Alexander Benzion
Eusebe Pieydagnelle
Kuriosa
Der Pfarrer von Droix Daurada
Das Gelöbnis der drei Diebe
Die Verhandlungen vor dem Schwurgericht des französischen Provinzstädtchens gingen zu Ende. Das Tatsächliche des Falles lag klar: Eusèbe Pieydagnelle hatte sich ja selbst des Mordes bezichtigt, um dessentwillen er nun vor den Geschworenen stand, und selbst die Leiche seines Opfers, des Metzgers Cristoval aus Vieuville, vor Gericht gebracht.
Der Staatsanwalt hatte gesprochen, der Verteidiger zugunsten seines Klienten das Wort ergriffen. Dem Gesetz gemäß richtete der Vorsitzende des Gerichtshofes, ehe die Geschworenen zur Beratung sich zurückzogen, die Frage an den Angeklagten, ob er noch etwas zu bemerken habe.
Da erhob sich Eusèbe Pieydagnelle zu folgenden Worten:
Gott bewahre mich, Herr Präsident, etwas zu erwidern, was auf Ihr Urteil Einfluß haben könnte! Ich danke meinem Advokaten, daß er so dummes Zeug geschwatzt hat. Ich wußte es zwar im voraus, als ich mich ihm anvertraute und ihn zu meinem Verteidiger erwählte, aber er hat meine kühnsten Erwartungen übertroffen.
Wenn ich die geringste Spur von Mitleid in Ihren Augen lesen könnte, so würde ich neue Schuldbeweise gegen mich erfinden. Doch ich bin, Gott sei Dank! gewiß, daß ich schuldig gesprochen werden muß, und brauche mir also nicht noch besondere Mühe zu geben.
Was verlangt man denn von Ihnen, meine Herren Richter? Sie sollen ein feierliches, unanfechtbares, gerechtes Urteil sprechen, welches von den Zeitungen mit tönenden Phrasen verkündigt wird und weder Ihre Seelenruhe noch Ihren Schlaf stört.
Ich aber will sterben. Sie sehen also, wir werden uns leicht verständigen.
Es ist doch seltsam, daß man mit dem Wunsche, aus diesem Leben abzuscheiden, dennoch seine Rechnung nicht selbst abschließt, wenn man auch mit der Handhabung des Messers vertraut ist. Oftmals habe ich daran gedacht, ein Ende zu machen, aber immer verlor ich den Mut, ich fürchtete mich. Die Gedanken, welche man mir in der Jugend über den Selbstmord einpflanzte, mögen mich zurückgehalten haben. Sehen Sie, ich glaube an ein Jenseits. Sie werden sagen, ich spräche Unsinn, aber stände ich denn hier, wenn ich nicht unsinnig wäre? Weil in meinem Herzen alles sich selbst widerspricht, eben deshalb bin ich ja der Elende, den Sie verurteilen sollen. Gott wird mich ebenfalls richten, und ohne Sie beleidigen zu wollen, darf ich wohl erklären: ich fürchte den Richterspruch Gottes mehr als den Ihrigen, denn die Vorsehung sieht sich die Sache zweimal an, ehe sie die Entscheidung fällt. Der Herr Staatsanwalt hat mich in der Voruntersuchung als Phänomen der Monomanie, als pathologische Merkwürdigkeit und was weiß ich, als was sonst noch ausgegeben. In Wirklichkeit bin ich ein berüchtigter Mörder, und die Köpfe solcher Leute müssen durch ein gewaltiges Herabschnellen der Guillotine vom Körper getrennt werden. Ich bin vielleicht unzart oder gar roh in meinen Äußerungen, und dennoch darf ich Sie versichern, ich bin von jeher ein Verehrer der Dichter und ihrer Werke gewesen.
Hier unterbrach der Präsident den Angeklagten und machte ihm bemerklich, daß es in seinem eigenen Interesse läge, schneller zur Sache zu kommen.
Nun wohlan, fuhr dieser fort, ich habe ebenfalls Eile, zu Ende zu kommen. Ich bin gebürtig aus Vieuville, es ist ein achtbarer und schön gelegener Ort, welcher auf mich nicht stolz sein wird. Seit meiner Geburt sind dreiundvierzig lange, unendlich lange Jahre verflossen; ich fühle mich so alt, so müde wie ein Greis, der hundert Jahre gelebt hat; dennoch erinnere ich mich an alle Ereignisse und Erlebnisse meiner Jugend, als hätten sie gestern stattgefunden. Mein Vater, ein wohlhabender Bürger, wohnte in der Straße Bas-Préan, neben dem Bürgermeisteramte, in einem zweistöckigen, sauberen und bequemen Hause, so 'nem richtigen Neste für tugendhafte Herzen. Mein Vater und meine Mutter standen in allgemeiner hoher Achtung, man verehrte sie fast wie Heilige. Ich habe es lediglich ihrer Bravheit zu verdanken, daß ich dreiundzwanzig Jahre unbescholten blieb.
Unserm Hause gegenüber lag die Metzgerei und die Fleischbank des Herrn Cristoval, ein netter, sorgfältig in Ordnung gehaltener Laden, welcher stets mit Rosen von roter Leinwand und Papierspitzen verziert war. Herr Cristoval betrieb sein Geschäft nicht wie ein Handwerker, sondern wie ein Künstler. Es machte mir ein absonderliches Vergnügen, die auf der Bank ausgelegten Fleischstücke zu betrachten: sie waren so geschmackvoll angeordnet, daß sie bald wie flammende Blumen, bald wie blutige Herzen, bald wie das Profil Napoleons I. aussahen. Zweimal in der Woche wurden Tiere in das Schlachthaus geführt. Ich fühlte wenig Mitleid mit ihnen, obgleich ich wußte, daß sie dem Tode entgegengingen, denn sie interessierten mich in viel höherem Grade, wenn sie zerstückelt und schön geschmückt zum Verkaufe dalagen, als wenn sie mit Kot und Schmutz bedeckt ankamen. Der Schreck, den ich anfänglich bei dem Anblick der blutigen Hände, der rotgefärbten Holzschuhe, der langen Messer mit den daran hängenden Faschinen empfand, verwandelte sich allmählich in die größte Bewunderung. Der Apothekerladen des Herrn Lubin mit seinen jeden Abend rot leuchtenden Lichtern, das Bürgermeisteramt mit seinem herrlich gemalten Saale, das Museum, das Gerichtsgebäude, die Kirche mit ihren Wachskerzen, ihrem Weihrauch und der brausenden Orgel – nichts schien mir den Vergleich auszuhalten mit der Fleischbank Cristovals. Der Geruch des frischen Blutes, das appetitlich daliegende Fleisch, der Glanz des alltäglich blank geputzten Kupfers, welches immer mit neuen Blumengirlanden umgeben war, die weiße Marmorauslage, die blutigen, ausgeschnittenen Figuren in dem Fleisch, das alles erregte mein Entzücken, und ich fing an, den Metzgerknecht zu beneiden, welcher mit aufgestreiften Ärmeln und blutgetränkten Händen bei der Schlachtbank beschäftigt war.
Damals war ich noch nicht der kräftige, braungebrannte Bursche, den Sie jetzt vor sich sehen, sondern ein siebenjähriges Kind, furchtsam, schwächlich und zart, dessen Anblick jedermanns Mitleid herausforderte. Dies war auch die Veranlassung, weshalb Herr Cristoval eines Morgens, als er seine Auslage aufputzte und ich, vor Kälte zitternd, dabeistand, zu meinem Vater sagte: »Vertrauen Sie mir Ihren Sohn auf einige Zeit an, Nachbar! Sie sollen ihn zurückempfangen, stark wie einen Ochsen und heiter wie eine Lerche! Wer mit Blut zu tun hat, der wird kräftig; wenn es ihm keinen Abscheu einflößt, den Tag über bei uns zu sein, so wird es ihm gut tun. Das Latein ist für die Pfarrer. Sie können es ihm später einbleuen lassen, wenn Sie es durchaus wollen, aber vorerst muß der Junge Muskeln bekommen. Ich schätze Sie und Ihre Frau hoch und will Ihnen mit meinem Anerbieten einen Dienst erweisen.«
Meine Mutter hatte andere Pläne mit mir, und es war nicht nach ihrem Geschmacke, daß ich in eine Metzgerei gehen sollte; mein Vater indes machte ihr begreiflich, ich sei ja nur ein paar Schritte von ihnen entfernt und würde kräftiger werden: ein gesunder Körper aber sei die notwendige Vorbedingung für eine gesunde geistige Entwicklung. Ich selbst sagte, wie glücklich ich mich fühlen würde, wenn ich so stark wäre wie meine Kameraden, und so gab die gute Frau ihre Einwilligung; ich kam zu unserem Nachbar.
Allmächtiger Gott, warum hast du dies zugelassen? Diese und manch andere Frage will ich an Gott richten, sobald ich, meinen Kopf unter dem Arme, vor ihn hintreten werde ...
Cristovals Gehilfe wurde mein bester Freund und Kamerad. Er hieß Antoine Bricogne und war ein gutes Tier, das da ohne Skrupel einen Ochsen niederschlug, aber vor jedem Hunde den Hut gezogen haben würde, hätte er ihm aus Versehen auf die Pfote getreten. Er lehrte mich, die geschlachteten Tiere abziehen, zerteilen, das Fleisch herrichten. Vom Morgen bis zum Abend im Schlachthause, befestigte sich meine Gesundheit zusehends. Kehrte ich zur Essenszeit zu meinen Eltern zurück, dann küßte mich meine Mutter zärtlich und sagte wohl: »Wie gut er jetzt aussieht, der liebe Kleine, er ist ja wie neugeboren und wird ein ganzer Mann werden!« Mahnte der Vater an die Wiederaufnahme der Schularbeit, so erwiderte jetzt sie: »Ach, das hat noch Zeit, laß ihn.«
Als die Kur so gut anschlug, fing ich an Blut zu trinken; ja, wenn ich sicher war, daß niemand es bemerkte, verwundete ich die Tiere und sog das hervorströmende Blut. Ich wuchs, wurde breitschultrig, und mein Körper entwickelte sich, wie man es nur wünschen konnte; aber meine Seele wurde hart. Die blutige Arbeit im Schlachthause und die übermäßige Zärtlichkeit meiner Mutter machten aus mir ein Gemisch von kalter Grausamkeit und eifriger Bigotterie.
In freien Stunden lehrte mich Bricogne Papierschiffe anfertigen, welche wir auf den Blutlachen herumschwimmen ließen, er lehrte mich mit den Messern hantieren, so daß ich auf fünfundzwanzig Schritte eine Oblate treffen konnte. Aber das Süßeste ist doch, wenn man fühlt, wie ein Tier unter dem Messer zittert. Das fliehende Leben schlängelt sich der Klinge entlang in die Hand hinein, die das tödliche Werkzeug hält.
Endlich bestand mein Vater darauf, mich von Cristoval wegzunehmen und in ein auswärtiges Gymnasium zu schicken; aber es war zu spät, ich war bereits ein blutdürstiges Ungeheuer geworden. Unfähig, meine Verzweiflung darüber, daß ich die Metzgerei verlassen sollte, zu verbergen, heuchelte ich und stellte mich an, als schmerzte mich die Trennung von Vater und Mutter; in Wirklichkeit hatte ich Heimweh nach dem Blute.
Zuerst leistete ich im Gymnasium gar nichts; allein aus Langweile entschloß ich mich endlich zu arbeiten, und siehe da, ich bekam zu meinem nicht geringen Erstaunen bei der Prüfung den ersten Preis. Mein Vater war höchst erfreut und wollte mich sogar die Zentralschule besuchen lassen, um etwas Rechtes aus mir zu machen. Aber meine Mutter, die mich gern bei sich haben wollte, bat so lange, bis er mich wieder nach Vieuville zurücknahm. Dies war eine teuflische Laune des Zufalls!
Ich sehe, Sie blicken nach der Uhr, meine Herren. Es ist wohl schon spät, aber Sie müssen, ehe Sie mich abtun und zum Essen gehen, noch eine Menge Dinge erfahren.
Ich war also wieder im Vaterhause. Cristovals Fleischerladen befand sich noch immer gegenüber, aber ich durfte nicht mehr daran denken, wie ehemals dort zu verkehren. Ich war ein junger Herr geworden, und man hätte es weder begriffen noch verziehen, wenn ich, wie andere etwa die Musik oder die Malerei, das Metzgerhandwerk aus Liebhaberei hätte betreiben wollen.
Bricogne hatte die Stadt verlassen, ich war allein, die Zeit verging mir langsam und traurig. Mein Vater brachte mich zu dem Notar Pelucheux, bei welchem ich allerhand Verträge kopieren mußte. Soldat wurde ich nicht, weil meine Mutter einen Ersatzmann für mich bezahlte. Vielleicht hätte mich der Soldatenstand gerettet!
