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SPRUCH DES JAHRES

Die Zensur ist das lebendige Geständnis der Großen, daß sie nur verdummte Sklaven treten, aber keine freien Völker regieren können.

Johann Nepomuk Nestroy

SPRUCH DER WOCHE

Duldet ein Volk die Untreue von Richtern und Ärzten, so ist es dekadent und steht vor der Auflösung.

 

Plato

 

LUSTIGES

Quelle: Aus dem umgestülpten Papierkorb der Weltpresse (1977)

Rubrik: Das süße Leben

Dallas, Texas - Vor einem Gericht gab Jack Stinney an, er habe seine Frau nur des Spaßes wegen verprügelt. Auf die erstaunte Frage des Staatsanwaltes ergänzte Stinney dann seine Aussage: "Allerdings verprügelte ich meine Frau nur wegen des Spaßes, den sie mit drei anderen Männern gehabt hatte."

Die Lehmänner
Die Lehmänner

Das peinliche Gericht

Alexander Benzion

 

Gesindel

Jonathan Wild

Mordlust

 

Gesindel

 

Dem ehrsamen Faßbinder Cartouche in Paris wurde im Jahre 1693 ein Sohn, Louis-Dominique, geboren. Der Mann war nicht reich, aber da der Junge früh von einer ungewöhnlichen Klugheit Zeugnis gab, ließ er ihn in das beste und vornehmste Kollegium, das der Jesuiten, aufnehmen. Die Mitschüler des kleinen Cartouche gehörten den reichsten Familien der Stadt und des Landes an; sie waren prächtig gekleidet und hatten ein ansehnliches Taschengeld. Cartouches Anzug war dagegen ziemlich schäbig, und Geld für Näschereien und dergleichen konnte ihm sein Vater nicht geben. Darum aber doch, und vielleicht gerade deswegen stachen ihm die Auslagen der Obsthändlerinnen vor dem Tore der Anstalt sehr in die Augen, und er gewann bald eine große Geschicklichkeit darin, die guten Frauen zu bestehlen, ohne daß sie es jemals merkten.

Von diesen Erfolgen begeistert, gedachte er, auch zu so schönen Kleidern kommen zu können, wie seine Mitschüler sie hatten. Einer seiner besten Freunde, ein junger Marquis, der Hofmeister und Kammerdiener bei sich im Kollegium hatte, bekam von seinen Eltern hundert Dukaten zugeschickt; Dominique wohnte der Überbringung des Geldes bei und sah, in welche Kassette es gelegt wurde. – Eines Morgens, als er Hofmeister und Diener abwesend wußte, bat er um die Erlaubnis, das Schulzimmer verlassen zu dürfen, und stahl sich durch die Kammer des Dieners, die den einzigen Zugang bildete, in das Zimmer des Freundes. Die Kassette stand auf einem hohen Schranke. Dominique hatte keine Leiter und stellte zwei Stühle übereinander. Schon will er mit gieriger Hand den Schatz ergreifen, als er im Nebenzimmer gehen hört. Eiligst klettert er auf den Schrank und legt sich ruhig oben hin. Der Hofmeister tritt ein, natürlich ganz ahnungslos. Daß die Stühle aufeinander standen, wundert ihn nicht; sein Zögling und dessen Freund hatten vielleicht an ihnen herumgeturnt. Er stellt die Stühle an ihren Platz und bleibt im Zimmer. Bald kommt auch der Kammerdiener zurück, der sich unwohl fühlt. Er klagt über Kopfschmerzen und legt sich zu Bett. Cartouche darf sich nicht rühren. Nun kommt auch der junge Marquis aus dem Schulzimmer; verwundert über das Verschwinden seines Freundes sucht er ihn überall; kein Mensch weiß, wo er geblieben ist. Dominique hört alle Vermutungen über seinen Verbleib mit an und muß so stundenlang ruhig ausharren. Die Glocke, die zum Essen ruft, ertönt. Der Marquis und der Hofmeister begeben sich zur Mahlzeit, der Diener im Nebenzimmer läßt sich das Essen ans Bett bringen, Cartouche muß hungern. Vom Schrank herabzuspringen darf er nicht wagen, weil das der Diener unfehlbar hören müßte. Tag und Nacht vergehen. Aber noch den ganzen folgenden Morgen muß er ausharren, denn der Kammerdiener steht erst am Nachmittag auf. Nun aber ist er frei. Er leert rasch die Kassette in seine Tasche, springt vom Schrank herab, eilt zur Tür – da tritt ihm der Marquis und der Hofmeister entgegen. Alle drei schauen sich in stummer Überraschung an. Dann bringt Cartouche eine Geschichte vor, die er sich während seiner Gefangenschaft auf dem Schranke ausgedacht hat, und die Glauben findet. Aber der Rektor, zornig über den Ausreißer, hat geschworen, ihn strengstens zu strafen; der Marquis teilt das dem Freunde mit und rät ihm, vorläufig das Kollegium zu verlassen, bis man den Schultyrannen erweicht habe. Etwas Besseres kann sich Dominique nicht wünschen. Er umarmt herzlich seinen Freund und macht sich auf den Weg zu seinem Vater, dem er mit irgendeinem Märchen seine Heimkehr erklärt.

Am nächsten Tage geht er mit der vollen Tasche auf den Jahrmarkt von St. Germain. Unterdessen hatte man aber seinen Diebstahl entdeckt und den Vater benachrichtigt. Einer seiner Brüder suchte darum Dominique auf und warnte ihn davor, nach Hause zu kommen.

Cartouche war schnell entschlossen, er verließ Paris und marschierte ohne Reiseziel bis um Mitternacht. Unter einen Baum legte er sich schlafen. Eben wollten sich seine Augen schließen, als er ein Geräusch hörte, das immer näher kam. Im Mondschein sah er einen Zug Menschen in seltsamer Kleidung; er hörte sie sprechen und konnte kaum etwas verstehen. Der Haufe lagerte sich in seiner Nähe: es waren Zigeuner, die den armen Dominique bald entdeckten, so sehr er sich auch zu verstecken suchte. Aber sie meinten es nicht böse und luden ihn zu ihrem Nachtessen ein.

Wie Cartouche am nächsten Morgen wieder aufwachte, bemerkte er, daß ihm sein Geld fehlte. Er war trostlos, er weinte, er drohte; man lachte ihn aus und bot ihm endlich die Aufnahme in die Bande an. Das Bild vom glücklichen Leben der Zigeuner, das man vor seinen Augen entrollte, verlockte ihn endlich, und man machte sich gemeinsam auf den Weg nach der Normandie. Die Reise nützte man dazu, dem jungen Cartouche mancherlei Kenntnisse beizubringen, die er später gut brauchen konnte.

In Rouen wurden die Zigeuner von den Schergen verfolgt und zerstreut. Cartouche blieb mittellos allein. Da begegnete ihm ein Oheim, erkannte ihn, verzieh ihm, führte ihn in die Herberge und kleidete ihn neu. Er brachte Dominique nach Paris zurück, und am Ende nahm der gutmütige Vater den Jungen wieder bei sich auf.

 

Zuerst schien es, als wolle sich Dominique jetzt zu einem ehrsamen Lebenswandel entschließen. Aber bald verliebte er sich in eine junge, sehr umworbene und sehr kokette Näherin. Um sich ihre Zuneigung zu sichern, war viel Geld nötig. So begann er denn seinen Vater zu bestehlen, und als der ihm auf die Finger schaute, bewährte er seine Geschicklichkeit außerhalb des Hauses. Am Ende aber entdeckte der Vater ein Versteck, in dem Dominique eine große Anzahl geraubter Gegenstände verborgen hatte. Er schwieg, traf aber Vorbereitungen, um den Ungeratenen in die Fürsorgeanstalt St. Lazare zu bringen. Eines Tages bat er den Sohn, ihn auf einer kleinen Geschäftsreise zu begleiten: er wolle Fässer kaufen. Ohne Mißtrauen folgte Dominique dem Vater in den Wagen, aber als er in dessen Nähe Häscher erblickte, erriet er, was die Glocke geschlagen, schwieg aber hübsch still. Vor der Anstalt angekommen, sagte ihm der Vater, er möchte im Wagen warten, während er selbst um Erlaubnis bitten wolle, den schönen Garten da zu besichtigen. In der Kutsche allein geblieben, wirft Dominique in aller Hast Hut, Perücke und Jacke ab, nimmt ein weißes Taschentuch wie eine Mütze um den Kopf, nützt einen Augenblick, in dem die Gerichtsdiener sich abwenden, verläßt die Kutsche auf der Seite nach der Anstalt zu und geht dann dreist mitten durch die Häscher fort, die ihn für einen Pastetenbäckerjungen ansahen. Er verschwindet um die nächste Ecke, eilt rasch nach Hause, denn er vermutet richtig, daß man ihn dort zuletzt suchen werde. Schnell steckt er alles Wertvolle zu sich und geht, um nie mehr zurückzukehren.

 

Diesmal fiel es ihm nicht mehr ein, Paris zu verlassen. Er verkappte sich, so gut es ging, legte sich einen falschen Namen zu und vertraute sein Geschick Fortuna an.

 

Eines Tages machte er in der Jesuitenkirche einen überaus geschickten Griff in eine fremde Tasche. Da sah er sich von einem jungen Manne entdeckt, der aber keine Miene machte, ihn zu verraten. Im Gegenteil, er drückte ihm mit pfiffigem Lächeln freundlich die Hand und überhäufte ihn vor der Kirche mit Lobsprüchen über sein Talent. Dann nahm er ihn in seine Wohnung mit, wo eine wohlbesetzte Tafel und zwei hübsche junge Mädchen warteten. Als der neue Freund hörte, daß Cartouche sein Geschäft auf eigene Hand und ohne Verbindung mit einem Genossen betriebe, machte er ihm begreiflich, daß ein solches Verfahren sich auf die Dauer nicht ohne Schaden durchführen ließe. Er bot ihm sich als Teilhaber, und die eine der Schönen zur Freundin an. Cartouche schlug ein, und die Sache war in Richtigkeit.

Sechs Monate lang wurde das Kompagniegeschäft mit Erfolg fortgesetzt, obwohl Cartouche, nach seiner eigenen Angabe, damals erst siebzehn Jahre alt war. Da wurden sie eines Tages ertappt; der gute Freund kam auf die Galeeren, die Damen ins Hospital – Cartouche aber gelang es, zu entspringen.

 

Es schien ihm nicht ratsam, vorderhand sein Handwerk weiter zu betreiben. Er wollte es jetzt mit dem Spiel versuchen, ließ sich in vornehme Gesellschaften einführen, wo man den jungen Mann mit dem anmutigen Äußeren mit offenen Armen empfing. Er hatte Glück und konnte die Spieler bald in ein eigenes Haus einladen. Das Gold rollte in seine Kasse. Seine Wohnung ließ er jetzt aufs reichste ausstatten, zwei Lakaien in kostbarer Kleidung bedienten ihn. Nun traf es sich aber, daß einer dieser Diener ihn bestahl, und Cartouche war töricht genug, den Dieb bei den Gerichten anzuzeigen. Aus Rache denunzierte der Lakai seinen Herrn, und die von diesem Ausgeplünderten sagten, als Zeugen geladen, mit vieler Freude gegen ihn aus. Aber Cartouche zog sich noch gut genug aus der Schlinge. Man konnte ihm nichts beweisen, das genügt hätte, ihn ins Gefängnis zu bringen; freilich um seinen Ruf in den Spielerkreisen war es geschehen. Die Türen seiner vornehmen Freunde blieben fortan vor ihm verschlossen. Er sah sich genötigt, sein eigenes Haus aufzugeben und seine Juwelen und kostbaren Möbel zu verkaufen.

 

Jetzt bot er dem Polizeichef von Paris, D'Argenson, an, ihm alle Diebe der Hauptstadt bekannt zu geben. Dafür erhielt er täglich einen Kronentaler. Ob er seine Berufsgenossen wirklich verriet, wissen wir nicht. Jedenfalls aber genügte seinem Tätigkeitsdrang die Stellung als Polizeispitzel nicht; so verlegte er sich denn nebenbei auf Werbergeschäfte.

Einst hatte er sich einem Sergeanten gegenüber verpflichtet, ihm gegen ein bestimmtes Entgelt fünf Rekruten zu liefern. Jedoch trotz aller Anstrengungen konnte er bis zum Augenblick, in dem der Sergeant Paris verlassen mußte, nur vier auftreiben. Sein Auftraggeber schien auch damit zufrieden, er sagte kein Wort, nur bat er Cartouche, ihm die Rekruten bis nach La Billette führen zu helfen, wo er ihm die versprochene Summe auszahlen wolle. Cartouche ging darauf ein. In La Billette angekommen, frühstückte man reichlich; der Sergeant trennte sich ungern von seinem Trinkkumpan, er schlug ihm vor, um einer Flucht der Rekruten vorzubeugen, ihn auch noch bis nach Meaux zu begleiten. Cartouche hatte nichts dagegen. In Meaux wurden beim fröhlichsten Abendessen unterschiedliche Flaschen Likör geleert. Mit schwerem Kopfe legte sich Cartouche zu Bett. Als er aber am Morgen aufstehen wollte, um nach Paris zurückzukehren, fühlte und sah er, daß ihm die Hände gebunden waren. Um sein Bett standen die vier von ihm geworbenen Rekruten, Gewehr im Arm, um ihn zu bewachen. Der Sergeant erklärte ihm mit voller Gemütsruhe, daß er, in Ermangelung eines Besseren, sich mit ihm als fünftem Rekruten begnügen wolle. Cartouche habe auf die Gesundheit des Königs getrunken, und so könne ihm nichts mehr helfen. Alles Fluchen und Toben nützte dem überlisteten Gauner nicht das Geringste. Er mußte sich der Gewalt fügen und mit in den Krieg nach Flandern marschieren.

 

Im Regiment wurde Cartouche bald der Liebling seines Hauptmanns. Er täuschte die Erwartungen seiner Vorgesetzten nicht, als die Truppen ins Schlachtfeld rückten, und zeichnete sich bei mehreren Gelegenheiten durch Umsicht und Tapferkeit aus. Er wurde befördert, und wäre der Krieg von Dauer gewesen, so hätte er möglicherweise eine glänzende Karriere gemacht. Aber der Friede ward geschlossen. Cartouche, infolgedessen entlassen, sah sich gezwungen, wieder an sein früheres Geschäft zu gehen.

Er tat es mit größerer Hoffnung als je zuvor. Einmal wurden mit ihm eine Menge von Leuten entlassen, die, durch den Krieg verwildert, ein freies, gewalttätiges Leben ehrlicher und anstrengender Tätigkeit vorzogen. Dann aber hatten sich im Heere Cartouches organisatorische Fähigkeiten ausgebildet: Er schmeichelte sich mit dem Gedanken, Räuberhauptmann und Führer seiner Kriegskameraden zu werden. Denn sein Plan war, nicht als ein kleiner Taschendieb sondern als Unternehmer größten Stiles nach Paris zurückzukehren. Herrschte in seinem Schwarm Ordnung und Disziplin, so – glaubte er – könne Außerordentliches geleistet werden.

Er berief an einen einsamen Ort in der Nähe von Paris alle die, welche ihm für seine Zwecke in Betracht zu kommen schienen. Gegen zweihundert fanden sich ein. Cartouche wurde von ihnen einstimmig zum Oberhauptmann erwählt. Eine von ihm entworfene Verfassung wurde verlesen und angenommen. Ihre Hauptpunkte waren: Der Hauptmann hat das Recht über Leben und Tod gegen jeden aus der Bande; er braucht niemandem Rechenschaft abzulegen; jeder der Genossen wird eidlich verpflichtet, sein Leben zu wagen, wenn irgendeiner aus der Bande in Not ist; den Offizieren, welche der Hauptmann erwählt, ist unbedingter Gehorsam zu leisten.

Zum Schrecken von Paris sollte sich dieser Kodex in außerordentlicher Weise bewähren. Man hörte in der Hauptstadt bald von nichts anderem mehr, als von Diebstählen, Einbrüchen und Mordtaten. Die häufigsten und frechsten Überfälle fanden an den Staden und auf den Brücken der Seine statt. Die Beraubten wurden in den Fluß geworfen.

Kein noch so kunstreiches Schloß konnte den Einbrechern widerstehen; mit Strickleitern stiegen sie bis in die obersten Stockwerke der Häuser. Die am anständigsten von Cartouches Leuten aussahen, hatten das Amt von Taschen- und Juwelendieben in den Kirchen. Während die reichen Damen neben einem überfrommen Andächtigen zu knien vermeinten, der seine gefalteten Hände viertelstundenlang nicht bewegte – sie waren nämlich von Holz oder von Wachs, mit Handschuhen bedeckt – griffen die wirklichen Hände in die Taschen der Nachbarn, oder stahlen Geschmeide und Uhren. Kein Ort, an dem eine größere Menge zusammenkam, war mehr sicher.

Jedoch trotz der großen Beute wollte das Geschäft nicht recht rentieren. Von dem Gewinne ging zu viel ab für die Spione, besonders für die Gerichtsdiener, welche man gewonnen hatte – für die Künstler und Handwerker, die den gestohlenen Sachen rasch eine andere Gestalt geben mußten – für die Hehler, von denen die Bande fast in jeder Straße einen hatte – für die gefälligen Frauen, welche die Fremden anlockten und verrieten. Die Unterhaltung der Truppe selbst kostete ein beträchtliches; denn es war ausgemacht worden, daß ein jeder außer seinem Beuteanteil ein bestimmtes Tagegeld erhielte.

 

Da war es der berühmte Erfinder des Papiergeldes, Law, welcher der Bande in ihren Nöten zu Hilfe kam. In der Rue Quincampoix hatte er sein Bankbureau errichtet und wußte alle Wohlhabenden von Paris, ja, von ganz Frankreich, so für sich einzunehmen, daß sie seine Geschäftsräume fast stürmten, um ihr Gold gegen Papier zu vertauschen. Wenn auch Stimmen laut wurden, die vor dem Papiergelde warnten, – Cartouche jedenfalls hegte nicht den mindesten Zweifel an dem Werte der Banknoten. Er bestrebte sich vielmehr, so viele derselben an sich zu bringen, als er nur vermochte. Zu diesem Zwecke umstellte er zuweilen die Zugänge zur Rue Quincampoix mit seinen Leuten und ließ alle aus der Bank Kommenden verfolgen. Wenn es sich irgend tun ließ, wurden sie in einsamen Gassen überfallen, mit bleiernen Stöcken betäubt oder mit Pechpflastern geblendet, und dann beraubt.

 

Auch die Landstraßen um Paris waren nicht mehr sicher. Es mehrten sich die Einbrüche in die Schlösser der Adligen, die Anfälle auf die Postkutschen, wobei gewöhnlich die Postillone durch einen Pistolenschuß getötet wurden, häufig auch die Reisenden, die sich zu verteidigen wagten.

