl, in die Bayham Street, Camden Town. Mit sechzehn Jahren nahm ich eine Stellung als Hausmädchen bei Miss Janet Severn an, 104 Manchester Square. Miss Severn hatte sonderbare Ansichten über das Heiraten.
Außer Miss Janet und den anderen Dienstboten wohnte noch Mr. John Severn, ihr Neffe, im Haus. Er war aber nur während der Ferien da. Er studierte in Cambridge.
Leider kann ich weder lesen noch schreiben, und obgleich ich später meinen Namen schreiben lernte, so daß ich Schecks ausstellen kann, habe ich es doch nicht weitergebracht. Deshalb habe ich auch von dem Mord nichts weiter gelesen. Ich wußte die Namen der Personen nicht, die es anging. Ich sah Mr. John sehr häufig, wenn er daheim war. Er hatte mich ganz gern, ich war ein hübsches Mädchen. Aber er hat nie mit mir angebändelt.
Während ich bei Miss Janet in Stellung war, lernte ich Mr. Selim kennen – Albert Selim. Er kam gewöhnlich einmal in der Woche an den Eingang für Dienstboten. Zuerst dachte ich, er sei ein Händler, der uns allerhand auf Kredit verkaufen wollte, später aber fand ich heraus, daß er ein Geldverleiher war, der draußen in West End viel mit Dienstboten zu tun hatte. Die Köchin war sehr hoch bei ihm verschuldet, und ein Dienstmädchen hatte auch Geld von ihm geliehen. Er sah ganz gut aus, und als er entdeckte, daß ich kein Geld von ihm leihen wollte, sondern sogar etwas auf der Bank hatte, schien ich ihm zu gefallen, und er fragte mich, ob ich nicht an meinem nächsten freien Sonntag mit ihm ausgehen wollte. Ich sagte zu, weil ich noch nie einen Schatz gehabt hatte. Am nächsten Sonntag fuhren wir zusammen nach Hampton. Selim bewirtete mich auf das beste.
Dann trafen wir uns häufiger, und eines schönen Tages fragte er mich, ob ich ihn nicht heiraten wollte. Er sagte aber, daß wir es geheimhalten müßten und ich noch ein oder zwei Monate in meiner Stellung bleiben müßte, da er besondere Pläne habe. Mir machte das nichts aus, denn ich fühlte mich bei Miss Janet wohl.
An einem Montag, an dem ich frei hatte, trafen wir uns und ließen uns auf dem Standesamt in Brixton trauen. Selim wohnte in diesem Stadtteil. Am Abend ging ich wieder nach Hause.
Eines Tages kam er sehr aufgeregt zu mir und fragte, ob ich nicht etwas von einem Herrn gehört hätte, dessen Namen ich aber vergessen habe. Ich sagte ihm, daß Miss Janet schon von ihm gesprochen habe. Es war ihr Schwager, mit dem sie aber nicht sehr gut stand, weil er seine Frau, ihre Schwester, schlecht behandelt hatte. Er lebte in guten Verhältnissen, doch nach allem, was ich erfuhr, hatten weder Miss Janet noch John einen Pfennig von ihm zu erwarten. Ich sagte meinem Mann alles, was ich wußte, und er schien sehr befriedigt zu sein. Er fragte, ob Mr. John mich schon einmal geküßt habe. Ich war sehr wütend darüber. Er beruhigte mich wieder und sagte, daß er vielleicht ein Vermögen verdienen könnte, wenn ich ihm helfen wollte. Er erklärte auch, er habe vor unserer Heirat keine Ahnung gehabt, daß ich nicht lesen und schreiben könne. Er meinte, daß ihm das noch Schwierigkeiten bereiten werde.
Aber ich könne ihm viel helfen, wenn ich herausfinden würde, wohin Mr. John abends gehe. Ich erfuhr später, daß er diese Information brauchte, um eine Begegnung mit Mr. John herbeizuführen, den er noch nicht kannte. Ich wußte, daß Mr. John Schulden hatte, denn er hatte mir erzählt, daß der Lebensunterhalt in Cambridge sehr teuer sei und er Geld habe borgen müssen. Er bat mich aber, seiner Tante nichts davon zu sagen.
Ich dachte natürlich, daß Albert das erfahren hatte und ein kleines Geschäft mit Mr. John machen wollte. Hätte ich gewußt, wozu ihre Zusammenkunft führen würde, hätte ich mir lieber die Zunge abgeschnitten als Albert erzählt, wo John seine Abende verbrachte. Er ging gewöhnlich in einen Klub in Soho.
Ungefähr eine Woche später teilte mir Selim mit, daß er Mr. John getroffen und ihm aus der Patsche geholfen habe.
›Sag ihm aber nie, daß du mich kennst.‹
Ich versprach es ihm. Miss Janet war sehr streng, und ich hätte sicher Unannehmlichkeiten bekommen, wenn sie etwas von meiner Heirat erfahren hätte. Ich wußte nicht, welches Abkommen Albert mit Mr. John getroffen hatte, aber er schien sehr zufrieden zu sein. Er kam jetzt nicht mehr selbst ins Haus, sondern schickte immer einen Angestellten.