Mein Zimmer lag dem Tore des Schlachthauses gegenüber, und ich stand jeden Morgen am Fenster, um das Schlachten mit anzusehen. Der mächtige Anprall des wuchtig mit dem Schlägel geführten Kopfschlages, unter welchem der Ochse zusammenbrach, klang in meine Ohren wie Sphärenmusik.
Wäre der Apothekerladen uns gegenüber gewesen, vielleicht wäre alles anders gekommen, aber man muß die Dinge nehmen, wie sie sind. Was geschehen ist, ist vorbei, und der Rest geht Sie an ...
Am 15. Juni 1860 kam die Post von La Garigue eine Stunde später als gewöhnlich an. Da sie sich sonst nicht zu verspäten pflegte, so erregte das Ereignis Aufsehen, und mehrere Menschen drängten sich an den Wagen, um den Grund zu erfahren. »Ei, du Schlafmütze,« rief der Stallbursche dem Postillon zu, welcher sich anschickte, die Pferde auszuspannen, »du bist schön langsam gefahren! Der Branntwein schmeckte wohl gut?«
»Behalte deinen Witz für dich,« erwiderte der Postillon. »Wir fanden auf der Station Préaux-Bois die Tochter des Wirtes ›Zum blauen Hahn‹ mit einem Messer an den Küchentisch angeheftet, die Spitze stak im Holze, der Griff stand beim Haarknoten heraus. Das war es, und das kann einen schon eine Stunde aufhalten.«
Ein Schauder durchlief die Menge. Als der Wirt selbst nun traurig und niedergebeugt aus dem Wagen stieg, umringte ihn das Volk und begleitete ihn bis zu dem Gericht, vor welchem er seine Aussage zu Protokoll gab.
Alles wurde aufgeboten, um den Mörder zu entdecken, und viel Papier verschmiert. Aber es war vergebliche Mühe.
Arme Lurotte! Glauben Sie mir, ich habe sie hundertmal beweint. Sie war ein braves, zuvorkommendes, liebes Mädchen. Ich kam in der Nacht vom 14. zum 15. Juni nach La Garigue, wohin mich Herr Pelucheux in Geschäften geschickt hatte. Es war bereits 11 Uhr vorüber und stockfinster, als ich am ›Blauen Hahn‹ anlangte. Ich wunderte mich, durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden Licht schimmern zu sehen, denn gewöhnlich schlief um diese Zeit alles im Hause. Ich dachte an Lurotte. Sie ist vielleicht noch auf, um einen verspäteten Reisenden zu erwarten, sagte ich mir. Ein Glas Bier ist rasch getrunken, ein Kuß ist rasch genommen und gegeben. Die Tür stand halb offen, und ich trat ein. Soll ich Ihnen die Lokalität beschreiben? Aber Sie haben ja die Photographie des Hauses gesehen, und die Photographie ist eine schöne Erfindung; die Küche und das Gastzimmer gehen auf die Straße heraus, die übrigen Zimmer liegen auf der andern Seite.
Lurotte schlief neben dem großen Herde. Sie war über den langen Tisch in der Mitte der Küche gebeugt, ihre Stirn lag auf ihren wie zum Gebet gefalteten Händen. Ihre weißen Arme hoben sich von dem roten Tischtuche ab. Ihr Hals war entblößt, und ihr schwerer hochgesteckter Haarknoten ließ den üppigen anderen Haaren Raum, die lose auf den breiten Nacken herabwallten. Der Tisch stand an dem bis zum Dachfirste gehenden Pfeiler, an welchem eine trübe, rauchende Lampe hing. Das flackernde Licht beleuchtete die schöne Schläferin recht malerisch. Auf dem Herde glimmte das Feuer, und hie und da züngelte eine Flamme empor, welche phantastische Schatten auf der Decke abzeichnete.
Lurotte war allein. Ich näherte mich ihr, alles war still, ich hörte nur ihre gleichmäßigen Atemzüge und das Ticken der Uhr, die in der Ecke stand und aussah wie eine Eule ohne Augen. Was sich nun meiner Sinne bemächtigte, ist so seltsam, daß ich nicht weiß, wie ich es in Worte kleiden soll. Sie können nicht begreifen, wie mir zumute war, sie müßten denn zuvor verrückt werden, so wie ich es auch war in jener Nacht.
Als ich das schöne junge Wesen ansah, dachte ich zuerst daran, sie zu küssen. Ich beugte mich nieder, um meine Lippen auf ihren weißen Hals zu drücken. Aber ich hielt inne: ein geraubter Kuß hat keinen Wert – ich wollte sie lieber aufwecken. Und doch konnte ich mich dazu nicht entschließen. Ich schaute den prächtigen Nacken an, meine Pulse fingen an zu schlagen, meine Phantasie begann zu arbeiten.
Ich wähnte, am Halse von Lurotte zwei lächelnde Lippen zu sehen, welche mir lockende Küsse zusandten. Ich beugte mich tiefer, und siehe, die Lippen öffneten sich immer weiter, aber hinter ihnen sah ich nicht weiße Zähne, sondern perlendes, schäumendes Blut quoll hervor. Zwei dünne Blutströme ergossen sich aus den zwei Ecken der Wunde und bildeten auf dem Tischtuche eine scharlachrote Lache, von welcher die weiße Silhouette Lurottes grell abstach. Das alles sah ich, und der Schweiß trat mir auf die Stirn.
Neben dem Mädchen lag ein langes, scharfes Küchenmesser. Bei meinem Eintreten hatte ich es nicht gesehen, aber jetzt fiel ein Lichtstrahl auf die Klinge und sie blinkte mir einladend entgegen. Ich wollte fliehen, aber ich konnte nicht, ich schloß die Augen, aber ich sah ebenso deutlich, es zog mich mit magnetischer Gewalt hin zu dem Messer. Ich ergriff es, aber – Gott weiß – ich wollte der Schläferin nichts anhaben. Und dennoch erhob ich den Arm und stieß zu. Ich sah einen leuchtenden Punkt und hörte den entsetzlichen Schrei des zum Tode getroffenen Opfers, der mich noch jetzt in der Nacht oft aufweckt. Ich sah, daß Lurotte ihre Hände ausstreckte, ich fürchtete, sie würde aufstehen, und stemmte mich mit voller Kraft auf das Messer. Hätte sie sich erhoben, ich wäre vor Furcht gestorben. Aber sie zuckte nur noch krampfhaft und rührte sich nicht mehr.
Nun wollte ich fort, ich konnte jedoch die Tür nicht finden. Das Blut schoß mir so gewaltsam nach dem Kopfe und hämmerte so an den Schläfen, daß ich wankte und mich festhalten mußte, um nicht niederzustürzen. Endlich ergriff ich die Türklinke; das kalte Eisen erschreckte mich, es war mir, als wenn es die Hand durchstoße und mir den Körper zerreiße. Ich eilte fort in die freie Luft. Da wurde mir wieder wohl, ich stürmte nach Hause. Ich gelangte in mein Zimmer, schloß es zu, warf mich auf mein Bett und schlief ein. Am anderen Morgen sah ich dem Schlachten bei meinem Nachbar nicht zu.
Am 19. Oktober 1860 fand man einen Hausierer tot in einem Schleusengraben, hundert Schritte von der Pommier-Mühle. Es war ein schöner junger Mann, etwa 19 Jahre alt, der ein sehr heiteres Gemüt besessen hatte.
Als ich ihm begegnete, saß er am Abhange der Straße und verspeiste etliche Früchte, die er am Wege gefunden, und ein Stück Brot, in welches er mit seinen weißen Zähnen wacker einhieb. Ich setzte mich neben ihn und forderte ihn auf, mir sein Nomadenleben zu schildern. Er erzählte mir, er habe weder Vater noch Mutter, wohl aber zwei Schwestern, die eine zehn, die andere sieben Jahre alt. Er war ihr Versorger, sie lebten von dem, was er mit seinem Geschäft erwarb, in einem vom Pfarrer beaufsichtigten Institut. Jeden Monat kam er in ihr Dorf. Er verweilte einen Tag bei ihnen, herzte und küßte sie, ließ sich von ihnen erzählen, wie es ihnen erging, und begab sich dann wieder auf die Wanderschaft.
Als er sein Brot verzehrt hatte, nahm er aus der Tasche ein Messer, um einen Apfel zu zerschneiden. »Jetzt ist der Augenblick für das Dessert gekommen,« sagte er, »ich werde es mit vollem Behagen verzehren und den Apfel kunstgerecht schälen! Sie sehen, ich pflege mich.« Es war ein herrlicher Tag, alles duftete und glänzte, die Gegend lag da gleich einem Paradiese. Man hätte denken sollen, bei so hellem Sonnenschein könnte kein Werk der Nacht vollbracht werden. Unglücklicherweise traf ein Strahl das Messer des Burschen und ließ es hell leuchten. Von diesem Moment an wandte ich keinen Blick mehr ab von dem Stahle. Alles tanzte und funkelte um die Klinge herum, ein roter Nebel umfing meine Augen.
»Wollen Sie einen Apfel, Herr? Es liegen noch mehrere hier auf dem Rasen, und das fallende Obst gehört Ihnen so gut wie mir,« sagte er. »Während ich meinen Pack schnüre, leihe ich Ihnen mein Messer, aber Sie müssen sich eilen, denn ich muß mich rasch wieder auf den Weg machen. Ich habe noch fünf Meilen bis nach Hause zurückzulegen, und wenn ich heute abend nicht zu meinen Kleinen komme, wie ich es versprochen, so geht die Welt unter!«
Er gab mir das Messer und bückte sich über seinen Reisesack, um ihn zuzuschnallen. O du armer Knabe, du armer Engel! Was hattest du Gott zu Leide getan? O Schicksal, warum hast du ihn auf meinen Weg geführt? ... Der arme Junge ist nun tot, und ich habe nicht den Mut, Ihnen zu erzählen, auf welche Weise ich ihn gemordet habe.
Sie sehen, ich bin eine Mordmaschine. Ich tötete niemals aus Haß, aber ich mußte töten. Das eben macht mich furchtbar und gebietet Ihnen, mich zu vernichten.
Die Behörden waren nicht glücklicher in ihren Nachforschungen als das erstemal. Man verstärkte zwar die Gendarmerie, setzte Belohnungen aus, um dem Mörder auf die Spur zu kommen, der Pfarrer sprach von der Kanzel über die Schlechtigkeit der Welt, der Bürgermeister versicherte, daß sich eine noch stärkere und gefährlichere Bande wie die des Räuberhauptmanns Cartouche im Lande festgesetzt habe. Und der Erfolg war: am 6. März 1861 wurde der Polizeikommissar in einem Busche aufgefunden, erstochen wie vormals Lurotte und der Hausierer, am 7. November 1861 kam der Pfarrer von Pommerelles an die Reihe, und am 12. März 1863 der Wagner Martin von La Chappe.
In Vieuville überstieg der Schrecken alles Maß. Man verwahrte die Häuser mit doppelten Riegeln, man änderte die Schlösser an den Türen und ließ die Fenster im Erdgeschoß vergittern. Es war fast lustig, alle die Geschichten zu hören, die abends am Herde erzählt wurden. Da war beinahe niemand, der nicht einer großen Gefahr entronnen wäre. Mit dem Anbruch der Nacht schlossen sich auch beherzte Männer in ihre Wohnungen ein, und wer durchaus noch ausgehen mußte, ließ sich begleiten.
Eines Abends war der Pfarrer von Saint-Eustache zu uns zum Spiel gekommen, mein Vater wollte ihn nicht allein in das Pfarrhaus zurückkehren lassen und befahl mir, ihn heimzubringen. Meine Mutter wurde totenblaß und sagte halblaut: »Maxime, wo denkst du hin? Der Junge müßte ja allein zurückkehren. Heilige Maria, wenn man ihn unterwegs ermordete!«
»Das wäre immer noch besser,« antwortete mein Vater, »als wenn der Gast getötet würde, und es hinterdrein hieße: das wäre nicht geschehen, wenn Pieydagnelle mitgegangen wäre. Ich werde den Abbé begleiten.«
»Wir wollen alle zusammen mit, das wird den Banditen Respekt einflößen,« erwiderte die Mutter.
