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SPRUCH DES JAHRES

Die Zensur ist das lebendige Geständnis der Großen, daß sie nur verdummte Sklaven treten, aber keine freien Völker regieren können.

Johann Nepomuk Nestroy

SPRUCH DER WOCHE

Duldet ein Volk die Untreue von Richtern und Ärzten, so ist es dekadent und steht vor der Auflösung.

 

Plato

 

LUSTIGES

Quelle: Aus dem umgestülpten Papierkorb der Weltpresse (1977)

Rubrik: Das süße Leben

Dallas, Texas - Vor einem Gericht gab Jack Stinney an, er habe seine Frau nur des Spaßes wegen verprügelt. Auf die erstaunte Frage des Staatsanwaltes ergänzte Stinney dann seine Aussage: "Allerdings verprügelte ich meine Frau nur wegen des Spaßes, den sie mit drei anderen Männern gehabt hatte."

Die Lehmänner
Die Lehmänner

A.S. - Der Unsichtbare

Edgar Wallace

 

5-8

 

 

5

 

Scottie wurde plötzlich mitteilsam, ja geradezu beredt, als er und Andy auf dem Bahnsteig auf den Zug warteten.

»Sie glauben, daß Sie die Kehrseite des Lebens, all den Schmutz und all das Elend kennen, Macleod, weil Sie mit den Spelunken der großen Stadt vertraut sind? Mit den chinesischen Opiumhöhlen und den Freudenhäusern mit den seidenen Vorhängen und den weichen Diwans? Ich weiß, daß Sie nicht so sehr von sich überzeugt sind wie all diese anderen Mißgeburten, die sich Detektive nennen. Ihr Beruf als Arzt hat Sie mehr in die Tiefe schauen lassen. Sie kennen das Leben gründlicher als diese Leute, aber alles wissen Sie auch nicht.«

»Nein, ich weiß nicht alles«, gab Andy zu.

»In diesem Punkt irren sich die meisten Polizeileute – Sie nicht, aber viele andere. Verbrecherkneipen und Lokale, wo sich der Abschaum und die Hefe des Volkes herumtreibt, wo die kleinen Gauner und Verbrecher verkehren, die sich wie Rothschild vorkommen, wenn sie einmal fünf Pfund in der Hand haben – das sind die schlimmsten Plätze nicht.« Er schaute sich um. Der Polizist aus Beverley, der ihn zur Stadt eskortieren sollte, sah gedankenlos drein und hörte nicht zu. »Wenn Sie die wirkliche Hölle finden wollen, dann müssen Sie nach Beverley Green gehen!«

Andy sah ihn erstaunt an, unwillkürlich überlief ihn ein Schauder.

»Wieso denn? Haben Sie irgend etwas Besonderes gehört?«

Scottie schüttelte den Kopf und zog die Lippen zusammen.

»Nein, gehört habe ich nichts, aber ich habe es gefühlt. Ich bin sehr empfänglich für – zum Teufel, wie heißt doch gleich das Wort – für die Atmosphäre. Sie werden vielleicht darüber lachen, aber Sie werden nicht mehr lachen, wenn Sie mein Alibi zu Gesicht bekommen. Schon oft hat mich mein Gefühl vor langen Gefängnisstrafen bewahrt. Es ist etwas ganz Seltsames. Ich werde Ihnen einen Fall erzählen. Ich war in einem Gefängnis, als man einen Mann dort hinbrachte, der gehenkt werden sollte. Niemand wußte, daß er dort war. Man hatte ihn am Tage vor seiner Hinrichtung plötzlich dorthin überführt, weil der Fußboden des Exekutionsgebäudes Feuer fing. Das ist eine Tatsache! Und ich wußte, daß er im Gefängnis war, ich fühlte es sofort, als er das Haus betrat. Und ein ähnliches Gefühl habe ich von Beverley Green. Da ist irgendein Unheil im Gange. Sie sind erstaunt, Macleod? Ich möchte fast sagen, daß einen die Geister und Gespenster berühren, wenn man dort geht. Ich sage Ihnen, es ist unheimlich. Deshalb habe ich die ganze Gegend das Geistertal genannt. Ich werde Ihnen etwas erzählen, was sehr zu meinen Ungunsten spricht, wenn Sie es vor Gericht vorbringen. Aber ich traue Ihnen, Macleod – Sie sind nicht wie die anderen. Sie waren immer ein Gentleman. Ich hatte eine Pistole. Ich besaß stets eine Waffe, ich nahm sie bloß nie mit. Aber in Beverley Green konnte ich mir nicht helfen, ich steckte sie ein, wenn ich dort herumging. Ich trug sie auch bei mir, als Sie mich verhafteten. Als wir nach Beverley hineinfuhren, habe ich sie fortgeworfen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen wo, denn Sie haben es doch nicht gemerkt.«

»Ich habe es genau gesehen – Sie taten es, als wir zu der großen Kurve vor der Stadt kamen. Aber wir wollen uns nicht darüber streiten; ich werde sogar meinen Auftrag widerrufen, die Abhänge neben der Eisenbahn zu durchsuchen. Warum haben Sie das getan, Scottie? Sie fürchten sich doch sonst nicht so leicht?«

Scottie machte ein düsteres Gesicht und war sehr ernst.

»Ich weiß es selbst nicht. Ich bin nicht nervös und war es auch noch nie. Vor einem Menschen aus Fleisch und Blut habe ich keine Angst. Aber ich hatte ein ganz unerklärliches, unheimliches Gefühl – wissen Sie, wenn ich Sternschnuppen sehe, geht es mir auch so. Es war reine Furcht. Ich habe gestern noch mit Merrivan darüber gesprochen. Sie kennen ihn doch, er schwatzt über alles, was in der Gemeinde vorgeht –«

Andy mußte lachen, als er an diesen Reklamechef und Fremdenführer von Beverley Green dachte.

»Er ist kein schlechter Kerl, aber er hat das Zuhören verlernt. Das kommt von der Korpulenz. Das bestätigte er mir selbst, nachdem ich es ihm gesagt hatte. Er hat mir in allem beigepflichtet. Vielleicht macht er das bei jedem Menschen so, er paßt sich an. Macleod, gehen Sie hin und bleiben Sie einen oder zwei Tage in Beverley Green, dann werden Sie dasselbe Gefühl haben. Es brütet etwas in der Luft, es ist wie die Stille, bevor der Blitz in Ihr Haus einschlägt – aber hier kommt der Zug. Und wenn Sie vor Gericht als Zeuge gegen mich auftreten müssen, machen Sie mich nicht zu schlecht.«

»Habe ich schon einmal etwas gegen Sie gesagt, Scottie?« fragte Andy. »Also viel Glück mit Ihrem Alibi!«

Scottie blinzelte.

In diesem Augenblick hielt der Zug an, und Stella Nelson stieg aus dem Abteil, das vor ihnen hielt. Andys Blicke folgten ihr, bis sie außer Sicht war.

»Sie ist auch irgendwie in das Unheil verwickelt«, flüsterte Scottie ihm ins Ohr. »Also auf Wiedersehen, Macleod!«

Scottie fuhr nach London und wurde vor Gericht gestellt. Aber es ging ihm nicht so schlecht, wie er gefürchtet hatte, da sein Alibi gut und einwandfrei war und die Aussage von vier anscheinend ehrenhaften Personen genügte. Sie hatten mit ihm Karten gespielt, als das Verbrechen begangen wurde. Auch die klug aufgebaute Anklage des Staatsanwaltes und das geschickte Kreuzverhör des skeptischen Richters konnten nichts daran ändern.

Andy hatte sich eigentlich vorgenommen, eine schöne Mondscheinfahrt über Land nach seinem Feriensitz zu machen, von dem man ihn so plötzlich weggeholt hatte. Alle Formalitäten des Verhörs von Scottie wurden ja von dem Polizeiinspektor, der den Fall leitete, erledigt. Wenn die Untersuchung oder die Gerichtsverhandlung seine Anwesenheit notwendig machten, konnte er für einen Tag nach London fahren.