Einmal wurde bei einem solchen Überfalle eine edelmütige Regung im Herzen Cartouches wach. Er schoß den Postillon nicht nieder und tat auch keinem von den Reisenden ein Leid an. Seine Aufforderung allein genügte, die Insassen der Kutsche zu bewegen, ihm ihre ganze beträchtliche Habe auszuliefern. Er war von einem seiner Offiziere begleitet gewesen, mit dem er nun also die Beute zu teilen hatte. Als er das bedachte, verflog plötzlich sein Edelmut und er jagte seinem Kumpan eine Kugel durch den Kopf. –

 

Der Schrecken in Paris mehrte sich so, daß die Behörde die größten Anstrengungen machte, die Bande zu vernichten. Aber wenn es auch einmal gelang, einzelne von ihren Gliedern zu ertappen, so schwiegen sie doch beharrlich über ihre Genossen. Man verdoppelte die geheime Polizei; man bezahlte den Gerichtsdienern dreißig Sous im Tag; man versprach ihnen Belohnungen; man verordnete, daß alle Vagabunden, welche keine bestimmte Beschäftigung nachweisen konnten, Paris zu verlassen hätten; man verbot den Waffenschmieden und -händlern, an Leute, die keinen Erlaubnisschein hätten, ihre Waren zu verkaufen; man legte auf alle Mordinstrumente bei den Trödlern Beschlag. Alles war vergeblich.

 

Bei Cartouches Schar befand sich auch ein Jude, Joseph Lami, der einen anderen Juden erstochen und dessen Frau zum Weibe genommen hatte – sie war eine Person, die als Geschäft das Abschwören ihres Glaubens betrieb. Lami war der Stolz der Bande. Mit mehreren anderen wurde er auf frischer Tat ergriffen, aber weder die Qualen der Folter, noch – nach seiner Verurteilung – der Anblick des Rades konnte ihm ein Geständnis erpressen. Er starb mit seinen Genossen schweigend, weil sie geschworen hatten, den Hauptmann nie zu verraten.

Nach längerer Zeit endlich fand sich einer der Räuber, der sich durch die Folter Cartouches Namen entreißen ließ. Zu gleicher Zeit erhielt die Behörde – durch wen, wissen wir nicht – ein Bild des Hauptmanns, das sie an die Gerichtsämter von ganz Frankreich schickte; sie setzte auf Cartouches Verhaftung einen Preis von zweitausend Livres aus – aber was half ihr Name und Bildnis? Der Mann selbst wußte sich allen Nachstellungen zu entziehen.

Die verwegensten Spekulationen glückten ihm. Als er einmal gerade hunderttausend Livres in Gold zusammen hatte, ging er damit zu einem der angesehensten Bankiers, übergab ihm dieselben und erbot sich einen Wechsel auf die gleiche Summe nach Lyon: einer seiner Freunde – er hatte ihn mitgebracht – reise dahin und bedürfe dort dieser Summe. Er ersuchte, den Avisbrief auf der Stelle abzusenden, damit der Freund, der noch am selben Tage abreise, ohne Schwierigkeiten das Geld erheben könne. Noch im Zimmer des Bankiers nahm er von dem Fortreisenden Abschied, dem er den Wechsel aushändigen ließ. Der Freund, natürlich ein Mitglied seiner Bande, überbrachte, statt abzureisen, gleich darauf dem Hauptmann den Wechsel. Dieser kopierte ihn so geschickt, daß niemand die Täuschung merken konnte und ließ einen der Genossen mit dem gefälschten Scheine abreisen. Am gleichen Abend noch brachte er aber dem Bankier den echten Wechsel zurück, weil sein Freund im letzten Augenblick die Reise habe aufgeben müssen. Ohne weiteres erhielt er sein Geld zurück, und dann später dieselbe Summe noch einmal aus Lyon.

 

Die Polizei ließ kein Mittel unversucht, dem Schelm auf den Leib zu rücken. Sie brachte in Erfahrung, daß Cartouche sich großenteils in einem Hause der Rue de la Seine aufhalte, und daß er an einem gewissen Tage bestimmt dort sei. Augenblicklich wurden Gerichtsdiener und Soldaten dorthin beordert. Eine neue hohe Belohnung wurde ihnen zugesagt, falls sie sich der Person des Räubers bemächtigten. Mit solcher Stille wurde an die Ausführung des Befehls gegangen, daß keiner von des Hauptmanns Spürhunden etwas ahnen konnte. Cartouche wurde erst durch das Geräusch anmarschierender Soldaten aus seiner Ruhe geschreckt. Er sah das Haus umstellt und merkte, daß Bewaffnete eindrangen. Entfliehen konnte er nicht mehr, so wollte er wenigstens sein Leben teuer verkaufen. Er verschloß seine Kammer und wälzte alle möglichen Gegenstände vor die Tür, um mit Hilfe dieser Barrikade eine Belagerung aushalten zu können. Bewaffnet war er, wie gewöhnlich, mit drei Paar Pistolen. Die Tür wird gesprengt, aber die Barrikade widersteht, und über diese hinweg feuert er. Mehrere der Soldaten werden verwundet, aber vergeblich zielt er auf ihren Führer, der ihm der gefährlichste von seinen Feinden zu sein scheint. Er hat fast keine Munition mehr, und das Volk auf der Straße spornt die noch untenstehenden Polizeidiener an, ihren Kameraden beizuspringen, und schmäht sie, daß sie sich von einem Einzigen in Schach halten ließen. Cartouche sieht sich verloren. Da kommt ihm ein letzter Rettungsplan. Im Augenblick hat er sich alle Kleidungsstücke, die ihn kenntlich machen könnten, vom Leibe gerissen und klimmt durch den Schlot des Kamines aufwärts. Er kommt auf das Dach, klettert von einem Haus zum andern und läßt sich endlich nach längerer Wanderung durch das Mansardenfenster in ein Zimmer hinab. Solche Ankunft in solchem Zustande erschreckt natürlich die Bewohner des Hauses, die aber glücklicherweise für ihn von der Hetzjagd in der nächsten Gasse nichts wissen. Cartouche ist ein Held im Lügen: er wird von einem unerbittlichen Gläubiger verfolgt, der einen Verhaftsbefehl gegen ihn erwirkt hat und in seiner Grausamkeit ihn zeitlebens im Gefängnis schmachten lassen würde; dieser Gefahr habe er sich auf solch ungewöhnlichem Wege entzogen. Er fleht das Mitleid der Leute an, die seine Fabel gläubig anhören. Man gibt ihm einen alten Rock, und im Vertrauen auf die Lumpen, die ihn unkenntlich machen, geht er ruhig durch das Volk und die Soldaten.

Diese, die bei der Belagerung mehrere ihrer Leute haben fallen sehen, schwören voller Wut, alles daran zu setzen, um den Feind, der ihnen diesmal noch entkommen ist, in kurzem einzufangen. Bald darauf scheint sich ihnen eine günstige Gelegenheit zu bieten. Sie erfahren, daß Cartouche sich bei einer seiner Mätressen befinde. Man kannte das Haus, die Zimmer der Schönen, die Türen, so daß die Überrumpelung glücken mußte. Cartouche war wiederum ahnungslos, da hörte er Geräusch, ein Trupp Soldaten zieht heran, zwei Häscher besetzen die Haustüre, die andern steigen die Treppen hinauf. Im Augenblick ist Cartouche auf den Beinen, er steigt aus dem zweiten Stock, in dem seine Mätresse wohnte, zu einer anderen Dame desselben Gelichters, welche im fünften ihr bescheidenes Kämmerchen hat, und die er ebenfalls gelegentlich besucht. Als er erlauscht, daß die Soldaten bei seiner Mätresse eingedrungen sind, schlägt er lachend die Tür bei der Schönen, die dem Himmel näher wohnt, zu, steigt die Treppen sorglos herab, wie wenn er oben einen Besuch gemacht hätte, und will singend an den beiden Wächtern vorbei das Haus verlassen, als diese ihn fragen: »Haben sie Cartouche gekriegt?« – »Noch nicht, wie Ihr seht,« antwortet er, »denn er ist hier,« und im selben Augenblick streckt er sie durch zwei Pistolenschüsse nieder.

 

Von jetzt an war man dermaßen hinter ihm her, daß er es für nötig hielt, auf einige Zeit aus Paris zu verschwinden. Aber er fürchtete, diese Fahnenflucht könne seinem Ansehen bei der Bande schaden. Er trug seinen vertrautesten Offizieren auf, sie sollten die Genossen bereden, an den Hauptmann folgende Bitte zu richten: er möge sich auf einige Zeit zu seiner und der Bande Sicherheit in eine entfernte Provinz begeben; so würde der Sturm der Verfolgung am ehesten an den Genossen vorbeibrausen, und man könne wieder etwas Atem schöpfen. Der Vorschlag fand zuerst wenig Anklang. Den beherzten Männern gab nicht die Kutte des Mönches oder der Mantel des Abbé, die sie trugen, ihre Zuversicht, sondern das Gefühl, unter der Leitung eines Feldherrn wie Cartouche sich zu betätigen. Es schien ihnen, wenn Cartouche fort sei, wäre ihnen der Grèveplatz, der Ort, an dem die Hinrichtungen stattfanden, um vieles näher gerückt. Am Ende gaben sie aber den vernünftigen Vorstellungen von Cartouches Vertrauten nach. Dieser ernannte die Oberoffiziere, welche in seiner Abwesenheit den Befehl führen sollten und zog sich nach Orléans, später nach Bar-sur-Seine zurück.

 

Die Kunde von seiner Flucht wurde in Paris ruchbar. Man atmete auf; einige sagten, er sei nach England, andere, er sei nach Lothringen gegangen. Noch Klügere glaubten, er habe sich nur in Paris versteckt und seine Flucht vorgetäuscht, um die Polizei zu narren.

 

In Bar-sur-Seine fand unterdessen Cartouche, der niemals rasten konnte, eine ihm neue Art der Betätigung. Eine alte Bürgersfrau der Stadt betrauerte die langjährige Abwesenheit ihres Sohnes, den sie noch immer nicht für tot halten wollte, obgleich keinerlei Nachricht mehr von ihm kam. Die Alte, fast kindisch geworden, konnte die Hoffnung, das geliebte Kind wiederzusehen, nicht lassen. Cartouche, der davon gehört, hielt es für zweckmäßig, die Rolle des verlorenen Sohnes zu spielen. Er zog vorsichtig Erkundigungen über dessen Jugendleben und den Charakter der schwachen alten Frau ein. Bei seinen Geistesgaben wußte er seine Gastrolle mit solcher Treue zu geben, daß die Alte keinen Augenblick zweifelte, in ihm den heißgeliebten Sohn vor sich zu sehen. Er war ein vortrefflicher Erzähler und wußte wahrscheinlich mehr und genauer von der längst entschwundenen Jugendzeit zu berichten, als es der wirkliche Sohn, falls er noch gelebt, vermocht hätte. Als Charles Bourguignon, Sohn und Erbe der Krämerin Bourguignon zu Bar-sur-Seine, war er vor der Polizei sicher.

Aber auf die Dauer ward ihm das Spiel langweilig. In den engen Mauern einer kleinen Stadt, in den Klatschgesellschaften seiner sogenannten Verwandten und der Nachbarn konnte er sich nicht allzulange behagen. Sechs Monate hatte er in diesem kleinbürgerlichen Einerlei vegetiert, dann hielt er es nicht mehr aus, er mußte fort, und wenn es geradenwegs zum Galgen gewesen wäre. Eines schönen Tages war er verschwunden, ohne Abschied zu nehmen, ohne eine Zeile zu hinterlassen; und die alte Bourguignon konnte zum zweiten Male ihren Sohn beweinen.

 

Als er in Paris eintraf, wurde er von den Seinen mit rauschendem Jubel begrüßt, das heißt, von denen, welche bis dahin Gefängnis, Galgen und Rad entgangen waren. Die Justiz hatte stark aufgeräumt. Cartouche forderte strenge Rechenschaft von seinen Mannen, er belohnte, er strafte die guten und schlimmen Taten, die seine Leute, während er abwesend war, vollbracht hatten.

 

Bald wieder mußte er merken, daß die Polizei ihm auf den Fersen war. Er fing seiner eigenen Schar zu mißtrauen an, und allmählich hielt er sich nirgends mehr für sicher. Die alte Verwegenheit schwand ihm. Seine Getreuen sahen ihn mit besorgten Blicken an. Er war ihnen die alte Stütze nicht mehr. – Niemals schlief er zwei Nächte im selben Bette, oft fuhr er vom Lager auf und warf unstete Blicke um sich.

 

Er hielt es für geraten, von nun an eine Schreckensherrschaft über seine Leute zu führen, um die wirklich, oder nur in seinem Argwohn erschütterte Autorität wieder herzustellen. Ein junger Soldat der Garde, der zur Bande gehörte, hatte sich in einer zärtlichen Stunde verleiten lassen, bei seiner Geliebten, einer Schneidermamsell, seinen Eid zu brechen und ihr anzuvertrauen, daß er mit Cartouche in Verbindung stehe; er hatte ihr versprochen, von ihm zu lassen. Das kam dem Hauptmann zu Ohren, er berief die ganze Bande, schmetterte den Verräter mit donnernder Rede nieder, ließ ihn erwürgen und nach dem Tode verstümmeln.

 

Unter seinen Offizieren stieg die Angst vor ihm mit jedem Tage, und einer von ihnen, ein Edelmann aus Poitou, der bei den Garden diente, Du Châtel, ward sein Verräter. Er versprach, falls man ihn begnadige, Cartouche lebendig der Polizei zu überliefern. Er war zu Cartouche geladen. Um neun Uhr des Morgens begab er sich, gefolgt von dreißig Häschern, nach dessen augenblicklichem Quartier, der Schenke »Le Pistole«. Ein vorausgeschickter Soldat fragte den Wirt, ob jemand bei ihm wohne? – Nein, war die Antwort. Darauf trat Du Châtel selbst ein und erkundigte sich, ob nicht vier Damen hier wären? Das war das Losungswort, der Wirt bezeichnete ein Zimmer im oberen Stock, und Du Châtel, dem die Soldaten schnell folgten, drang ein. Sie fanden Cartouche, der erst um zwei Uhr sich niedergelegt hatte, mit drei seiner Spießgesellen noch zu Bett. Er selbst lag in festem Schlaf. Die drei andern aber sprangen auf und wurden sofort überwältigt. Der Führer der Soldaten hatte Cartouche wohl im Bette bemerkt, aber aus Furcht, daß er sich selbst, oder in verzweifelter Gegenwehr einen der Häscher töten könne, rief er laut: »Verdammt! Da ist uns der Hauptspitzbube entwischt! Cartouche ist fort!« Der schlaue Schelm, der während des Kampfes erwacht war, ließ sich täuschen, er glaubte sich unbemerkt und kroch tiefer unter die Decke. Nun, da er sich nicht verteidigen konnte, stürzten die Soldaten über ihn her, sie ergriffen ihn, banden ihn, und ohne ihm nur Zeit zu geben, sich anzukleiden, schleppten sie ihn nach dem Gefängnis.

Keine Siegesbotschaft hätte in Paris solche Freude hervorrufen können, als die Nachricht von Cartouches Verhaftung. Die Stadt war wie in einem Rausche. Das italienische und französische Theater spielte Stücke, die auf den Räuberhauptmann Bezug hatten und vom Publikum lebhaft beklatscht wurden. Auch an ihn verherrlichenden Epen im Stile der alten Heldengedichte fehlte es nicht.

 

Nachdem ihr Führer gefangen, zerstreute sich die Bande. Viele ihrer Mitglieder sollen wieder ins Heer eingetreten sein. Cartouche selbst wurde mit äußerster Strenge bewacht. Ein Arm war ihm vorn geschlossen, der andere hinten. Sechs Schützen, die alle zwei Stunden abgelöst wurden, durften ihn nicht aus den Augen lassen. Dennoch gab Cartouche den Gedanken nicht auf, wieder die Freiheit zu erringen.

Auf die Dauer wurde den Schützen ihr Dienst langweilig, sie gaben nicht sonderlich auf den Gefangenen acht, der, schwer gefesselt wie er war, ja doch nicht entrinnen konnte. Mit den Eisen, die er trug, prüfte Cartouche unterdessen die Stärke der Mauer seines Gefängnisses. Aus dem hohlen Tone schloß er, daß ein Keller daranstoßen müsse. Wenn er dahin gelangen könnte, hoffte er gerettet zu sein. Er verständigte sich mit einem Maurer, der in einem Nebengemach gefangen saß. Es gelang ihm nach unendlichen Mühen, sich seiner Fesseln zu entledigen und mit seinem Kumpan ein so großes Loch zu graben, daß sie hindurchkriechen konnten. Von dem Gewölbe, in das sie kamen, kletterten sie durch einen Schacht nach oben, gelangten an eine Tür, deren verrostetes Schloß sich öffnen ließ, und konnten so in das Haus eines neben dem Gefängnis wohnenden Kistenmachers dringen. Aber ein Hund erwachte und bellte. Sie suchten ihn durch Liebkosungen zu beschwichtigen. Die Tochter des Kistenmachers hörte den Lärm und schrie nach der Wache. Ihr Vater stieg die Treppe hinab, in der einen Hand einen alten Spieß, in der andern ein Licht, aber schon Cartouches Anblick genügte, ihn aus der Fassung zu bringen. Licht und Hellebarde fallen lassend floh er eiligst in den oberen Stock zurück. Aber das ununterbrochene Geschrei der Tochter hatte indessen die Wache wirklich aufmerksam gemacht, sie drang ein, ehe die Flüchtlinge sich retten konnten, und diese wurden aufs neue in Eisen gelegt.

Cartouche brachte man bald darauf in ein sichereres Gefängnis, in die Conciergerie, und zwar in einem Wagen, den eine Menge Gerichtsdiener umgaben. So groß war die Angst, daß seine Bande einen Versuch zu seiner Befreiung wagen könnte. In dem neuen Kerker schloß man ihn an eine große Kette, die von der Decke herabhing und ihm kaum erlaubte sich zu bewegen. Dasselbe Gefängnis sah bald gegen fünfzig seiner Spießgesellen in seinen Mauern, die allmählich in Paris und in der Umgegend eingefangen worden waren.

Als man sie ihm gegenüberstellte, erklärte er, er sehe sie zum ersten Male. Weder sei er, noch kenne er den Louis-Dominique Cartouche, mit dem man ihn verwechsle. Er sei kein anderer als Charles Bourguignon aus Bar-sur-Seine. Dabei blieb er. Als seine eigene Mutter und sein jüngerer Bruder ihm vorgeführt wurden und ihn wieder erkannten, ließ er sich dadurch nicht im geringsten beirren, leugnete ihnen frech ins Gesicht und sagte, die Leute wären Betrüger.