»Nun, Marianne,« lachte der Vater, »du wärest die Rechte, um jemand Furcht einzujagen! Nein, liebe Alte, bleibe du hübsch beim Feuer sitzen, der Junge soll mitgehen, und ich begleite ihn. Das ist mehr als genügend, denn man greift ja nur einzelne Menschen an, wie wir alle wissen.«
Wir gingen mit dem Abbé, und auf dem Rückwege zitterte mein Herz aus Besorgnis für meinen Vater. Ich liebte den guten Mann so zärtlich. Ich vergaß ganz, daß ich selbst der Mörder war, und wünschte fast, es möchte jemand einen Angriff auf meinen Vater wagen. O, wie hätte ich ihn verteidigen wollen! Es muß ja eine Wonne sein, mit gutem Grund Blut zu vergießen! Wäre ich zu Felde gezogen, es wäre ein Held aus mir geworden, wenn man mir nicht etwa vorher den Garaus gemacht hätte. – Übrigens müßte mir meine Vaterstadt dankbar sein, denn nur aus Angst vor mir ist die Gasbeleuchtung eingeführt worden.
Vater und Mutter starben, und am 7. Oktober 1864 verließ ich Vieuville. Ich bin kein undankbarer Mensch, sondern ich danke dem Himmel, daß er meine Eltern weggenommen hat, ehe sie mein böses Herz erkannten. Ich hoffe, durch meinen Tod wird alles hier und in einer anderen Welt gesühnt werden. –
Da ich keine Lust empfand, irgendein Geschäft zu treiben, entschloß ich mich, im freien Walde als Einsiedler zu leben. Ich habe das sechs Jahre lang durchgeführt, jeden Umgang mit Menschen gemieden, keine andere Zerstreuung gehabt als die Jagd, und berührte in der ganzen Zeit, um nicht in Versuchung zu geraten, niemals ein Messer. Ist es nicht sonderbar, daß ich um keinen Preis einen Menschen mit einem Gewehr hätte töten können, und daß der Anblick eines Messers immer einen wahnsinnigen Blutdurst in mir wachruft?
Wissen Sie, was die Welt sagte, wie man in meiner Vaterstadt von mir sprach? »Der arme Eusèbe!« so hieß es allgemein, »der Tod seiner Eltern hat ihn verrückt gemacht, und er ist auf- und davongegangen. Ein so ruhiger, so kalter Mensch! Wer hätte je gedacht, daß er so zum Äußersten getrieben werden könnte!« So falsch beurteilen die Menschen einander!
Das braucht aber nicht von Ihnen zu gelten, meine Herren. Denn mit Ihnen spiele ich offenes Spiel und feilsche nicht um meinen Kopf, der ein gar elendes Stück ist. – Ich komme nun zu dem entsetzlichen Ereignis, welches die Veranlassung geworden, daß ich vor Ihnen stehe.
Ich lebte also, wie ich schon erwähnte, im Walde. Eines Nachts, es war am 3. August 1870, und der Mond schien hell, hörte ich an die Tür meiner Hütte klopfen. Es war dies schon öfter geschehen, etwa zweimal in jedem Jahre, aber ich hatte die Gäste nie freundlich empfangen, so daß sich die Leute zuletzt vor mir fürchteten und mich in Ruhe ließen. Mir war das sehr recht, ich befand mich viel wohler, seit ich nicht mehr belästigt wurde. Auch diesmal kümmerte ich mich nicht um das Klopfen, sondern blieb auf meinem Lager von dürren Blättern liegen und dachte, der Mensch würde sich wieder entfernen. Allein die Tür, die nicht verschlossen war, öffnete sich, ich sah eine Gestalt vor mir stehen und hörte eine mir bekannte Stimme: »Holla! Ist denn niemand hier, der mir den Weg zeigen könnte?« Ich erschrak, mein Herz fing an zu klopfen, der Schweiß drang mir aus allen Poren. Es war der Metzger Cristoval, der vor mir stand. Ich wollte mich verbergen, aber unwillkürlich rief ich: »Cristoval, sind Sie es wirklich?«
»Wer Teufel kennt mich hier? Wenn ich Ihnen antworten soll, dann zeigen Sie sich,« rief er zurück.
In mir kämpften die widersprechendsten Gefühle. Ich empfand Freude darüber, den Mann wiederzusehen, dem ich die einzigen Genüsse verdankte, die ich jemals gehabt, und zugleich befiel mich ein Grauen bei seinem Anblick, denn er hatte die mörderische Lust in mir neu angefacht. Ich sagte mir wohl, er sei unschuldig daran, daß ich ein Mörder geworden, dennoch konnte ich mich eines Gefühls des Hasses und des Ingrimmes ihm gegenüber nicht erwehren. Ich hatte während meiner Verbannung aus der menschlichen Gesellschaft oft genug den Einfluß verflucht, den er auf mich und mein Leben geübt. Ich überwand mich indes, reichte ihm die Hand und sagte: »Herr Cristoval, ich will Ihnen sogleich sagen, wer ich bin. Sie würden mich nicht erkennen, wenn es auch heller Mittag wäre, so sehr habe ich mich verändert. Erlauben Sie mir, Sie in die Arme zu schließen. Ich bin Eusèbe Pieydagnelle, Ihr alter Lehrbursch.«
»Also ist es doch wahr,« erwiderte er, »was man mir erzählt hat! Komm her, Bursche!« Dabei gab er mir die Hand und zog mich an seine Brust. Ich preßte ihn lange und innig an mich. Die Berührung des Mannes, den ich seit dem Tode meiner Eltern nicht mehr gesehen hatte, rief mir das Andenken an Vater und Mutter zurück. Die glückliche Jugend trat mir vor die Seele, ich fühlte mein Herz froh werden.
Es entspann sich nun etwa folgendes Gespräch zwischen uns:
»Wie freut es mich, mein Junge, dich wiederzusehen! Das ist gewiß nicht bloß ein blinder Zufall, der mich hierher geführt hat.«
»Wie kommt es denn, Herr Cristoval, daß Sie in diesem Walde, zwei Tagereisen von der Heimat entfernt, allein herumirren?«
»Ich habe heute morgen die Fahrpost versäumt, mein Sohn. Von der Hitze ermüdet und in der Meinung, sehr viel Zeit übrig zu haben, ließ ich mich durch den kühlen Schatten verleiten, legte mich in einem Gehölz an der Straße nieder und schlief ein. Die Glocken der Post, auf die ich wartete, klangen wahrscheinlich weniger hell als gewöhnlich, und ich wachte nicht auf, als sie vorbeikam. Nun entschloß ich mich, zu Fuße weiter zu gehen, und hoffte, La Garigue noch rechtzeitig zum Abgang des Zuges zu erreichen. Dicht neben der Straße zog sich der Wald hin, der Schatten lockte mich abermals, ich ging in den Wald, verirrte mich aber und bin nun bereits zwei Stunden ohne Weg und Steg herumgelaufen. Ich beklage mich aber nun nicht mehr darüber, da ich dich gefunden habe, und werde die Nacht bei dir bleiben.«
»O, das geht nicht, Herr Cristoval, das ist ganz unmöglich!«
»Weshalb denn nicht?«
»Ich will nicht, daß Sie hier übernachten. Ich führe Sie einen Waldweg, auf welchem Sie in zwei Stunden nach La Garigue kommen, und unterwegs können wir plaudern.«
»Nun, du bist recht freundlich, das muß ich sagen. So empfängst du einen so alten Freund wie mich? Ich werde aber dennoch bei dir bleiben und sogar gut schlafen, so müde bin ich. Vorher aber wollen wir ein Stück Fleisch miteinander verzehren, welches ich zu mir gesteckt habe.«
»Wir können es ebensogut auf dem Wege tun, Herr Cristoval. Ich kann nicht dulden, daß Sie bei mir schlafen.«
»Gut! Da es dir gefällt, deinen ehemaligen Lehrherrn so zu empfangen, mich, dem du das Mark in den Knochen und das Blut in den Adern zu verdanken hast, so werde ich dich nicht lange belästigen. Du befolgst wahrscheinlich die Mode der Wölfe, die auch keinen Menschen beherbergen!«
»Herr Cristoval, es geschieht nur zu Ihrem Besten. Urteilen Sie nicht nach dem äußeren Scheine, Sie werden sonst unter zehnmal neunmal irren. Ich sage Ihnen dies aus reiner Freundschaft und Zuneigung.«
»Nun, ich sehe, es ist wahr, was man von dir sagt, du bist fast ganz verrückt. Ich hätte hier auf den dürren Blättern so gut geschlafen, aber du willst es nicht, also machen wir uns auf den Weg.«
Während wir miteinander durch den Wald gingen, erzählte mir Cristoval tausend Dinge, die zwar an sich wenig Bedeutung hatten, aber mich lebhaft interessierten, denn sie bezogen sich auf Ereignisse in Vieuville: Er hatte seine Metzgerei an Bricogne verkauft und wollte sich nach Soissons zurückziehen. Die beiden Fräulein Pidoux, die ich kannte, hatten geheiratet, die jüngere hatte vier, die ältere drei Kinder. Die Apotheke war abgebrannt. Aber die größte Neuigkeit war die Gefangennahme des Mörders, der Lurotte, den Hausierer, den Polizeikommissar, den Pfarrer von Pommerelles und den Wagner Martin von La Chappe umgebracht hatte.
Als ich dies vernahm, befiel mich ein Schwindel, mir war, als müßte ich umsinken, das Blut stieg mir in den Kopf, ein seltsamer Geschmack trat mir auf die Zunge, der Mond schien mir rot gefärbt zu sein, ich sah rings um mich Blut, nichts als Blut.
»Nun was hast du denn?« fragte der Fleischer und wollte mich halten, daß ich nicht fiele.
»Rühren Sie mich nicht an,« rief ich, »mir fehlt nichts, gehen Sie Ihres Weges fort!«
»Wahrhaftig,« erwiderte er, »du bist nicht recht gescheit und tust wohl daran, in deiner Höhle wie ein wildes Schwein zu leben. Zu Menschen paßt du nicht.«
»Wer ist der Unglückliche, den man verhaftet hat?«
»Du kennst ihn, er war einer von deinen Freunden: Anthime Lebègue, der erste Schreiber bei Pelucheux.«
»Anthime ein Mörder! Die das gesagt haben, haben gelogen! Es gibt keinen ehrlicheren Mann als ihn in ganz Vieuville! Ach, ihr seid böse Menschen da unten! Anthime Lurottes Mörder! Armer Kerl! Was ist mit ihm geschehen?«
»Was mit allen solchen Elenden geschieht. Zuerst hat man ihn hinter Schloß und Riegel gesetzt, dann hat man die Sache untersucht und endlich ihn abgeurteilt. War das ein Durcheinander! Etliche sprachen für ihn, andere gegen ihn; aber angesichts der Beweise ...«
»Welcher Beweise?«
»Erstens hatte man doch in Lurottes Tasche einen Brief von ihm gefunden, in welchem er ihr schrieb, sie solle ihn zwischen 11 und 12 Uhr erwarten.«
»Und was beweist das?«
»Daß der Schurke zu der Zeit, wo der Mord verübt wurde, bei ihr war. Auch gestand Anthime, daß er im ›Blauen Hahn‹ gewesen sei, nur behauptete er: er habe die Tür verschlossen gefunden, an die Läden geklopft, aber niemand habe ihm geöffnet, obwohl noch Licht in der Küche gewesen sei. Aus Furcht, das Mädchen bloßzustellen, habe er nicht Lärm geschlagen, sondern sich entfernt. Das hat er natürlich erfunden.«
»Weshalb soll es denn nicht wahr sein?«
»Weil der Schlüssel doch auf der Straße gelegen hatte. Die Tür war nicht von innen versperrt, sondern von außen zugeschlossen gewesen.«
»Ein anderer konnte sie ja nach vollbrachter Tat zugeschlossen haben.«
»Es kam aber heraus, daß damals an seinem Schuhwerk Blutspuren gewesen waren.«
»Wieder ein schöner Beweis! Lurotte hat stark geblutet. Das Blut floß ja wie ein Strom, es wird durch den Hausflur zur Tür geflossen sein, und Anthime hat hineingetreten.«
»Was weißt du denn davon?«
»Ich? Nichts! Nur was die anderen wußten. Aber es ist ja klar, daß Anthime nicht den Mord begangen hat. Er mit einem Messer hantieren!«
»Woher weißt du denn, daß Lurottes Blut in Strömen geflossen ist? Du bist ja ganz erhitzt. Du sprichst, als wenn du mehr wüßtest, als du sagen willst. Wenn du dem Gericht nähere Aufklärungen geben kannst und unterläßt es, so bist du ein Schurke: In acht Tagen wird Anthime guillotiniert!«
»Ich, ich weiß nichts, nicht mehr, als die andern seinerzeit wußten.«
»Sieh mir in das Gesicht! Du hast es, seit wir zusammengetroffen sind, vermieden, mich anzusehen.«
»Ich sehe Sie an, und was weiter?«
»Du warst befreundet mit Anthime.«
»Ich war sein einziger Freund.«
»Weshalb hast du dich in den Wald zurückgezogen wie ein wildes Tier?«
»Das ist meine Sache. Ich brauche darüber keine Auskunft zu geben.«
»Es ist aber unnatürlich, so im Walde zu leben.«
»Wenn es nun mein Geschmack ist.«
»Höre, soll ich dir etwas sagen? Es würde mich nicht wundern, wenn du Anthimes Mitschuldiger wärest.«
»Ich bedanke mich, Herr Patron. Sie haben eine Manier zu scherzen, die Ihnen übel bekommen könnte, wäre ich der Mensch, für welchen Sie mich halten.«
»Ich fürchte mich nicht, wie du weißt. Ich habe eine feste Faust und in der Tasche ein Instrument, mit welchem ich dir die Haut durchlöchere, wenn du mir zu nahe kommst. Du kennst mich ja.«
»Um uns solche Dinge zu sagen, brauchen wir wahrhaftig nicht um die Mitternachtsstunde zusammen im Walde zu bleiben. Hier ist Ihr Weg, Herr Cristoval, ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.«
»Nein, so will ich nicht scheiden von einem Burschen, dessen Vater ich gewissermaßen bin. Ich gestehe, ich habe mich übereilt. Du kannst kein Mörder sein. Gib mir die Hand.«
»Werden Sie dann fortgehen?«
»Nein. Du mußt mich noch weiter begleiten. Ich würde sonst denken, du wärest böse auf mich, weil ich dich so häßlich beschuldigt habe.«
Ich versuchte es immer wieder, ihn loszuwerden, aber er schwor, er würde mit mir umkehren, wenn ich nicht noch ein Stück Weges mit ihm ginge. Nichts kann den Menschen retten, dem das Schicksal einmal den Tod bestimmt hat. Niemals gab es eine schönere Nacht als diese war. Der Himmel zeigte sich in all seiner Pracht. Ich habe es nie begriffen, daß die Dichter die Elemente fast immer mit den Ereignissen harmonieren lassen. Bei meinen schwärzesten Taten war stets schönes Wetter ...