Aber Scotties Bemerkung über Beverley Green hatte auf ihn gewirkt wie ätzende Säure auf eine Kupferplatte. Als er zu dem Gasthaus zurückging, wo sein Wagen untergestellt war, hatte er sich entschlossen, in Beverley zu bleiben. Er wunderte sich, daß bereits alle Leute wußten, wer er war. Auf der Straße, wo sie hier und dort in Gruppen herumstanden, wandten sie sich nach, ihm um, als er vorbeiging.

Wenn er schon nicht die Absicht hatte, Beverley in dieser Nacht zu verlassen, so dachte er doch nicht daran, Beverley Green zu besuchen. In seinem Unterbewußtsein mochte dieser Plan allerdings bestanden haben, doch folgte er nur einem augenblicklichen Impuls, als er plötzlich nach dem Abendessen seinen Wagen aus der Garage holte und zu der schönen Villenkolonie fuhr. Er kam zum Gästehaus, stellte den Motor ab und schaltete die Scheinwerfer aus. Es war Vollmond, und die magische Wirkung des weißen Lichtes beeinflußte auch ihn.

Er stand lange und betrachtete die herrliche Landschaft, dann ging er über den grünen Rasen und wandte sich zum Haus Mr. Nelsons. Er beobachtete, wie sich die Haustür öffnete und ein Lichtschein herausfiel. Er trat in den Schatten eines der Rhododendronbüsche, die in den Anlagen neben der Straße standen.

Es kam ein Mann heraus, dessen Gang sofort seine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Andy hatte sich eingehend mit dem Studium der Menschen befaßt. Er kannte die Sprache der Hände, er konnte aus der Art und Weise, wie sich jemand an den Tisch setzte und seine Serviette entfaltete, viele Schlüsse auf seinen Charakter oder seine augenblickliche Gemütsverfassung ziehen.

Dort geht jemand, der in sehr schlechter Stimmung ist, dachte er und schaute Artur Wilmot nach, der niedergeschlagen den geschotterten Weg entlangging. Der junge Mann öffnete die Gartentür zu seinem eigenen Grundstück, blieb dann aber stehen, als ob ihm ein anderer Gedanke gekommen wäre, trat wieder auf die Straße und ging in ein Haus, das dort an der Ecke der Landstraße stand. Es war Mr. Merrivans Anwesen. Andy erinnerte sich, daß Wilmot Merrivans Neffe war.

Der Detektiv ging weiter, hielt sich aber immer im Schatten der Büsche und Bäume. Etwas wie Furcht hatte auch ihn plötzlich gepackt. Er hatte ein feines Gefühl, das sich jedoch mehr auf praktische Dinge bezog. Sicherlich war er nicht so empfindlich für gewisse Einflüsse, wie Scottie es zu sein behauptete. Er hatte über dessen Erzählung nachgedacht, aber trotz aller Übertreibungen war doch immer noch eine gewisse Aufrichtigkeit dieses Mannes in Betracht zu ziehen, Auch Scotties Furcht hatte er für Übertreibung gehalten, und jetzt beschlich ihn selbst ein unheimliches Gefühl. Ihm war, als ob ein drohender Schatten auf ihn fiel.

Dennoch blieb er in der Nähe von Mr. Merrivans Haus stehen. Er wußte selbst nicht, warum er es tat. Immerhin setzte er das gute Einvernehmen mit den Bewohnern von Beverley Green aufs Spiel. Artur Wilmot hatte die Gartentür offenstehen lassen. Andy überquerte die Straße und trat in den Garten. Er hütete sich aber, den Kiesweg zu benützen, und ging auf dem angrenzenden Rasenstreifen.

Als er die Bäume hinter sich hatte, die die Fassade teilweise verdeckten, sah er, daß das Haus viele Fenster hatte. Die Rahmen waren weiß gestrichen, und der Mond spiegelte sich in den Scheiben, so daß sie wie Silber glänzten. Aus keinem der Fenster drang Licht nach außen. Er folgte dem Weg, bis er dicht unter einem Fenster in der Nähe des Eingangs stand. Hier hörte er plötzlich mit merkwürdiger Deutlichkeit eine Stimme.

»Das wirst du nicht tun – bei Gott, das darfst du nicht tun! Eher will ich dich umbringen!«

Es war nicht Merrivan, der sprach, und Andy vermutete, daß es Wilmot sein mußte. Gleich darauf vernahm er ein Geräusch. Das obere Fenster wurde etwas geöffnet. Die beiden Männer befanden sich wahrscheinlich in diesem Zimmer. Jetzt konnte er Merrivans Stimme deutlich unterscheiden.

»Mach dich doch nicht so lächerlich – was du da redest, ist Unsinn, mein Lieber. Vor deinen Drohungen fürchte ich mich durchaus nicht. Und jetzt werde ich dir etwas sagen – das wird dich in Erstaunen setzen! Ich kenne deine geheimnisvolle Beschäftigung in der Stadt.«

Die Stimmen wurden leiser, und obgleich Andy sich die größte Mühe gab, konnte er nichts mehr verstehen. Er hörte nur noch ein schnelles, dringendes Sprechen, und einmal lachte Mr. Merrivan laut auf.

Dann wurde ein Stuhl gerückt. Andy eilte aus dem Garten und verbarg sich in den gegenüberliegenden Büschen, bis Artur Wilmot herauskam und langsam seinem eigenen Haus zuschritt.

Familienstreitigkeiten erscheinen meistens schwerwiegender, als sie in Wirklichkeit sind. Aber hier handelte es sich doch um eine ungewöhnliche Auseinandersetzung. Welcher Art war wohl die geheimnisvolle Beschäftigung Artur Wilmots, die Mr. Merrivan nur zu erwähnen brauchte, um ihn ganz zahm zu machen? Vorher hatte er geschrien und seinen Onkel mit Mord bedroht, dann war er plötzlich ruhig geworden und hatte normal, fast bittend, gesprochen.

Andy wartete, bis Wilmot seine Haustür geschlossen hatte, dann trat er wieder auf den Weg und ging langsam zurück. Als er in die Nähe von Nelsons Haus kam, blieb er stehen und schaute hinauf. Sein Herz schlug ein wenig schneller. Er konnte das Mädchen oben am Fenster deutlich erkennen. Das Mondlicht ließ ihre Züge noch schöner erscheinen. Sie zog sich zurück, und das Fenster schloß sich langsam. Er wußte, daß sie ihn gesehen hatte. War sie erschrocken? Fürchtete sie sich vor ihm?

Sonderbar, dachte er, als er nach Beverley zurückfuhr, und das Merkwürdigste von allem war, daß er sich wieder wohler fühlte und das Gefühl der Bedrohung ihn verließ, sobald er wieder in die Hauptstraße einbog. Wenn es wirklich Teufel und Gespenster in Beverley Green gab, so mußten sie wirklich sehr mächtig sein, denn sogar Andrew Macleod hatte kurze Zeit unter ihrem Einfluß gestanden.

 

6

 

Stella Nelson saß beim Frühstück, als ihr Vater herunterkam. Er war nicht mehr so anmaßend. Er schämte sich, und in seiner ganzen Haltung drückte sich die Bitte um Verzeihung aus.

Früher hatte sich Stella durch seine Reue täuschen lassen, sie hatte geglaubt, daß doch noch etwas Gutes an einem Mann sein müsse und er sich bessern könne, wenn er seine Fehler einsah. Aber diese Illusion war zerronnen wie so viele andere. »Guten Morgen, mein Liebling. Ich wage kaum, dir ins Gesicht zu sehen«, sagte er, als er sich niedersetzte und mit unsicheren Händen seine Serviette entfaltete. »Ich bin ein Unmensch, ich habe mich aufgeführt wie ein Tier!«

Sie schenkte ihm Tee ein und kümmerte sich wenig um seine Worte.

»Du darfst mir glauben, Stella, es war das letzte Mal – wirklich, das allerletzte Mal. Ich habe heute morgen, als ich mich anzog, den festen Vorsatz gefaßt, nie wieder zu trinken. War ich wieder so unausstehlich? Habe ich wieder die Dienstboten hinausgeworfen?«

»Sie sind gegangen.«

Er seufzte.