Es ist merkwürdig, daß dieser Angestellte Albert nie zu Gesicht bekam. Ich kam später darauf, daß Albert nicht persönlich mit Mr. John gesprochen hatte, obwohl er das vorgab. Um diese Zeit fing er überhaupt an, sehr geheimnisvoll zu werden. Mr. John erzählte mir, daß er eine sehr gute Vereinbarung mit einem Herrn getroffen habe.
›Er glaubt, daß ich später einmal ein großes Vermögen erben werde, ich sagte ihm aber, daß ich nichts zu erwarten hätte. Er bestand darauf, mir alles Geld zu leihen, das ich brauchte.‹
Ich teilte Albert das bei unserem nächsten Zusammensein mit, er lachte nur. An den Abend erinnere ich mich noch sehr gut. Es war Sonntag, und wir hatten uns in einem Restaurant in der Nähe des King's-Cross-Bahnhofs getroffen. Ich muß noch bemerken, daß wir uns nur in der Öffentlichkeit sahen, obgleich ich schon über einen Monat mit ihm verheiratet war. Er hat mich kein einziges Mal geküßt.
Es regnete heftig, und als wir aus dem Restaurant kamen, nahm er ein Taxi für mich und sagte dem Fahrer, daß er mich an der Ecke von Portman Square absetzen sollte. Es war etwa zehn Uhr, als ich dort ankam und den Fahrer bezahlte. Albert gab mir immer reichlich Geld. Ich erschrak sehr, als ich mich umwandte und beinahe Miss Janet in die Arme lief. Sie sagte kein Wort, aber als ich heimkam, ließ sie mich sofort rufen.
Sie sagte, sie verstehe nicht, daß ein anständiges junges Mädchen ein Taxi benütze, und fragte, woher ich das Geld hätte. Ich erwiderte, daß ich Geld gespart und daß ein Freund den Wagen für mich bezahlt habe. Sie wollte davon nichts hören, und ich wußte, daß sie mir kündigen würde.
›Bleiben Sie bitte auf und warten Sie auf Mr. John‹, sagte sie.
›Er speist heute auswärts in Gesellschaft einiger Freunde, aber er wird nicht später als elf kommen.‹
Ich war froh, daß sie nach oben ging. Mr. John kam erst nach zwölf, und ich sah sofort, daß er etwas zuviel getrunken hatte. Ich servierte ihm noch eine kleine Mahlzeit.
Er wurde zudringlich, nannte mich sein ›liebes, kleines Mädchen‹ und sagte, daß er mir eine Perlenbrosche kaufen wollte.
Und dann nahm er mich, bevor ich wußte, was geschah, in die Arme und küßte mich. Ich wehrte mich verzweifelt, aber er war sehr stark, und seine Lippen lagen auf den meinen, als sich die Tür öffnete und Miss Janet hereintrat.
Sie wies auf die Tür, und ich war froh, gehen zu dürfen. Ich erwartete bestimmt, daß ich am nächsten Morgen meine Sachen packen müßte, besonders nachdem Miss Janet mir hatte sagen lassen, daß ich nicht mehr arbeiten solle. Ungefähr um zehn Uhr ließ sie mich ins Wohnzimmer kommen.
Ich werde nie vergessen, wie sie in ihrem schwarzen Alpakakleid und ihrer kleinen, weißen Spitzenhaube dort saß. Ihre schönen, schlanken Hände waren im Schoß gefaltet.
›Hilda‹, sagte sie, ›mein Neffe hat Ihnen großes Unrecht getan. Wie weit er gegangen ist, weiß ich nicht. Ich verstehe jetzt aber, warum Sie soviel Geld haben und der Köchin vorige Woche fünf Pfund zeigten. Doch das gehört nicht zur Sache. Sie sind ein junges Mädchen in meinem Hause und stehen unter meinem Schutz. Ich habe eine große Verantwortung vor Gott und den Menschen für Sie, und ich habe angeordnet, daß mein Neffe Sie heiraten wird, um alles wieder gutzumachen.‹
Ich konnte nicht sprechen, ich hätte weinen mögen, als sie zu reden begann. Und dann wurde ich von ihren Worten ganz zerschmettert. Ich wollte ihr erzählen, daß ich schon verheiratet sei und ihr meinen Trauschein zeigen, um es zu beweisen. Aber die Urkunde war nicht in meinem Besitz, Albert verwahrte sie.
›Ich habe mit meinem Neffen gesprochen und habe meinen Rechtsanwalt beauftragt, ihm die nötigen Unterlagen zu beschaffen. Sie werden in der St.-Pauls-Kirche, Kensington, am nächsten Donnerstag getraut werden.‹
Ich machte mich sofort auf den Weg zu Albert. Er hatte ein kleines Büro über dem Laden des Tabakhändlers Ashlar. Ashlar ist später ein reicher Mann geworden und hat, wie ich glaube, ein großes Geschäftshaus errichtet, das seinen Namen trug. Zufällig war Albert im Büro, aber es dauerte sehr lange, bis er die Tür aufschloß und mich einließ. Er sagte, daß er Kunden nie persönlich abfertige, und er war ärgerlich, daß ich zu ihm kam. Aber als ich ihm von der peinlichen Lage erzählte, in der ich mich befand, änderte er seinen Ton. Ich sagte ihm, daß er mit Miss Janet sprechen müsse. Davon wollte er nichts wissen.