Wir setzten die Wanderung fort. Der Fleischer ging rasch und immer mir voran, das war sein Unglück. Ich konnte kein Auge von seinem Nacken abwenden. Mein Blick war festgebannt auf jene Stelle, in die ich schon fünfmal den tödlichen Stich geführt hatte.
»So gehen Sie doch nicht immer vor mir her, Herr Cristoval,« rief ich ihm in barschem Tone zu.
Er erwiderte nichts, sondern drehte sich um und bot mir eine Zigarre an: »Du wirst ohnehin selten rauchen, denn Tabaksläden gibt es ja nicht, wo du wohnst.«
Ich nahm die Zigarre, und er reichte mir ein langes Reisemesser, um die Spitze abzuschneiden.
Was Teufel focht ihn an, mir die Klinge zu geben und in sein Verderben zu rennen? Ich besah das Messer, der Mond leuchtete mit silbernem Glanze darauf. Cristoval ging wieder vor mir her. Die Versuchung war zu stark, das werden Sie selbst einsehen. Ich hätte den Charakter eines Scipio haben müssen, um Widerstand zu leisten. Schon wollte ich zu dem Streiche ausholen, da traten wir in einen von dichtem Laubwerk bedeckten Gang. Kein Strahl des Mondes drang hinein, ich konnte nicht berechnen, wohin ich stach. Als wir in die nächste Lichtung kamen, sagte Cristoval: »Gib mir das Messer, Bursche! Ich sehe da einen Ast, der mir gefällt. Ich will mir einen Stock zur Heimreise abschneiden.«
»Ach, warum wollen Sie sich die Mühe geben, das kann ich ebensogut besorgen.« Ich lief hin und fing an zu schneiden. – Weshalb brach die Klinge nicht ab? Dann wäre der Fleischer gerettet gewesen! Ich gab ihm den abgeschnittenen Ast, und er sagte: »Ich danke dir, aber jetzt brauchst du nicht weiter mit mir zu gehen. Ich sehe den Weg, den ich einschlagen muß, lebe wohl!«
»So lassen Sie mich doch! Ein Wolf wird von zwei Stunden Weges nicht müde. Sie könnten sich noch einmal verirren. Ich verlasse Sie erst, wenn Sie nicht mehr fehlen können, jetzt will ich Ihnen erst den Stock zurechtschneiden, er wird Ihnen eine Erinnerung an mich sein.«
Arglos wandte er mir den Rücken, um seinen Weg fortzusetzen. Wenige Sekunden später stand er vor Gottes Thron.
Ein Freudenblitz durchzuckte mich, als er von meinem Messerstich durchbohrt niederstürzte und am Boden lag. Ich hatte das Gefühl, mich an ihm gerächt zu haben. Weshalb hatte er mich auch in sein Haus aufgenommen und meine Hände in Blut getaucht? Weshalb hatte er mich nicht schwächlich bleiben und in zartem Knabenalter sterben lassen? Warum hatte er den Plan Gottes durchkreuzt, der mir nur ein kurzes Leben bestimmte? – Ich war der Meinung, daß ich ihn als ein Werkzeug der Vorsehung für sein eigenmächtiges Eingreifen gestraft hätte, und fühlte mich glücklich in diesem Gedanken. Diese meine Wonne dauerte indes nur einen kurzen Augenblick. Ein Schrei des Sterbenden drang mir durch Mark und Bein. Ich werde ihn hören, bis Sie mich köpfen lassen. Der Stich war nicht sofort tödlich. Der arme Mann wälzte sich in furchtbaren Schmerzen auf der Erde. Er riß das Gras aus der Erde und biß in die Baumwurzeln. Zuletzt erhob er sich und klammerte sich an einen Baum. Mir war, als riefe er mich, obwohl seine mit schäumendem Blute bedeckten Lippen unbeweglich blieben.
Ich schlich an ihn heran und lag zu seinen Füßen. Als er mich sah, faßte ihn ein Grausen, er fiel zu Boden. Ich bat ihn um Vergebung, ich nahm mein Taschentuch und wischte ihm den Mund ab. Er klammerte sich jetzt an mich an und wollte zu mir sprechen, allein er vermochte es nicht. Ich hielt mein Ohr an seinen Mund, aber ich vernahm nur die Stimme meines Gewissens, sie rief: »Überliefere dich der menschlichen Gerechtigkeit. Wenn du es nicht tust, so fürchte Gottes Gericht!«
Ich flüsterte einige Gebete, lud den Körper, als er kalt war, auf meine Achseln und trug ihn fort. Neben mir ging mein Vater, welcher den Toten auf der rechten Seite stützte, und auf der anderen Seite schritt meine Mutter einher. Beide begleiteten mich bis zur Stadt, in welcher ich mit dem ersten Hahnenschrei ankam.
Ich sehe, Sie wundern sich, daß ich Ihnen von der Begleitung meiner Eltern erzähle. Denken Sie davon, was Sie wollen, überlegen Sie aber: wie wäre es denn ohne diese Hilfe möglich gewesen, daß ich den bluttriefenden Körper eine Strecke von drei Stunden bis in die Stadt geschleppt hätte?
Ich schritt durch die Straßen, in denen noch alles schlief, bis zu Ihrer Wohnung, Herr Präsident. Ich legte meine Last an Ihrer Schwelle nieder und klopfte an Ihre Tür. Ich mußte lange klopfen, denn Ihre Leute schliefen fest. Endlich öffneten Sie selbst ein Fenster und fragten verschlafen: »Wer ist der Dummkopf, welcher so heftig klopft zu einer Stunde, da anständige Leute im Schlummer liegen?«
Ich antwortete: »Es ist kein Dummkopf, Herr Präsident! Es ist ein Mörder, welcher Ihnen sein Opfer bringt, weil es ihm so von einer inneren Stimme befohlen wurde. Nehmen Sie sich Zeit zum Ankleiden! Wenn man kommt, um sich guillotinieren zu lassen, so kann man warten.«
Sie schrien auf und schlossen das Fenster. Ich hörte Schritte im Treppenhause und dachte, Sie wollten mich verhaften. Ich küßte die Leiche des armen Cristoval noch einmal und machte mich bereit, ins Gefängnis zu gehen. Aber Sie kamen nur herunter, um noch einen Riegel vor die Tür zu schieben und den Schlüssel ein zweites Mal herumzudrehen. Zum Glück sammelten sich auf der Straße Leute, sie umringten mich, nahmen mich fest und führten mich in das Gefängnis.
Das ist meine Geschichte. Und nun, meine Herren, verurteilen Sie mich zum Tode! –
Der Angeklagte setzte sich nieder. Die Geschworenen zogen sich zurück, traten aber schon nach zehn Minuten wieder in den Saal und verkündigten das Nichtschuldig. Sie hatten Unzurechnungsfähigkeit angenommen. Als Eusèbe Pieydagnelle diesen Spruch vernahm, wich jeder Blutstropfen aus seinem Antlitz, er fing an zu zittern, redete verworrenes Zeug und verfiel zuletzt in Tobsucht, so daß man ihm die Zwangsjacke anlegen mußte.
In eine Irrenanstalt überführt, starb er bald darauf an einem Gehirnschlage.
Kuriosa
Im Jahre 1736 unternahm Master Hayes aus London, ein sehr wohlhabender Mann, eine Reise, um Verwandte in Oxford zu besuchen. Als die Nacht einbrach, beschloß er, nicht weiter zu reiten, sondern in dem am Wege liegenden trefflichen Wirtshause des Jonathan Bradford zu übernachten.
Er fand angenehme Gesellschaft vor: zwei andere Gentlemen waren ebenfalls bei Bradford eingekehrt. Nach dem Abendessen entspann sich zwischen den drei Gästen und dem Wirt eine lebhafte Unterhaltung, der Punsch dampfte auf dem Tisch, und Hayes war so unvorsichtig, zu erwähnen, daß er eine große Summe Geldes bei sich habe.
Es war noch nicht allzu spät, als die Gesellschaft sich trennte; Hayes ging auf sein Zimmer, die beiden Gentlemen suchten das ihre auf. Ein paar Stunden mochten die letzteren geschlafen haben, da erwachte plötzlich der eine. Ihm schien es, als höre er ein Stöhnen in der anstoßenden Kammer. Er schwieg, er glaubte sich zu täuschen. Aber es kam deutlich wieder. Nun weckte er leise den anderen. Beide lauschten aufmerksam. Das Stöhnen war wie das eines Sterbenden. Ohne Geräusch zu machen, sprangen beide im Augenblick aus dem Bett und schlichen nach der Tür, welche vom Flur aus in die Nebenkammer führte.
Die Tür stand nur angelehnt. Ein Lichtschimmer drang aus dem Zimmer. Sie drückten die Tür ganz auf und hatten einen fürchterlichen Anblick. Auf dem Bette wälzte sich jemand in seinem Blute, und vor ihm stand ein Mann, eine Blendlaterne in der einen, ein Messer in der andern Hand.
Der Mann schien ebenso entsetzt als die beiden, welche ihn überraschten. Seine Knie schlotterten, seine Arme zitterten, Todesblässe legte sich über das ganze Gesicht, aus welchem die Augen mit geisterhaften Blicken bald den Sterbenden – der eben den letzten Atemzug tat – bald die beiden Fremden anstarrten. Wie vom Schrecken an den Boden gewurzelt, machte er auch nicht einmal einen Versuch, zu entfliehen.
Die beiden Herren hatten auf den ersten Blick in dem nun Toten ihren Gesellschafter von der gestrigen Abendtafel, in dem anderen Manne mit dem Messer aber ihren Wirt erkannt. Sie sprangen auf Bradford los, ergriffen ihn und rissen ihm, ehe er sich zur Wehr setzen konnte, das Messer aus der Hand. Es war mit Blut bedeckt. Sie schalten ihn einen Mörder. Er stammelte unverständliche Worte. Nachdem er sich etwas gesammelt, nahm er die Miene eines Unschuldigen an und beteuerte, er sei nicht der Mörder seines unglücklichen Gastes.
Was er vorbrachte, stimmte fast völlig mit dem überein, was die zwei Gentlemen erlebt hatten. Auch er hatte in der Nacht ein Geräusch gehört und war davon erwacht; er vernahm ein Stöhnen, wie das eines Sterbenden, darauf war er aus dem Bett gesprungen, hatte ein Licht angezündet und ein Messer ergriffen, um sich, wenn es not täte, zu verteidigen. Bei allem, was heilig, schwor er, daß er keine Minute vor den Herren eingetreten und noch im ersten Schrecken über das gewesen sei, was er gesehen.
Das Messer war blutig, seine Hände waren blutig; wie sollte er Glauben finden! Die beiden Herren machten Lärm im Hause; sie stellten fest, daß dem Toten Geldbeutel und Uhr bereits fehlten, und ließen Bradford bis am Morgen, wo zum nächsten Friedensrichter geschickt wurde, nicht aus den Augen.