Im übrigen zeigte er sich seiner furchtbaren Lage zum Trotz heiter, ja ausgelassen, er scherzte mit den Beamten, trank so viel Wein er nur bekommen konnte, und sang den ganzen Tag. Es wurde zur Mode in Paris, besonders bei den Damen, ihn zu besuchen und ihm durch allerlei Spenden die Leiden des Kerkers zu versüßen.

 

Aber sein Frohsinn verlor sich allmählich, als die Aussagen gegen ihn sich häuften. Sein kühnes Leugnen half ihm bald nichts mehr, es fanden sich Zeugen, die ihn sieben vollbrachter Mordtaten überführen konnten. Er verzweifelte und suchte sich den Kopf an den Eisengittern einzustoßen. Die Wachen hinderten ihn daran und hingen ihm einen großen Klotz um den Kopf, der ihm etwaige weitere Versuche, sich auf solche Weise den Tod zu geben, unmöglich machte. Aber unter den vielen Besuchern des Gefangenen waren auch heimliche Freunde und ehemalige Verbündete, denen alles daran lag, daß Cartouche schweigend aus der Welt ginge. Sie ließen ihm unvermerkt Gift zukommen. Es begann in der Nacht zu wirken. Der herbeigerufene Arzt erkannte aber an dem heftigen Erbrechen und der Stärke des Fiebers, was hier vorgegangen, und gab ihm sofort ein Gegengift ein, das Cartouche für das Schafott rettete.

Nach seiner Wiederherstellung führte man die Untersuchung rasch zu Ende. Am 26. November 1721 wurde er für schuldig befunden und zur Räderung verurteilt. Bevor man den Spruch an ihm vollzog, wurde Cartouche auf die Folter gebracht, weil man hoffte, daß die Qualen ihm die Namen seiner Mitschuldigen erpressen würden. Kein einziges Wort aber konnte man ihm entreißen. Auch seinem Beichtvater gelang es nicht, ihn zu einem Geständnis zu veranlassen. Als einer seiner Mitangeklagten zu bekennen anfing, nachdem man ihm acht Flaschen Wasser gewaltsam eingeschüttet hatte, wurde Cartouche wütend und schalt ihn einen schmählichen Feigling, von dem er besseres erwartet habe.

 

Die Stunde der Hinrichtung kam heran. Gegen fünf Uhr abends führte man ihn nach dem Grèveplatz, wo er und seine Gesellen den Tod erleiden sollten. Der ganze Platz war mit Schafotten und Galgen angefüllt. Eine unzählbare Menschenmenge hatte sich versammelt.

Beim Anblick der zur Hinrichtung erforderlichen Werkzeuge verlor Cartouche völlig seinen Gleichmut. Als er den Henker wie zur Probe das Rad schwenken sah, rief er halb laut mit zitternder Stimme: »Das ist ein häßlicher Anblick!« Diesen Moment innerer Erschütterung suchte sein Beichtvater zu benutzen, um ihn zum Geständnis zu bewegen. Aber Cartouche hatte sich rasch erholt. Er nahm die ruhige Miene von früher wieder an und erklärte, er wisse nichts und könne nichts sagen. So bestieg er unerschrocken das Schafott.

Aber dieser letzte Mut hatte nur darin seine Quelle, daß Cartouche zuversichtlich hoffte, seine Bande, durch heilige Eide an ihn gefesselt, werde einen Aufstand zu seiner Befreiung ins Werk setzen. Aber soweit sein Auge reichte, sah er nur die festgeschlossenen Reihen der Soldaten ringsumher. Sein scharfer Blick erkannte unter den Tausenden, die sich hinter den Truppen drängten, keinen Einzigen, von dem er noch etwas zu hoffen hatte. Da wich sein Mut, seine Gesichtszüge wurden schlaff, er biß sich auf die Lippen und wurde blaß. Sich zu seinem Beichtvater wendend, erklärte er, jetzt wolle er seinen Richtern wichtige Geständnisse machen, denn ihm sei es, als wäre der Tod leibhaftig vor ihn hingetreten und hätte ihn zur Buße ermahnt.

Er wurde nach dem Stadthaus geführt und gab hier einen vollständigen Bericht über sein ganzes Leben zu Protokoll, er nannte seine Mitschuldigen, gab die Verbrechen derer an, welche schon gefangen waren und bezeichnete die Orte, an welchen diejenigen wahrscheinlich versteckt wären, die bis jetzt den Schergen entgangen. Es gelang denn auch sofort, eine ganze Reihe seiner Genossen zu verhaften, die man ihm dann gegenüberstellte. Er erklärte ihnen, daß er die Folter überstanden, ohne sie zu verraten, daß ihn aber sein Beichtvater im Namen Gottes vermocht habe, ein vollständiges Bekenntnis abzulegen. – Unter den von ihm Angezeigten befanden sich angesehene Diener vom Gefolge des Fräulein von Monpensier, die eben nach Spanien abreiste. Zwei waren in Stellung bei der Herzogin von Ventadour, der Erzieherin der Königin.

Cartouche nannte auch die Wohnungen seiner Mätressen, von denen sogleich drei herbeigeholt wurden. Die eine – er nannte sie seine graue Schwester – beschuldigte er, eines ihrer Kinder getötet zu haben. Er konnte dafür Beweise angeben, und sie wurde verurteilt. Die zweite, die er seine regierende Sultanin nannte, ein üppiges Weib, trat keck und in prächtigen Kleidern auf. Ihr konnte oder wollte er kein Verbrechen vorwerfen. Man begnügte sich damit, sie zu scheren und auf zehn Jahre einzusperren. Von der dritten, einem berühmten Fischweib der Halle, sagte er, er habe sie am meisten geliebt; was ihn aber nicht hinderte, sie jetzt als eine seiner Haupthehlerinnen anzugeben. Sie wurde dementsprechend bestraft.

Zugleich bezeichnete er aufs gewissenhafteste die Winkel, an denen er seine Schätze verborgen hatte. Man fand alles so, wie er es angegeben. Über der Aufzeichnung seiner Aussagen ging die ganze Nacht und ein Teil des folgenden Morgens hin. Dann führte man ihn wieder zum Schafott, und er erhielt bei lebendigem Leibe elf Schläge mit dem Rad. Er wurde hierauf aufs Rad geflochten, und eine halbe Stunde später zog, auf des Beichtvaters Bitte, der Henker den Strick um den Hals des Halbtoten zu.

 

 

 

Jonathan Wild

 

Für Jonathan Wilds Verbrechen hat unsere Sprache keinen Namen. Er war kein Räuber und Dieb, auch eigentlich kein Hehler; er war der Vorsteher eines großen Diebstahlkommissionsgeschäfts, wo ein jeder für gutes Geld das finden konnte, was ihm fehlte: der Bestohlene das ihm entwandte Gut, der Dieb einen Abnehmer für die gestohlenen Sachen und – wenn es ihm an Beschäftigung fehlte – Anweisung, wo etwas für ihn zu verdienen sein könnte. Kein Mann war im ersten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts in London so allgemein bekannt wie Jonathan Wild. Hoch und nieder, wem durch Einbruch, Raub oder Diebstahl Sachen von Wert abhanden gekommen waren, wandte sich an Jonathan, der ihn freundlich anhörte und in den meisten Fällen die gestohlenen Gegenstände wieder schaffte.

Er tat aber noch mehr. Er verhalf nicht allein den Beraubten, sondern der Justiz selbst zu dem Ihren, indem er Diebe entdeckte, Räuber ergriff, Mörder aufspürte, sie der Polizei überlieferte und eine große Anzahl gefährlicher Verbrecher auf diese Weise an den Galgen förderte.

So half er Herzögen und Lords, Witwen und Waisen zu ihrem Eigentum, zuweilen sogar mit dem Anschein großer Uneigennützigkeit. So säuberte er die Straßen von schlechtem Gesindel, füllte die Kerker und befreite die bürgerliche Gesellschaft von manchem verwegenen Bösewicht, der ihn unter dem Galgen zähneknirschend verfluchte. Aber jedermann wußte, daß Jonathan Wild selbst der ärgste Betrüger und Schurke sei, wenn auch nicht dem Buchstaben der Gesetze nach.

 

Geboren war Jonathan Wild um das Jahr 1682. Er heiratete früh, verließ aber bald Weib und Kind, um in London sein Glück zu versuchen. Vorerst nicht eben mit dem besten Erfolg: nach einigen Monaten saß er im Schuldgefängnis, in dem er vier Jahre verblieb.

Hier lernte er Mery Milliner, eine Straßendirne, kennen, und ging mit ihr, nachdem sie beide frei geworden, eine neue Ehe ein, ohne für die Einsegnung den Pfarrer zu bemühen.

Er nährte sich mit seinem Weibe redlich durch ein Geschäft, das gemeinhin gute Früchte trägt: Die junge Frau ließ sich mit einem Verehrer von dem eifersüchtigen Ehemanne überraschen, der wutschnaubend zum Degen griff und mit der Polizei drohte, sich aber endlich doch durch eine mehr oder minder große Barzahlung beschwichtigen ließ.

Einige reiche junge Edelleute, welche sich mit schwerem Geld loskaufen mußten, setzten die beiden bald in den Stand, sich ein kleines Haus zu kaufen. Jonathan war durch die früheren Verbindungen seiner gewitzigten jungen Frau bald mit allen Galgenstricken von einigem Rufe bekannt geworden. Mit angeborener Schlauheit hatte er sich zum Vertrauten aller ihrer Geheimnisse gemacht; er kannte ihre Schlupfwinkel, ihre besonderen Talente und Neigungen und die Art, auf welche sie ihre Beute veräußerten. Kurz, er wußte so viel von ihnen, daß er ihr Leben in seiner Hand hatte und aus einem Vertrauten ihr Tyrann wurde.

Vordem konnte ein Dieb, wenn er eine Beute gemacht, sie leicht wieder in andere Hände bringen; das Gesetz hatte damals noch keine Strafe für die Käufer gestohlener Sachen. Aber nachdem eine gegen die Hehler gerichtete Parlamentsverordnung durchgegangen war, nahm der Handel mit gestohlenen Gegenständen notgedrungen ab. Die wenigen Trödler, welche das Geschäft noch fortzusetzen wagten, liefen große Gefahr und ließen sich ungeheuer bezahlen, dermaßen, daß den armen Dieben für sich selbst fast nichts blieb.

Da faßte Jonathan Wilds erfinderischer Geist einen großartigen Plan, welcher dem Geschäfte einen neuen Aufschwung gab. Er berief die vornehmsten Diebe zu sich und hielt ihnen etwa folgende Rede:

»Ihr wißt, meine wackeren Freunde, daß Ihr, wie der Handel jetzt geht, die erbärmlichsten Aussichten habt. Denn wenn ihr was an euch bringt und tragt es zu den Trödlern, so lassen euch diese gewissenlosen Schacherer höchstens ein Viertel von dem zukommen, was die Sache wert ist. Wie kann bei solch traurigem Zustande ein Mensch von seinem Verdienste leben? Wenn er nicht verhungern will, so läuft er Gefahr, gehenkt zu werden – und, meine Freunde, das ist eine verdammt häßliche Sache. Folgt ihr aber meiner Anweisung, so weiß ich euch ein Mittel: Wenn ihr auf einen Gang aus waret und mit Erfolg mit einem Dinge gesprochen habt,« – mit einem Ding sprechen, das ist der Ausdruck, den zartsinnige Diebe gern gebrauchten, um das häßliche Wort ›Stehlen‹ zu vermeiden – »laßt mich dann alles wissen. Ich mache mich anheischig, dem Schelm, der von Euch erleichtert ward, sein Sach zurückzugeben und für Euch dafür mehr zu erhalten, als Ihr von dem schuftigen Trödlergesindel je erwarten könnt.«

Der Vorschlag fand allgemeine Zustimmung. Sobald nunmehr ein Diebstahl oder Einbruch, ein Straßenraub von den vereinigten Dieben begangen worden, wurde Jonathan in Kenntnis gesetzt. Ihm mußte gemeldet werden, was – wann – wie – wem – etwas gestohlen worden, und welchem Trödler es übergeben war.

Darauf ging Jonathan oder auch Mery Milliner zu den Beraubten und sprach zu ihnen: »Zufällig hörte ich neulich, daß Sie bestohlen worden seien. Ein Freund von mir, ein rechtlicher Trödler, hat einige Sachen, weil sie ihm verdächtig scheinen, bei sich behalten. Ich hielt es für meine Pflicht, Sie davon in Kenntnis zu setzen, obgleich ich nicht weiß, ob die ihrigen wirklich darunter sind. Sollte dies der Fall sein, was ich von Herzen wünsche, so werde ich meine ganze Mühwaltung darauf verwenden, sie Ihnen wieder zu verschaffen, vorausgesetzt, daß Sie niemanden deshalb in Ungelegenheit bringen und dem ehrlichen Trödler etwas für seine Bemühung zuwenden wollen.«

Jonathan machte bald ungeheuere Geschäfte – War der Bestohlene indessen mißtrauisch und richtete zu viel Fragen an Wild, so setzte der sich aufs hohe Roß und antwortete: »Mein Herr, ich kam nur her, um Ihnen nützlich zu sein. Denken Sie etwa anderes von mir, so muß ich Ihnen sagen, daß Sie sich in einem Irrtume befinden. Ich teilte Ihnen nur mit, daß eine verdächtige Person einige Sachen angeboten und der Trödler die Rechtlichkeit gehabt hat, sie anzuhalten. Wenn Sie aber die Dreistigkeit haben, mich nach Dieben zu fragen, so habe ich Ihnen nur noch Rechenschaft über mich selbst zu geben. Mein Name ist Wild, mein Haus, in dem Sie mich an jedem Tage in der Woche antreffen, liegt da und da, und ich bin Ihr ergebenster Diener.« Diese Sprache verfehlte selten ihre Wirkung. Man verhandelte aufs neue mit ihm; in solchen Fällen pflegte er seine Forderungen bedeutend höher zu schrauben.

Da Jonathan Prozente vom Trödler erhielt, nahm er anfänglich von den Bestohlenen selbst gar keine Bezahlung und erwarb sich dadurch beim Publikum einen ziemlichen Ruf. Mit steigendem Glück änderte er indessen sein Verfahren. Er kam jetzt nicht mehr zu den Bestohlenen, sondern ließ diese sich bei ihm melden. In seinem Bureau empfing er sie nicht anders, als wäre er irgendein Beamter. Er gab ihnen zu verstehen, daß sie zuvörderst einen Kronentaler als Gebühr erlegen müßten. Dann fragte er nach ihren Namen, wann und wie sie beraubt worden wären, wen sie wohl im Verdacht hätten und wieviel sie wohl für Wiederbeschaffung der gestohlenen Sachen zahlen wollten? Ihre Antworten wurden genau in ein Buch eingetragen, und er entließ sie mit der Versicherung, daß er alle möglichen Nachforschungen anstellen werde, und wenn sie sich nach einigen Tagen wieder zu ihm bemühen wollten, hoffe er ihnen Auskunft geben zu können.

Bei ihrem nächsten Besuche lautete gewöhnlich der Bescheid: »Allerdings habe ich etwas über Ihre Sachen in Erfahrung gebracht, aber die Person, die ich ausschickte, um Erkundigungen einzuziehen, berichtet mir, daß die Schufte behaupten, sie könnten die Sachen für mehr Geld versetzen, als Sie bieten. Wenn Sie daher auf ihrer Wiedererlangung bestehen, müßte ich Ihnen raten, bessere Bedingungen zu stellen.«

Indessen nahm er nicht immer das mehr gebotene Geld an. Es war oft nur ein Manöver, um den Leuten zu zeigen, wie uneigennützig er verfahre.

Die ausgedehnten Verhöre, die er mit den Bestohlenen anstellte, hatten immer einen Zweck. Entweder wußte er bereits alles; dann galt es, die Befragten zu täuschen und ihnen einen hohen Begriff von seinem Eifer beizubringen. Wußte er aber noch nichts, oder war er noch nicht im klaren, auf welche Weise der Dieb verfahren war, so erfuhr er es durch den Bestohlenen. Die Diebe konnten ihm dann nichts verbergen.

 

Durch sein Institut erhielten mit einemmal Dinge einen Wert, von denen früher niemand gedacht hatte, daß es sich lohne, sie zu stehlen. Taschenbücher, Rechnungen, welche bis dahin bei jedem Einbruch unberührt liegen geblieben waren, wurden jetzt fortgenommen; denn da sie für den Eigentümer von Bedeutung waren, wußte man, daß er für ihre Wiedererlangung etwas erkleckliches geben werde.

Jonathan wurde jetzt allgemach ein Gentleman. Er trug einen Degen an der Seite. Doch soll der erste Gebrauch, den er von demselben machte, nicht viel adligen Sinn verraten haben: er hieb seiner sogenannten Frau im Zorn ein Ohr damit ab. Dies veranlaßte eine Trennung; doch erwies er sich großmütig gegen Mery Milliner. Sie war es ja gewesen, die ihn in die Gesellschaft seiner jetzigen Freunde eingeführt; er setzte ihr eine Pension aus, welche sie ihr Leben lang erhielt.

Ehe Jonathan indessen ein Gentleman wurde, hatte er sich während einiger Zeit mit einem nicht minder berüchtigten Manne seines Gelichters assoziiert oder war vielmehr als dessen Gehilfe aufgetreten. Es handelte sich um niemand anders als den Stadtmarschall Charles Hitchen. Dessen Geschäft war es, liederliches Gesindel festzunehmen und Diebe zu ergreifen. Jonathan hatte es, um sich einen guten Ruf zu verschaffen, für vorteilhaft gefunden, sich auch auf dies Handwerk zu werfen, welches ihm obrigkeitliche Belohnungen und – was mehr war – großen Respekt bei dem Diebsgelichter verschaffen konnte. Aber schon 1715 trennte er sich von dem Marschall und betrieb nun auch dieses Geschäft auf eigene Rechnung.

Der Stadtmarschall war wütend darüber und drohte, er wolle Jonathans Schurkereien aufdecken. Die beiden bekämpften sich merkwürdigerweise mit – Flugschriften, in welchen jeder die Kniffe und Schlechtigkeiten des andern aufdeckte, wahrscheinlich zur großen Belustigung des Publikums, aber, wie es scheint, ohne daß die Obrigkeit weder gegen den einen, noch gegen den andern vorging. Diese Flugschriften sind uns erhalten. Die des Stadtmarschalls ist plump und ungeschickt abgefaßt. So schildert er seinen Gegner: »Seht diesen König unter den Dieben, diesen Generallügenmeister von England, diesen Generalkapitän der Armee aller Plünderer, diesen außerordentlichen Ambassadeur des Königs von Dunst und Wind, seht, wie er seine Residenz aufgeschlagen hat im Palast der Königin der Hölle, wo er fortwährend Audienz erteilt, um gestohlenes Gut zu empfangen, um es zurückzuzahlen, nämlich wenn man Sr. Exzellenz genug bietet! – – O London! London! ehedem so berühmt wegen deiner guten Ordnung, warum denn bist du itzo eine Hölle und ein Schlupfwinkel für alle Diebe, Räuber und den Abschaum aller Schurken?