»Vielleicht kann ich sie aufsuchen. Es wäre doch möglich, daß ich mit Mary die Sache wieder in Ordnung bringe. Sie ist eigentlich ein tüchtiges Mädchen, obwohl sie meine goldenen Manschettenknöpfe verloren hat. Ich will ihr alles erklären. Zu Mittag sind sie alle wieder da, Liebling. Ich kann nicht dulden, daß du die ganze Hausarbeit allein tust.«

»Mary hat heute morgen ihre Sachen abgeholt«, sagte Stella in sachlichem Ton. »Ich habe ihr auch den Vorschlag gemacht zu bleiben, aber sie erklärte, sie würde nicht wieder hierherkommen, selbst wenn ich ihr eine Million pro Jahr zahlte. Das habe ich ihr dann auch nicht angeboten.«

»Habe ich sie beschimpft – habe ich ihr allerhand Namen gegeben?« fragte er schuldbewußt.

Sie nickte und schob ihm die Marmelade hin. »Hast du etwas Geld – ich möchte einkaufen gehen.«

Er rückte unruhig hin und her: »Ich fürchte, ich kann dir nichts geben, ich bin gestern morgen nach Beverley gegangen, als du fort warst, und habe ein paar Besorgungen gemacht –«

»Das weiß ich«, unterbrach ihn Stella ruhig. »Du hast noch eine halbe Flasche mit Whisky stehenlassen, den ich weggeschüttet habe.«

»Das hättest du nicht tun sollen, mein Liebling«, erwiderte er kleinlaut. »Ich weiß wohl, er ist sehr schädlich, aber es ist doch gut, wenn für plötzliche Krankheitsfälle etwas im Haus ist.« Kenneth Nelson machte bei solchen Gelegenheiten gewöhnlich die Andeutung, daß irgendeine schreckliche Krankheit ausbrechen könne, die nur durch reichlichen Genuß von Whisky zu heilen sei.

»Wenn jemand krank wird, wollen wir lieber Doktor Granitt holen«, sagte sie. »Hast du wirklich kein Geld für mich, Vater?«

»Ich habe nur ein paar Schilling.« Er zog eine Handvoll Silbergeld aus der Tasche. »Die brauche ich selbst«, fügte er hastig hinzu. »Ich bekomme aber heute meinen Scheck von dem Kunsthändler. Ich kann gar nicht begreifen, warum, er heute morgen mit der Post noch nicht gekommen ist. Diese Leute sind doch zu unzuverlässige Menschen.«

»Der Scheck kam schon vorige Woche«, entgegnete Stella ruhig. »Du hast dem Mädchen den Brief gleich draußen abgenommen und ihr gesagt, sie möchte mir nichts davon erzählen. Das hat sie mir gestern unter vielen anderen Dingen auch mitgeteilt.«

Er seufzte wieder.

»Ich bin ein Verschwender, ich bin ganz und gar verkommen«, klagte er sich an. »Ich bin schuld an dem Tod deiner armen Mutter, ich habe sie ins Grab gebracht – du weißt, daß ich daran schuld bin, Stella.«

In solchen Augenblicken fand er ein wahres Vergnügen darin, sich selbst zu beschuldigen. Daß seine Tochter sich dadurch verletzt fühlen könnte, kam ihm gar nicht zum Bewußtsein. Er empfand eine solche Befriedigung dabei, daß er sich unmöglich vorstellen konnte, andere seien unfähig, dieses Vergnügen zu teilen.

»Sage doch das nicht«, sagte sie beinahe schroff. Sie kam aber sofort wieder auf die Geldfrage zurück. »Vater, ich brauche Geld. Die Mädchen wollen den restlichen Lohn, ich habe versprochen, ihnen das Geld in die Stadt zu schicken.«

Er hatte sich in seinem Sessel zusammengekauert und brütete vor sich hin.

»Ich werde heute mit dem Bild anfangen – mit dem Pygmalion. Es wird allerdings einige Zeit dauern, bis ich damit fertig bin und das Geld dafür bekomme. Diese verfluchten Händler –«

Schon vor drei Jahren hatte er den Pygmalion zu malen begonnen, aber seitdem war er nicht wieder in Stimmung gekommen. Stella hatte es aufgegeben, Modelle für ihn zu engagieren. Sie nahm das Versprechen, das große Bild beenden zu wollen, mit derselben Gleichgültigkeit hin, die sie bei seiner Reue gezeigt hatte.

Plötzlich kam ihm ein rettender Gedanke. Er lehnte sich zu ihr über den Tisch hinüber.

»Stella«, sagte er leise, »könntest du nicht etwas Geld bekommen – erinnerst du dich an die Summe, die du damals aufgetrieben hast, als mich dieser üble Marmeladenfabrikant wegen der Anzahlung verklagte, die er auf das Porträt gemacht hatte? Diese dummen Spießer glauben immer, man könnte ein Bild auf Befehl malen. Ich bin nie ein Kaufmann gewesen. Ich will ja die Kunst nicht in den Himmel heben, aber Kunst ist der Inhalt des Lebens, für mich wenigstens.«

Er schaute sie erwartungsvoll, beinahe bittend an, aber sie schüttelte entschlossen den Kopf.

»Auf diese Weise kann ich kein Geld mehr beschaffen. Lieber würde ich sterben. Wir wollen nicht mehr darüber sprechen, Vater.«

Plötzlich erhob sie sich, ging verzweifelt im Zimmer auf und ab und blieb schließlich vor ihrem eigenen, halbvollendeten Porträt stehen, das er begonnen hatte, als sie drei Jahre jünger war.

»Das wäre eigentlich ein Bild, das man fertigmachen sollte«, sagte er. »Ich bin jetzt gerade in der Stimmung dazu, ich könnte mich auf die Arbeit konzentrieren.«

Als sie aber später in das Atelier kam, sah sie, wie er andere angefangene Bilder betrachtete.

»Ein paar Wochen Arbeit an diesem Bild, Stella, und bei Gott, es könnte etwas daraus werden. Durch ein solches Bild bin ich damals in die Akademie aufgenommen worden!«

»Warum fängst du denn nicht einmal wirklich an, Vater? Zieh deinen Arbeitskittel an und beginne gleich.«

»Ach, das eilt doch nicht so sehr! Wir haben noch viel Zeit«, erwiderte er leichtfertig. »Ich will einmal sehen, ob ich nicht den Trainer finde. Eine Runde Golf würde mich jetzt richtig auf die Höhe bringen.«

Später sah sie, wie er mit dem Trainer zum Golfplatz ging; ein Junge trug ihnen die Geräte nach. Nelson schien alle Sorgen vergessen zu haben, weder an morgen zu denken, noch sein Betragen von gestern zu bedauern.

Als er zu Tisch zurückkam, war er in glänzender Stimmung, und sie wußte, daß alle guten Vorsätze längst vergessen waren.

»Es ist immer von Nutzen, wenn man weiß, wann man aufhören muß, Stella. Das ist eben der Unterschied zwischen einem Mann und einem Narren. Ich weiß immer, wann ich genug habe. Ich bin ein Künstler, und daher kommen all die Unannehmlichkeiten. Meine Phantasie schwelgt in rosigen Träumen, dann trinke ich rein mechanisch, ohne überhaupt zu wissen, daß ich etwas zu mir nehme.« Er lachte vergnügt und kniff sie in die Wange. »Mache dir nur keine Sorge, in einer Woche ist der Pygmalion fertig. Du denkst natürlich wieder, daß es nur ein leeres Versprechen ist, aber ich kann dir nur sagen, mein Liebling, als ich ein junger Mann war und das große Gemälde schuf, dem ich meinen Namen verdanke – Sokrates, den Schierlingsbecher trinkend –, da habe ich am Sonntagmorgen angefangen und am Dienstagabend war das riesengroße Bild fertig. Ich habe allerdings später noch einige Lichter aufgesetzt.«

»Hast du im Klub etwas getrunken, Vater?«

Der Klub war ein kleines Gebäude am Ende der Straße. Es war wohl der Golfklub mit der geringsten Mitgliederzahl der Welt.