›Ich dachte mir schon, daß das passieren würde, Hilda. Du mußt nun verständig sein und etwas für mich tun.‹
Als ich erfuhr, was er von mir verlangte, wollte ich meinen Ohren nicht trauen. Ich sollte Mr. John tatsächlich heiraten!
›Aber das geht doch nicht – ich bin doch schon verheiratet!‹
›Es wird niemand etwas davon erfahren. Du bist mit mir doch in einem anderen Stadtteil getraut worden. Ich verspreche dir, daß er dich an der Kirchentür verläßt und du ihn nie wieder siehst. Tue das für mich, ich werde dir hundert Pfund geben.‹
Er fügte noch hinzu, daß wir beide genug für unser ganzes Leben verdienen würden, wenn ich Mr. John heiratete. Aber er gab mir keine nähere Auskunft.
Er konnte immer sehr überzeugend sprechen, und ich war so verwirrt, daß ich nicht mehr wußte, ob ich bei klarem Verstand war. Er konnte Schwarz zu Weiß machen, wie man so sagt, und schließlich willigte ich ein.
Ich habe mir später oft überlegt, ob er mich auf diese Weise loswerden wollte, aber das war es nicht; denn dann hätte er mich ja überhaupt nicht zu heiraten brauchen. Jetzt bin ich zu der Ansicht gekommen, daß er ein hübsches Mädchen im Haus haben wollte, das alle seine Wünsche erfüllen würde. Er hat wohl nie erwartet, daß mir Mr. John einen Heiratsantrag machen würde, aber er hatte vielleicht etwas viel Schlimmeres kommen sehen. Er war ein gemeiner, kaltblütiger Schuft.
Am Tag vor der Trauung hatte ich noch eine Unterredung mit Miss Janet.
›Hilda‹, sagte sie, ›morgen werden Sie also meinen Neffen heiraten. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß ich auf diese Heirat nicht stolz bin, und gebe Ihnen den Rat, Ihre Meinung für sich zu behalten. Was nun die Zukunft angeht, so können Sie nicht erwarten, daß ein Gentleman wie Mr. John seinen Freunden ein Mädchen Ihrer Art vorstellt. Sie sind vollständig ungebildet, und wenn auch Ihr Wesen nett und liebenswürdig ist, so ist doch Ihre Sprache unmögliche
Es ist merkwürdig, daß ich mich noch an jedes Wort erinnere, das Miss Janet damals sprach, obgleich inzwischen über dreißig Jahre vergangen sind. Ich war sehr empört, aber ich beherrschte mich und fragte, was sie denn mit mir vorhabe.
›Ich werde Sie in ein erstklassiges Institut schicken, wo Sie erst noch einiges lernen sollen. Sie werden dort bleiben, bis Sie zweiundzwanzig Jahre alt sind. Dann werden Sie imstande sein, den Platz an der Seite Ihres Gatten einzunehmen, ohne ihn oder sich zu kompromittieren.‹
Irgendwie paßte dieser Vorschlag ganz gut zu Alberts Versprechen. Ich glaubte sogar, daß er alles so eingerichtet hatte. Aber ich weiß jetzt, daß er einen ganz anderen Plan verfolgte und daß Miss Janet aus eigenem Willen so handelte.
Erst als ich am Donnerstag in der St.-Pauls-Kirche stand, sah ich Mr. John wieder. Ich weiß heute noch nicht, was zwischen ihm und seiner Tante vorgegangen war. Er sah sehr blaß aus und war zurückhaltend, aber höflich. Es waren nur vier Leute in der Kirche, und die Zeremonie ging schneller vorüber, als ich erwartet hatte. Warum mich Mr. John überhaupt geheiratet hat, weiß ich nicht. Ich kann schwören, daß nichts zwischen uns beiden vorgefallen ist. Er hatte mich nur einmal geküßt, als er zuviel getrunken hatte. Aber er heiratete mich. Es erscheint mir auch heute noch merkwürdig. Bevor ich zur Kirche ging, gab mir Miss Janet fünfzig Pfund und die Adresse. Die Schule lag in Eastbourne, Victoria Drive. Sie schrieb mir auch die Abfahrtszeiten der Züge auf.
Ich verabschiedete mich von Mr. John nach der Trauung und ließ ihn mit seinem Freund allein. Miss Janet war nicht erschienen. Ich habe ihn nie wiedergesehen.
Albert wollte mich nach der Trauung treffen und zum Essen mitnehmen. Er wartete vor dem King's-Cross-Restaurant auf mich. Ich erzählte ihm alles, was geschehen war.
›Gib mir den Trauschein‹, sagte er, und ich gab ihm die Heiratsurkunde. Wir sprachen nicht mehr viel über die Eheschließung, obgleich ich ein wenig nervös war. Ich wollte nicht nach Eastbourne, ich hatte überhaupt nie die Absicht gehabt, fortzugehen. Aber ich war nun von Albert abhängig. Ich wußte, er würde irgendeinen Plan für mich haben, und er erzählte mir auch später davon. Aber er hatte nicht die Absicht, wie ich gehofft hatte, mit mir irgendwohin aufs Land zu ziehen – das hatte er mir versprochen, als ich meine Einwilligung zu der Heirat mit Mr. John gab – und unsere Ehe nun wirklich zu beginnen.