Weshalb ergreift Jonathan Wild die armen Dirnen auf den Straßen, weshalb dringt er in die schlechten Häuser und faßt und schleppt, wen er da trifft, in die Gefängnisse? Die Antwort ist: damit die halb Schuldigen in der großen Lasterschule der Kerker vollkommen verderben und, wieder entlassen, von den rechtlichen Leuten ausgestoßen, gezwungen sind, zu Jonathan ihre Zuflucht zu nehmen und den großen Troß seiner dienstbaren Geister zu vermehren! Um sich vor dem Galgen zu schützen, müssen sie sich ihm ganz zu eigen ergeben und sind auf Lebenszeit verloren.«

In seiner Antwortschrift wirft Wild seinem Gegner derartige Dinge vor, daß dieser um nichts besser als er selbst erscheint. Auch der Marschall stand offenbar in großer Vertraulichkeit mit dem Gesindel, das er zu verfolgen bestimmt war: so läßt ihn Jonathan ein paar öffentliche Dirnen, welche eine gestohlene Uhr nicht herausgeben wollen, anreden: »Ihr seid die undankbarsten Dinger von der Welt, da ich Euch doch, wenn ich nur was wußte von einem Herrn, der was Wertvolles hatte, nie daraus ein Geheimnis machte, sondern die Person so genau beschrieb, daß Ihr gar nicht fehlgreifen konntet. Und solche Lumperei mir verweigern! da mag der Teufel mit Euch handeln!« – Es finden sich in Wilds Schilderung dieses nichtsnutzigen Beamten manche Züge, welche uns die Überzeugung geben, daß die englischen Dichter von Shakespeare an ihre ergötzlichen trunkenen, habsüchtigen und groben Polizeibeamten mehr der Wirklichkeit als ihrer Phantasie entnahmen. – Der Stadtmarschall ward übrigens nach mehreren Jahren, noch vor dem Ende seines gelehrigen Schülers, seines Amtes entsetzt und wegen Sittlichkeitsverbrechen, die in England mit besonderer Strenge bestraft wurden, hingerichtet.

 

Mittlerweile hatte Jonathan Wild nicht nur das Kleid eines Gentleman angenommen, er hielt auch in seiner Weise auf Ehre. Seine Lords, wie er die Diebe nannte, gehorchten ihm pünktlich, weil sie wußten, daß sie sich auf ihn verlassen konnten. Und wenn er unter Zusicherung, daß keine Gefahr dabei sei, irgendeinen von der Polizei gesuchten Verbrecher zu sich entbieten ließ, so erschien dieser sogleich, wiewohl er wußte, daß sein Leben von Jonathans gutem Willen abhing. Wurden sie bei ihren Verhandlungen einig, so schieden sie als gute Freunde; andernfalls entließ Jonathan den anderen mit den Worten: »Geh in Sicherheit: sehen wir uns wieder, so bin ich dein Feind!«

Es war für die Verbrecher ein größeres Wagnis, den Zorn Jonathans zu reizen, als mit der Polizei anzubinden. Wer sich schlecht mit ihm stellte, den verfolgte er unnachsichtlich; besonders energisch aber wandte er sich gegen die »unabhängigen Diebe«, das heißt diejenigen, welche seine Autorität nicht respektierten und die Keckheit besaßen, ihre Geschäfte zu erledigen, ohne ihn zu Rate zu ziehen. So war es ihm einmal gelungen, vier bei einem Raubmord beteiligte »Unabhängige« zu fassen, der fünfte und wichtigste aber, Timotheus Dun, konnte nicht ergriffen werden. Aber für Jonathan war es eine Ehrensache geworden, auch diesen Mörder zu fassen. Er wußte, daß ein Mensch von dessen Gelichter nicht allzu lange in seinem Versteck ausdauern könne: er mußte aufs neue seinem Geschäfte nachgehen oder verhungern.

Dun ward auch in der Tat bald müde, sich zu verbergen. Er schickte seine Frau aus, um sich unter der Hand in Jonathans Hause zu erkundigen, wie die Dinge stünden, und auf den Busch zu klopfen, ob eine Übereinkunft mit dem erzürnten Regulator, wie Wild genannt wurde, möglich sei. Aber Jonathan entließ sie ohne tröstlichen Bescheid. Als sie am Abend fortging, sandte ihr Wild Abraham, seinen Getreuen, nach, um ihrer Fährte zu folgen. Die gewitzigte Frau des Diebes merkte es. Sie schiffte über die Themse. Der Spürhund setzte ihr in einem anderen Boote nach. Sie merkte es und schlug die entgegengesetzte Richtung ein; aber er blieb immer hinter ihr. Sie fuhr zum zweitenmal über die Themse: er folgte ihr wieder. Endlich in der Dunkelheit glaubte sie, er habe ihre Spur verloren, da er sich in gehöriger Entfernung hielt. Aber sein scharfes Auge ließ sie nicht außer acht und sah, daß sie in ein Haus in Southwark ging. Er machte an der Haustür ein Zeichen.

Am frühen Morgen des nächsten Tages führte Abraham seinen Herrn mit noch zwei Begleitern hin.

Duns Haus war von den Vieren umstellt. Als der Verbrecher die Verfolger auf der Treppe hörte, stieg er aus dem Hinterfenster auf ein niedriges Dach. Abraham stand aber schon im Hinterhofe und feuerte seine Pistole auf ihn. An der Schulter verwundet, stürzte Dun in den Hof hinab. Er ward gefangen genommen, den Gerichten überliefert und gehängt. Jonathan gewann eine große Belohnung, welche die Obrigkeit ausgesetzt hatte, und noch größeren Ruhm.

So leistete Wild wohl hier und da einmal – wenn auch nur aus egoistischem Grunde – dem Gemeinwesen einen gewissen Dienst; da aber gleichzeitig, dank der vorzüglichen Organisation, die er dem Diebesgewerbe gegeben, die Unsicherheit in London immer größer wurde, so hätte man dem schlauen Patron gern das Handwerk gelegt.

Wie aber konnte das geschehen? Wild war kein Dieb, es ließ sich auch nicht erweisen, daß er als Hehler fungierte. So blieb zuletzt nichts übrig, als daß im Jahre 1718 – eigens eine Parlamentsverordnung erlassen wurde, die es als ein Verbrechen bezeichnete, Geschenke von Bestohlenen anzunehmen, um ihnen zu dem ihren zu verhelfen, wenn nicht der Vermittler nachweisen könne, daß er mit den Dieben nicht unter einer Decke stecke.

So konnte sich Jonathan der Ehre rühmen, auf die Gesetzgebung seines Landes von gutem Einfluß gewesen zu sein. Man meinte allgemein, daß diese Verordnung sein Geschäft ruinieren müsse. Sie tat ihm indes nur auf kurze Zeit Abbruch; er änderte einiges im Verfahren, ward vorsichtiger, und der Handel blühte wieder auf.

Jetzt mußten die Bestohlenen zwei- oder dreimal zu ihm kommen, und er hatte stets die Antwort: aller seiner Bemühungen ungeachtet habe er nichts ermitteln können. Endlich hatte er denn die Spur gefunden und wußte den Besitzer der gestohlenen Güter. Nun hieß es: wenn Ihr da und dahin soundso viel Geld schickt, wird man dem Überbringer die Sachen ausliefern. So wurde das Geschäft jetzt – gewöhnlich an einer Straßenecke – in einem fernen Stadtteil, wo ein Unbekannter rasch das Geld in Empfang nahm, erledigt; Jonathan war nicht mehr direkt beteiligt.

In andern Fällen veranlaßte er die Bestohlenen, den ersten Schritt zu tun und durch öffentliche Anzeige soundso viel Belohnung demjenigen auszusetzen, welcher die Sachen zu Jonathan Wild bringen würde. Wild ward somit bevollmächtigt, sie ohne weitere Nachforschung in Empfang zu nehmen. Er hatte die Hand nicht im Spiele, er tat nur, was jeder andere unbescholtene Mann gleichfalls getan haben würde.

Hatten die Bestohlenen nun ihre Sachen wieder erhalten und fragten, was sie ihm für seine Mühe schuldig wären, so antwortete er mit der gleichgültigsten Miene von der Welt, sie möchten ganz nach ihrem eigenen Gutdünken handeln, er verlange gar nichts für sich. Er sei froh, daß es in seiner Macht gestanden, ihnen einen Dienst zu leisten. Wenn man ihm aber durchaus ein Geschenk machen wolle, so stände das freilich bei jedem, er betrachte es aber als einen reinen Akt der Freigebigkeit, und würde es nicht als Belohnung, sondern als Ehrengabe annehmen.

Auf diese Weise vergrößerte sich noch sein Geschäft, und da seine Kunden aus allen Teilen der Stadt ihm zuliefen, errichtete er zu ihrer und seiner Erleichterung eine Filiale jenseits der Themse und ernannte zu deren Chef seinen getreuen Abraham.

Um den Handel weiter zu vergrößern und um gestohlene Sachen, deren vormalige Besitzer sich nicht meldeten, bequem im Ausland an den Mann zu bringen, kaufte er eigens ein Schiff, das ein kühner Seeräuber, Roger Johnson, kommandierte. Nach Ostende wurde jeweilig das geraubte Gut geschafft, und bei der Rückreise Schmuggel mit Spitzen und Leinwand getrieben.

 

Von der Allwissenheit, die Wild sich allmählich in London erworben hatte, erzählt man manch ergötzliche Geschichte.

Einmal hatte ein Seidenhändler seinen Hausdiener mit einer Kiste von Stoffen im Wert von 200 Pfd. Sterling ausgeschickt. Drei Diebe folgten ihm und hatten große Lust, mit der Kiste ein »Gespräch« zu führen. »Heda, Hausknecht, willst du einen Sixpence verdienen?« – »Warum nicht!« war die Antwort. – »So laufe schnell dort nach der Schenke, wo ich meinen Überrock gelassen habe. Weise meine goldene Uhr hier vor, und man wird dir ihn geben. Ich passe auf deine Kiste auf. Aber mach schnell!«

Die Herren waren anständig gekleidet, die Uhr hielt der Diener in der Hand; woran sollte er Anstand nehmen? Er setzte die Kiste nieder und lief, was er laufen konnte. Aber in der Schenke wußte niemand von einem Überrock, der zurückgeblieben. »Schon gut, Ihr traut mir nicht,« sagte der Hausknecht. »Aber ich habe von dem Herrn ein gutes Pfand – da ist seine goldene Uhr.« – Gold? – Es war nur lackiertes Zinn. Der betroffene Hausknecht stürzte zurück, wo er die Herren gelassen, aber da war weder Herr noch Kiste zu finden. Der unglückliche Diener ging mit sich zu Rate. Was sollte er seinem Herrn sagen? Ihm gestehen, daß er ein Dummkopf gewesen, der sich so grob hatte übertölpeln lassen? – Er sann auf eine Lüge. Die Straße war voll Kot. Er warf sich auf die Erde und wälzte sich im Schmutz. Heulend kam er nach Hause und erzählte, er sei von drei Kerlen überfallen worden, die ihn geschlagen und niedergeworfen hätten und mit der Kiste auf und davon gerannt wären.

Die Sache klang so wahrscheinlich, daß der Seidenhändler keinen Augenblick zweifelte und sich augenblicklich an Jonathan Wild wandte. Wild hörte ihn ruhig an: »Mir scheint es, Ihr Hausknecht ist ein Lügenmaul. Erlauben Sie, daß ich ihn holen lasse, und ich hoffe, Sie davon zu überzeugen.« Der Hausknecht kam und ward von Abraham in ein Zimmer gebracht, das nur durch eine dünne Wand von dem getrennt war, in welchem der Händler mit Jonathan war. Abraham examinierte den Knecht. Der erzählte ausführlich von den drei furchtbaren Kerlen, die ihn angefallen. Abraham zuckte die Achsel und meinte, das wäre schlimm, denn da es sich um einen offenbaren Raub handele, würden die Spitzbuben so bald nicht wiederkommen: es ginge um ihr Leben. »Aber die Wahrheit werden wir schon herausfinden. Gaben sie Euch denn die Uhr, als Ihr schon lagt, oder als Ihr noch auf den Beinen standet?« – »Die Uhr?« fragte der erschreckte Diener. – »Nun, das Pfand, um den Überrock zu holen.« – »Zum Teufel! woher wißt Ihr das?« rief der Mann und bekannte seine Dummheit. Der Seidenhändler erhielt seine Waren, Wild seinen Lohn.

 

Fünfzehn Jahre waren so hingegangen, ohne daß man Wild persönlich jemals mit Ernst zu Leibe gerückt wäre: Er war für die öffentliche Sicherheitspflege von zu großer Bedeutung geworden, kannte alle Verbrecherfährten und war in vielen Fällen allein imstande, die Schuldigen zu entdecken. Man duldete das kleinere Übel, um größerem leichter abhelfen zu können.

Aber Jonathan war allmählich selbst zur größten Plage für die Hauptstadt geworden. Sein Beispiel wirkte demoralisierend auf das Volk. Man mußte gegen ihn vorgehen.

Im Jahre 1725 wurde der völlig Überraschte auf Grund einer Anklage, welche alle seine Verbrechen in elf Artikeln zusammenfaßte, verhaftet.

Der Prozeß hätte sehr weitläufig werden können. Es war schwer vorauszusehen, ob nicht der geriebene Schurke, den man kaum aller seiner Verbrechen überführen konnte, sich nicht doch aus der Schlinge ziehen würde.

So entschloß man sich, die Anklage auf ein einziges Verbrechen zu beschränken, das er in allerletzter Zeit begangen hatte: Es war ein Vergehen wider jene Parlamentsverordnung, die erlassen worden, um ihm das Handwerk zu legen. Es handelte sich um eine sehr geringfügige Sache, aber sie genügte, Wild an den Galgen zu bringen. Man beschuldigte ihn, mit einigen anderen im Laden der Katharina Stetham fünfzig Ellen Spitzen gestohlen und von besagter Frau Stetham zehn Guineen angenommen zu haben, um die Diebe zu entdecken.

Jonathan wurde vor die Geschworenen gestellt. Er ließ ihnen eine gedruckte Liste von siebenundsechzig Verbrechern überreichen, deren Gefangennahme sein Verdienst war; unter der Liste standen die Worte:

»Wegen dessen, was dieses Papier enthält, haben einige bis jetzt den Händen der Gerechtigkeit entschlüpfte Verbrecher den Versuch gemacht, das Leben zu rauben dem besagten

Jonathan Wild.«

Das war seine Verteidigung.

Der Hauptzeuge Kelly sagte folgendermaßen aus:

Freitag am 22. Januar ging ich zu Master Wild. Wir tranken eine Flasche Gin zusammen. Da kam auch Peg Murphey, wir waren recht lustig und tranken noch drei Flaschen miteinander. Als wir nun fortgehen wollten, die Peg und ich, fragte uns Jonathan, welchen Weg wir nähmen? Wir sagten es ihm. »Nun gut,« sprach er, »dann will ich euch was sagen: da ist ein altes blindes Mensch, die hält einen Laden, etwa zwanzig Schritte von Holbournbridge, und verkauft feine flander'sche Spitzen. Und ihre Tochter ist so blind wie sie. Wenn ihr euch nun die Mühe nehmen wollt, bei ihr einzutreten, da könntet ihr mit einer Schachtel Spitzen sprechen. Ich will mit euch gehen und euch die Tür zeigen.« Wir willigten ein und gingen, bis wir an der Tür waren. »Und nun«, sagte er, »geht nur dreist rein, und ich will hier warten und euch schon fortschaffen, wenn irgend was Störendes kommen sollte.« Die Peg und ich, wir gingen nun dreist in den Laden und ließen uns ein Stück Spitzen nach dem andern zeigen, aber keins wollte uns gefallen: das Stück war uns zu breit, und das zu schmal und das nicht fein genug. Endlich kletterte das alte Weib die Treppe hinauf, um von oben noch andere Stücke herunterzuholen, und da griff ich schnell eine Zinnschachtel mit Spitzen und reichte sie der Peg, die sie unter ihren Rock steckte. Nun kam das alte Weib mit einer neuen Büchse herunter und zeigte uns alle ihre Herrlichkeiten; aber nun war uns alles zu teuer, denn was wir wollten, hatten wir schon um den Preis, der uns recht war, und da nahmen wir unsern Hut und fanden draußen den Jonathan und sagten ihm, wir hätten mit einer Spitzenschachtel gesprochen. Stracks ging es nun in sein Haus zurück, wo die Büchse aufgetan ward, und da fanden wir elf Stück Spitzen. Er fragte uns, ob wir auf der Stelle bar Geld haben oder warten wollten, bis eine öffentliche Anzeige käme. Du lieber Himmel, mit unserm Mammon stand's dazumal gerade verflucht schlecht, da griffen wir zum Baren, und er gab uns drei Guineen und etwas Silber. »Ich kann euch nicht mehr geben,« sagte er, »denn das alte Mensch hat ein hartes Gebiß, und ich kriege nicht mehr als zehn Guineen aus ihr raus.«

 

Margarete Murphey – von der uns beiläufig die trostreiche Versicherung gegeben wird, daß sie drei Jahre später auch gehängt wurde, weil sie mit einer silbernen Teekanne gesprochen hatte – sagte ungefähr dasselbe aus. Die bestohlene Ladenbesitzerin aber, die als Anklägerin auftrat, bekundete, daß sie Wild zehn Guineen gegeben, und daß er noch im Gefängnis mit ihr über die Sache verhandelt hatte.

Somit war festgestellt, daß Jonathan mit den Dieben gemeinsame Sache machte und zugleich den Anwalt der Bestohlenen spielte.

Das genügte zur Verurteilung. Trotz der schönen Liste, die er dem Gericht übergeben, wurde die Todesstrafe gegen ihn ausgesprochen.

Er ging mit geringer Fassung dem Ende entgegen. Er suchte sich im Gefängnis zu vergiften, brachte es aber nur zu einer Art Betäubung, die anhielt, bis der Henker ihm den Strick umwarf.

Mit lautem Jubel sah der Pöbel seinen letzten Zuckungen zu.