»Ach, nur einen Whisky Soda«, erwiderte er leichthin.

Kenneth Nelson hatte, wie viele Neurotiker, die Gewohnheit, alle Gedanken zu unterdrücken, die ihm nicht angenehm waren. Er konnte alles aus seinem Denken ausschalten, was ihm mißfiel, alle Erinnerungen, deren er sich schämen mußte. Er betrachtete das als eine große Begabung. Er liebte es, weise Aussprüche zu gebrauchen, und er brachte sie stets so vor, als ob sie von ihm selbst stammten.

»Nebenbei bemerkt, Stella, wir haben Besuch im Gästehaus. Das ist die ausgleichende Gerechtigkeit!« Er lachte. »Bellingham war ein Dieb, ein Einbrecher! Bei Gott, ich hätte nicht ruhig schlafen können, wenn ich das gewußt hätte.«

Stella überlegte, was Scottie wohl zu einem Einbruch in dieses Haus hätte veranlassen sollen, wenn er nicht unvollendete Bilder stehlen wollte.

Noch bevor ihr Vater weitersprach, wußte sie, was er sagen würde.

»Der Detektiv wohnt dort?« fragte sie schnell.

»Ja, er hält sich ein paar Tage hier auf – ein sehr interessanter Mann, äußerst liebenswürdig. Er ist gewissermaßen ein Gast Mr. Merrivans. Du weißt doch, daß der immer die sonderbarsten Leute aufgreift, gewöhnlich sind es ganz unmögliche Menschen. Aber diesmal hat er Glück gehabt. Dieser Detektiv – Andrew wie zum Teufel heißt er doch sonst noch – es ist ein schottischer Name – ich kann all diese Macs nicht auseinderhalten.«

»Macleod.«

»Ja, Andrew Macleod, so heißt er. Das ist derselbe, der hierhergeschickt wurde, um den Einbrecher zu verhaften. Das hat er auch tatsächlich sehr fein gemacht. Er ist ein ausgezeichneter Beamter. Es ist ungewöhnlich, einen Detektiv zu finden, der zugleich auch Gentleman ist. Würdest du nicht auch gern seine Bekanntschaft machen? Er würde dich sicher interessieren.«

»Nein«, sagte sie so schnell, daß er sie überrascht anschaute. »Ich interessiere mich wirklich nicht für ihn, und außerdem habe ich ihn ja schon gestern auf dem Postamt gesehen – er gefällt mir nicht.«

Mr. Nelson gähnte und schaute auf die Uhr.

»Ich muß jetzt gehen, ich habe Pearson versprochen, zu einer Bridgepartie zu kommen. Würdest du nicht zum Tee nachkommen?«

Sie ärgerte ihn nicht mehr durch unangenehme Fragen nach dem unvollendeten Pygmalion. Vor drei Jahren, als sie aus dem Pensionat gekommen war, wäre sie erstaunt gewesen, daß er seine guten Absichten so schnell vergessen konnte. Sie hätte ihm dann zugeredet, den Nachmittag im Atelier zu bleiben, und er hätte ihr geantwortet, daß er am nächsten Morgen ganz früh aufstehen werde, um einen guten Anfang zu machen. Und wenn sie ihn heute gebeten hätte, zu Hause zu arbeiten, hätte sie wahrscheinlich dieselbe Antwort bekommen. Also ließ sie den Dingen ihren Lauf. Ihr krampfhaftes Bemühen, dem Schicksal zu entkommen, war nutzlos – es ließ sich nicht mehr aufhalten.

Stella hatte an diesem Morgen einen Brief von Artur Wilmot vorgefunden und ihn ungelesen zerrissen und in den Papierkorb geworfen. Der Gedanke an ihn bedrückte sie am wenigsten.

Auch in dem Erscheinen des Detektivs lag etwas Schicksalhaftes. Er mußte ja seine Pflicht tun. Sie war auf das Schlimmste vorbereitet. Auch er würde in all das Unglück verkettet sein, das über sie hereinbrechen mußte.

Am Nachmittag bekam sie über eine Stellenvermittlung zwei ungeschulte Dienstboten. Es waren ungeschliffene Landmädchen, die sie anstarrten und lachten, als sie ihnen zeigte, wie sie alles anfassen mußten. Es wäre vergebene Mühe gewesen, sich nach gelernten Leuten umzusehen, denn die hatten alle von Kenneth Nelson und seinen Verrücktheiten gehört.

Stellas kleine, geheimgehaltene Reservesumme, die immer mehr und mehr zusammenschmolz, ermöglichte es ihr, die Löhne der entlassenen Dienstboten zu zahlen.

Sie hatte eben versucht, der neuen Köchin beizubringen, wie man guten Tee aufgießt, als Mr. Merrivan sich dem Hause näherte. Sie hatte ihn schon durch das Fenster gesehen und öffnete selbst die Haustür.

Sein Besuch war ihr unangenehm, obwohl sie ihn ganz gut leiden konnte. Aber auch er gehörte nun einmal zu den Unvermeidlichkeiten des Schicksals, und dieser Gedanke machte sie ruhiger.

»Ich komme in einer sehr heiklen Angelegenheit, Miss Nelson«, begann er und schüttelte den Kopf, als ob er durchaus schon ausdrücken wollte, daß er sich zur Lösung seiner Aufgabe nicht fähig fühle. »Wirklich, eine sehr heikle Angelegenheit. Ich weiß kaum, wie ich anfangen soll –«

Sie wartete und fürchtete schon, daß er sie an eine frühere Schuld erinnern würde, die sie ihm aber glücklicherweise hatte zurückzahlen können. Sie atmete erleichtert auf, als sich herausstellte, daß er gekommen war, um das brutale Auftreten seines Neffen zu entschuldigen.

»Ich kann nur vermuten, was er zu Ihnen gesagt hat. Gestatten Sie, daß ich Platz nehme?«

Sie schob ihm einen Sessel hin. Er setzte sich langsam und dankte umständlich.

»Er hat Sie so schwer beleidigt, daß Sie ihm eigentlich nicht verzeihen können«, begann er, aber sie unterbrach ihn sofort.

»Wir wollen nicht mehr darüber sprechen, Mr. Merrivan. Artur ist noch sehr jung und weiß nicht, wie man mit Frauen umgeht.«

»Meinen Sie?« fragte er. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen darin widersprechen muß. Er weiß genug über Damen, um seine Pflichten Ihnen gegenüber zu kennen.«

»Hat er Ihnen denn alles erzählt?« Sie war erstaunt, daß Merrivan von dem Vorfall unterrichtet war.

»Ja, er hat es mir gebeichtet, und er bat mich, meinen Einfluß bei Ihnen geltend zu machen.« Er räusperte sich. »Ich habe ihm aber geantwortet«, sagte er dann langsam und nachdrücklich, »daß er sich keine Hoffnungen zu machen brauchte. Ich würde den Heiratsantrag eines andern nicht unterstützen.«

Es trat eine Pause ein, und sie dachte über seine Worte nach.