Auch vor diesem leugnete Bradford die Mordtat; es geschah aber unter solch unzweifelhaften Anzeichen eines bösen Gewissens, daß ihm der Beamte auf den Kopf zusagte: »Master Bradford, einer von uns beiden ist der Mörder!«
Der Fall erregte ein außerordentliches Aufsehen. In der ganzen Umgegend, in Oxford, in London wurde von dem ruchlosen Mörder gesprochen, der, mit dem blutigen Messer über dem noch warmen und röchelnden Körper des Opfers betroffen, doch zu leugnen sich erdreistete.
Bradford wurde in Oxford vor die Geschworenen gestellt. Zeugen gegen ihn waren die beiden Gentlemen; beide Ehrenmänner, gegen deren Wahrhaftigkeit auch nicht der geringste Zweifel erhoben werden konnte; beide einig in ihrer Aussage, die durch die Worte des Angeschuldigten nur bekräftigt wurde.
Bradford verteidigte sich vor Gericht, wie er es vor dem Friedensrichter und den beiden Gentlemen getan hatte: War es nicht selbstverständlich, daß jenes Stöhnen, das an sein Ohr gedrungen, ihn eiligst in das Zimmer des Gastes führte? War das Entsetzen, das ihn beim Anblick des Sterbenden ergriff, nicht natürlich? War es nicht natürlich, daß ihm die Knie schlotterten, daß sein Blick starr und unsicher war, als die beiden Gäste ihn an dessen Lager betrafen?
Es war eine schwache Verteidigung, Hayes wälzte sich noch in seinem Blute, er röchelte noch, als Bradford neben dem Bette stand, als die Fremden hinzukamen. Woher sollte ein anderer Mörder gekommen, wohin sollte er wie durch ein Wunder verschwunden sein? Und woher das Blut an Bradfords Messer, an seiner Hand? – die Ausrede, daß er beim Anblick der Fremden vor Schreck das Messer auf Hayes habe fallen lassen, daß er es wieder aufgelangt und dabei auch die Hand blutig gefärbt, erschien albern.
Nie war ein Indizienbeweis stärker; der Richter brauchte kaum den Geschworenen den Fall zu erläutern. Gegenbeweise waren nicht aufzustellen, ein Alibi unmöglich. Die Geschworenen, ein unerhörter Fall, zogen sich nicht einmal in ihr Beratungszimmer zurück. Sie sprachen einstimmig, schon auf ihren Bänken, das » Schuldig« aus.
Bradford ward bald darauf hingerichtet. Die Art, wie er seinen letzten Gang antrat, war nicht die eines Mannes, der, im Bewußtsein seiner Schuldlosigkeit, mit freudiger Klarheit der Seele dem Tode entgegengeht; auch nicht die eines Trotzigen, der über das ihm widerfahrene Unrecht grollt. Er ging gedrückt; aber noch unter dem Galgen erklärte er, er habe Hayes nicht ermordet und wisse nichts von dem Morde. Es glaubte ihm niemand.
Achtzehn Monate nach Bradfords Hinrichtung starb auf dem Krankenbett ein Mann, der im Dienste des ermordeten Hayes gestanden. Er wälzte sich in furchtbarer Unruhe auf seinem Bette und konnte nicht sterben, weil eine Sündenlast ihn drückte. Endlich bekannte er: er sei es, der den seligen Master Hayes damals im Wirtshause ermordet habe, um ihn zu berauben.
Viel mehr konnte er nicht mehr sagen. Nur das erfuhr man: er hatte Hayes im Schlafe erstochen, dann schnell aus den Hosentaschen das Geld, die goldene Uhr und Dose geraubt und sich darauf in seine eigene Kammer geschlichen. Nach allen Berechnungen konnte die Tat und seine Flucht kaum wenige Minuten vor sich gegangen sein, ehe der unglückliche Bradford in das Zimmer des Ermordeten trat. Bei der Gewißheit, den wahren Mörder in Händen zu haben, hatte man keine anderen Spuren verfolgt. Zu einer Untersuchung kam es nicht, weil der Tod den ungetreuen Knecht der weltlichen Strafe entrückte.
Und dennoch, trotz der unzweifeligen Wahrhaftigkeit der Berichte von Hayes' Diener, ist Jonathan Bradford nicht unschuldig gestorben. Auch er hatte seinem Beichtvater, nachdem er zum Tode verurteilt war, ein Bekenntnis abgelegt.
Jonathan Bradford war kein unschuldiger Mann. Er hatte mit lüsterner Gier Hayes am Abend zugehört, als der von seinen Schätzen sprach. Mit der Absicht, den reichen Gast zu ermorden und zu berauben, war er in der Nacht, Messer und Laterne in der Hand, in sein Zimmer geschlichen. Als der Mörder fand, daß ihm ein anderer zuvorgekommen, hatte Entsetzen ihn ergriffen. Er glaubte an ein Blendwerk der Hölle, an eine Täuschung der Sinne. Er wollte sich überzeugen, er streifte die Bettdecke ab; dabei entfiel ihm das Messer. Rasch griff er es auf, als er Geräusch hörte, und so stand er mit blutigem Messer und blutbefleckten Händen da, als ihn die Zeugen betrafen, deren Aussage ihn dem Henker überliefern mußte.
Um das Jahr 1700 galt Saturnin Siadoux als einer der angesehensten Einwohner des Dörfchens Croix Daurada bei Toulouse. Er war ein Witwer von sechzig Jahren, den der Betrieb einer ziemlich bedeutenden Ölsiederei zu Wohlstand gebracht hatte. Drei erwachsene Söhne gingen ihm in seinem Geschäft zur Hand, zwei blühende Töchter führten den Haushalt.
Der einzige Umstand, der ihm seinen Lebensabend verbitterte, war das Verhalten seiner Schwester, der Frau Mirailhe. Diese war vor kurzem Witwe geworden; ihr Mann hatte ihr sein ganzes beträchtliches Vermögen vermacht. Sie wohnte noch in Toulouse, um den Nachlaß zu regeln, wollte aber später nach Croix Daurada übersiedeln und den Rest ihres Lebens im Hause des Bruders zubringen. Sie liebte ihre Neffen und Nichten von ganzem Herzen, und da sie keine eigenen Kinder hatte, sollten jene dereinst ihre Erben werden.
Indes war Frau Mirailhe über die Jahre, in denen eine Frau sich entschließt, eine zweite Ehe einzugehen, noch nicht hinaus. Mancher angesehene Bürger von Toulouse warf ein Auge auf die hübsche und wohlhabende Witwe; aber nur einem einzigen gestattete sie, ihr Besuche zu machen und in ein freundliches Verhältnis zu ihr zu treten. Dieser Bevorzugte, der Fleischermeister Contegrel, war einer ihrer Nachbarn; er hatte ihr beim Ordnen der Bücher ihres Gatten wesentliche Dienste geleistet, deshalb war er ihr willkommen, so oft er das Haus betrat, und sie zog ihn bei allen wichtigen Angelegenheiten zu Rate.
Das war es, was Saturnin Siadoux durchaus nicht gefallen wollte; er merkte recht gut, wie Contegrel anfing, seiner Schwester den Hof zu machen, und er fürchtete, diese würde sich am Ende doch entschließen, seine Bewerbung anzunehmen; und dann war das reiche Erbe seinen Kindern verloren. Aber auch um seiner Schwester selbst willen war ihm die Freierei Contegrels nicht recht. Er hatte sich nach dem Rufe und dem früheren Leben des Metzgermeisters erkundigt und nicht eben das Günstigste in Erfahrung gebracht.
So lagen die Dinge, als Siadoux eine Geschäftsreise nach Narbonne unternahm. Von dieser Stadt aus schrieb er seinen Kindern, daß er den Rückweg über Castnaudry zu nehmen beabsichtige und dort bei einem alten Freunde zwei Tage verweilen wolle; am Dienstag, dem 26. April, werde er wieder in Croix Daurada eintreffen, man solle ihn zur Zeit des Nachtessens erwarten und zur Feier seiner Rückkehr ein reichliches Mahl herrichten. Seine Schwester solle dazu eingeladen werden, auch zwei Nachbarn, Geschäftsleute, die mit Siadoux befreundet waren, ferner der Pfarrer Chaubard, ein in jeder Familie gerne gesehener Gast.
Die Befehle des Vaters wurden befolgt, die Einladungen waren abgeschickt und bereitwillig angenommen worden, die Töchter mühten sich, um mit Küche und Keller Ehre einzulegen.
Der Festabend war herangekommen, im Hause des Herrn Siadoux wurde der Tisch gedeckt. Die Töchter sahen oftmals zu den Fenstern des oberen Stockes hinaus, von wo man ein großes Stück der Landstraße überschauen konnte. Aber vom Vater war nichts zu sehen.
Frau Mirailhe und die beiden Nachbarn stellten sich pünktlich ein. Der Pfarrer Chaubard dagegen, der sonst niemals auf sich warten ließ, kam nicht. Die Sonne ging unter, es fing an zu dunkeln, und noch immer waren weder Siadoux noch der Pfarrer erschienen.
Wartend saß die kleine Gesellschaft um den Tisch herum; nach einer Weile wurde aus der Küche heraufgeschickt: es müsse nun gegessen werden, sonst würden die Speisen verderben.
Man beriet, was man tun solle; Frau Mirailhe sagte endlich, sie glaube, ihr Bruder käme am heutigen Abend gar nicht mehr nach Hause. Es sei wohl das beste, mit dem Essen zu beginnen, sobald Herr Chaubard eintreffe.
In der Tat war das Wetter sehr ungünstig, es hatte den ganzen Tag geregnet, so daß es nicht unwahrscheinlich war, daß Siadoux seine Reise nicht hatte fortsetzen können.
Abermals wurde von der Küche heraufgeschickt, man möchte doch mit dem Essen nicht länger warten.
Es war ärgerlich, daß auch der Pfarrer noch nicht da war; sollte er krank sein? – Aber der jüngste Sohn des Herrn Siadoux, Johann, versicherte, er sei ihm am Morgen auf dem Wege nach Toulouse begegnet, und Herr Chaubard habe gesund und frisch wie immer ausgesehen. Auch einer der Nachbarn wollte den Pfarrer – am Nachmittag – getroffen haben; er aber behauptete, daß der geistliche Herr von fürchterlicher Blässe gewesen sei.
Ein anderer der Söhne, namens Thomas, erbot sich nun, den Pfarrer in seiner Wohnung aufzusuchen und zur Gesellschaft zu bringen, falls er ihn gesund und außerhalb des Bettes antreffe.
Als Thomas Siadoux in des Priesters Haus kam, fand er diesen allein in seinem Studierzimmer sitzen. Herr Chaubard sprang entsetzt auf, als der junge Mann bei ihm eintrat.
Thomas entschuldigte sich, daß er den Herrn Pfarrer erschreckt habe. »Was wünschet Ihr von mir?« fragte ihn dieser mit einem eigentümlich rauhen Tone.
Thomas erinnerte ihn an das Abendessen und teilte zugleich mit, daß sein Vater ausgeblieben sei. In diesem Augenblick fiel der Priester in seinen Stuhl zurück und schien von einem Fieberschauer erfaßt zu werden, der ihn vom Kopf bis zu den Füßen durchrüttelte.
Thomas erstaunte, doch schrieb er die seltsame Art des Pfarrers einer leichten Erkältung infolge des schlechten Wetters zu und forderte ihn mit den freundlichsten Worten auf, ihm zum Abendessen zu folgen. Wenn er nicht käme, so müsse seine Familie ja glauben, sie hätte den Herrn Pfarrer, der sich ihr sonst immer so freundlich erwiesen habe, irgendwie beleidigt.
Herr Chaubard erhob sich abermals von seinem Stuhl. Sein Benehmen war gänzlich verändert, aber ebenso auffallend wie zuvor. Seine Augen glänzten, wie wenn Tränen darin stünden, er faßte die Hand von Thomas Siadoux, drückte sie lange und herzlich und schaute den jungen Mann mit einem merkwürdigen Blicke an.
»Möget Ihr nie an meiner Freundschaft zweifeln, auch heute nicht!« sagte er sehr ernst. »So unwohl ich mich auch fühle, will ich doch an dem Nachtessen teilnehmen, um Euretwillen –«
»Und um meines Vaters willen?« setzte Thomas überredend hinzu.
»Lasset uns gehen.«
Thomas legte ihm den Mantel um, beide verließen die Wohnung des Pfarrers und gingen nach dem Siadouxschen Hause.