 

 

Mordlust

Die Witwe Gottfried war eine pausbäckige, für ihre vierzig Jahre noch recht hübsche Frau, und wundernswert erschien es, wie sie, trotz der schweren Schicksalsschläge, von denen sie betroffen, so völlig sich ihren frommen Glauben und ihre freundliche Gemütsart bewahrt hatte. Durch ihr vieles Unglück war sie in Bremen stadtbekannt geworden: hatte sie doch in vierzehn Jahren nicht weniger als dreizehn Särge bei ihrem Gegenüber, dem Tischler Bolte, bestellen müssen, und alle für liebe, teuere Angehörige. Das Mitleid mit der schwergeprüften Frau war allgemein. Manche erinnerten sich ihrer noch mit Rührung als holdseliger Jungfrau, deren Schönheit die Augen vieler achtbarer Männer auf sich gezogen. Einige meinten zwar, daß sie, in den heiligen Ehestand getreten, sich nicht ganz untadelig bewiesen und schon bei Lebzeiten des ersten Mannes mit dem zweiten in trautem Verkehr gestanden. Aber die solches vermuteten, wußten auch zugleich: jener hatte ihr durch sein wüstes Leben Anlaß zur Sünde gegeben; ja, weil er seine Schuld gegenüber dem reinen Weibe wohl erkannte, diesen Umgang gewissermaßen als Ersatz für seine eigene Lasterhaftigkeit zugelassen und nicht ungern gesehen. Wie dem auch sei – hatte sie gefehlt, so war das reichlich ausgewogen worden durch ihre Leiden und ihr ganzes späteres Leben. Bescheiden gegen Höhere, gegen Untergebene die Leutseligkeit selbst, war sie überall beliebt und gern gesehen. Ihre Dienstboten hingen mit rührender Treue an ihr. Bewerber näherten sich, wie einst der Jungfrau, so jetzt noch der Witwe; viele Familien hätten die gemütvolle Frau mit ihren feinen Sitten, ihrem hübschen Vermögen, gern in ihren Schoß aufgenommen. Aber sie pflegte alle Anträge freundlich abzulehnen: sie habe es ihrem seligen Gottfried versprochen, nicht wieder zu heiraten.

Also alleinstehend besuchte sie in christlichem Wohltätigkeitssinn die Lager der Kranken, pflegte sie liebevoll und teilte an die Armen Spenden weit über ihre Kräfte aus. Kein Wunder drum, daß der damals – in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts – berühmteste Bremer Pastor, daß Dräseke selbst sich gedrungen fühlte, von der Kanzel herab für die »christlich starke Dulderin« öffentlich Fürbitte einzulegen, auf daß der Herr sie vor weiterem Ungemach bewahren möge.

 

Frau Gottfried wohnte in einem ihr gehörigen hübschen Hause in der Pelzergasse. Die Zimmer, die sie selbst inne hatte, waren mit Teppichen, Blumen, Kupferstichen und all den Kleinigkeiten, welche den Aufenthalt angenehm machen, hübsch ausgestattet. Auch eine Bibliothek, hauptsächlich aus religiösen Erbauungsbüchern bestehend, fehlte nicht. Diese Wohnung wollte Frau Gottfried beibehalten, aber das Haus suchte sie zu verkaufen. Lange fand sich niemand, der es erstehen wollte. Das Anwesen, in dem so zahlreiche Todesfälle aufeinander gefolgt waren, schien vielen Leuten eine Stätte, die Unglück bringen müsse; und vollends schreckte die Bedingung ab, die Witwe Gottfried als Mieterin im Hause zu behalten; denn so beliebt und angenehm sie auch war: in ihrer Nähe schien das Unheil zu lauern.

Ein junger Radmachermeister namens Rumpf spottete des Aberglaubens und brachte im Jahre 1825 das Haus an sich. Zu Anfang schien er allen Grund zu haben, mit seinem Entschluß zufrieden zu sein. Man konnte sich kein angenehmeres Verhältnis denken als das zwischen dem Käufer und seinen Angehörigen und der früheren Hausbesitzerin. Die freundliche Witwe, welche für niemand in der Welt zu sorgen hatte, lebte nur für die Rumpfsche Familie. Aber kaum acht Wochen, nachdem diese eingezogen war, starb die Gattin im Wochenbette. Sie hatte die Entbindung glücklich überstanden, als Durchfall und heftiges Erbrechen sich einstellten, welche den Tod zur Folge hatten.

Niemand konnte sich trostloser und liebevoller zeigen als Frau Gottfried. Sie war nicht vom Krankenlager der Armen gewichen. Die Sterbende sah, als der Tod an sie herantrat, nur darin einen Trost, daß sie eine solche Pflegerin für ihr verwaistes Kind, für ihren lieben Mann im Hause wußte. Sie ließ ihr das teuere Vermächtnis, für beide zu sorgen. Frau Gottfried erfüllte redlich den Willen der Toten. Sie pflegte das Kind, sie besorgte die Wirtschaft, die Küche, sie munterte durch ihre Unterhaltung und religiösen Zusprüche den tiefbetrübten Mann auf. »Tante Gottfried«, so hieß sie in der Familie.

Aber das Unglück, das Rumpfs Freunde prophezeit hatten, rückte darum doch sichtbar näher. Bald erkrankte die für den Säugling in Dienst genommene Amme, desgleichen die Hausmagd. Bei beiden stellte sich ebenfalls Durchfall und Erbrechen ein. Die Amme erklärte, in dem Hause könne sie nicht gesund werden, und ging in ihre Heimat zurück.

Nun erbrachen sich Gesellen und Lehrlinge. Einer der letzteren lief auch fort. Rumpf selbst fing, wenige Monate nach dem Tode seiner Frau, an demselben Übel zu leiden an. Als strenger und tätiger Mann glaubte er nicht an das Unwohlsein bei den sonst kerngesunden Burschen, er meinte, sie wollten sich nur über ihn lustig machen und spielten Komödie. Er fuhr mit harter Züchtigung unter sie; aber ohne Erfolg.

Das eigene Unbehagen des Meisters ward immer größer. Was für Speisen er auch zu sich nahm, sie erregten ihm das fürchterlichste Erbrechen. Seine frühere blühende Gesundheit sank von Tag zu Tag. Zuerst wollte er sich selbst kurieren, er hielt seine Krankheit für die Folgen einer Magenerkältung. Aber weder die eigenen, noch die Mittel des Arztes schlugen an.

Eine niederdrückende Schwäche hatte sich seines Körpers bemeistert. Der kräftige, rüstige Mann war mutlos und träge geworden. Er scheute die geringste körperliche und geistige Anstrengung. Zehen und Fingerspitzen hatten das Gefühl verloren, und ihn quälte die entsetzlichste Angst, daß er wahnsinnig werden könnte.

Gleich als suche er einen verborgenen Schatz durchstreifte er sein Haus vom Keller bis zum höchsten Boden. Er meinte, in der Örtlichkeit den geheimen Grund zu entdecken, warum er und so viele vor ihm krank geworden. Rumpf dachte an eine verderbliche Zugluft, und darum verschloß und öffnete er abwechselnd alle Türen; alle Ritzen verstopfte er. Vielleicht dunstete der Fußboden, irgendein vermoderter Stoff konnte in ihm Gift erzeugen. Er lüftete die Dielen. Alles vergebens.

Fast schien ihm jetzt selbst, daß es wirklich geheimnisvolle Mächte gäbe, welche die Sinne der Menschen verrückten und ihren Körper heimlich verwüsteten. »Tante Gottfried« war dem armen Leidenden der einzige Trost. Sie pflegte ihn mit mehr als mütterlicher Sorgfalt. Jeden Morgen war sie als erste da, um sich zu erkundigen, wie er geruht, und wenn sie hörte, daß er wieder eine schmerzenvolle Nacht durchwacht, wünschte sie ihm etwas von dem sanften Schlafe, womit Gott sie erquicke.

 

So ging das geraume Zeit. Einmal – es war schon im Jahre 1828 – ließ sich Rumpf für seine Haushaltung ein Schwein schlachten. Von einem ausgesuchten Stücke, welches ihm der Metzger brachte, genoß er etwas und verschloß das übrige in einen Schrank. Das Fleisch war ihm ausnahmsweise sehr wohl bekommen; also wollte er am folgenden Tage den Rest verzehren. Wie er aber den Schrank wieder öffnete, bemerkte er, daß der Speck nicht mehr in seiner alten Lage war. Rumpf hatte die Schwarte nach unten gelegt; jetzt fand er sie oben. Als er den Speck umkehrte, entdeckte er zu seinem Erstaunen weißliche Körner darauf. Er erinnerte sich, daß er vor etwa einem Jahr auf dem Salat einmal ähnliche Körner erblickt und, da er sie für Zucker gehalten und süßen Salat nicht liebte, nichts davon gekostet hatte; ferner, daß er vor einiger Zeit nach dem Genuß einer Fleischbrühe sich übel befunden, in welcher er auch so etwas Weißes als Bodensatz bemerkte.

Er rief Tante Gottfried. Diese erklärte die Körner für Fett.

Aber jetzt stieg eine Ahnung in dem Unglücklichen auf, er schwieg und rief in der Stille seinen Hausarzt. Die weiße Substanz wurde abgestreift, durch einen geschickten Chemiker untersucht, und es fand sich darin eine nicht unbedeutende Beimischung von Arsenik.

Dies geschah am 5. März. Gleich am folgenden Tag wurde dem Kriminalgericht Anzeige gemacht; in der Stadt verbreiteten sich die abenteuerlichsten Gerüchte. Die Behörde begab sich in das Rumpfsche Haus; Frau Gottfried wurde krank im Bette gefunden. Nach einem Verhör ließ man sie indessen beim Eintritt des Abenddunkels ins Stadthaus abführen.

 

Hier versuchte sie anfänglich zu leugnen; aber Kraft und Mut sanken ihr, da nun der ehrbare Schein, der sie durch so lange Jahre aufrecht erhalten, hingeschwunden war. Mit Erstaunen und Entsetzen zogen die Wärterfrauen der wohlgebildeten Frau Gottfried, als sie dieselbe der Vorschrift zufolge entkleiden mußten, dreizehn Mieder aus, die sie übereinander trug. Ihre lieblichen roten Wangen waren Schminke, und nachdem alles, was durch Toilettenkünste erzielt worden, entfernt war, stand an der Stelle der blühenden, stattlichen Dame vor den erschreckten Weibern ein blasses, angstvoll verzerrtes Gerippe. Daß man ihr die äußere Larve abriß, dies mehr als alles andere ward die Ursache ihres geistigen Zusammenbruches. Sie verlor die Spannkraft, die Macht zur Lüge. Sie bekannte, aber nicht gestachelt durch die Qual des Gewissens; sie gestand nicht mit einem Male, es war ein fortgesetztes zweijähriges Bekennen, und auch durch dies Bekennen zog sich ein fortgesetztes neues Lügengewebe. Keine großgeartete Lüge war es, die sie hätte vom Untergang retten können, sondern ein kleinliches Ableugnen, um, nachdem das Gräßlichste heraus war, noch hier und dort einen Anhalt, eine kleine Entschuldigung zu gewinnen; letzte Versuche, mit sich schön zu tun und Mitleid und Interesse zu erregen.

Das ungeheure Leichentuch, unter dem ihre Opfer ruhten, deckte sie nicht mit einem Male auf, aber sie hatte doch nach den ersten Verhören schon genug bekannt, um das Leben zehnfach verwirkt zu haben; die Untersuchung wurde deshalb nicht mit der Eile geführt, die bei anderen Verbrechen nötig ist, wo Spuren, die verloren gehen könnten, verfolgt werden müssen.

Man hegte vielmehr das Scheusal aus wissenschaftlichen Gründen sorgsam so lange, bis ihr ganzer Lebenslauf – trotz all ihrer Winkelzüge und kleinen Täuschungsversuche – einigermaßen klar vor Augen lag.

 

Frau Gottfried war die Tochter eines den unteren Ständen angehörigen, aber angesehenen Bremer Frauenschneiders namens Timm. Im Jahre 1785 war sie ihm mit einem Zwillingsbruder geboren worden.

Der Sohn, auf den Namen Johann Christoph getauft, machte den Eltern wenig Freude. Auf der Wanderschaft geriet er in liederliche Gesellschaft, wurde verführt, krank, kostete den Eltern viel Geld und ließ sich endlich als Husar im Napoleonschen Heere anwerben.

Das Mädchen aber, Gesche Margaretha, wurde die Wonne und der Augapfel beider Eltern. Von der zartesten Gestalt und feinsten Bildung war sie, und von früh an lag etwas Ätherisches über ihrem ganzen Wesen. Anmutig und lieblich im Benehmen, mit einem freundlichen, hübschen, offenen Gesicht, war die Kleine überall gern gesehen und wurde von den Erwachsenen geliebkost und gehätschelt.

Schon sehr früh mußte Gesche die Schule besuchen. Ihre Gespielinnen hatten Taschengeld, das sie zu Näschereien benutzten. Gesches Eltern gaben ohne Not keinen Groten her. Gesche half sich selbst. Wenn sie von der Mutter ausgeschickt wurde, um Weißbrot zu holen, brachte sie unter den größeren einige kleinere und erübrigte sich dadurch manches Kupfer- und Nickelstück. Damals war sie sieben Jahre alt.

Der Betrug wurde nicht entdeckt. Das war eine Aufmunterung. Gesche ging zu eigentlichen Diebstählen über. Sie entnahm der Tasche ihrer Mutter einen, zwei, zwölf Groten. Der Verlust blieb zwar nicht unbemerkt; welche Mutter sollte aber einen Verdacht werfen auf so ein liebliches, offenes Kind, auf den »Engel von Tochter«, wie beide Eltern ihre Gesche nannten? Das verschlossene, menschenscheue Wesen Johann Christophs lenkte den Argwohn weit eher auf sich; und Gesche schwieg zur Verdächtigung ihres Bruders.

 

Fünf Jahre setzte sie diese Diebereien fort, ohne daß ein Verdacht auf sie fiel, fünf Jahre heuchelte sie bei diesen kleinen Sünden ein unschuldiges Wesen und ward, nach wie vor, geliebt, gestreichelt und belohnt. Elf Jahre alt, vergriff sie sich an fremdem Eigentum und entwendete einer alten Mamsell, die bei Timms zur Miete wohnte, eine bedeutendere Summe. Der Diebstahl wurde entdeckt, die Täterin nicht. Alles ward vergebens durchsucht, der Vater dachte schon an seinen Sohn, da rief die Mutter: »Warte nur, Vater, ich will schon hinter die Wahrheit kommen!« Sie ging fort, kam nach einer halben Stunde nach Hause zurück und sprach mit zuversichtlicher Miene: »Ich habe den Dieb gesehen! Einer klugen Frau in der Neustadt habe ich's geklagt. Die holte einen Spiegel, und wie ich hineinsehe, steht der Dieb da und guckt über meine Schulter.« Die Mutter hatte ihre Tochter dabei scharf ins Auge gefaßt, wenigstens kam es der so vor; »das ist dein Gesicht gewesen,« dachte sie und hat nie mehr im elterlichen Hause etwas zu entwenden gewagt. Aber eigentlich war doch nichts herausgekommen, sie stand vor der Welt so rein da als vorher, und war nach wie vor der »Engel« ihrer Eltern.

In ihrem zwölften Jahre ward Gesche aus der Schule genommen und mußte im Hause, an Stelle der abgeschafften Dienstmagd, alle Arbeiten verrichten, zugleich auch für den Vater nähen.

Die Tochter zeigte sich in allem so genügsam, daß sie sich über die kleinsten Dinge freuen konnte, sie war entzückt über das Kuchenbrot, das ihr als Geburtstagsgeschenk gegeben wurde, und sagte alle Gebete, welche die Mutter sie gelehrt, mit buchstäblicher Treue. Sie trug die Almosen für Vater und Mutter aus, und schon früh ward ihr eingeprägt, wie hohen Wert solche Wohltätigkeit hätte, und daß die Danksagung der Armen göttlichen Lohn verheiße.

Ihr Sonntagsvergnügen war, mit einigen Freundinnen in einem Nachbarhaus Komödien zu agieren. Sie spielte am besten und bekam drum auch die ersten Rollen; sie war die Schönste, und man schmückte sie mit Bändern und Steinen.

Und so karg auch die Eltern waren, sie taten doch für die weitere Ausbildung ihrer Tochter mehr, als damals in ihrem Stande Sitte war. Gesche – oder Gesina, wie sie sich jetzt zu nennen liebte – lernte französisch; das heißt, sie erhielt Unterricht in dieser Sprache. Da es ihr aber zu langweilig wurde, ließ sie sich ihre Arbeiten von einem Freunde anfertigen, korrigierte aber sorgsam immer ein paar Fehler hinein.

 

Wie ihre Schönheit, so wuchs die Liebe ihrer Eltern zu der vorzüglichen Tochter, die Vater und Mutter auch nicht den geringsten Kummer verursachte, während der Bruder ein ausschweifendes Leben in Hamburg und Paris führte, Schulden machte, und bereits anfing, als verlorener Sohn zu gelten.

 

Um die Sechzehnjährige schon hatten sich vier Freier beworben, aber der Vater wies sie ab.

Als sie eines Abends, von einer Freundin begleitet, zum erstenmal im wirklichen Theater war, drängte sich in der Loge des zweiten Ranges, wo sie saß, ein dicker vornehmer Herr an Gesina, der sie mit Artigkeiten überschüttete, und auch nachher, wiewohl umsonst, dem schönen Mädchen nachstellte. In der Person eines Nachbarn, dem Sohn des reichen Miltenberg, erwuchs ihr aber ein Beschützer, welcher sich während der Aufführung zwischen den galanten Herrn und das hübsche Mädchen drängte und sie dann aus dem Theater nach Hause begleitete.

Von da an ging Miltenberg immer vor des alten Timm Hause vorüber, wenn Gesina mit dem Besen davor kehrte; und Gesina fand, daß das Wasser im Miltenbergschen Brunnen das beste in der Straße sei, und holte es daher von dort. Auch kaufte sie im Sattlerladen, wenn der junge Miltenberg bediente, manche Kleinigkeit, und Miltenberg geleitete sie stets hinaus. Auf ihrer Seite war mehr Eitelkeit als Liebe im Spiel. Miltenberg konnte nicht gerade als die Idealgestalt für ein junges Mädchen gelten, noch war er sehr zum Beschützer der Unschuld geeignet. Verzärtelter einziger Sohn seines wohlhabenden Vaters, hatte er schon vor seiner ersten Ehe ein wüstes Leben geführt. Eine ältliche Dirne hatte ihn in ihre Netze zu locken gewußt und, nachdem sie Madame Miltenberg war, keinen Grund gesehen, noch länger die Larve des Anstandes vor dem Gesicht zu behalten. Dem Trunk ergeben, widerwärtig in jeder Beziehung, machte sie dem jüngeren und schwächlicheren Gatten das Leben unerträglich und sog seine Kräfte aus. Von gewaltigem Körperbau, hatte sie ihn nicht selten in trunkenem Zustande untergekriegt und mißhandelt, sogar auf offener Straße.