»Eines anderen?« wiederholte sie dann. »Sie wollen doch nicht etwa sagen, ach nein – das können Sie doch nicht meinen –«

»Doch, ich meine mich selbst«, entgegnete Mr. Merrivan ruhig. »Aber der Altersunterschied zwischen uns ist vielleicht ein unüberwindliches Hindernis für unser Glück, Miss Nelson.«

»Nein, Ihr Alter hat damit nichts zu tun, Mr. Merrivan«, erwiderte sie hastig. »Ich werde überhaupt nicht heiraten. Aber das ist doch nicht Ihr Ernst? Sie wollen mich ja gar nicht heiraten.«

»Ich meine es wirklich im Ernst«, erklärte Darius Merrivan feierlich. »Ich habe diesen Schritt lange bedacht, Miss Nelson. Und mit jedem Tag wurde es mir klarer, daß Sie die einzige Frau auf der Welt sind, mit der ich glücklich werden könnte.«

Stella lachte: »Ich hätte es mir nie auch nur im Traum einfallen lassen, daß Sie – es ist mir natürlich eine große Ehre, Mr. Merrivan. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich das zu schätzen weiß – Sie waren immer so gut zu mir.«

Er hob abwehrend die Hand. »Wir wollen nicht davon sprechen. Ich kann Ihnen –«

»Moment!« unterbrach sie ihn schnell. »Ich werde unter keinen Umständen heiraten, das ist die reine Wahrheit. Ich bin noch sehr jung und habe keine bestimmten Vorstellungen von der Ehe. Ich habe weder gegen Sie etwas, Mr. Merrivan, noch gegen Artur. Der einzige Grund meiner Ablehnung ist mein Entschluß, wenigstens jetzt noch nicht zu heiraten.«

Er nahm ihre Antwort so ruhig auf, als ob er keinen anderen Bescheid erwartet hätte, und war nicht im geringsten gekränkt.

»Es hat ja noch Zeit. Ich kann auch nicht erwarten, daß Sie sich auf der Stelle entscheiden – aber ich werde die Hoffnung nicht aufgeben.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, es ist besser, Sie hoffen nicht mehr. Ich habe Sie gern, und Sie sind mir immer sehr freundlich entgegengekommen, aber ich will sie ebensowenig heiraten wie Ihren Neffen. Es ist eine ganz unwiderrufliche Antwort.«

Er machte keine Anstalten, sich zu erheben. Er saß ruhig da, strich seine dicken Backen und schaute an ihr vorbei.

»Sind Ihre Verhältnisse jetzt besser und geregelter, Miss Nelson?«

»Ja, es geht uns jetzt sehr gut«, erwiderte sie strahlend.

»Haben Sie gar keine Sorgen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich möchte noch etwas mit Ihnen besprechen – ich bin ein reicher Mann und ohne Verwandte. Wenn Ihnen zweitausend Pfund über diese schlechten Zeiten hinweghelfen können, so brauchen Sie es mir nur zu sagen:«

»Nein, Mr. Merrivan. Es ist sehr großzügig und liebenswürdig von Ihnen. Ich habe ein einziges Mal Ihre Güte in Anspruch genommen, und es war eine böse Erfahrung für mich. Sie waren sehr entgegenkommend, aber ich kann von Ihnen nichts mehr annehmen.«

Er erhob sich, wischte ein Stäubchen von seinem Ärmel und nahm seinen Hut.

»Artur weiß es«, sagte er. »Ich habe es ihm gesagt.«

»Was haben Sie ihm gesagt?« fragte sie verwirrt.

»Daß ich die Absicht hatte, Sie um Ihre Hand zu bitten. Er war sehr heftig, Miss Nelson, und er drohte – ich glaube, er drohte, mich umzubringen.« An der Tür wandte er sich noch einmal um. »Hat er Ihnen übrigens etwas davon gesagt, daß er Ihr Geheimnis kennt?«

»Hat er Ihnen auch das gesagt?«

»Nein, das habe ich nur vermutet. Er wußte, daß Sie Geld von mir geliehen hatten. Woher er es wußte, ist mir unbegreiflich. Aber vielleicht kann ich Sie doch dazu bewegen, Ihre Ansicht zu ändern –«

Sie schüttelte den Kopf.

Er stand in der Tür und schaute in den Garten hinaus. Seine Hand lag auf der Klinke.

»Wann haben wir eigentlich den Vierundzwanzigsten?« fragte er, ohne sie anzusehen.

Es verging einige Zeit, bevor sie antwortete.

»Am nächsten Montag«, sagte sie dann schwer atmend und blieb regungslos stehen, als er die Tür hinter sich schloß.

So wußte er es also. Er wußte es wirklich. Und der Detektiv war nur hierhergekommen, um Merrivan zu unterstützen.

 

7

 

Andy brachte zwei unangenehme Tage in Beverley Green zu. Sie waren deshalb unangenehm, weil der einzige Mensch, dem er gerne begegnet wäre, ihn ängstlich mied. Einmal sah er ein junges Mädchen auf der anderen Seite der Straße gehen. Zwei große Hunde begleiteten es, die unruhig herumliefen. Er beschleunigte seine Schritte, erkannte dann aber, daß es Miss Sheppard war, eine junge Dame, der er auf dem Golfplatz vorgestellt worden war.

Am ersten Abend speiste er mit Mr. Merrivan und Mr. Sheppard, dem Architekten. Dieser Mann war so zurückhaltend, daß es Andrew schwerfiel, sich ein Bild von seiner Persönlichkeit zu machen.

Mr. Merrivan war Junggeselle, aber, wie er seinen Gästen erzählte, kein unverbesserlicher. Er würde sich gern von den Annehmlichkeiten der Ehe überzeugen lassen.

»Wirklich?« fragte Macleod.

Andy überlegte sich, welche Frau Merrivan wohl heiraten würde. Mr. Sheppard dachte überhaupt nicht mehr nach. Er machte den Eindruck, daß er aufgehört hatte nachzudenken, nachdem er genügend Geld erworben hatte, um sich zur Ruhe setzen zu können.

»Meine Herren«, sagte Mr. Merrivan wieder und sprach jetzt ganz leise, als ob es sich um ein großes Geheimnis handelte, »so schön es hier auch ist und so angenehme und reizende Menschen hier leben, so habe ich doch für meine Zukunft andere Pläne. Kennen Sie den Corner See, Doktor Macleod? Ich habe dort eine Villa gekauft – die Villa Frescoli –, ein hübscher, ruhiger Flecken der Erde, wo ich glücklicher zu werden hoffe als hier in Beverley.«

Andy wurde nachdenklich. Mr. Merrivan war nicht der Mann, der nur renommierte. Die Villa Frescoli war nicht klein, sie glich eher einem Palast. Es war ein großes Gebäude aus weißem Marmor. Die Bezeichnung ›Villa‹ schien kaum für dieses majestätische, herrliche Haus zu passen, das ursprünglich für einen russischen Großfürsten erbaut worden war.

Mr. Merrivan gewann in Macleods Augen neues Interesse. Er hatte schon gehofft, daß die Nelsons nach dem Abendessen zu einem kurzen Besuch herüberkommen würden. Aber die Umgangsformen waren hier steifer und konventioneller, als er vermutet hatte. Die Nachbarn besuchten einander nicht, in Beverley Green lebte jede Familie für sich.

Mr. Sheppard brach früh auf, und Andy ging mit seinem Gastgeber in dessen Arbeitszimmer, um dort eine Tasse Kaffee zu trinken.

Er war nun in dem Raum, in dem sich gestern Mr. Merrivan und Wilmot unterhalten hatten, als er ihr Gespräch belauschte. Es war ein eigenartiges, langgestrecktes Zimmer, das schmaler erschien, als es in Wirklichkeit war. Es lief von der Vorderfront zur Rückseite des Hauses. Durch zwei große Fenster konnte man vorn auf die Straße und hinten in den Garten sehen. In die Mitte der einen Wand war ein großer, schön verzierter Kamin eingebaut, der besser in ein Schloß gepaßt hätte, denn der Raum erschien dadurch wenig gut proportioniert, vor allem zu niedrig. Die Wände hatten Eichentäfelung.

Andy sah keinen Bücherschrank. Offenbar machte sich Mr. Merrivan wenig aus Literatur und gab sich auch keine Mühe, seine gelegentlichen Besucher über diese Tatsache zu täuschen. Aber kostbare Radierungen schmückten die Wände. Andy bemerkte einige wertvolle Arbeiten von Zorn, und Mr. Merrivan zeigte ihm Handzeichnungen bekannter Künstler.

Mr. Merrivan wußte wohl selbst, daß der Kamin eigentlich nicht hierhergehörte. Er hatte das Stück auf der Auktion im Stockley-Schloß erworben. Das Wappen der Stockleys war auch oben am Sims angebracht. Die anderen Möbel waren gut und modern. Zwei Ottomanen waren in den Fensternischen untergebracht, und außer dem Schreibtisch, der im vorderen Teil des Zimmers nach der Straße zu stand, waren noch ein großer Tisch und ein schön geschnitztes chinesisches Schränkchen vorhanden. Daneben luden bequeme Armsessel zum Ausruhen ein.