Als wir unser Mahl beinahe beendet hatten, zog er einen großen Briefumschlag aus der Tasche.
›Ich habe eine Kabine Erster Klasse für dich belegt, und wenn du den Mund hältst, wird niemand wissen, daß du ein Dienstmädchen bist. Hier in dem Kuvert sind fünfhundert Pfund in Banknoten – du wirst dir in zwei Tagen die nötigen Kleider beschaffen.‹
Ich war ganz verstört und wußte nicht, wovon er sprach.
›Du wirst nach Amerika fahren. Ich habe dir einige Einführungsbriefe von meinem Freund Mr. Merry‹ – so ähnlich war der Name, es kann auch Merrivan gewesen sein – ›verschafft.‹ Er sagte noch, daß dieser Herr ein Kunde sei.
›Die Leute drüben werden dir schon eine Stellung besorgen, außerdem hast du genug Geld, dir selbst weiterzuhelfen.‹
›Aber ich will doch gar nicht fortgehen‹, schrie ich. Ich sprach so laut, daß sich die Leute im Lokal nach uns umsahen.
Das machte ihn ganz wild. Ich habe nie einen Menschen getroffen, der so teuflisch aussehen konnte wie er. Ich war entsetzt und fürchtete mich vor ihm.
›Entweder fährst du nach Amerika, oder ich rufe einen Polizisten und lasse dich wegen Bigamie verhaften.‹
Ich hatte nicht die Kraft, mich ihm zu widersetzen, und so schiffte ich mich auf der ›Lucania‹ nach New York ein. Von dort kam ich nach Denver City, wohin ich einen Empfehlungsbrief hatte, und war dort ein Jahr in Stellung. Drüben heißt man nicht ›Dienstmädchen‹, sondern ›Stütze‹. Als ›Stütze‹ war ich also dreizehn Monate dort beschäftigt, dann bekam ich ein Angebot als Haushälterin zu Mr. Bonsor, einem Witwer mit einem Kind, das später starb. Als Mr. Bonsor mir nach einiger Zeit einen Heiratsantrag machte, mußte ich ihm die Wahrheit sagen. Er meinte, daß eine Heirat ihm nichts ausmache.
Ich habe Albert Selim nie wiedergesehen, aber ich weiß, daß er an die Leute in Denver geschrieben hatte, um zu erfahren, was aus mir geworden sei. Sie wußten es nicht. Es war sieben Jahre nach meiner Ankunft in Amerika. Ich habe auch nichts mehr von Mr. John gehört, ich weiß nur, daß Miss Janet zwei Jahre nach meiner Abreise an Lungenentzündung starb. Mr. Bonsor fand die Nachricht in einer englischen Zeitung.«
Es gab einen Mann, der diese Aussage von Hilda Masters lesen mußte, überlegte Andy. Seit einiger Zeit schon hatte er den Verdacht, daß Mr. Salter mehr über seinen Freund Severn wußte, als er vorgab.
Er sandte ein Telegramm nach Beverley Hall und bat um eine Unterredung. Als er nach Beverley Green zurückkam, erwartete ihn dort eine Nachricht, daß er sofort kommen möge.
»Ich werde dich begleiten«, sagte Stella. »Ich kann ja solange in deinem Wagen warten.«
Der vorsichtige Tilling schien ängstlicher denn je zu sein.
»Sie müssen sehr behutsam sein, Herr Doktor. Er hat schlecht geschlafen, und der Arzt sagte zu Mr. Francis – das ist unser junger Herr –, daß jeden Augenblick mit einem Zusammenbruch zu rechnen sei.«
»Ich danke Ihnen, ich werde es berücksichtigen.«
Als Andy in das Zimmer trat, fand er, daß Tilling nicht übertrieben hatte. Salters Gesicht sah grau aus, trotzdem begrüßte er den Detektiv mit einem Lächeln.
»Sie wollen mir sicher mitteilen, daß Sie meinen Einbrecher gefunden haben«, meinte er. »Sie können sich die Mühe sparen – es war Ihr Juwelendieb!«
Andy war darauf nicht vorbereitet.
»Ich fürchte, es ist so, aber ich glaube, daß er nicht in böser Absicht herkam. In Wirklichkeit war er hinter einem Verbrecher her, der damals in Mr. Wilmots Haus einbrach.«
»Hat er ihn gefunden? Es soll doch ein geheimnisvoller Parkwächter sein?«
»Wie haben Sie denn das herausgebracht?«
Salter lachte, aber dann hatte er plötzlich Schmerzen. Andy sah es, und es tat ihm leid. Mr. Salter hatte Herzbeschwerden.