Der Tod des frechen Weibes hatte nun zwar den armen Menschen aus den schmählichen Eheketten erlöst, aber mit seiner Gesundheit schien auch seine sittliche Kraft bis auf den Grund zerstört. Er schleppte sich hin in Faulheit und Liederlichkeit und suchte in Weinstuben und bei gemeinen Weibern Trost oder Vergessenheit. Sein Vater, der nicht nur das stattlichste Anwesen in der Straße, sondern auch eine hervorragende Gemäldesammlung besaß und ihretwegen freundschaftlich selbst mit Senatoren verkehren durfte, konnte das Lasterleben des Sohnes nicht länger mit ansehen. Wie der Mensch, so ging auch die Wirtschaft und das Geschäft zugrunde. Vater und Sohn gerieten oft in heftigen Streit, und endlich erklärte der Alte dem Jungen: das einzige, wodurch er ihn versöhnen könne, sei eine anständige Heirat, und die einzige anständige Heirat, die ihm gefiele, sei die mit Timms wohlgeratener Tochter.

Der Sohn hatte durchaus nichts einzuwenden, nur fürchtete er sich davor, da sein ausschweifendes Leben den Leuten bekannt sein mußte, selbst den Antrag zu stellen. Ein Magister mußte den Vermittler abgeben. »Fein schwarz gekleidet, damals jung und von sehr ehrbarem Ansehen«, wie sich Frau Gottfried, bei ihrem lebhaften Gedächtnis für alles Äußerliche, noch im Gefängnis entsann, so erschien der Brautwerber beim alten Timm und brachte in zierlich-steifen Worten seinen Antrag vor. Der künftige Reichtum des einzigen Erben, das große Miltenbergsche Haus, für das schon einmal zwanzigtausend Taler geboten wären, und worauf nur tausend hypothekarisch hafteten, das köstliche Mobiliar, die Gemäldesammlung, worunter Stücke von dreihundert Talern an Wert, glänzten dergestalt als Lichtpunkte in der Rede, daß Vater und Mutter Timm vor Freude zitterten und auch nicht an die Möglichkeit einer abschlägigen Antwort dachten. Die Tochter ward hereingerufen, um von ihrem Glück zu hören.

Timms Freunde schüttelten bedenklich den Kopf und hielten es für eine große Torheit, daß er das tugendhafte, schöne Mädchen um des Geldes willen mit dem wüsten, leichtsinnigen Menschen zusammenkuppele. Die Mutter erwiderte: wenn die jungen Leute nur Brot hätten; alles übrige würde sich schon finden.

Die Trauung ward im März 1806 in Miltenbergs Haus, in der großen Hinterstube mit den Ölgemälden, feierlich begangen.

Diese Ehe mußte dem Selbstgefühl der jungen Frau überaus schmeicheln. Sie war die Wiederherstellerin der Ordnung, des Friedens zwischen Vater und Sohn. Beide erkannten das freudig an, erschöpften sich in Dankesbezeugungen und opferten täglich auf dem Altare ihrer Eitelkeit. Miltenberg, so oft durch die Schande seiner ersten Ehe vor den Leuten beschämt, setzte seinen Stolz darein, die junge schöne zweite Frau zu einer vornehmen Dame zu machen. Er fühlte sich um so mehr verpflichtet, sie äußerlich hoch zu stellen, da er ihrer Jugendfrische nur einen entnervten Körper und abgestumpften Geist entgegensetzen konnte; besonders, da er nicht einmal so viel Macht über sich selbst besaß, um, zufrieden mit dem Besitz des schönen Weibes, seiner früheren Lebensart und den gewohnten Ausschweifungen zu entsagen.

Die junge Frau konnte nichts für diesen Mann empfinden; er verreiste und kam schlaff und gleichgültig wieder. Als Ersatz für Liebe brachte er ihr Geschenke und eine Verehrung, die ihr Herz nicht wärmte.

Ihre Eltern selbst erkannten zu spät, was ihrer Tochter fehle. Sie bemühten sich, es sie vergessen zu machen, indem sie selbst ihre Miltenbergerin, wie sie Gesche jetzt stolz zu nennen pflegten, zu lärmenden Lustbarkeiten geleiteten.

Der junge Miltenberg hatte von ungefähr beim Glase Wein mit einem lebensfrohen jungen Weinreisenden namens Gottfried Freundschaft geschlossen. Dieser war bei einem solchen Fest der gefällige, liebenswürdige Nachbar von Madame Miltenberg; nachher wurde er ihr Tänzer, ihr einziger Tänzer während des ganzen Balls. Die Mutter flüsterte ihr warnend zu: »Ich glaube, dein Mann ist unzufrieden mit dir!« Und der Vater kam am anderen Morgen zur Tochter und machte ihr die heftigsten Vorwürfe: »Du hast deinen Mann ganz vernachlässigt. Solange ich lebe, gehst du nicht wieder in eine solche Gesellschaft! Eine Frau muß nicht ihren Mann zurücksetzen, wie du gestern tatest.« Aber der Mann selbst war ja ganz zufrieden gewesen, und in brüderlicher Herzlichkeit, Arm in Arm mit dem Freunde nach Hause gegangen. Was konnte der Vater dagegen einwenden?

Sie gingen schon am selben Tage wieder auf den Tanzboden, die gleiche Gesellschaft fand sich zusammen, Miltenberg führte seiner Frau den Freund als Partner zu, und das Spiel von gestern ward fortgesetzt, nur daß Madame Miltenberg – nach dem Selbstbekenntnis, das sie im Gefängnis niederschrieb – »sich vor den Leuten genierte«, und ihrem Tänzer zu verstehen gab, daß »auch er sich genieren möge«.

Von diesem Tage an galt ihr Sehnen Gottfried. Ihre Sucht, vornehmer, gebildeter, besser zu erscheinen, ihr Hang zu Putz und prächtigen Kleidern bekam einen neuen, mächtigen Antrieb. Sie erschrak über ihre häufige Blässe, erinnerte sich der Schauspielerkünste ihrer frühen Jugend, und von jetzt ab wechselten ihre Wangen die Farbe nicht mehr. Miltenberg sah die nähere Bekanntschaft Gottfrieds mit seiner Frau offenbar gern und begünstigte sie; er freute sich, ungestört seinen Vergnügungen nachgehen zu können, indes Gottfried seiner Frau die Zeit vertrieb. Und dann war Miltenberg ein Freund des Weins, und Gottfried setzte so manche Flasche auf den Tisch.

Aber bei alledem hielt er sich sehr zurück. Gerade das aber entfachte immer mehr die Glut im Herzen der jungen Frau. Ihr heftiges Verlangen ging in stillen Schmerz über, in einen Unmut, der ihr ganzes Wesen durchdrang. Ihren Angehörigen, die es merkten, log sie vor, es sei die Furcht, kinderlos zu bleiben.

Endlich wurde die Miltenbergin guter Hoffnung und genas im Herbst 1807 einer Tochter, die – durch die Schuld des Vaters – Anzeichen einer Krankheit aufwies.

Als dann in den folgenden Monaten Gottfried noch immer zögerte, trat allmählich ein anderer Weinhändler und Freund Miltenbergs an seine Stelle. Kassow war verheiratet, Vater mehrerer Kinder, nicht schön, und hatte dazu noch einen dicken Bauch. Aber das Begehren war in Gesche durch die heftige Neigung zu Gottfried nun einmal erweckt worden. Aufgeregt, ohne allen inneren Halt, hätte sich die getäuschte und verlangende Frau vielleicht einem jeden in die Arme geworfen, der sie ihr entgegenbreitete; wohlverstanden: einem jeden, dessen Neigung ihrer Eitelkeit schmeichelte, dessen Stellung sie über ihre Sphäre erhob. Die Miltenbergs, wenn auch wohlhabend, gehörten eben doch dem Handwerkerstande an, Kassow aber war wie Gottfried Kaufmann!

Lange schützte Gesche wider ihren Willen die selbstgefertigte Tugend- und Anstandsmaske; erst nach geraumer Zeit – eine Totgeburt lag dazwischen – kam es zu sträflichem Umgang. Übrigens war es etwa von da an, daß Gesche, über ihre immer zunehmende Magerkeit erschreckend, anfing, für eine natürlich wachsende Körperfülle zu sorgen, indem sie, in angemessenen Zwischenräumen, ein Mieder mehr anzog, bis sie schließlich, wie wir wissen, es auf dreizehn brachte.

 

Kassow mußte auf längere Zeit Bremen verlassen, als gerade Gottfried von einer ausgedehnten Geschäftsreise zurückkam. Der alte Miltenberg hatte inzwischen sein Haus auf den Sohn übertragen. Es wurden darin Zimmer an einzelne Herren vermietet; der Zufall wollte, daß Gottfried bald nach der Rückkehr aus seiner bisherigen Wohnung ausziehen mußte, und Miltenberg nahm ihn in sein Haus auf, ja er gab ihm die Vorderstube, welche bis da seine Frau bewohnt hatte; natürlich mit der vollen Einwilligung derselben. Gottfried kam ohne schlechte Absicht. Ihm schmeichelte nur die Aufmerksamkeit der schönen jungen Frau; zudem liebte er auch, auf fremde Kosten zu zehren und zugleich ein gemütliches, häusliches Leben zu führen, ohne dafür viel auszugeben. Das fand er bei Miltenbergs; er ward in den Schoß der Familie aufgenommen, verbrachte seine Abende dort, aß an ihrem Tische und gab die Wirtshäuser auf. Durch Aufmerksamkeiten gegen die schöne Frau – er brachte ihr Serenaden, schmückte ihr Blumenbrett, bestellte den kleinen Garten – suchte er die Freundlichkeiten wettzumachen.

Gottfried war von weicher, etwas schwärmerischer Natur. Er spielte Gitarre und besaß eine Bibliothek, die Lafontaine, Klopstock und Kotzebue enthielt; ja, er hatte sich sogar selbst als Schriftsteller hervorgetan und zwei Liedersammlungen, »Blumenkränze geselliger Freuden« und »Blumenlese«, herausgegeben. Die junge Frau hielt es in Anbetracht dieser Umstände für dienlich, in Schwermut zu verfallen; sie klagte über ihren rohen Mann, der sie stets verlasse, und der ihrem Gemüt nichts gebe. Gottfried schenkte ihr sein Mitleid und sang abends vor ihrem Fenster: »Beglückt, beglückt, wer die Geliebte findet«, »Wen ich liebe, weiß nur ich«, »Süßer Traum, wie bald bist du entschwunden«, »Meine nicht, es ist vergebens« und »Das Grab ist tief und stille«. Einsame Spaziergänger folgten, ein erster Kuß an einem alten steinernen Kreuze, und von da an hatte sie gewonnen Spiel.

Da kam Kassow aus Berlin zurück, brachte der Geliebten ein recht wertvolles Geschenk mit und forderte seine alten Rechte, welche sie ihm aus fortgeschrittener Lasterhaftigkeit oder aus Furcht nicht versagte. Ihr mußte es vor allem darauf ankommen, daß weder Gottfried von ihrem vertrauten Umgang mit Kassow, noch Kassow etwas von dem mit Gottfried erfahre. Beides gelang ihrer Verschmitztheit und Verstellungskunst bis zum Tode beider Männer.

Kassow hatte sich auch bei den alten Timms einzunisten gewußt, er brachte dann und wann eine Flasche Wein hin und lieh ihnen Geld, um die Schulden ihres ausschweifenden Sohnes zu bezahlen. Wohl hob die alte Timm drohend den Finger: »Hör mal, Miltenbergin, das geht nicht mit der Freundschaft von Kassow!« Aber es geschah im Scherz und ohne den geringsten Argwohn. Die Eltern hielten nach wie vor ihre Tochter für ein Musterbild der Tugend und fingen nun auch an, sie zu beklagen und ihr tiefstes Mitleid zu schenken, als jene es jetzt für dienlich hielt, ihren Mann aufs äußerste zu verleumden.

Daß bei seiner Scheu vor der Arbeit das Vermögen verfiel, war ihnen bekannt. Seine Trinkgelage – seine Spielwut – seine Liederlichkeit – all das war nur zu stadtkundig. Aber Gesche log jetzt auch, daß er sie aufs grausamste mißhandle, wenn sie nicht stets für die feinste Tafel sorge, wiewohl er es ihr doch so sehr an Geld fehlen lasse; um seiner Roheit zu entfliehen, habe sie einmal eine ganze Nacht in einem Kutschkasten zubringen müssen; sie habe unsägliches zu leiden, aber sie sei fest entschlossen, still und gelassen alles zu dulden.

Das so auch bei den zwei Freunden angeregte Mitleid trug ihr reiche Frucht. Eltern und Liebhaber beschenkten sie. Und während sie selbst Wirtschaftsstücke heimlich verkaufte, um sich schön zu kleiden und – was sie liebte – reiche Geschenke machen zu können, klagte sie Miltenberg auch wegen dieser Verschleuderung an. In Wirklichkeit war der Mann, so lasterhaft sein Leben sonst sein mochte, gegen sie stets der freundliche, gefälligste Gatte.

Von da bis zur Beraubung ihres Mannes war nur ein Schritt. Sie ließ unter einem Vorwande durch den Schlosser den Schreibtisch des Gatten öffnen und entwandte zehn Taler. Die Tat wurde nicht entdeckt. Miltenbergs Kasse war nur klein. Ihr Mieter Th... mußte viel Geld haben. Mit einem kleinen Schlüssel öffnete sie sein Pult und hielt zu ihrem Schrecken einen Beutel mit neunzig Talern in Händen. Sie hätte wohl die Hälfte zurückgetan, fürchtete aber, der Schlüssel möchte brechen. Bei der Entdeckung, der Untersuchung bewährte sie ihre Meisterschaft in der Verstellungskunst.

Sie bedurfte immer neuen Geldes zur Befriedigung ihrer eitlen Regungen. Im Jahre 1812 lieh sie von einem Bekannten eine Summe, angeblich um ihren armen Bruder in der Fremde zu unterstützen. Es ward vergeudet, und als es wieder gezahlt werden sollte, mußte ihr Mann dafür aufkommen, der ihr verzieh. – Sie bog sich einen Dietrich zurecht, erbrach das Pult ihres eigenen Geliebten Gottfried und nahm etliche zwanzig Taler daraus. Gottfried geriet in große Erregung; die Miltenbergin aber war am aufgebrachtesten, sie wollte nicht ruhen, bis der schändliche Dieb entdeckt wäre; ein Lehrling und eine Wärterin schienen ihr der Tat verdächtig.

Es kam nichts heraus.

Drei Kinder hatte sie noch geboren; eines starb bald, ein zweites trug Kassows Züge, während das jüngste Gottfried glich. Allmählich zog sich Kassow mehr und mehr zurück.

 

Gesches Leidenschaft zu Gottfried steigerte sich zu wilder Gier. Miltenberg wankte als ein siecher Schatten umher. Dieser elende Mann war das einzige Hindernis des heißersehnten Glückes, das ihre Phantasie im dauernden, ungestörten Besitze Gottfrieds erblickte. Die Miltenbergin fing an, ihren Ehemann zu hassen. Er ward bei den Eltern aufs neue verleumdet. Unter verschämten Tränen vertraute sie ihnen die Schande, die wahrscheinlich auch die Todesursache ihrer kleinen Johanna gewesen, und gab zu verstehen, daß es auf Erden kein zweites so unglückliches Geschöpf wie sie gäbe. Die tiefgerührten Eltern sahen ihre Tochter im Geiste bereits mit zerrütteter Gesundheit am Bettelstabe; sie klagten sich selbst als die Stifter dieser Ehe, als die Urheber des namenlosen Unglücks an. Timm drang darauf, daß seine Tochter nun ein Schlafzimmer für sich allein erhielt. Zugleich überlegte er, wie es zu verhindern wäre, daß Miltenberg neue Schulden mache und auf sein Haus eintragen lasse. Der Gatte, in seiner physischen und moralischen Schwäche, ließ sich alles gefallen, und schon sollte mit seinem Vater eine Vereinbarung getroffen werden, als der alte Miltenberg im Jahre 1813 plötzlich starb. Gesche ging im Dunkeln zur Leiche hinauf, drückte ihr die Hand und hatte nicht die mindeste Furcht, so daß alle sich verwunderten.

Eine Wahrsagerin hatte ihr um diese Zeit die Verheißung gegeben: ihre ganze Familie werde aussterben, und sie allein übrig bleiben und dann ein sehr gutes Leben führen. Immer mehr faßte der Gedanke in ihr Wurzel, ihr Mann müsse sterben. Sie wünschte seinen Tod, sie war entschlossen, nachzuhelfen. Da fiel ihr ein, daß ihre Mutter früher zur Vertilgung der Ratten und Mäuse Gift gelegt, und daß wohl auch Menschen daran sterben könnten.

Sie klagte der Mutter, daß sie in ihrem Schlafzimmer oben Mäuse hätte: ob sie wohl Rat dafür wüßte? Die Mutter brachte kleine Stücke Schwarzbrot, auf die Arsenik gestreut war, und legte sie in die Kammer. »Sei vorsichtig! um Gottes willen, daß nur ja keines von den Kindern hinaufgeht, 's ist Gift!« – Einige Tage nachher kratzte Gesina mit einem Messer das Gift von den Butterbroten, doch so, daß es aussah, als hätten die Mäuse von dem Brot genagt, und legte den Arsenik, in Papier gewickelt, in ihre Kommode. Die Mutter will einmal hinauf, sehen, ob die Mäuse dagewesen sind. Schnell sagt Gesche: »Sie haben alles aufgegessen« und bittet um noch etwas von dem Brot, das sie auch erhält.

Mehrere Wochen noch kämpfte sie mit sich. »Endlich, an einem Morgen, fasse ich den schrecklichen Entschluß und gebe meinem Mann auf seinem Frühstück etwas davon ...« Miltenberg ging aus, kam blaß nach Hause, legte sich zu Bett, bekam Durchfall, fürchterliches Erbrechen, stand zwar am nächsten Tage wieder auf, mußte jedoch wieder das Bett aufsuchen. So kränkelte er acht Tage. An einem Stocke wankt er einmal die Treppe herunter, zeigt seiner Frau einen Wagen, den er selbst verfertigt, und spricht: »Wenn ich sterbe, verkaufe den und laß mich davon beerdigen.«

Vier Tage vor seinem Tode »gab sie es ihm« noch einmal in einer Suppe.

 

»Ich gab es ihm«, so drückte sich Gesche vor Gericht immer aus, das Wort »Gift« vermied sie nach Möglichkeit.

 

Die letzten vier Tage konnte sie sich nicht mehr dem Bette des Sterbenden nähern. Nicht aus Rührung, oder weil sie Gewissensbisse hatte; es war ihr nur immer, als ahne er ihre Tat. An der Tür blieb sie stehen. Einmal glaubte sie, er werde aus dem Bette springen und sie schlagen.