»Ich bin ein einfacher Mann und habe dementsprechend einen einfachen Geschmack«, behauptete Mr. Merrivan. »Mein Neffe sagt immer, daß dieses Zimmer fast wie ein Büro aussehe. Nun, ich habe immer ein sehr bequemes Büro gehabt. Rauchen Sie, Herr Doktor?«

Andy wählte eine Zigarette aus dem Silberkasten, der ihm zugeschoben wurde.

»Finden Sie nicht, daß es hier sehr ruhig ist?«

Andy lächelte. »Ja, es herrscht eine wohltuende Stille hier.«

Mr. Merrivan freute sich über das Lob.

»Ich selbst bin sozusagen der Gründer des Ortes. Ich habe diese Häuser nacheinander gekauft. Einige sind schon sehr alt, obwohl Sie das vielleicht nicht glauben werden. Ich habe Beverley Green eigentlich so angelegt, wie Sie es jetzt sehen. Ich verkaufte ein Haus nach dem anderen und habe dabei nicht einen Schilling verdient.«

Andy war sehr erstaunt.

»Das war aber wenig geschäftstüchtig von Ihnen.«

»An Geschäft habe ich dabei überhaupt nicht gedacht«, erklärte Mr. Merrivan. »Meine Absicht war, die richtigen Leute hierherzubringen. Aber ich fürchte, es ist mir nicht ganz gelungen. Die Menschen sind nicht alle so, wie sie scheinen, auch verschlechtert sich mit der Zeit der Charakter mancher Leute. Aber für Sie in Ihrem rastlos tätigen Leben, lieber Doktor, muß der Aufenthalt in Beverley Green doch eine Erholung sein.«

Das Gespräch wandte sich dann dem Thema »Verbrechen und Verbrechen zu. Es war aber weniger eine Unterhaltung als ein Ausforschen von seilen Mr. Merrivans. Macleod gab längere oder kürzere Antworten, je nach dem Interesse, das er Mr. Merrivans Fragen entgegenbrachte.

»Haben Sie bei Ihren vielen Erkundungen jemals einen gewissen Albert Selim kennengelernt?« Merrivan sprach zögernd.

»Dieselbe Frage hat erst vor kurzem jemand an mich gestellt. Wer war es doch gleich? Auf jeden Fall ist mir Selim noch nicht begegnet. Er soll einen sehr gemeinen Charakter haben.«

»Er ist ein Wucherer, und ich habe allen Grund anzunehmen, daß er auch ein Erpresser ist«, sagte Mr. Merrivan ernst. »Glücklicherweise bin ich niemals in seine Klauen geraten, aber andere Leute – können Sie mir nicht sagen, wer von ihm gesprochen hat? War es nicht Mr. Nelson?«

»Nein, ich glaube, es war Mr. Boyd Salter.«

»Sehen Sie einmal an«, sagte Merrivan belustigt. »Unser vornehmer Ortsvorstand. Wirklich ein netter Mann, dieser Mr. Boyd Salter. Kennen Sie ihn gut?«

»Ich habe ihn nur kurz kennengelernt. Ich brauchte eine Unterschrift als Friedensrichter für die Überführung meines Gefangenen.«

»Ein äußerst liebenswürdiger Herr, nur schade, daß wir sowenig von ihm sehen. Er ist schwer nervenkrank, wie mir erzählt wurde.«

Andy erinnerte sich an den behutsamen Diener und an die tiefe Ruhe im Haus.

Kurz darauf empfahl er sich. Andy wollte allein sein, es zog ihn nach Nelsons Villa. Es scheint, daß ich meine Zeit hier nur damit zubringe, an fremden Türen zu lauschen, dachte er. Er stand jetzt dem Haus des Künstlers gegenüber und war sehr bestürzt, als er drinnen einen Mann fürchterlich schreien hörte. Gerade öffnete sich die Tür, und zwei Frauen stürzten aufgeregt und schimpfend heraus. Nelson lief mit langen Schritten hinter ihnen her. Er trug nur Hose, Oberhemd und Pantoffeln. Andy vermutete, daß er betrunken war, obwohl er noch keinen Betrunkenen gesehen hatte, der so gerade ging und so klar und deutlich sprach.

»Laßt euch hier nicht wieder sehen, ihr –«, es folgte ein Ausbruch wüster Schimpfnamen.

»Vater!« Stella war bereits an seiner Seite und legte ihren Arm in den seinen. »Es ist besser, wenn du jetzt hereinkommst.«

»Ich gehe nicht hinein! Ich tue, was mir paßt! Mach, daß du auf dein Zimmer kommst!« Er zeigte theatralisch auf die Haustür. »Soll ich mir vielleicht von diesen Scheuerfrauen, diesen schlampigen Weibern, alles gefallen lassen – ich, Kenneth Nelson, Mitglied der Königlichen Akademie? Ich dulde das nicht!«

»Komm doch bitte ins Haus, Vater. Willst du denn wirklich ganz Beverley zum Zeugen haben –«

»Dieses verdammte Nest! Ich bin erhaben über Beverley Green, wo nur Marmeladenfritzen wohnen – geh auf dein Zimmer, Stella!«

Aber sie rührte sich nicht.

Andy glaubte, daß es jetzt Zeit sei, sich bemerkbar zu machen.

»Ach, guten Abend, Mr. Macleod!« Nelson war plötzlich so liebenswürdig, daß man ihn fast nicht wiedererkannt hätte.

»Guten Abend, Mr. Nelson. Ich möchte gern noch ein wenig mit Ihnen plaudern.«

Er nahm den Maler am Ann und führte ihn ins Haus. Stella folgte ihnen.

Sie war dankbar, obgleich sie sich fürchtete. Und doch war sie auch wieder begierig, mehr von diesem Mann zu erfahren und ihn aus der Nähe zu sehen. Sie fühlte sich gedemütigt, daß sie ihn in einer so peinlichen Situation kennenlernen mußte. Das erste, was sie an ihm beobachtete, war seine Kraft. Sie sah, daß er gewohnt war, mit Leuten umzugehen, und spürte etwas von der überlegenen Wirkung seiner Persönlichkeit. Vielleicht überschätzte sie seinen Einfluß, weil ihr Vater ihm so gehorsam und ohne Widerstreben folgte.

»Ich habe gerade zwei unverschämte Dienstmädchen hinausgeworfen, zwei ganz gemeine Weiber, Mr. Macleod«, sagte Nelson, der plötzlich wieder in seinen alten, anmaßenden Ton verfiel. »Diese Leute aus den unteren Schichten führen sich immer unerträglicher auf. Stella, ich kann deine Wahl eigentlich nicht billigen – wirklich, die beiden haben mich sehr enttäuscht. Hole Mr. Macleod jetzt etwas zu trinken. Ich werde zur Gesellschaft ein Gläschen mittrinken.«

»Nun, dann trinken wir am besten ein Gläschen Wasser miteinander«, meinte Andy lächelnd.

»Wasser!« rief Nelson verächtlich. »Solange ich noch ein Haus und einen Keller habe, geht kein Gast von meiner Schwelle, lieber Freund, ohne daß ich ihm nicht einen Becher dieses schönen Getränkes aus Schottland kredenzt habe!« Er lachte unbändig.

Andy hatte erwartet, Stella niedergeschlagen und bedrückt zu sehen. Die Selbstbeherrschung, die sie in diesem kritischen Augenblick bewahrte, verriet, daß sie an solche Szenen gewöhnt war. Sie tat ihm unendlich leid, sie schien noch sehr jung zu sein, fast noch ein Kind. Er bewunderte die zarte Reinheit ihrer Haut, die Anmut ihrer Gestalt. Und doch war es nicht das, was ihn so tief ergriff.

Sie machte keinen Versuch, Whisky zu holen, denn sie wußte, daß keiner im Hause war.