»Ich möchte Ihnen nichts vormachen«, erwiderte Boyd Salter, der sich über die Wirkung freute, die seine Worte hervorgerufen hatten. »Scottie – das ist doch der Name dieses Menschen – verschwand am nächsten Tag, ebenso Miss Nelson. Sie verkehrte in einem Haus in der Castle Street und pflegte dort jemand. Und wer anders sollte das gewesen sein als Ihr wenig ehrenhafter Freund?«
Plötzlich erkannte Andy die Zusammenhänge.
»Das haben Sie natürlich von Downer!«
Salter nickte lächelnd.
»Aber wie kamen Sie denn auf den Parkwächter?«
»Das weiß ich auch von Downer und von einem gewissen Big Martin, der auch ein Verbrecher ist.«
Andy war zu großzügig, um Downer die Bewunderung vorzuenthalten, die ihm gebührte.
»Ich werde Downer die Bearbeitung des Falles übergeben«, sagte Andy. »Er ist der beste Spürhund.«
»Er kam«, begann Salter, »und ich mußte alle meine Parkwächter rufen. Er fragte sie aus, und einer gab zu, daß er in der Küche war – wir lassen nämlich Kakao für sie kochen, wenn sie Nachtdienst haben – und das Haus etwa um die Zeit verließ, als Scottie ihn sah. Soviel weiß ich. Aber welche Neuigkeiten bringen Sie?«
»Ich habe Hilda Masters gefunden.«
Mr. Salter schaute auf. »Hilda Masters? Wer ist denn das?«
»Sie besinnen sich sicher, daß in einem Geheimfach in Merrivans Schlafzimmer ein Trauschein gefunden wurde?«
»Ja, er wurde auch in einer Zeitung erwähnt. Es war die Heiratsurkunde eines ehemaligen Dienstboten, die später von einer geisterhaften Erscheinung gestohlen wurde, von Ihnen Selim genannt. War das der Name der Frau, auf die sich die Urkunde bezog? Und Sie haben sie gefunden, wie Sie sagen?«
Andy nahm eine Kopie des Protokolls aus der Tasche und legte sie vor den Friedensrichter.
Mr. Salter schaute lange darauf, bevor er seine Hornbrille aufsetzte und zu lesen begann.
Er las sehr langsam, und es kam Andy vor, als ob er jedes Wort abschätzte. Einmal blätterte er zurück und las eine Seite noch einmal. Fünf – zehn – fünfzehn Minuten verstrichen in tiefstem Schweigen. Andy wurde ungeduldig, er dachte an Stella, die draußen im Wagen wartete.
»Ach!« Mr. Salter legte das Manuskript wieder hin. »Der Geist, der in diesem Tal umging, ist gebannt, Doktor Macleod.«
Andy verstand ihn nicht sofort. Mr. Salter sah seine Verwirrung und kam ihm zu Hilfe.
»Ich meine Selim. Hier ist er, enthüllt in seiner ganzen Gemeinheit. Er verkaufte Seelen, brach Herzen, spielte mit dem Leben.« Er tippte auf das Manuskript.
Andy entdeckte einen ungewöhnlichen Glanz in seinen Augen. Salters Gesicht sah nicht mehr eingefallen aus, und die tiefen Falten waren verschwunden. Er mußte eine geheime Klingel gedrückt haben, denn Tilling kam herein.
»Bringen Sie mir eine Flasche Portwein.« Als der Diener sich entfernt hatte, fuhr er fort: »Sie können sich beglückwünschen – Sie haben einen größeren Sieg davongetragen, als wenn Sie Ihre Hand auf die Schulter Albert Selims gelegt hätten. Wir müssen Ihren Erfolg feiern, Doktor.«
»Es tut mir leid, daß ich nicht länger bleiben kann – Miss Nelson wartet draußen in meinem Wagen.«
Salter sprang auf, wurde blaß und setzte sich wieder.
»Das bedauere ich aber wirklich sehr«, sagte er atemlos. »Es ist unverantwortlich von Ihnen, mir nichts davon mitgeteilt zu haben. Bitte bringen Sie sie doch herein.«
Andy sagte zu Stella: »Die Nachricht, daß du im Wagen wartest, hat ihn sehr mitgenommen. Er sieht sehr elend aus.«
Mr. Salter hatte sich inzwischen wieder etwas erholt. Er beobachtete Tilling, wie er den kostbaren Wein in die Gläser goß.
»Verzeihen Sie, wenn ich nicht aufstehe«, sagte Mr. Salter lächelnd, als Stella mit Andy eintrat. »Sie also haben den Mann gepflegt, der bei mir einbrach?«
»Hat Andy Ihnen das erzählt?« fragte sie bestürzt.
»Nein, Andy hat mir nichts davon gesagt. Aber Sie werden jetzt ein Glas Portwein mit mir trinken, Miss Nelson. Nein? Das war schon alter Wein, als Ihr Vater noch ein kleines Kind war.«
Er hob sein Glas und trank ihr zu.
»Was wird nun aus Miss Masters oder Mrs. Bonsor werden?«
»Sie wird wohl kaum in London bleiben. Sie hat ein schweres Verbrechen eingestanden – obwohl es schon so lange zurückliegt, daß es verjährt ist. Aus gewissen Anzeichen könnte man fast schließen, daß diese vielfach verheiratete Dame sich, zum viertenmal in das Eheleben stürzen wird.«
Salter nickte.