Herr Chaubard entschuldigte bei der Gesellschaft sein Ausbleiben mit einem Nervenübel, das ihn öfters befalle, er wolle indes sein möglichstes tun, um zu dem geselligen Vergnügen des Abends beizutragen. Alle Anwesenden fanden das Aussehen des Pfarrers eigentümlich verändert, und nicht bloß sein Aussehen, auch sein Benehmen war sonderbar. Scheinbar nahm er zwar an der Unterhaltung teil, aber seine Reden waren unzusammenhängend und wirr, seine Heiterkeit erzwungen, er stocherte in dem Essen herum, trank schnell nacheinander mehrere Glas Wein und versank oft in dumpfes Brüten, aus dem er plötzlich wieder jäh aufschreckte.
Das Hauptgespräch bei Tisch drehte sich naturgemäß um den abwesenden Hausherrn; je mehr der Abend vorrückte, desto unruhiger wurde der Priester. Die anderen sahen, daß ihm am wohlsten sei, wenn man ihn völlig in Ruhe ließe; als desto ungehöriger empfanden sie es, daß Johann Siadoux ihn unaufhörlich aufs genaueste beobachtete und kein Auge von ihm verwandte.
Um elf Uhr standen die Gäste auf. Die beiden Nachbarn nahmen Abschied, wie es sich gehört, Herr Chaubard hingegen war plötzlich verschwunden, ohne nur »Gute Nacht!« zu sagen. Wiewohl er sonst von der ausgesuchtesten Höflichkeit war, nahm man ihm das bei seinem offenkundigen Unwohlsein nicht übel.
Die Witwe Mirailhe und die beiden Mädchen zogen sich in ihre Schlafzimmer zurück. Die drei Brüder blieben noch im Speisesaal. Die beiden älteren machten Johann ernstliche Vorhaltungen wegen seines unfreundlichen Wesens gegenüber dem Gaste; Johann entgegnete nichts weiter, als daß er ihnen sein Verhalten am nächsten Tage erklären wolle.
Als am folgenden Tage mit der Post kein Brief des Herrn Siadoux einlief, glaubten seine Angehörigen, daß er nun bestimmt in kurzem selbst eintreffen werde.
Aber Stunde um Stunde verfloß, er kam nicht. Gegen Mittag sahen die Töchter, als sie wieder einmal nach dem Vater ausschauten, einen Trupp von Leuten, die sich dem Dorfe näherten. An der Spitze schritt der oberste Gerichtsbeamte von Toulouse in seiner Amtstracht, hinter ihm kamen mehrere Gerichtsdiener, die etwas zu tragen schienen. Der Zug machte vor dem Hause des Herrn Siadoux halt. Die Töchter eilten an die Tür, um zu erfahren, was das zu bedeuten habe. Sie erblickten auf der Bahre, welche die Männer trugen, den Leichnam ihres Vaters.
Man hatte den leblosen Körper in der Frühe des 27. April an den Ufern des Gers gefunden. Dem Toten war nichts Wertvolles geraubt, man fand Uhr und Börse an ihrem Ort. Brust und Rücken waren dem Unglücklichen von elf tiefen Messer- oder Dolchstichen durchbohrt worden.
Der Schmerz und der Jammer im Hause des Toten war unbeschreiblich. Geraume Zeit verging, ehe die Kinder es zu fassen vermochten, daß ihr teurer Vater, den sie noch vor wenigen Tagen gesund und kräftig gesehen, als Leiche vor ihnen lag. Sie konnten sich nicht erklären, von wem er, der niemals einen Feind gehabt hatte, tückisch ermordet worden war.
Man hatte nicht die geringste Vermutung, wer der Täter sein könne. Dem Gerichtsbeamten blieb daher nichts weiter übrig, als der Familie seine Teilnahme auszudrücken und das Versprechen zu geben, daß er alles aufbieten wolle, um den Verbrecher ausfindig zu machen. Er zog mit seinen Leuten wieder ab. Die Witwe Mirailhe und ihre Nichten legten sich, als der Abend herankam, nieder, erschöpft von der Gemütsbewegung, und abermals blieben die drei Brüder allein im Zimmer.
Sie besprachen das gräßliche Unglück, ihr heißes südliches Blut kochte, es verlangte sie nach Rache, und mit tränenlosen Augen fragten sie einander, wer wohl den Mord begangen haben könne.
Endlich nahm Johann das Wort. »Ihr tadeltet mich gestern, weil ich den Herrn Chaubard fortwährend so spähend angesehen hatte. Aber als er bei uns war, kam mir die Überzeugung, daß unserem Vater etwas zugestoßen sei, und daß der Priester darum wisse.«
Seine beiden Brüder blickten ihn erstaunt an.
»Ich wiederhole: der Priester weiß, wer unsern Vater ermordet hat!«
Und nun machte er die Brüder auf alles aufmerksam, was seinen Argwohn hervorgerufen hatte: das vortreffliche Aussehen des Pfarrers am Morgen, sein geisterhaft blasses einige Stunden später; sein merkwürdiges Benehmen, von dem Thomas erzählt hatte, und das sie dann selbst beim Abendessen beobachten konnten; zuletzt, daß Chaubard es am Abend in auffälliger Weise vermieden habe, auf das Gespräch über die Abwesenheit des Vaters einzugehen, ja, daß er versucht, diesem Gespräch eine andere Wendung zu geben und viermal – Johann hatte genau beobachtet – viermal mit etwas ganz anderem begann.
Was Johann sagte, leuchtete seinen Brüdern vollkommen ein; sie frugen sich aber, woher der Pfarrer etwas wissen könne.
»Das soll er uns selbst sagen!« versetzte Johann.
Und nun berieten die Brüder.
Darauf gingen sie feierlich in das Zimmer, in dem der Leichnam des Vaters lag, einer nach dem anderen küßte den Toten auf die Stirn, dann reichten sie sich die Hände, sahen sich fest ins Auge und trennten sich. Ludwig und Thomas setzten ihre Hüte auf und begaben sich ohne Verzug in die Wohnung des Priesters, Johann ging ins Hinterhaus, in welchem die Ölsiederei betrieben wurde.
Nur einer der Arbeiter war anwesend. Er hatte einen ungeheuren Kessel mit kochendem Leinöl zu überwachen.
Johann schickte ihn nach Hause. Nach dem Unglück, das ihnen zugestoßen sei, könne er doch nicht schlafen und wolle seinen Platz beim Kessel einnehmen.
Der Mann entfernte sich, und Johann setzte sich neben dem Kessel nieder.
Unterdessen baten Ludwig und Thomas den Pfarrer, mit ihnen zu kommen. Der Schrecken über des Vaters furchtbaren Tod habe ihre Tante und ihre älteste Schwester so sehr entsetzt, daß für ihren Verstand zu fürchten sei, wenn sie nicht noch in der Nacht geistlichen Trost und Beistand erhielten. Der Priester – pflichtgetreu wie immer, wo es sich um Dinge seines Amtes handelte – erklärte sich sogleich bereit, die jungen Männer zu begleiten. Er zog seinen Chorrock an und nahm das Kruzifix mit.
Die zwei führten ihn in das Hinterhaus, wo Johann wartend bei dem Ölkessel saß. Kaum war der Pfarrer eingetreten, so wurde die Tür hinter ihm zugeschlossen, und Thomas sagte ihm, daß nicht die Frauen ihn brauchten, sondern daß sie selbst von ihm Antwort auf einige Fragen haben wollten. Wenn er sich weigere – – er blickte Johann und den kochenden Kessel an.
Der Priester erschrak, aber seine Seele war ohnehin schon zerrüttet. Sie führten ihn an den Kessel, in welchem das Öl zischte. Ludwig nahm ihm das Kreuz ab und hielt es ihm vor das Gesicht, Thomas nötigte ihn, die rechte Hand darauf zu legen, und nun – Johann fragte – entspann sich, der späteren Aussage der Brüder zufolge, etwa dieses Zwiegespräch:
»Unser Vater wurde uns ermordet ins Haus gebracht. Wißt Ihr, wer ihn getötet hat?«
Der Priester zauderte und schwieg, Thomas und Ludwig drängten ihn näher an den Kessel.
»Antwortet, wenn Euch Euer Leben lieb ist!« drohte Johann. »Sagt uns, die Hand auf dem heiligen Kruzifixe, ob Ihr den Menschen kennt, der unsern Vater getötet hat?«
»Ich kenne ihn.«
»Wann machtet Ihr seine Bekanntschaft?«
»Gestern.«
»Wo?«
»In Toulouse, in der Kirche des heiligen Stephan, wo ich Messe zu lesen und Beichte zu hören hatte.«
»So nennet uns den Mörder!«
Als er diese Worte hörte, zog der Priester das Kruzifix fest an sich und nahm seinen ganzen Mut zusammen.
»Niemals!« antwortete er. »Das, was ich weiß, erfuhr ich im Beichtstuhl. Die Geheimnisse der Beichte aber sind heilig. Verrate ich sie, so begehe ich ein Sakrileg. Lieber sterben.«
Johann forderte ihn auf, zu überlegen, was er spreche. Wenn er bei seinem Schweigen verharre, den Mörder verheimliche, so werde er dessen Mitschuldiger. Er erklärte dem Priester, daß sie bei dem Leichnam ihres Vaters geschworen hätten, seinen Tod zu rächen. Wenn er ihnen das Geheimnis nicht entdecke, so würden sie ihn für den Mord büßen lassen. Nochmals fordere er ihn darum auf, den Namen des Verbrechers bekanntzugeben.
»Lieber sterben,« wiederholte der Priester, fest wie zuvor.
»So stirb also!« rief Johann. »Werft ihn in den Kessel!«
»Laß ihm Zeit,« baten Ludwig und Thomas.
»Nun wohl,« sagte Johann; »so wollen wir dort an der Uhr fünf Minuten abzählen. In dieser Zeit mag der Priester seinen Frieden mit Gott schließen, oder sich besinnen und reden.«
Die Augen auf die Uhr gerichtet, so warteten die drei.
Der Priester kniete nieder und betete.
»So sprechet doch! Um Euretwillen, um unsertwillen sprecht!« flehte Thomas, als die Gnadenfrist verstrichen war.
Der Priester wollte reden, er vermochte es nicht, ein undeutbares Stammeln kam von seinen Lippen.
»Hebt ihn auf!« rief jetzt Johann, den Priester am Arm packend. »Hebt ihn auf und werft ihn in den Kessel!«
Die Brüder zögerten, Johann erinnerte sie an ihren Schwur.
Da faßten Thomas und Ludwig ihr Opfer, der Unglückliche wurde emporgehoben, er schwebte über dem Kessel, die Glut schlug ihm entgegen. Einen Schrei des Entsetzens stieß er aus, die Brüder hielten ihn über dem Rande und mahnten ihn zum letzten Male.
Da wurde er schwach. Er machte ein Zeichen. Sie setzten ihn auf einen Stuhl und warteten, bis er die Sprache wieder gefunden.
Seine ersten Worte waren ein inständiges Flehen. Dann, sich in sein Schicksal ergebend, bat er Thomas, ihm das Kruzifix zu reichen. Thomas gab es ihm, Chaubard küßte das Bild des Heilands und bat mit matter Stimme Gott um Verzeihung für die Sünde, die er zu begehen im Begriffe sei.
Und nun wiederholte Johann seine Fragen.
»Ihr kennet den Mörder unseres Vaters?«
»Ich kenne ihn.«
»Seit wann?«
»Seit er mir gestern in Toulouse gebeichtet hat.«
»Nun nennet ihn!«
»Sein Name ist Contegrel.«
»Derselbe, der unsere Tante heiraten will?«
»Derselbe.«
»Was führte ihn in den Beichtstuhl?«
»Seine Gewissensbisse.«
Und nun erzählte der Priester: Contegrel war es zu Ohren gekommen, daß nachteilige Gerüchte über ihn sich im Umlauf befanden. Er hatte richtig vermutet, daß der alte Siadoux sich nach Narbonne begeben, um jenen Gerüchten auf den Grund zu kommen; denn in Narbonne hatte Contegrel früher seinen Wohnsitz gehabt. Was Siadoux in jener Stadt gehört hatte, das mußte eine Verbindung seiner Schwester mit Contegrel zur baren Unmöglichkeit machen. Contegrel war bereits verheiratet, er hatte seine Frau in Narbonne verlassen, wo dieselbe unter fremdem Namen mit einem anderen Manne lebte. Sie selbst – und Contegrel erfuhr es – hatte dies Siadoux bekannt. Daraufhin hatte sich Contegrel entschlossen, um zur Ehe mit der reichen Frau gelangen zu können, deren Bruder aus dem Wege zu räumen. Zwischen Villefranche und Croix Daurada war der Mord begangen worden. Bis Villefranche hatte sich Siadoux in der Gesellschaft mehrerer Leute befunden, welche dieselbe Straße gingen. Dann ritt er allein weiter. Contegrel zog das Messer, als Siadoux anhielt, um sein Pferd am Flusse zu tränken, und erstach ihn von hinten.