»Der Keller ist leer, Vater«, erwiderte sie trocken. »Die Winzer streiken.«

Der Spott brachte ihn wieder zur Raserei, und er drehte sich wütend nach ihr um, aber Andys Blick bannte ihn.

»Miss Nelson, könnte ich Ihren Vater ein paar Minuten allein sprechen? Ich möchte etwas mit ihm beraten.«

Sie nickte und ging hinaus.

»Aber, mein Lieber ...« versuchte Nelson schwach zu protestieren.

»Sie nannten mich vorhin Mr. Macleod – Sie haben vergessen, daß ich Arzt bin. Haben Sie in der letzten Zeit einen Arzt konsultiert?«

»Nein, das hatte ich nicht nötig, meine Gesundheit ist in bester Ordnung«, erwiderte Mr. Nelson trotzig.

»Davon ist sie so weit entfernt, daß Sie dicht vor einem vollständigen Zusammenbruch stehen, von dem Sie sich niemals wieder ganz erholen werden. Ohne daß ich Ihr Herz untersucht habe, kann ich Ihnen sagen, daß sie böse Kreislaufstörungen haben. Nun erschrecken Sie, weil Sie wissen, daß ich recht habe. Sie werden das nächste Jahr nicht überleben, wenn Sie nicht aufhören zu trinken.«

Nelson blinzelte.

»Sie wollen mir nur Angst einjagen. Ich weiß selbst, daß es nicht richtig ist zu trinken. Aber ich bin doch noch nicht so kindisch, wie Sie denken. Ich trinke ja nur, weil ich soviel Sorgen habe, Mr. – Doktor Macleod.«

»Sie können sich die meisten Sorgen ersparen, wenn Sie keinen Whisky mehr anrühren. Gestatten Sie, daß ich morgen wiederkomme und Sie untersuche? Wer ist eigentlich Ihr Arzt?«

»Doktor Granitt aus Beverley. Ich habe ihn aber niemals meiner eigenen Gesundheit wegen zu Rate ziehen müssen. Er hat meine arme Frau während ihrer letzten Krankheit behandelt.«

»Nun gut, ich werde Sie untersuchen, und er kann dann Ihre Behandlung übernehmen. Wir werden Sie zusammen ein zweites Mal untersuchen.«

»Ich weiß aber gar nicht, warum«, begann Nelson in seinem alten anmaßenden Ton.

Aber Andy überging seine Einwände.

»Ich möchte Ihre Tochter nicht zu sehr erschrecken«, sagte er leise, »Wir werden deshalb nicht weiter über die Sache sprechen, wenn sie kommt.«

Als Stella gleich darauf wieder in das Zimmer trat, fand sie ihren Vater lammfromm, bescheiden und ruhig. Kenneth Nelson empfand nun doch eine gewisse Furcht und konnte sich davon nicht so schnell erholen.

»Ich glaube, es ist besser, wenn ich zu Bett gehe, Stella. Ich habe mich schon während der letzten Tage nicht wohl gefühlt.« Andy amüsierte sich über ihn, aber er ließ sich nichts merken. Er ging zur Tür und wartete dort, bis Stella einen kleinen Schal umgelegt hatte. Er war aus schwarzer Seide und trug in einer Ecke ein roteingesticktes Monogramm. Alles an ihr interessierte ihn in hohem Maße. Als sie miteinander zum Gartentor gingen, erzählte er ihr, was er mit ihrem Vater besprochen hatte.

»Ich weiß sehr wohl, daß er nicht an Kreislaufstörungen leidet, aber ich werde Doktor Granitt besuchen. Ich kenne seinen Sohn sehr gut – wir waren zusammen auf der Universität. Wir können uns ja irgendeine komplizierte Krankheit ausdenken, die Ihrem Vater das Trinken zum mindesten auf eine längere Zeit verleidet.«

»Ja, vielleicht ist das möglich«, sagte sie unsicher.

»Sie haben keine Hoffnung mehr?«

»Mit der Zeit verliert man sie.«

»Ich möchte Ihnen darauf etwas erwidern. In London gibt es Taxis, die einem gewissen Stadmere gehören. Diese Stadmere-Wagen sind die besten ihrer Art. Ich habe mir angewöhnt, wenn ich nicht gerade in der größten Eile bin, auf ein solches zu warten. Dabei ist mir aufgefallen, daß sofort ein Stadmere-Taxi auftaucht, wenn man sich fest entschließt, ein solches zu nehmen.«

»Das ist ein Gleichnis.« Sie lächelte. »Aber ich warte auf etwas, das mehr ist als ein Stadmere-Taxi – ich warte auf ein Wunder.«

»Ich habe sogar erlebt, daß Wunder geschehen, und es lohnt sich wirklich, auf sie zu warten. Wenn man jung ist, verrinnen die Tage schnell, und die Jahre erscheinen wie Ewigkeiten, so daß man ungeduldig wird.«

»Sie sprechen wie ein alter Mann«, versuchte sie zu scherzen, obwohl ihr nicht danach zumute war.

»Das mag stimmen. Zwar, werde ich auch noch manchmal ungeduldig, aber ich habe das Warten gelernt!«

Er hielt ihre Hand einen Augenblick in der seinen. Sie sah ihm nach, als er über den Rasen davonschritt, bis seine Gestalt immer undeutlicher wurde und im Tor des Gästehauses verschwand.

 

8

 

Tage vergingen. Andy beschloß, noch eine weitere Woche zu bleiben. Er suchte Dr. Granitt auf und beriet mit ihm. Der Dorfarzt besuchte Nelson auch, und obwohl er keine Kreislaufstörungen feststellen konnte, ließ er seinen Patienten doch mit dem Eindruck zurück, daß er eine ganze Anzahl böser Leiden habe.

Andy hatte Stella nur einmal aus der Entfernung wiedergesehen. Sein Urlaub näherte sich nun seinem Ende, und es wäre wirklich ratsam gewesen, wenigstens die letzte Woche noch mit Fischen und Angeln zu verbringen, wie er es ursprünglich geplant hatte. Aber sein Zimmer im Gästehaus war wirklich schön, der Golfplatz ausgezeichnet, und es war eigentlich kein Grund vorhanden, warum er nun gerade fischen sollte.

Am Sonntag ging er sogar zur Kirche. Das geschah etwas plötzlich, denn er hatte noch im Pyjama gesessen, als er Stella Nelson mit ihrem Gesangbuch vorbeigehen sah. Zehn Minuten nach ihr betrat auch er das Gotteshaus und ließ sich auf einer Bank nieder, von der aus er sie gut von der Seite sehen konnte. Nach Schluß des Gottesdienstes wartete er auf sie, und sie gingen zusammen nach Beverley Green zurück.

»Ich habe gehört, daß Sie uns morgen verlassen wollen?« fragte Stella.

»Ich hatte ursprünglich die Absicht, morgen abzureisen, aber wahrscheinlich werde ich noch einige Tage hierbleiben, wenn man mich nicht aus dem Gästehaus hinauswirft.«

»Bei uns wird niemand hinausgeworfen, außer von der Polizei«, sagte sie ein wenig boshaft. Er lachte.

Als sie über die Straße gingen, kam ihnen ein Mann entgegen. Er wandte sich plötzlich um und verschwand in einer Seitenstraße.

»Es sieht so aus, als ob Mr. Sweeny mir nicht begegnen möchte«, meinte sie lächelnd.

»Ich hatte denselben Eindruck. Wer ist eigentlich dieser Mr. Sweeny?«

»Er war früher bei Mr. Merrivan als Hausmeister angestellt, aber ich glaube, er mußte die Stelle unter ein wenig sonderbaren Umständen verlassen. Er ist sehr schlecht auf Mr. Merrivan zu sprechen.«

Sie war erstaunt, denn sie hatte Sweeny nicht zugetraut, daß er ihr so taktvoll aus dem Wege gehen würde, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen und sie an ihre letzte Begegnung zu erinnern.

Gleich darauf trafen sie Mr. Merrivan, von dem sie eine Erklärung über Mr. Sweenys Besuch erhielten. Er trat zu ihnen, als sie gerade an der Gartentür des Nelsonschen Hauses standen.