Als Gottfried mehrere Tage vor Miltenbergs Tode nach Oldenburg reisen mußte, sagte der Kranke zu ihm: »Gottfried, lebendig findest du mich nicht wieder, wenn du zurückkommst. Ich weiß, du hast mit meiner Frau zu tun gehabt; ich vergebe dir gern. Versprich mir, sie nicht zu verlassen, und nimm dich der Kinder an.«

An seinem letzten Tage, dem 1. Oktober 1813, hatte der Unglückliche entsetzlich zu leiden. In seinem Schmerze krümmte und wälzte er sich, flog oft in die Höhe und schrie wie rasend. Die Frau ließ sich am Sterbebette nicht sehen. Etwa eine Stunde vor dem Tode rief man sie, sie kam nicht. Er verschied unter lautem Brüllen. Da erst trat Madame Miltenberg als untröstliche Witwe an das Lager des Verblichenen.

 

Kein Mitleid, keine Reue, keine Gewissensbisse: Aber sie hatte gelernt, wie man mit Gift tötet, und daß man die Portionen größer machen müsse, wenn man schnell zum Ziele kommen wolle.

Nur eines fürchtete sie: daß die Mutter fragen könnte, »hast du ihm etwas gegeben?« – denn der Körper des Toten war aufgedunsen und mit Flecken übersät. Aber die alte Timm merkte nichts. Ein anderes bereitete ihr nach langen Jahren im Gefängnis noch Verdruß: daß der Selige den schönsten Totenwagen hätte bekommen können, und er erhielt den niedrigsten! –

 

»Jetzt will ich mich deiner annehmen! Du hast nach deiner Eltern Willen geheiratet,« so sprach Timm nach dem Begräbnis zur Tochter. Im schlechtesten Rocke, den ältesten Hut auf dem Kopf, so ging er mit einer Schrift bei allen Gläubigern umher und verglich sich mit ihnen. Das bare Geld, das er bot, und seine Versicherung, wie schlecht es mit dem Nachlaß bestellt sei, wirkten; er konnte eines Tages sich erschöpft auf einen Stuhl niederwerfen und sprechen: »Miltenbergin, nun bist du schuldenrein!« Er ordnete ihre Wirtschaft, verschaffte ihr tüchtige Gesellen, kaufte Vorräte fürs Geschäft, und sie betrieb es zuerst mit Eifer. Freilich hatte Vater Timm eine unredliche Handlung begangen: die Witwe Miltenbergs war nicht insolvent, im Gegenteil, sie war wohlhabend.

 

Von jetzt an teilte sie ungestörter ihre Liebe zwischen Gottfried und dem wieder erscheinenden Kassow. Die Napoleon'sche Zeit ging völlig spurlos an ihr vorüber. Als man sie im Gefängnis einmal danach befragte, war das einzige, dessen sie sich entsann, ihre Freude, als ihr die Einquartierungskommission fünfunddreißig Taler zurückerstattete.

Ihr ältester Geselle, ein geschickter junger Mann, hielt um die Hand der Witwe an. Alles sprach für ihn, die Kinder liebten ihn. Sie lehnte höflich den Antrag ab, und der Geselle verließ bald nachher die Werkstatt, doch um wiederzukommen. Seine Treue schmeichelte der Eitelkeit der Miltenbergin – weiter wollte sie hier nichts –, und der Antrag ward im Vertrauen Bekannten und Freunden mitgeteilt, auch Gottfried, der darauf geantwortet haben soll – wenigstens behauptet es späterhin die eitle Verbrecherin –: »Wenn ich das erlebte, daß du dich verheiratest – eine Kugel ginge durch meinen Kopf!« Die Mutter aber sagte ihr: »Nicht wahr, du liebst Gottfried? Mit unserem Willen wird daraus nie etwas.« – Hier lag das erste Motiv zum Elternmorde.

Gottfried, wie liebevoll er auch war, wie nahe sie es ihm auch legte, hatte offenbar durchaus noch nicht die Absicht, um ihre Hand zu bitten. Miltenberg war ihm nicht mehr im Wege, also mußte ein anderes Hindernis bestehen: das waren ihre Kinder und ihre Eltern! Ihre Phantasie spiegelte ihr vor: Wären deine Eltern nicht dagegen, brauchtest du das Geld nicht mit deinen Kindern zu teilen, besäßest du auch das Vermögen, das sie vom Großvater zu erwarten haben – dann würdest du Gottfrieds Frau!

Sie betrachtete ihre Eltern, trotz des Übermaßes von Güte, womit sie die Tochter überschütteten, als lästiges Hemmnis. Auf die Kinder warf sie verdrießliche Blicke. Tagelang schickte sie dieselben aus dem Hause, damit Gottfried nicht an ihr Dasein erinnert werde. Die Kleinen überbrachten ihr im Jahre 1815 an ihrem Geburtstage mit rührender Feierlichkeit und mit den herzlichsten Wünschen ihre Geschenke und die der Großeltern, die sie mit Tränen empfing – ohne darum aufzuhören, mit ihrem blutigen Plane zu spielen. Sie fühlte, daß es zur Tat nur noch eines Impulses bedürfe. Sie wünschte selbsttrügerisch, vom Schicksal einen Wink zu erhalten, durch irgend etwas von außen her zum Werk veranlaßt zu werden. Sie wandte sich wieder an die Kartenlegerinnen und befragte wenigstens vier derselben nacheinander. Da sie ihnen die geheimen Wünsche ihres Herzens andeutete und ihnen so das Wort in den Mund legte, erhielt sie von allen dieselbe Auskunft: ihre ganze Familie werde aussterben, und sie allein übrig bleiben. Gesche ließ es sich angelegen sein, diese Prophezeiungen unter den Leuten bekannt zu machen. Wenn es dann so kam, so geschah nichts anderes, als was die klugen Frauen längst vorausgesagt; und die Möglichkeit, daß ein Verdacht sie treffen könne, wurde mindestens weiter entfernt.

Jetzt fest entschlossen, erwartete sie nur eine günstige Gelegenheit, um zur Tat zu schreiten. Es war ihr sehr willkommen, daß die Eltern öfters selbst ihres Todes gedachten, daß die Mutter, den Kopf auf Vaters Schulter gelegt, den Wunsch aussprach: »Alter, das wünsche ich mir vom lieben Gott, daß ich, wenn du einmal stirbst, dich nicht acht Tage überlebe.«

Gesche bereitete auch in ihren eigenen Reden auf die Zukunft vor. Ihre immer heitere Miene war oft umwölkt, sie gebrauchte Bibelsprüche und fromme Redensarten: »Wir müssen die dunkeln Wege der Vorsehung in Demut verehren,« (später ward das ihre Lieblingsfloskel bei allen Vergiftungen) und »Was Gott tut, das ist wohlgetan.« Ihren Freundinnen gegenüber beklagte sie das unglückliche Schicksal, das ihr bevorstehe; denn es sei ihr prophezeit: sie werde alle ihre Kinder verlieren.

 

Die alte Timm erkrankte. Eine Hoffnung für die Miltenbergin, daß sie diesmal das Gift sparen könne. Aber trotz ihrer vierzehntägigen Pflege starb die Mutter nicht. Timm hatte inzwischen sein Haus an den Tischler Bolte verkauft. Während der Unruhe des Umziehens in eine neue Wohnung läßt sich die schwache Alte in das Haus der Tochter tragen, um dort ihre Gesundheit wieder zu erlangen. Liebevoll, mit kindlichster Herzlichkeit wird sie in dem schönen, neu tapezierten Zimmer untergebracht, das ihr viel zu prächtig dünkt. Mutter und Tochter scherzen darüber. »Mutter, du mußt denken, du seist im Kindbett,« und die Alte lächelt herzlich.

Drei Tage nachher will die Miltenbergin (so wenigstens stellt sie es vor Gericht dar) einige Kleider für die Mutter aus deren Hause holen, da sieht sie ein Papier, auf dem »Rattengift« steht. Es war ihr: »als sei es mir absichtlich in den Weg gelegt worden«; »die Nacht konnte ich nicht schlafen wegen des Gedankens: wenn du nun keine Eltern hättest, so könnte dich doch niemand hindern!«

Nach drei Tagen besserte sich der Zustand der Mutter. Die Unruhe der Tochter wuchs. Sie ging hinüber zum Schrank und holte sich ein bischen von dem Gift, verwendete es aber nicht. Wiederum verstrichen so acht Tage. Die Mutter wurde jetzt sichtlich wohler. Da trat einmal ihr Enkel Heinrich mit der Frage an das Bett: »Großmutter, ist es wahr, daß dem Kinde, welches nicht gut an seinen Eltern tut, die Hand aus der Erde wächst?« Der Miltenbergin schnitt das Wort durch die Seele; aber noch an demselben Tage rührte sie den Arsenik in ein Glas Limonade, das Lieblingsgetränk der Alten.

Die Verbrecherin bekannte später: »Denken Sie, während ich das Gift hineinmache, gibt mir der liebe Gott ein herzliches, lautes Lachen, daß ich erst selbst erschrak. Aber gleich besann ich mich: dies hätte der liebe Gott gefügt, zum Beweise, daß Mutter nun bald so im Himmel lachen werde.«

Schon tags darauf verlangte die Mutter nach dem Abendmahl und erhielt es. Sie ordnete ihre kleinen Angelegenheiten. Dem Manne drückte sie die Hand: »Wenn ich noch etwas erflehen darf: daß du mir bald folgst.« Der alte Timm antwortete: »In zwei Monaten bin ich bei dir,« und er verließ das Zimmer. Zur Miltenbergin sprach die Mutter darauf: »Wenn dein Bruder als ein Krüppel kommt, pflege ihn,« und sie hob beide Arme gen Himmel: »Ach, könnte ich doch alle meine Kinder mitnehmen!« Erschöpft ruhte sie, schien am nächsten Morgen ganz wohl, verschied aber in der Frühe, noch ehe der alte Timm von drüben kam. Er fand die Tochter in voller Ruhe bei der Leiche.

 

Den Tag nach der Beerdigung befand sich Gesche in dem Hinterzimmer mit der fünfvierteljährigen Johanna, ihrer jüngsten Tochter, allein. Sie reichte der Kleinen ein Stück Kuchen von der Begräbnisfeier, auf das Arsenik mit Butter fest geschmiert war. Das Kind wurde alsbald unwohl; »als es elf schlägt, sehe ich in die Wiege – ach Gott! da war sie tot!« Ihr Schreck galt aber nur der Überraschung, weil das gefährliche Stück so leicht von der Hand gegangen war. Es verlangte sie danach, fortzufahren.

 

Adeline, ihr ältestes Kind, war seit acht Tagen krank gewesen; aber es täuschte die Hoffnung der Mutter, daß es von selbst sterben werde. Als sie die Tochter unerwartet genesen sah, gab sie ihr auch von dem Butterkuchen mit Gift, und das Kind starb nach einigen Tagen, im Todeskampfe sich an die Mutter klammernd.

Der alte Timm, der fast täglich das Grab seiner Frau besuchte, hatte so den Schmerz, auch dem Leichenbegängnis zweier Enkel folgen zu müssen. »Bei deines dritten Kindes Tod ist dein Vater nicht mehr da,« sagte er zu seiner Tochter, und sie nahm das als Wink des Schicksals, nun ihn an die Reihe zu bringen. An einem Sonntagabend – zwei Wochen nach Adelinens Tode – gab sie ihm gehörig zubereitete Suppe. »Wenn du mich so pflegst, wirst du deinen Vater noch lange behalten,« sagte der Alte, indem er die Suppe verzehrte. Sie brachte den Vater nach Hause und blieb die Nacht in den Kleidern, in der Erwartung, jeden Augenblick gerufen zu werden. Um vier Uhr morgens wird auch wirklich ans Haustor geklopft, ein Bote meldet, der alte Timm sei niedergefallen und verlange nach der Tochter.

Der Vater wünschte, daß seine Miltenbergin nicht mehr von ihm gehe; er litt entsetzlich. Sie entsann sich, daß Wasser und Wein ihre Johanna ruhig gemacht. Sie geht die Flasche holen. Wie sie wiederkommt, liegt der Vater auf der Erde; nachdem er eine Tasse Wein getrunken, redet er irre und phantasiert von der seligen Frau, die er auf seinem Bette sitzen sieht. Er ordnet dann noch mehreres an und stirbt rasch.

 

Diese vier Vergiftungen erfolgten, ohne daß irgend jemand einen Verdacht hatte. Kleine Kinder sterben häufig. Die alten Leute hatten längst ihr Ende erwartet.

 

Ein einziges Kind, der fünfjährige Heinrich, war noch übrig. »Mutter, warum nimmt dir der liebe Gott alle deine Kinder?« fragte sie der Kleine. Das war ein Dolchstoß in ihr Herz, aber zugleich eine Mahnung, auch an die Wegräumung dieses letzten Hindernisses zu schreiten.

Sie gibt ihm Gift. Er richtet sich am zweiten Tage ängstlich in die Höhe. Da ergreift sie – zum ersten Male – Angst. Sie heißt ihre treu ergebene Magd Beta, geschwind Milch zu bringen. »Ach, wenn in dem Augenblicke eine fremde Person bei mir gewesen wäre, so hätte ich mich ja verraten! Denn Milch soll ja Gegengift sein!« – Der kleine Heinrich phantasierte auf seinem Krankenlager: »O Mutter, wie lacht Adeline! Da steht sie auf dem Ofen ... da steht mein Vater ... bald bin ich im Himmel!«

Unter unsäglichen Schmerzen starb der Knabe. Vom Mai bis September 1815 hatte die Miltenbergin so beide Eltern und ihre drei Kinder vergiftet.

Nun wurden diese vielen Todesfälle, nacheinander in so kurzer Zeit erfolgt, doch auffällig. Ihre Tränen, ihre frommen Sprüche, daß man die dunkeln Wege der Vorsehung anbeten müsse, konnten nicht allen Verdacht abwenden. Das Gerücht verbreitete sich, bei den Todesfällen im Miltenbergschen Hause könne es nicht mit rechten Dingen zugehen. Ihre Freundinnen hinterbrachten das mit teilnehmendem Kummer der Witwe und baten sie, um jede schändliche Nachrede unmöglich zu machen, die letzte Leiche sezieren zu lassen. Sie ward denn auch in Gegenwart vieler Zeugen von einem Arzt untersucht, und derselbe gab die Versicherung: der Knabe sei an einer Darmverschlingung gestorben. Jeder Schatten eines Verdachtes mußte daraufhin weichen.

 

Von jetzt an – wohl um den lieben Gott zu versöhnen, vielleicht auch, um so auf Gottfrieds weiche Seele Eindruck zu machen, – begann die Witwe in großem Umfang Wohltätigkeit zu üben. Sie ließ nicht die Armen zu sich kommen, sie suchte sie auf. Kranken und Wöchnerinnen bereitete sie Speisen und bot sich als Pflegerin an. Wenn sie den Namen einer Bedürftigen hörte, so eilte sie, ihr beizuspringen. Der Ruf eines hilfreichen Engels konnte ihr nicht entgehen. Den armen Schwestern ihres Vaters schenkte sie ein Stück Land, welches zu dem Erbteil gehörte, das ihr zufiel.

Denn das Geld an sich war eigentlich nie das Ziel ihrer Wünsche. Sie war nichts weniger als habsüchtig. Sie brauchte es nur zu eitler Vergeudung, für ihre Geschenke und Wohltaten. Darum nahm sie Anleihen auf, besonders bei Kassow, und wußte ihn durch einen Kunstgriff zu immer fortgesetzter Freigebigkeit zu bestimmen: sie ahne ihren baldigen Tod, der nach ihren unsäglichen Leiden nicht ausbleiben könne. Kinder habe sie nicht, und was er ihr schenke oder leihe, gebe er seinen eigenen Kindern, denn sie sei willens, dieselben zu ihren Erben einzusetzen.

 

Im Mai 1816 tauchte unerwartet ihr Bruder in Bremen auf, eine Erscheinung, welche auch in anderen Häusern keine freudige Überraschung hervorgebracht hätte. Der verlorene Sohn, der in Münster sich im Jahre 1812 hatte anwerben lassen, war für tot gehalten worden. Die Schwester hatte seine Habseligkeiten verkauft, und ein Erbteil konnte er, bei den vielen Aufwendungen zu seinem Besten, kaum noch fordern. Nun klopfte er, zerlumpt, krüppelhaft, anscheinend den Tod in den Gliedern, an das Haus der Miltenbergin. Die Heuchlerin fiel zum ersten Male aus der Rolle. Sie erschrak, und wäre es nicht wegen der Leute gewesen, sie hätte ihm den Eintritt wohl verwehrt. In einer schlechten Kammer brachte sie ihn unter. Abgesehen davon, daß sie sich dieser Verwandtschaft schämte, daß sie in ihr ein neues Hindernis in der Heirat mit Gottfried sah, hegte sie die Furcht, daß ihr Bruder doch etwas vom Erbe verlangen möchte. Rasch war ihr Entschluß gefaßt.

Am Freitag oder Sonnabend war der Bruder angekommen, am Sonntag mittag wurde er mit einem Gericht Schellfisch vergiftet. Nachmittags ward er in einem Wirtshaus furchtbar krank und konnte sich kaum nach Hause schleppen. Die Schwester mußte ihn, der Jugendbekannten wegen, die sich bei seinem Krankenbette einfanden, anscheinend sorgsam pflegen. Aber trotz seiner schweren Krankheit mußte der Bruder sich doch aus seinem schlechten Zimmer in die höchste Bodenkammer schleppen lassen. Der Grund zu dieser Grausamkeit: auch der Bruder hatte geäußert, mit seinem Willen solle sie den Gottfried nicht heiraten, und letzteren erwartete sie täglich zurück! – Der Kranke phantasierte von seinem Pferde und seinem Liebchen, redete seinen Leutnant an, wenn die Schwester bei ihm stand, rief » Vive l'Empereur!« und war am Abend des 1. Juni tot.

Wer sollte sich wundern, daß ein invalider Krüppel, dem die Füße in Rußland erfroren waren, und der, voll kranker Säfte, vielleicht ein Lazarettfieber mitbrachte, daß der französische Husar, dem trotz seines Passes kein Dorfschulze ein Nachtlager geben wollte, den der patriotische Haß genötigt, auf offenem Felde zu schlafen, seit er die deutschen Grenzen betreten, – daß solch ein verlorener Mensch bei der Heimkehr krank wurde und starb? – Die Witwe übte außerdem die Vorsicht, bei den vielen Krankheitsfällen in ihrem Hause mit Ärzten und Krankenwärterinnen zu wechseln.