»Die arme Frau«, meinte er. »Die arme, getäuschte Frau!«
Andy hatte nicht erwartet, bei Mr. Salter Sympathie für Mrs. Crafton-Bonsor zu finden.
»Sie ist nicht besonders arm«, erwiderte er. »Scottie, der doch ein Kenner ist, schätzt den Wert ihrer Juwelen auf mindestens hunderttausend Pfund. Außerdem hat sie große Besitzungen in den Vereinigten Staaten. Ich bin aber eigentlich gekommen, um mit Ihnen über John Severn zu sprechen. Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte? Ich bin fest überzeugt, daß Albert Selim diese Eheschließung zu seinem eigenen Vorteil ausnützte!«
»Das tat er. Selim teilte Severn mit, daß seine Frau gestorben sei. Severn heiratete wieder und hatte, soviel ich weiß, Kinder. Selim hatte die Beweise für seine frühere Bigamie in der Hand, wodurch er große Summen von ihm erpreßte. Der Kontrakt, den Sie fanden, war Schwindel. Selim hat meinem Freund keinen Pfennig gezahlt, er hat nur eine alte Schuld getilgt. Das ist ja auch in der Aussage von Mrs. Crafton-Bonsor angedeutet. Im Lauf der Jahre fand seine Habgier immer neue Methoden, Severn zu quälen. Sie sehen, Doktor, daß ich offen bin. Ich wußte mehr über Severn, als ich Ihnen damals mitteilte.«
»Daran habe ich nie gezweifelt«, sagte Andy lächelnd.
»Und Sie, Miss Nelson, sind nun auch eine große Sorge losgeworden. Aber auch Sie haben etwas dafür gefunden.«
Er schaute Andy an und dann Stella. »Es wird sich alles erfüllen, wie ich hoffe.«
Bald darauf verabschiedeten sie sich.
Andy schlief den ganzen Nachmittag, und sobald es dunkel wurde, begab er sich auf seinen Wachtposten in das lange, leere Arbeitszimmer Mr. Merrivans. Die Nacht ging ohne Zwischenfall vorüber. Kurz nach Tagesanbruch sah er Stella über den Rasen kommen. Sie trug etwas in der Hand. Sie kam direkt auf das Haus zu und klopfte zu seinem größten Erstaunen an.
»Ich habe dir etwas Kaffee und ein paar Brötchen gebracht, Andy. Du Armer, du mußt doch entsetzlich müde sein.«
»Woher wußtest du denn, daß ich hier bin?«
»Das vermutete ich. Als du gestern abend nicht kamst, wußte ich, daß du Geisterdienst hattest.«
»Du kluges Mädchen! Ich hatte es dir absichtlich nicht gesagt.«
»Hast du nicht wieder den schlimmsten Verdacht gehabt, als du mich so früh am Morgen hierherkommen sahst?« Sie zog ihn am Ohrläppchen. »Du hast doch nichts gesehen und gehört?«
»Nichts.«
Sie schaute den düsteren Gang entlang und schüttelte den Kopf. »Ich möchte kein Detektiv sein. Andy, fürchtest du dich nicht manchmal?«
»O doch, oft. Wenn ich zum Beispiel daran denke, wie ich es fertigbringen soll, dir ein Heim einzurichten, das gut genug für dich ist –«
»Wir wollen ein wenig darüber plaudern«, sagte sie, und sie saßen zusammen, bis die Sonne durch die Fenster schien. Sie sprachen von Häusern und Wohnungen und von den hohen Kosten, die man für eine Einrichtung zahlen muß.
Es war Andy nichts von der schlaflosen Nacht anzusehen, als er um elf Uhr im Metropolitan-Hotel stand. Er hatte noch mehrere Punkte aufzuklären.
»Mrs. Crafton-Bonsor ist abgereist«, sagte der Empfangschef.
»Abgereist?« fragte Andy erstaunt. »Wann?«
»Gestern nachmittag, Sir. Sie und Professor Bellingham reisten zusammen ab.«
»Hat sie auch das Gepäck schon mitgenommen?«
»Es ist alles fort.«
»Wissen Sie, wohin sie gereist ist?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung – sie sagte, sie wolle für einige Tage an die See gehen.«
Das war eine Überraschung für Andy.
Er fuhr zur Castle Street, um vielleicht Scottie dort zu finden, aber er traf nur den etwas verwirrten Mr. Martin an.
»Nein, Doktor Macleod, Scottie war nicht hier. Er ist seit drei Tagen nicht mehr hiergewesen.«
»Hat er Ihnen denn keine Anweisungen hinterlassen, wie Sie diese Diebsherberge bewirtschaften sollen?«
»Nein, Sir.« Big Martin sagte das aber in einem Ton, daß Andy sofort wußte, er log. Es hatte keinen Zweck, ihn weiter auszufragen. Andy fuhr nach Beverley Green zurück und legte sich schlafen.
Um neun Uhr abends ging er wieder in Merrivans Haus. Johnston hatte einen bequemen Lehnsessel in das Arbeitszimmer gebracht. Er war so weich, daß Andy mehrmals einschlief.