»Guten Morgen, Miss Nelson!« sagte er freundlich. »Haben Sie auch diesen niederträchtigen Sweeny getroffen? Dieser gemeine Kerl! Ich hätte nicht gedacht, daß er die Frechheit besitzt, sich in Beverley Green zu zeigen. Ich faßte den Menschen doch ab, als er bei meinem Haus herumspionierte – vielmehr mein Gärtner hat ihn gesehen. Wenn ich nun wie gewöhnlich zur Kirche gegangen wäre, hätte ich wahrscheinlich überhaupt nicht erfahren, daß er hier war. Diese Dienstboten stecken doch alle unter einer Decke.«

Andy wunderte sich, daß es ein so großes Verbrechen war, Mr. Merrivans Grundstück zu betrachten. Aber der redselige Mann erzählte ihm, daß Sweeny ein Loch in die Hecke gemacht habe, um hindurchzuspähen, und daß sein wachsamer Gärtner ihn gerade in diesem Augenblick entdeckt hatte.

An diesem Tage ereignete sich nichts Besonderes. Das Schicksal, das drohend über Beverley Green hing und es weithin bekannt machen sollte, brach erst in der Nacht herein.

Stella saß in der Halle und las. Sie war gerade bei ihrem Vater oben gewesen, um ihn für die Nacht zu versorgen, denn Mr. Nelson hatte den Rat der Ärzte gewissenhaft befolgt und sein Zimmer nicht verlassen, seitdem Andy ihn gewarnt hatte.

Sie blätterte gerade eine Seite um, als sie ein leises Klopfen am Fenster hörte. Einen Augenblick lauschte sie, da sie glaubte, sich getäuscht zu haben. Vielleicht tropfte der Wasserhahn in der Küche. Aber dann vernahm sie wieder deutlich dasselbe Geräusch, legte das Buch nieder und stand auf. Sie war keineswegs ängstlich, denn Artur Wilmot hatte sich früher häufig auf diese Weise bemerkbar gemacht.

Sie zog den Vorhang beiseite und schaute in den Garten hinaus, konnte aber nichts sehen. Düstere Wolken waren schon am Nachmittag von Südwesten heraufgezogen, und der Mond war nicht zu sehen. Sie ging zur Haustür und wollte eben öffnen, als sie einen Brief auf dem Boden liegen sah. Er mußte unter der Tür durchgeschoben worden sein. Es stand keine Adresse auf dem Umschlag, und nachdem sie einen Augenblick gezögert hatte, riß sie ihn auf. Es war ein vier Seiten langes Schreiben. Zuerst dachte sie, der Brief käme von Artur. Sie hatte in den letzten Tagen noch verschiedene Briefe von ihm erhalten, aber sie hatte sie ungelesen vernichtet.

Sie las die Unterschrift, hielt einen Augenblick bestürzt inne, begann dann aber doch zu lesen. Je weiter sie kam, desto größerer Schreck ergriff sie. Sie ging in die Küche und trank ein Glas Wasser. Sie las weiter. Jeder Satz traf sie wie ein Dolchstoß. Voller Zorn warf sie das Schreiben ins Feuer. Dann öffnete sie die Schublade eines Schrankes und nahm einen kleinen Revolver heraus, der ihrem Vater gehörte. Vor langer Zeit hatte sie die Waffe einmal weggeschlossen, als sie sich noch von den Drohungen einschüchtern ließ, die er in seiner Trunkenheit ausstieß. Sie zog auch eine kleine grüne Pappschachtel hervor, die mit Patronen gefüllt war. Mit einem Staubtuch reinigte sie den Revolver, öffnete ihn und lud ihn mit drei Patronen. Dann ging sie in ihr Zimmer, zog einen dunklen, weiten Mantel an und steckte die Waffe in die Tasche.

Als sie wieder unten in der Halle stand, tat es ihr leid, daß sie den Brief in ihrer Erregung verbrannt hatte. Jetzt war sie wieder vollkommen kühl und ruhig. Sie warf noch ihren Schal um und überzeugte sich, daß sie den Hausschlüssel in der Tasche hatte, bevor sie die Tür zuschlug.

An der Gartenpforte blieb sie stehen und schaute zum Gästehaus hinüber. Einen kurzen Augenblick war sie versucht, Andy all ihre Sorgen und ihren Kummer anzuvertrauen – aber sie überwand sich. Wie absurd wäre es gewesen, einem Polizeibeamten zu beichten!

Sie ging hinaus ins Dunkel. Es kam ihr zum Bewußtsein, daß ihr nun auch der letzte Hoffnungsschimmer genommen war.

Andy Macleod hatte seine Pläne an diesem Tag schon zum drittenmal geändert. Morgen würde er endlich abreisen. Er war eben doch ein sentimentaler Mensch. Dieses Eingeständnis war wirklich beschämend für einen vernünftigen Mann von fünfunddreißig Jahren.

Er ging zu Nelsons Haus hinüber. Doch als er sah, daß kein Fenster erleuchtet war, kehrte er wieder in sein Zimmer zurück und versuchte zu lesen. Aber bald legte er das Buch weg und ging zu Bett. Er war schon nach wenigen Minuten fest eingeschlafen.

Ein heftiges Klopfen an der Tür weckte ihn plötzlich auf.

»Wer ist dort?«

»Johnston, der Hausmeister – kann ich Sie einen Augenblick in einer sehr dringenden Sache sprechen?«

Andy Macleod machte Licht. Er sah nach der Uhr – es war drei Viertel zwei. Was mochte vorgefallen sein? Er vermutete, daß eine telefonische Nachricht von Scotland Yard für ihn gekommen sei. Wahrscheinlich brauchte man ihn wegen Scotties Verhaftung, und er verwünschte den armen Menschen.

Als er aber das Gesicht des Hausmeisters sah, wußte er, daß etwas anderes geschehen sein mußte. Johnstons Gesicht war aschfahl, und seine Lippen zitterten.

»Sir«, sagte er atemlos, »es ist etwas Fürchterliches passiert. Mr. Pearson bat mich, Sie zu rufen, bevor ich zur Polizei ginge.«

»Was gibt es denn?« fragte Andy schnell.

»Mr. Merrivan – Mr. Merrivan«, wimmerte der Mann.

»Erzählen Sie doch!«

»Tot – ermordet. – ach, es ist zu schrecklich!«

»Merrivan – ermordet? Warten Sie einen Augenblick, in ein paar Minuten komme ich hinunter. Machen Sie mir eine Tasse Tee, wenn es möglich ist.«

Er zog sich mit größter Eile an und stürzte den heißen Tee hinunter, den ihm der Hausmeister an der Treppe reichte. Jemand anders mußte bereits die örtliche Polizei benachrichtigt haben, denn ein Polizeisergeant öffnete Andy die Tür, nachdem er angeklopft hatte.

»Ich bin froh, daß Sie gekommen sind, Sir. – Das ist eine böse Geschichte. Ich habe alle Polizeistationen alarmiert.«

»Ist er tot?«

»Ja. Es ist sicher schon eine Stunde her, daß er gestorben ist. Ich habe um Doktor Granitt geschickt.«

Andy nickte.

»Wo liegt er?«

»Dort.« Der Sergeant zeigte auf das Arbeitszimmer.

Andy öffnete die Tür und betrat den langgestreckten Raum. Alle Lichter waren eingeschaltet. Unwillkürlich wandte er sich nach rechts, wo Mr. Merrivans Schreibtisch stand. Aber dort lag der Tote nicht, sondern am anderen Ende des Zimmers mit den Füßen zum Fenster. Die Arme lagen nach oben, als ob er einen Angreifer abwehren wollte, und die Gesichtszüge waren entsetzlich verzerrt.

Er mußte aus nächster Nähe erschossen worden sein, denn Andy sah Pulverspuren auf seiner weißen Weste.

Es war nicht nötig, ihn noch genauer zu untersuchen. Ein Blick auf die leblose Gestalt sagte alles.

 

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