Bei seinem Eide beteuerte der Priester, daß dies die Wahrheit sei.
»Nun könnt Ihr gehen,« sagte Johann.
Der Priester stand auf. Von dem Augenblick an, in welchem die Todesangst ihm den Namen des Mörders erpreßt hatte, war eine große Veränderung mit ihm vorgegangen. Er antwortete mit der unerschütterlichen Ruhe eines Mannes, für welchen alle menschlichen Dinge ihren Wert verloren haben.
An der Türe blieb er stehen, er sah die drei Brüder mit einem tief bekümmerten Blick an, den keiner von ihnen vergessen konnte, und sagte dann:
»Ich vergebe Euch, betet für mich, wenn meine Zeit kommt!«
So verließ er wankenden Schrittes das Haus.
Die Nacht war weit vorgeschritten, trotzdem beschlossen die drei Brüder, sogleich nach Toulouse zu eilen und dort noch vor Tagesanbruch der Gerichtsbehörde Anzeige zu erstatten.
Es schlug ihnen zwar das Gewissen, sie machten sich Vorwürfe, daß sie den Pfarrer gezwungen hatten, den Mörder zu nennen; aber sie waren auch überzeugt, daß es ihre Kindespflicht gewesen sei, jedes Mittel zu benützen, um den Mord ihres Vaters zu rächen. Sie waren der Ansicht, daß die härteste Strafe, die Herrn Chaubard treffen könne, der Verlust seiner Pfarrei sei; für diesen Fall aber – darauf gaben sie sich die Hand – wollten sie ihn entschädigen und gemeinsam dafür sorgen, daß er sein genügendes Auskommen habe.
Erst in Toulouse gingen ihnen die Augen auf. Als sie dem Beamten, welcher tags zuvor in ihrem Haus gewesen, mitteilten, wer der Mörder sei, und wie sie ihn entdeckt, malte sich das größte Entsetzen in dessen Mienen. Mit bebender Stimme rief er aus: »Es wäre vielleicht besser, ihr wäret nie geboren worden, als daß ihr den Tod eures Vaters auf solche Weise sühnt! Euere Handlung stürzt den Schuldigen und den Unschuldigen in das gleiche Verderben!«
Contegrel wurde verhaftet; da es keine anderen Beweise gegen ihn gab, mußte ihm die Aussage des Pfarrers vorgehalten und so der Bruch des Beichtgeheimnisses verraten werden. Das zuständige Tribunal, das Parlament von Languedoc, erließ sofort den Befehl, daß der Priester und die drei Brüder gleichfalls einzuziehen, und daß auch ihnen der Prozeß zu machen sei.
Zunächst wurde nun Contegrel des Mordes überführt, zur Räderung verurteilt und nach wenigen Wochen in Toulouse öffentlich hingerichtet.
Die Brüder Siadoux gestanden ohne Bedenken, daß sie den Pfarrer Chaubard nur durch die ernstgemeinte Drohung, ihn in den Kessel mit siedendem Öl zu werfen, hätten nötigen können, den ihm unter dem Siegel der Beichte bekannt gewordenen Mörder ihres Vaters zu offenbaren. – Sie wurden zum Tode durch den Strang verdammt.
Eine weit furchtbarere Strafe erwartete den unglücklichen Priester. Das Erkenntnis gegen ihn lautete: Es sind ihm die Glieder einzeln durch das Rad zu brechen, dann soll er noch lebend auf den Scheiterhaufen gebracht und verbrannt werden.
So sehr man auch an die grausamsten Exekutionen gewöhnt war – dieser Fall rief doch allgemeine Entrüstung hervor. Niemand konnte in dem, was die Brüder getan, ein todeswürdiges Verbrechen entdecken; noch weniger konnte man begreifen, warum Chaubard dem Feuertode verfallen sein sollte. Er war ja in der peinlichsten Zwangslage gewesen und hatte das Beichtgeheimnis nur verletzt, um dem entsetzlichsten Tode zu entgehen.
Nicht nur aus Toulouse, aus der ganzen Landschaft lief eine Flut von Schreiben zugunsten des unseligen Priesters und der Brüder ein. Aber das Los des Pfarrers war entschieden. Alles, was die Fürsprache von Personen vom höchsten Range erreichte, war, daß der Scharfrichter ihm den Todesstoß versetzen durfte, ehe sein Körper den Flammen übergeben wurde. Mit dieser einzigen Milderung wurde der Spruch in seiner vollen Strenge an dem Pfarrer von Croix Daurada vollzogen.
Jetzt sollten auch die Brüder Siadoux sterben. Aber das durch den Tod des allgemein beliebten Priesters auf das heftigste erbitterte Volk zeigte eine solche Empörung darüber, daß die Behörden glaubten, darauf Rücksicht nehmen zu müssen. Die Sache der jungen Männer wurde von der heißblütigen Bevölkerung zur Sache von allen Vätern und Söhnen gemacht, man rühmte ihre kindliche Liebe, man führte ihre Jugend für sie ins Feld; man wies darauf hin, daß sie die furchtbare Verantwortung, die sie durch den gegen den Geistlichen verübten Zwang auf sich geladen, nicht kannten.
Die Behörden hatten Andeutungen erhalten, daß das Erscheinen der Gefangenen auf dem Schafott das Signal zu einem allgemeinen Aufruhr und zur gewaltsamen Befreiung der Brüder sein würde. Unter diesen Umständen beschloß man, die Hinrichtung hinauszuschieben, die Brüder einstweilen in sicherem Gewahrsam zu halten, und das Todesurteil erst, wenn das Volk sich beruhigt hätte, zu vollstrecken.
Der Aufschub rettete den Brüdern nicht nur das Leben, sondern gab sie auch der Freiheit wieder. Sie waren alle drei hübsche, stattliche Männer. Der sanfteste unter ihnen, Thomas, flößte der Tochter des Gefängniswärters zuerst lebhafte Teilnahme, dann heiße Liebe ein. Der Vater wurde durch die Bitten und Tränen seiner Tochter erweicht, er ließ sich bewegen, ein Auge zuzudrücken und ein einziges Mal nicht so wachsam zu sein wie sonst – das übrige besorgte das schlaue Mädchen.
Eines Morgens vernahmen die Bewohner von Toulouse zu ihrer nicht geringen Freude, daß die drei Brüder in Gesellschaft der Tochter des Gefängnisdieners entflohen seien.
Um der gesetzlichen Form zu genügen, ordnete die Behörde zwar eine Verfolgung an, aber im Grunde war auch sie recht froh über diese Lösung. Man gab sich nicht sonderliche Mühe, der Flüchtlinge wieder habhaft zu werden, und so gelang es ihnen, ohne große Schwierigkeiten über die Grenze zu kommen.
Drei Wochen später traf aus Paris der Befehl ein, das Urteil solle am Bilde der Brüder Siadoux vollzogen werden. Kaum war dies geschehen, so erhielten sie die Erlaubnis, nach Frankreich zurückzukehren, jedoch mit der ausdrücklichen Bedingung, daß sie weder ihren Geburtsort noch überhaupt die Provinz Languedoc jemals wieder betreten dürften. Mit dieser Einschränkung konnten sie sich niederlassen, wo es ihnen beliebte.
Von ihrem weiteren Schicksale ist nichts bekannt geworden.
Der Diener einer vornehmen Familie in Berlin trat am Abend des 2. Dezember 1843 in einen Branntweinladen und forderte ein Glas Likör. Der Wirt, bei dem er gut bekannt war, fragte ihn, warum er sich so lange nicht eingefunden? Der Diener klagte über das Jammerleben, das er zu führen habe; er wisse gar nicht, wo ihm der Kopf stehe, so viel habe er zu verrichten. Heute besonders sei es kaum auszuhalten, denn das älteste gnädige Fräulein mache Hochzeit. Alles Silberzeug habe hervorgeholt und geputzt werden müssen. Eben jetzt müsse er noch zum Goldarbeiter, um einen Armleuchter zu holen, der dort in Arbeit sei.
Der Jäger ging; ein Mensch, der in abgetragener Kleidung in einem Winkel der Stube saß und auch ein alter guter Kunde des Wirts war, fragte diesen, wer der Bursche sei? Der Wirt nannte den Namen und die Herrschaft, bei welcher der Jäger diente, und setzte hinzu, diese wäre ungeheuer reich und freigebig; die Dienstboten hätten es da gut. Der Fragende stieß einen Fluch aus: »Ja, wer hat, bei dem liegt's in Haufen!« Er brummte über die ungerechte Verteilung der Güter, zog sich wieder auf seine Bank zurück und begann mit zwei andern Gästen seines Schlages ein leises Gespräch. Dann bezahlten alle drei und verließen zugleich die Schenke.
Auf der Straße setzten sie ihr Gespräch fort. Der eine sagte leise: » Ich will des Teufels sein, komme ich nicht!« – Der zweite: »Bruder, verlaß dich auf mich; › wenn ich nicht das Bein breche, so komme ich!‹« – Der dritte sagte: » Und soll mich's zehn Jahre kosten, ich bin dabei!«
»Schlag zwei Uhr, wenn der Wächter vorbei!« mit diesem Losungswort trennten sie sich.
Das Hintergebäude des Hauses, in welchem die Herrschaft des Jägers wohnte, ging auf eine Gasse, von welcher aus die Diebe ihren Einbruch bewerkstelligten. Kein Wächter störte sie, als sie mit dem Glockenschlag zwei eine mitgebrachte Leiter an ein Fenster des oberen Stockes setzten. Der Vorderste drückte ohne Geräusch die Scheibe ein und öffnete das Fenster, durch welches alle drei – mit Äxten, Nachschlüsseln und Säcken wohl versehen – stiegen.
Sie schlichen auf dem Gange, zu dem ihnen das Fenster Zutritt gewährt hatte, bis zu einer Treppe fort, welche nach dem Hofe führte. Über den Hof gingen sie ins Vorderhaus. Die Glastüre des Vorsaals fanden sie verschlossen. Mittels eines Dietrichs ward sie leicht geöffnet. Keine größeren Schwierigkeiten bereitete ihnen die Flügeltür, welche zu dem großen Saale führte, in dem das Hochzeitsmahl gefeiert worden war. Alles blieb still, als sie ihre Blendlaterne anzündeten, bei deren mattem Schein sie auf der noch unabgeräumten langen Tafel den ganzen Reichtum an Silbergeschirr entdeckten. Freudig griffen sie zu, ohne den geringsten Lärm zu machen, und stopften in die Säcke, was ihnen wertvoll schien und darin Platz hatte. Mit leisen Schritten machten sie sich auf den Rückweg.
Derselbe Jäger, welcher unbewußt zum Verräter seiner Herrschaft geworden, war inzwischen erwacht, nicht durch das Geräusch, sondern durch einen kalten Luftzug, der über sein Gesicht strich. Er schlief in dem Hinterhause; seine Kammer ging auf den Gang. Der Luftzug kam von der zerbrochenen Scheibe. In der Meinung, daß er oder ein anderer ein Fenster aufgelassen habe, sprang er auf, um es zu schließen. In der Dunkelheit tappend, stieß er an eine Leiter, die nie hier gestanden: Sie war von den Dieben zu größerer Sicherheit in den Gang hereingezogen worden. Der Diener trat mit seinen Füßen auf Glasscherben, und nun bemerkte er auch die eingeschlagene Scheibe.
Schnell erkennend, was hier vorgegangen, und rasch entschlossen sprang er nach der Kammer zurück, riß den Hirschfänger aus der Scheide und war schon auf dem Gange, als er die Diebe die Treppe heraufkommen hörte. Mutig stürzte er ihnen entgegen. Die Diebe warfen ihre Säcke fort. Der eine schwang seine Axt und wollte auf den Jäger losgehen. Aber ehe er seine schwere Waffe niederfallen lassen konnte, gab der ihm mit der Klinge einen Hieb über den Kopf, daß er bewußtlos niederstürzte. Der zweite war währenddessen rasch durch das offene Fenster auf die Straße gesprungen. Der dritte, vor Angst und Furcht regungslos, wagte weder zu fliehen noch Widerstand zu leisten.
Der Jäger hielt ihn gepackt, während sein Schreien die anderen Hausbewohner erweckte; sie eilten herbei. Von draußen schrie der Nachtwächter hinauf: was es denn gäbe? auf dem Steinpflaster läge ein Kerl, der jämmerlich ächze! Die Polizei kam jetzt auch hinzu. Zwei der Diebe wurden in das Gefängnislazarett gebracht.