Das hat keinen Zweck, sagte er sich schließlich und ging zu dem vorderen Fenster, öffnete es und ließ die frische Nachtluft hereinströmen.
Die Kirchturmuhr in Beverley schlug eins, und es war nichts von dem nächtlichen Besucher zu sehen.
Er hatte den Riegel von dem hinteren Fenster zurückgezogen. Er war sicher, daß der Fremde auf diesem Weg ins Haus gekommen war, als Johnston ihn gesehen hatte.
Andy wartete. Jetzt schlug es zwei Uhr. Er saß wieder im Lehnsessel, und sein Kinn war auf die Brust gesunken. Er träumte von Stella und Mrs. Crafton-Bonsor.
Aber dann hörte er plötzlich ein Geräusch und war sofort ganz wach. Er schaute nach dem hinteren Fenster und sah, wie sich draußen eine dunkle Gestalt abhob. Die elektrische Leitung war auf seine Bitte hin wieder in Ordnung gebracht worden, und er schlich sich leise zum Schalter. Der Mann öffnete langsam das Fenster und gleich darauf hörte Andy Schritte im Zimmer. Aber er drehte das Licht noch nicht an, er wartete noch. Plötzlich ertönte eine merkwürdige Stimme.
»Komm heraus, Albert Selim, du verfluchter Hund!«
Die Stimme klang unheimlich hohl in dem leeren Raum.
»Komm heraus!«
Andy drehte das Licht an.
Ein Mann in einem gelben Schlafrock stand, den Rücken dem offenen Fenster zugekehrt, im Zimmer. In seiner ausgestreckten Hand hielt er eine lange Pistole, die er gegen einen unsichtbaren Feind gerichtet hatte.
Es war Salter! Boyd Salter!
Andy stockte der Atem. Dann war also Boyd Salter der kühle, gewandte Mann, der ihn so lange und so geschickt getäuscht und der seine Rolle so sicher gespielt hatte!
Seine Augen waren weit geöffnet und blickten starr ins Leere.
Er war nicht bei sich. Andrew hatte es gleich bemerkt, als er seine undeutliche, mißtönende Stimme gehört hatte.
»Das ist für dich, du verdammter Schuft!«
Salter zischte diese Worte durch die Zähne, und Andy hörte, wie die Pistole knackte. Dann sah er, wie Salter sich niederbeugte – zu der Stelle, wo sie Merrivan gefunden hatten. Dann kniete er langsam nieder und seine Hände befühlten einen Körper, den er zu sehen meinte. Er sprach dauernd mit sich selbst.
Salter durchlebte das Verbrechen noch einmal. Nacht für Nacht war er hergekommen. Es war unheimlich zu sehen, wie er das Pult absuchte, das nicht dastand, wie er den Schrank aufschloß, der längst entfernt war. Andrew beobachtete ihn genau. Jetzt steckte der Mann ein Streichholz an und glaubte die Papiere zu entzünden, die er seiner Meinung nach in den Kamin gelegt hatte. Dann blieb er an der Stelle stehen, wo man den Brief gefunden hatte.
»Du wirst keine Briefe mehr schreiben, Merrivan, du verdammter Kerl! Du wirst keine Briefe mehr unter meine Tür stecken – der war wieder für mich bestimmt – wie?« Er wandte sich wieder dorthin, wo die Leiche gelegen hatte. »Für mich?«' Seine Blicke schweiften umher, und er schien etwas aufzuheben. »Ich muß den Schal des Mädchens mitnehmen«, sagte er dann leise. »Arme Stella! Dieser Teufel wird sie nicht mehr quälen. Ich will ihn mitnehmen.« Er steckte seine Hand in die Tasche, als ob er etwas hineinstecken wollte. »Wenn sie ihn finden, denken sie, daß sie hier war, als ich ihn niederschoß.«
Andrew folgte atemlos allen Bewegungen und Worten.
Nun war ihm plötzlich alles klar. Albert Selim und Merrivan waren ein und dieselbe Person, und der Drohbrief, der allem Anschein nach an Merrivan gerichtet war, stammte von diesem selbst. So war es! Merrivan wollte in der Nacht den Brief nach Beverley Hall bringen. Er hatte ihn geschrieben und zusammengefaltet, aber er hatte keine Zeit mehr gehabt, einen Umschlag zu adressieren, bevor ihn sein Schicksal ereilte.
Salter ging langsam durch den Raum und war ein paar Sekunden später durch das Fenster verschwunden. Er schloß es hinter sich. Gleich darauf war auch Andy im Garten und folgte dem Schlafwandler, der durch den Obstgarten ging. Plötzlich hörte er ihn wieder sprechen.
»Geh aus dem Weg, du verdammter Hund!«
Und wieder knackte der Pistolenhahn.
So war also Sweeny ums Leben gekommen! Sweeny war dort gewesen. Er hatte wahrscheinlich auch die Identität Selims mit Merrivan entdeckt und das Haus in jener Nacht beobachtet. Es war jetzt alles so einfach. Merrivan hatte Salter erpreßt. Aber wer mochte Severn sein – Severn, der Mann von Hilda Masters?