Derjenige, welchen der Hirschfänger des Jägers getroffen, konnte nicht mehr bekennen und nicht mehr vernommen werden. Die Wunde war zu tief ins Gehirn gedrungen. Nach einem elfstündigen Todeskampfe verschied er schon am Tage darauf. Man erkannte in ihm einen mehrmals als Dieb und Betrüger bestraften Tischler, der ein wüstes Leben geführt hatte; und bei der Leichenöffnung ergab sich, daß sein Körper dermaßen durch Ausschweifungen und Völlerei verwüstet war, daß der Hieb des Jägers ihn vor einem langsamen, qualvollen Tode errettet hatte.
Der andere, verwundete Dieb hatte den rechten Schenkel bei dem Sprung aus dem Fenster an zwei Stellen gebrochen. Auch hatte er eine starke Gehirnerschütterung erlitten und konnte, furchtbar leidend, zuerst nur wenig sprechen. Auch in ihm erkannte man einen schon mehrmals bestraften Einbrecher.
Seine schlechten Säfte erschwerten die Kur. Der Brand war in das rechte Bein gekommen, und um sein Leben zu erhalten, mußte es ihm abgenommen werden. Als der Arzt ihm das ankündigte, schien in seinem Wesen eine Veränderung vorzugehen. Er, der bisher jedem Zuspruch und jeder Ermahnung verschlossen geblieben, seufzte tief auf und rief plötzlich: »Ja, es lebt ein gerechter Gott!«
Denn nun – und das war es, was solchen Eindruck auf ihn machte – hatte sich ja das Geschick der Diebe ganz so erfüllt, wie sie selber es unbewußt voraus verkündet. Der Tischler, welcher »des Teufels sein« wollte, wenn er beim Einbruche fehlte, hatte sein Leben eingebüßt; der andere, der gesagt hatte: »Und soll mich's zehn Jahre kosten, ich bin dabei!« den verurteilte das Gericht in der Tat zu zehn Jahren Zuchthaus; und um das merkwürdige Spiel des Zufalls voll zu machen, büßte der dritte der Genossen, der sich vermessen hatte, an dem Einbruch teilzunehmen, wenn er nicht sein Bein bräche, dasselbe nunmehr ein.
Als so auch an diesem letzten der drei Diebe sich das Geschick vollzog, wirkte das dermaßen auf ihn ein, daß von da ab eine völlige Umwandlung bei ihm erfolgte.
Er verlangte nach geistlichem Zuspruch, den er bisher kalt zurückgewiesen, er begehrte und empfing das Abendmahl kurz vor der Amputation. Bei dieser blieb er standhaft und fiel erst in Ohnmacht, als der Verband angelegt wurde.
Er legte vor Gericht reumütig ein Bekenntnis ab und schrieb für den behandelnden Arzt, zu dem er ein großes Zutrauen gefaßt hatte, seinen Lebenslauf nieder. Es ist die Alltagsgeschichte des Proletariers, der zum Verbrecher wird; und doch ist sie beachtenswert, weil die Unmittelbarkeit der einfachen Worte den Werdegang einer solchen Gestalt klar veranschaulicht.
»Ich bin,« schreibt er, »zu Brandenburg im Jahre 1807 geboren, mein Vater war Maurergeselle. Er hatte Arbeit genug, und meine Mutter verdiente als Wäscherin schönes Geld. In meiner Jugend bis zum achten Jahre ging mir nichts ab, ich war gesund und wurde zu kleinen häuslichen Verrichtungen, zum Warten und Wiegen meiner jüngern Geschwister angehalten, aber zur Schule schickte man mich nicht. Von der Mutter lernte ich das Vater Unser und die zehn Gebote, die ich alle Morgen und Abend beten mußte; vor die Türe zu andern Jungen durfte ich nicht.
Da es in den damaligen Kriegsjahren an Durchmärschen und Gelegenheit zum Verdienst nicht fehlte, hatte mein Vater einen kleinen Schnapsladen angelegt, und seitdem sah und hörte ich viel Böses, das ich schnell genug lernte. Das Fluchen und Schwören der Gäste, zumal derer, die täglich kamen, und ihre schmutzigen Reden taten mir nicht gut, und der Branntwein, den mir einer oder der andere gab, verwilderte mich vollends. Ich ward trotzig gegen die Mutter, stahl dem Vater heimlich Geld aus der Lade, ging ihm über die Flaschen; und als er mich einige Male ertappte, züchtigte und zur Strafe in die Schule schickte, hielt ich es dort kaum ein Jahr aus. Ich lernte notdürftig lesen, und da meine Beihilfe in der Schenke erforderlich wurde, behielt mich der Vater wieder ganz zu Hause. Ich habe seitdem viele Bücher gelesen. Räuber- und Diebesgeschichten verschlang ich gleichsam. Ein Gast, der eine Leihbibliothek hatte, erlaubte mir, sie zu benutzen, und ehe ich fünfzehn Jahre alt wurde, hatte ich sie durchlesen. Das verdarb mich vollends, ich wollte auch ein berühmter Räuber werden, und alles, was ich von dem freien Leben dieser Menschen las, reizte mich außerordentlich.
Erst als ich eingesegnet werden sollte, bekam ich eine Bibel. Ich wurde sechs Wochen von einem Geistlichen unterrichtet, was mir sehr langweilig vorkam. Nach meiner Einsegnung – ich hatte bei der Feier viel Tränen vergossen, weil auch die andern Kinder weinten – ging ich mit meiner Mutter zum Abendmahl. Seitdem habe ich es erst im Gefängnisse wieder genossen.
Inzwischen war in unserm Hause eine traurige Veränderung vorgegangen. Mein Vater fand beim Schank seine Rechnung nicht mehr. Es ging rückwärts, und war er früher schon gerade kein Säufer, aber doch ein Liebhaber des Branntweins gewesen, so trank er jetzt immer stärker, mißhandelte die Mutter und uns Kinder, zerschlug in der Besoffenheit alles, was er ergriff, und wollte sich von der Mutter, die ihm zu stille war und auf die er alle Schuld warf, scheiden lassen. Der Tod der Mutter, die sich abzehrte, kam dazwischen. Dieser Tod brachte in unser Hauswesen die größte Zerrüttung. Um den Vater war es nicht mehr auszuhalten, er lebte mit der Magd, die uns Kinder ganz vernachlässigte, so daß wir vom Ungeziefer fast aufgerieben waren, viel Schläge, aber keine regelmäßige Mahlzeiten bekamen und in zerrissenen Kleidern gingen. Was man mir nicht gab, das suchte ich zu nehmen. Aus Schlägen und Schelten machte ich mir nichts. Ich wuchs dem Vater über den Kopf. Um mich los zu werden, gab er mich als Handlanger unter die Maurer seiner Bekanntschaft. Hier bekam ich die weitere Ausbildung im Fluchen, Saufen und rohem Wesen, hier lernte ich Gottes ganz vergessen. Des Winters, wo es keine Arbeit gab, kam ich wohl zum Vater zurück und half in der Wirtschaft, öfters besoff ich mich und prügelte mich mit ihm, denn ich ließ mir nichts sagen. Er warf mich auf die Straße, und ich geriet nun mit den verworfensten Menschen in Gemeinschaft. Noch hatte ich nicht fremde Leute bestohlen, jetzt nahmen mich die Kameraden mit, lehrten mich alle Schliche und Listen, und ich ward nicht nur ihnen gleich, sondern tat es ihnen bald zuvor. Mein Gewissen, wenn es mich mahnen wollte, erstickte ich in Branntwein und Ausschweifungen. Aber es war doch ein jämmerliches Leben. Keine Ruhe im Herzen, Blöße und Hunger im Winter. Oft wußte ich nicht, wo ich nachts Herberge finden würde; war etwa ein Sündengeld durch Betrug und Diebstahl erworben, wurde es, wie im Sommer der Wochenlohn, verjubelt.
Ich habe manchmal vor Gericht gestanden, aber ich log frech und befreite mich. Das machte mich nur noch dreister im Stehlen. Einmal aber ward ich doch ertappt und kam auf fünf Monate in das Untersuchungsgefängnis. Hatte ich zuvor noch nicht ausgelernt, so erhielt ich hier im Beisammensein mit dem Abschaum alles Volkes erst die rechte Einweihung in die Diebsgenossenschaft. Ich kam viel schlechter heraus, als ich hineingekommen war, und wußte nun meine Diebereien schlauer und durch Mitwirkung Bekannter erfolgreicher zu betreiben. Jetzt fand ich Unterkommen, jetzt kannte ich die Hehler, jetzt war ich unterrichtet, wie man sich aus den Schlingen ziehen und den Richter auslachen muß. Auch die Strafe fürchtete ich nicht mehr, denn es ging mir im Gefängnis gar nichts ab. Wir waren da in Gesellschaft beieinander, erzählten uns, waren lustig und guter Dinge, und zeigten unter uns ganz andere Gesichter als vor den Aufsehern und Richtern. Auch standen wir mit unsern Leuten draußen in fortwährendem Verkehr, und es bedurfte nicht eben großer Schlauheit, um durch Entlassene unsere gemeinschaftlich ausgesonnenen Diebespläne auszuführen. An Essen und Trinken, Kleidern und Wäsche fehlte es nicht, die Arbeit war ein Kinderspiel, und wurde man entlassen, bekam man noch ein Paar Hemden, Schuhe, ja selbst etwas Geld. Da hatte man wieder etwas zu vertun und zu verkaufen. War's alle, ging die Dieberei von neuem los, und ward man erwischt, was konnte einem arges passieren? Denn wenn es auch im Zuchthause etwas strenger war und die Schläge weh taten, wenn man da auch zum Geistlichen in den Unterricht und in die Kirche mußte, so ging's ja immer noch sorgenlos und lustig genug zu, und wenn man gut heucheln konnte, wie ich's aus dem Grunde lernte, und seine Arbeit verrichtete, die immer leichter war, als sie jeder Arme draußen tun muß, da war's ein prächtiges Leben, besonders wenn's nicht gar zu lange dauerte. So habe ich's Jahre lang getrieben. Zu den Soldaten mochten sie mich nicht nehmen, ich wäre auch ausgerissen, denn nichts war mir unausstehlicher als Ordnung und Zwang, der ich mich im Gefängnisse doch leicht fügte. Da mich zuletzt auch keiner mehr in Arbeit haben wollte, zog ich in die große Stadt Berlin, wo ich viele Bekannte aus den Zuchthäusern her hatte.
Mein Vater war inzwischen verstorben, und auf jedes Kind kamen 12 Taler Erbteil. Ich mietete mit dem Gelde einen Keller und legte einen kleinen Holzhandel an, wobei mir eine geschiedene Frau, zu der ich mich hielt, behülflich wurde; aber das war nur der Deckmantel vor der Polizei. Es glückte mir auch lange genug. Ich ward aber doch zuletzt entlarvt; mir wurde alles genommen und ich selbst nach sechswöchentlichem Arrest in meine Heimat gewiesen. Mein ältester Bruder diente als Kutscher, die andern Geschwister waren im Elende verkommen, niemand nahm mich auf, und ich fing an zu vagabundieren und von Bettelei und Diebstahl zu leben. Sperrte man mich ein, so fütterte ich mich im Gefängnisse wieder auf, bekam Kleider, wurde dann an Gesellschaften gewiesen, welche entlassene Sträflinge unterstützten, und habe so manchen Taler bekommen, der durch die Gurgel ging. Arbeiten wollte ich durchaus nicht mehr; Arbeit war mir im freien Zustande das Schrecklichste.
So bin ich wieder nach Berlin zurückgekommen und wurde Bote in einer Buchhandlung, wo ich Zeitschriften an die Abnehmer in der Stadt umhertragen mußte. Weil ich nun bei diesem Geschäft viele Gelegenheiten in den Häusern abpassen konnte, kamen meine alten Kameraden, von denen ich mich eine Zeitlang getrennt sah, wieder an mich.
›Kerl, du wirst uns doch nicht untreu werden und etwa gar ehrlich sein wollen! du wirst dich hier um ein Lumpengeld schinden und plagen, du kannst es besser haben! komm mit in die Schenke, wir müssen dir etwas sagen!‹ Ich ging einmal und ging wieder zu ihnen, und das ganze Lasterleben fing von neuem an. Meine Herren jagten mich aus dem Botendienste, und nun war ich wieder ganz in der Gewalt der Bösen, die mich frei hielten und mit denen ich nun auf Betrug, Dieberei und Raub ausging.«
So das Bekenntnis des Reuigen.
Er wurde zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt.
Da man ihn mit seinem Stelzfuß nicht so streng behandeln konnte wie andere Sträflinge, stellte man ihn als Krankenwärter im Gefängnislazarett an. Er war in der Tat ein anderer Mensch geworden, bewährte sich in seiner Stellung durchaus und verblieb auch nach seiner Freilassung in derselben. Zeitlebens behielt er den Glauben, daß Gott durch die seltsame Erfüllung seines und seiner Gefährten Gelöbnis ihn zur Umkehr habe mahnen wollen.