Er folgte Salter durch den Obstgarten, durch ein Tor in der Hecke. Salter war nun auf seinem eigenen Grund und Boden und bewegte sich weiter in jener merkwürdig behutsamen Art, die Schlafwandlern eigen ist. Andrew ließ ihn nicht aus dem Auge. Salter hielt sich auf einem Pfad nach Spring Covert, bog plötzlich unvermittelt nach links ab und überquerte die Wiese vor Beverley Hall.
Kaum war er hier ein Dutzend Schritte gegangen, als plötzlich ein heller Lichtschein aus dem Gras aufblitzte und eine Explosion folgte. Salter taumelte vornüber und fiel zu Boden.
Andy war sofort an seiner Seite. Salter lag bewegungslos.
Andy machte seine Taschenlampe an und rief um Hilfe. Gleich darauf antwortete ihm aus einiger Entfernung der Parkwächter Madding, den er schon von früher her kannte.
»Was ist geschehen, Sir? Sie müssen sich in einem Draht verfangen und einen Alarmschuß ausgelöst haben. Wir haben verschiedene ausgelegt, um die Wilddiebe zu fangen ... Mein Gott«, rief er plötzlich erschrocken, »das ist ja Mr. Salter!«
Sie legten ihn auf den Rücken. Andy öffnete seine Pyjamajacke und legte das Ohr auf seine Brust.
»Ich fürchte, er ist tot.«
»Tot?« fragte der Parkwächter erschrocken. »Es war aber doch keine scharfe Patrone in dem Selbstschuß!«
»Er ist durch die Explosion erwacht, und der Schreck hat ihn sicher getötet. Und es ist wohl gut, daß er auf diese Weise starb.«
*
Andy ließ sich müde auf einen Sessel in Nelsons Wohnzimmer nieder.
Stella setzte sich neben ihn und legte ihre Hand auf seine Schulter. Andy nahm einen Zeitungsausschnitt aus seiner Tasche.
»Das fand ich in Salters Geldschrank. Sein Sohn hatte es ruhig aufgenommen. Man erwartete ja ein solches Ende. Er wußte, daß sein Vater Schlafwandler war, er hatte den Schmutz an seinem Pyjama entdeckt und hielt infolgedessen die Tür bewacht. Aber das alte Haus hat ein halbes Dutzend geheimer Wendeltreppen, und er ist jedesmal entkommen. Was hältst du davon?«
Sie las den Zeitungsausschnitt. Er war aus der ›Times‹.
*
›In Übereinstimmung mit den Anordnungen des Testaments des verstorbenen Mr. Philipp Boyd Salter wird sein Neffe, Mr. John Severn, der einzige Erbe seines Onkel, den Namen und Titel John Boyd Salter führen. Eine diesbezügliche gerichtliche Erklärung erscheint in den amtlichen Bekanntmachungen dieser Nummer auf Seite 8.<
»Hier haben wir also die Aufklärung. Severn und Boyd Salter waren ein und dieselbe Person. Wenn ich so vernünftig gewesen wäre, das Testament des Onkels nachzusehen, hätte ich das schon vor einem Monat wissen können. Er ist als ein glücklicher Mann gestorben. Seit Jahren hatte er unter dem Druck seiner Schuld und der Erpressungen Selims gelebt. Durch Merrivans Verrat hätte sein Sohn den Titel und das Vermögen verloren, die nur an einen rechtmäßigen Erben übergehen können. Aus der Aussage von Hilda Masters – sie hat übrigens vor ihrer Abreise Scottie tatsächlich geheiratet – ging ja die Rechtmäßigkeit seiner Ehe mit der Mutter seines Sohnes deutlich hervor. Merrivan war der größte Schrecken für seine Mitmenschen. Um die Zukunft seines Sohnes sicherzustellen, tötete ihn Salter. Aus demselben Grund drang er, als Parkwächter verkleidet, in Wilmots Haus ein, stahl den Trauschein und verbrannte ihn.«
»Woher wußte er, daß das Dokument dort zu finden war?«
»Downer verriet doch die Sache in dem Artikel, den er über uns schrieb.«
»Und was wird nun. aus Selims großem Vermögen? Fällt es an Artur Wilmot?«
»Nein, an Mrs. Bellingham. Es ist beinahe tragisch.«
Sie lachte und legte ihren Arm um seinen Nacken.
»Scottie ist doch eigentlich sehr geschickt«, meinte sie.
»Ja, aber wie kommst du gerade jetzt darauf?«
»Denk doch daran, wie schnell er sich – die Heiratspapiere beschafft hat –«
Eine Woche später erfuhr Mr. Downer eine Neuigkeit. Er war weder betrübt noch erfreut darüber, denn er war in erster Linie Geschäftsmann, und Hochzeiten und Morde hatten für ihn denselben Wert. Er rief sofort das ›Megaphone‹ an und sprach mit dem Chefredakteur.
»Haben Sie schon gehört, daß Macleod Miss Nelson geheiratet hat? Ich könnte Ihnen darüber eine Spalte schreiben und die ganze interessante Vorgeschichte dieser Ehe berichten – ja, ein Bild von ihr kann ich auch beschaffen. Wie? Zwei Spalten? Geht in Ordnung!«