Die Eltern waren tot, die Kinder weggeschafft, der Bruder ins Grab geschickt – was hielt Gottfried jetzt noch ab, sie zu heiraten? – Vielleicht den Kaufmann die Tatsache, daß sie auch jetzt noch ein Handwerk betrieb? Es gab ein gutes Brot, aber es forderte eine Tätigkeit, welche sie allmählich anwiderte. Sie gab das Geschäft auf, und damit ihre beste Einnahmequelle und zugleich den letzten äußeren Halt.

Gottfried kam von einer Reise zurück. Leidenschaftlich empfing ihn die Witwe, mit deutlichen Worten forderte sie ihn zur Eingehung der Ehe auf. Er wich aus. Wie die Gekränkte dachte, ergibt sich aus einer ihrer vertraulichen Äußerungen ihrem Verteidiger gegenüber: sie stellte es als etwas ihr selbst Unbegreifliches hin, daß sie Gottfried, der damals krank wurde, nicht vergiftet habe. »Denken Sie, ich hatte Gift in der Kommode, und doch fiel es mir nicht ein, ihm etwas zu geben!«

Sie wollte die Hoffnung nicht lassen. Der kranke Gottfried ward mit aller Aufopferung gepflegt; bei augenblicklichen Geldverlegenheiten zahlte sie für ihn. Er genas und schien endlich dem Netze, das sie um ihn spannte, zu erliegen. Sie fühlte sich wieder von ihm schwanger. Nun mußte doch Gottfried, der gutmütige, redliche Gottfried, auf ihre Wünsche eingehen! Aber ihrem Jammer über den ihr drohenden Verlust der allgemeinen Achtung begegnete er nur mit dem Rate, »unten im Lande«, wo sie Bekannte habe, heimlich Wochen zu halten.

Jetzt flammte ein Haß gegen den in ihr auf, dem sie solche Opfer umsonst gebracht. Nicht mehr um seine Person war es ihr zu tun – ihre Sinnlichkeit war befriedigt oder erwartete keine weitere Befriedigung – wenn sie sich weiterhin um seine Hand bemühte, galt es lediglich seiner Stellung, seinem Vermögen. Dazu trat die Furcht, durch ihre Niederkunft, die sie vergeblich durch Abtreibungsversuche zu vermeiden suchte, um die sorgsam behütete bürgerliche Ehre zu kommen.

Sie wandte sich an seine vertrautesten Freunde. Die Überredungskünste derselben wirkten; Gottfried und Frau Miltenberg machten ihre Verlobung bekannt.

Sie hatten schon die ersten Besuche miteinander abgestattet, als er wieder zurücktrat: »Ich kann und will sie nicht zur Frau haben,« sagte er zu seinen Freunden, und ließ sich am Ende doch wieder überreden.

Schon waren sie zweimal aufgeboten worden, als die Angst sie folterte, er könne etwas von ihren Taten wissen und sie deshalb nicht heiraten wollen. Auch kam ihr die sehr natürliche Überzeugung: er liebt dich nicht, er nimmt dich nur gezwungen; du würdest unglücklich mit ihm.

 

Am Montag nach dem zweiten Aufgebot gab sie ihm vergiftete Mandelmilch. Erbrechen und Diarrhöe erfolgten. Das Übel griff mit Riesenschritten um sich. Schnell – darauf hatte sie gerechnet – ward ein Prediger geholt, um die Trauung mit dem Sterbenden zu vollziehen. Nach der Kopulation mußte sie Gottfried versprechen, sich nicht wieder zu verheiraten. Er sagte, dann sterbe er ruhig. Von seinen fürchterlichen Schmerzen erlöste ihn der Tod drei Tage nach der Trauung.

 

Der ungeheuere Schmerz der neu Verwitweten erregte allgemeinstes Mitleid. »Was Sie an Gottfried verloren, werden Sie an Ihrem Kinde wiederfinden,« suchte der Arzt sie zu trösten.

Das Kind wurde tot geboren. Das war ihr wohl recht, aber um so mehr grämte sie eine wirkliche Enttäuschung: sie hatte Gottfried für reich gehalten, in Wahrheit aber hatte sein Prinzipal sechshundert Taler von ihm zu fordern, und die Witwe mußte mit der goldenen Uhr, der kleinen Bibliothek, einigen Kupferstichen und der Gitarre – den einzigen Erbstücken, die sie erhielt – auch diese Schulden mit übernehmen. Aber sie brauchte Geld, bares; sie erzählte jedem in Vertrauen, ihr seliger Gottfried habe über dreitausend Taler Schulden, die sie tilgen müsse; außerdem dichtete sie ihm, wie schon früher ihrem Vater, eine uneheliche Tochter an, für die zu sorgen die Ehre des teueren Verstorbenen ihr gebiete.

 

Die noch immer großen und durch den Schmerz erhöhten Reize der Witwe fanden bald wieder Bewunderer. Auch ihr vermeintlicher Wohlstand lockte noch immer Bewerber an. In vielfache Berührung tritt sie namentlich zu einem angesehenen Manne, dem Herrn X... – sein Name wird uns verschwiegen –, der bald als Liebhaber, Bewunderer, Beschützer, bald als Gläubiger auftritt. Er erscheint als Freund in der Not, Ratgeber und Tröster. Das Geld, dessen die Witwe für die Begräbniskosten bedurfte, schoß er ihr vor; auch später erhielt sie von ihm gewisse Summen für die und jene dringenden Ausgaben. Aber als sehr gewiegter Finanzier hatte er bei seinen großmütigen Handlungen ein scharfes Auge auf die pekuniären Verhältnisse seiner Freundin, und während er zu Anfang kaum eine Verschreibung annahm, sie mit Geschenken überhäufte, rechnete er ihr bald vor, daß sie ihren Besitz übermäßig belaste, und gab um seiner Neigung willen keineswegs seine Forderungen an die schöne Schuldnerin auf. Wenn sie wirklich in innigen Beziehungen zu X... gestanden hatte, so war diese Liebschaft gewiß für sie nicht wenig demütigend, da der Liebhaber klug und schlau und überdies ein Gläubiger war, der sie von Haus und Hof treiben konnte. Aber er war vor ihrem Gift sicher. Sie konnte ihn wohl töten; aber ihre Schuldscheine wären dann in die Hände seiner Erben gefallen.

Immerhin gewöhnte sich Frau Gottfried an dies merkwürdige Verhältnis; sie erhielt von X... Theaterbillets und Einladungen zum Essen. Wie sie selber in ihrer im Gefängnis niedergeschriebenen Biographie es ausdrückt: sie lebte wieder auf, fing sogar an, X... zu lieben, sie vergaß ihre Verbrechen und glaubte, die Glücklichste auf der Welt zu sein.

Drum schlug sie drei ehrenvolle Heiratsanträge aus, stets unter dem Vorwand, daß sie dem seligen Gottfried versprochen, sich nicht wieder zu vermählen. Im übrigen war die Verbindung mit X ... ihr deswegen angenehm, weil er ihr in ihrem Umgange vollkommen freie Hand ließ. Sie hatte viele Mieter, und einer derselben, der Kommissionär Johann Mosees, trat, wie sie schreibt, »in des seligen Gottfried Fußtapfen«. Er pflegte den Garten, sang, und ging mit ihr spazieren. Und dabei war er sehr religiös! »Da wurde sein jüngster Bruder konfirmiert. Ach, das war eine schöne Zeit! Acht Tage zuvor betete er jeden Nachmittag mit ihm.«

Sie suchte auch alte Jugendbekanntschaften wieder auf und ließ sich von ihren Freundinnen als unvergleichliche Dulderin bewundern: »Der liebe Gott legt mir ein schweres Joch auf, aber er macht mich auch stark!« sagte sie. Einer Freundin wollte sie kaum Dräsekes Predigten leihen, aus Furcht, diese könne das kostbare Buch verlieren; »denn das ist es, was mich einzig erhält«. Sie hatte aber nie ein Blatt darin gelesen. Aber in allem Ernste glaubte sie durch Wohltätigkeit alle auf ihrer Seele lastenden Mordtaten wieder gut zu machen. Im Jahre 1819 war der Ruf, der sie zu einem Engel des Lichtes, zum Vorbild frommer Duldung und tätiger Liebe erhob, schon in der ganzen Stadt verbreitet. Ein ehrenhafter Witwer hielt in fast romanhafter Weise um sie an. Als ein solches Glück für die Familie wurde die Heirat betrachtet, daß die eigene Tochter des Mannes die liebe Witwe bat, sie möge doch die Hand ihres Vaters nicht ausschlagen. Sie tat es doch, mit den rührenden Worten: »Sie sind für mich viel zu gut!«

So vergingen sechs Jahre seit Gottfrieds Tod. Ihre Vermögensverhältnisse wurden immer verwickelter. Herr X... sah ihr völlig in die Karten, dazu wurde er nun auch fast der Anlaß zu einem ihrem Rufe unvorteilhaften Gerede. Sie hätte sich drum gern allmählich von ihm losgemacht; aber ihre drückenden Geldsorgen ließen es nicht zu. Sie blieb abhängig von ihm bis zu ihrer Entdeckung.

Mosees aber wurde ihr Herzensfreund, die langjährige Dienerin Beta ihre Vertraute, soweit sie sich eben aussprechen konnte. Aber ihre nüchterne Natur hatte jetzt ein Verlangen nach etwas Herzenswarmem; hie und da beschlich sie Furcht und Grauen, wenn sie des Vergangenen, besonders, wenn sie der Kinder dachte. »Ich konnte es nicht sehen, wenn Kindern von ihren Eltern Geschenke eingekauft wurden ... Wenn die Kinder aus der Schule kamen, mußte ich immer wegschauen.«

 

Als ihre Beta sich mit dem Küfer Schmidt verheiratet hatte, folgte sie, um sich zu zerstreuen, gern einer Einladung nach Stade zu einer verheirateten Freundin, die dort den ersten Kreisen angehörte. Frau Gottfried mußte in der fremden Stadt der vornehmen Rolle gemäß, die man sie spielen ließ, auftreten, und fand plötzlich zu ihrem Schrecken ihre Kasse erschöpft. Schnell weiß sie Rat. In einem günstigen Augenblick dreht sie den Bart eines Schlüssels in ihrem Kommodenschlosse ab und wirft den Schlüssel weg. Sie macht Lärm: Ihr Geld ist ihr gestohlen worden! Die Kommode wird geöffnet: Es ist richtig, es liegt kein Geld darin. Eine Magd, mit der die Herrschaft unzufrieden war, kam in Verdacht, entlief, ward später ergriffen und während einer langwierigen Untersuchung in Haft behalten. Die Richter kamen ins Haus zur Feststellung des Diebstahls. Frau Gottfried sollte ihre Angaben beschwören und tat es. An Geld gebrach es ihr nun nicht mehr, und als sie endlich nach Bremen zurückkehrte, begleiteten sie die dringendsten Einladungen, wiederzukommen.

In der Vaterstadt erwarteten sie die alten Erinnerungen und neue Sorgen. Herr X ... drängte, und sie schuldete ihm bereits mehrere tausend Taler. Ihre Immobilien schienen dem Liebhaber und Gläubiger zu keiner weiteren Sicherheit genügend. Da meldete sich in ihren Nöten ein neuer Freier, Herr Zimmermann, ein Modewarenhändler von rechtlichem Charakter, der einem einträglichen Geschäfte vorstand.

Der Antrag war ihr sehr willkommen. Aber heiraten konnte sie den Mann nicht; sie dürfte überhaupt – da ihr ganzes Leben so zur Komödie geworden, daß sie keinen dauernden Beobachter brauchen konnte – nicht mehr daran denken, eine eheliche Verbindung einzugehen. Aber sie hatte ja auch ihren Gottfried nicht eigentlich geheiratet, sondern nur die kurze Ehe mit ihm zu benützen gesucht, um alle möglichen Vorteile zu erlangen. Ähnlich wollte sie es auch mit dem neuen Bewerber halten. Vorerst lehnte sie den Antrag so bescheiden ab, daß er wiederholt werden mußte. Sie teilte ihn X... mit, der ihr wider Erwarten zu der Ehe riet. Sogleich nutzte sie das, ihn um ein Darlehen von dreihundert Taler zu bitten, um ihr Leinenzeug zur Hochzeit instand zu setzen. Sie erhielt das Geld, und das war der erste Vorteil, den sie aus dem Antrage zog. Zugleich aber versprach ihr X..., seine Kapitalien nicht zu kündigen, wie er gedroht, damit der Kredit ihres Bräutigams nicht leide: das war der zweite Vorteil.

Das errungene Geld wurde angewandt, um sich in den Augen der alten und wackern Eltern Zimmermanns den Anschein von Wohlhabenheit und Reichtum zu geben. Nun wurde das Versprechen, nicht wieder zu heiraten, welches sie Gottfried gegeben, als letzte Schanze gegen den Stürmenden errichtet, wobei er einiges Blut lassen sollte. Sie hatte gerade zweihundert Taler Schulden zu bezahlen, und mit Freuden streckte Zimmermann, der diese Leihgabe als einen Prüfstein seiner Liebe ansah, der reichen Frau das Geld vor. Auch als des seligen Gottfried Prinzipal sie um die Rückzahlung der sechshundert Taler anging, war Zimmermann aus demselben Grunde gern bereit, das Geld vorzuschießen. Dies der dritte bare Vorteil. Sie fiel dem hocherfreuten Freier darauf um den Hals, und der Bund war geschlossen.

Gesche kam das Verlöbnis aber auch gelegen, weil sie sich mit einer Freundin, Maria Heckendorf, aussöhnen wollte, welche ihr den Umgang mit X... nicht vergeben hatte. Was konnte Maria noch sagen, als ihre Freundin die Braut eines Mannes wurde, der, wie Gesche versicherte, obgleich Modewarenhändler, nichts lieber las als »die Stunden der Andacht«, der fromme Eltern hatte, mit denen zusammen sie zum heiligen Abendmahl gehen wollte. – Ihr guter Ruf, an dem ihr so viel lag, war wiederhergestellt.

 

So schien, wenn nicht alles, was sie wünschte, doch viel erreicht, als Freunde den Bräutigam dringend vor der Ehe mit Frau Gottfried warnten. Man machte nun auch ihn auf ihr Verhältnis mit X... aufmerksam und stellte ihm vor, wie sehr unheilbringend ihre Nähe bislang gewesen. Frau Gottfried befürchtete mit Grund, daß er wanke. Mit schneller Entschlossenheit spielte sie, als Zimmermann ihr von diesen üblen Nachreden sprach, die tief Verletzte, erklärte sich weinend für ein Opfer der dunklen unerforschlichen Wege der Vorsehung und sagte, sie sei entschlossen, keinen Glücklicheren mehr an ihr Los zu knüpfen: sie trete von der Verlobung zurück. Natürlich wollte der wackere Zimmermann nun nichts davon wissen. Es kam wieder zur Versöhnung; aber Gesche fürchtete, er könne auch noch ein zweites Mal zaudern, besonders, wenn er von ihren großen Schulden höre; er würde vielleicht gar zurücktreten und seine Darlehen wieder haben wollen. Das mußte verhütet werden.

Sich auch mit diesem Verlobten auf dessen Totenbett trauen zu lassen, kam ihr nicht in den Sinn. Er hatte zu wenig Vermögen, die Enttäuschung bei der Verheiratung mit Gottfried war ihr noch zu sehr in Erinnerung, auch hätte eine Wiederholung der Geschichte bedenkliche Gerüchte erzeugen können. Sie wollte ihn nur einfach vergiften und sehen, was bei der Gelegenheit etwa noch für sie abfiele.

Zimmermann sollte indessen keines schnellen Todes sterben. Das hätte Verdacht erregen können, auch hatte sie sich auf die Rolle vorbereitet, während einer langen schmerzlichen Krankheit ihn mit aufopfernder Liebe und Treue zu pflegen. Dabei konnten Vermächtnisse für sie abfallen: welche der durch Erfahrung Gewitzigten lieber waren als ganze Erbschaften. Zimmermann bekam daher Ende April 1823 nur eine mäßige Portion Mäusebutter auf Zwieback. Um dieselbe Zeit erhielt aber auch ihre Freundin Maria Heckendorf eine ziemliche Dosis, weil diese sich früher so vorlaut über ihr Verhältnis zu X... geäußert hatte; schließlich gab das auch Gelegenheit, an Marias Krankenlager zu beweisen, wie sie sich einer Freundin annehme, von der sie gekränkt worden war.

Das Mäusegift wirkte bei beiden Personen sehr schnell. Die unglückliche Maria erkrankte heftig. Aber das Gift bewirkte bei der in bedrängten Verhältnissen und von ihrer Hände Arbeit Lebenden nur eine Lähmung der Hände und Füße; sie blieb am Leben.

Auch Zimmermanns starke Gesundheit widerstand erst. Nach acht Tagen konnte er schon wieder seine Pflegerin in ihrer Wohnung besuchen. Sie mußte ihn ernsthafter anfassen. Er erhielt ein gebratenes Küchlein mit Pflaumen, die ihn niederwarfen und nicht wieder aufkommen ließen. »Willst du Erbin meines Vermögens sein?« fragte der Totkranke die Verbrecherin. Sie erinnerte ihn an seinen Bruder. Er antwortete: »So sollst du, was ich dir geliehen, als Geschenk annehmen.«

Am 1. Juni 1823 gab Zimmermann unter entsetzlichen Beängstigungen in den Armen seiner Braut den Geist auf. Deren Schmerz erschien natürlich grenzenlos, und jetzt geschah es, daß sie den Prediger des Kirchspiels, welcher die meisten Hörer hatte, um eine öffentliche Fürbitte für sich ersuchte. Man erfuhr erst später, daß diese Fürbitte von ihr angeregt worden war, und die Sache erregte damals nur neues Mitleid mit der Armen.

Zweihundert und dann sechshundert Taler waren der bare Ertrag der Vergiftung. Zudem besorgte sie auf Wunsch der Erben und zu ihrer Zerstreuung den Ausverkauf des Zimmermannschen Modewarenlagers. Die noch immer anmutige und so sehr vom Unglück verfolgte Witwe am Ladentisch stehen zu sehen, das lockte einen bedeutenden Zulauf von Käufern und Käuferinnen an. Die besten Geschäfte machte sie dabei für sich selbst, indem sie nicht unbedeutende Beträge unterschlug.

 

Mit der gewonnenen Beute ging sie zur Erholung nach Hannover, wo die liebenswürdige Witwe, von einem väterlichen Verwandten empfangen, abermals in Kreise geriet, die weit über ihrer Sphäre in Bremen waren. Verwandte und Freunde taten alles, ihr den Aufenthalt angenehm zu machen, und ihr sanftes gemütvolles Wesen, ins richtige Licht gesetzt durch glänzende Toiletten aus Zimmermanns Lager, verschafften ihr allgemein Zuneigung und das Ansehen einer Dame von Stande.

Ihr Vetter Temme, im Dienste des Herzogs von Cambridge, mußte bei dessen Ankunft aus dem Palais Monplaisir in seine Stadtwohnung ziehen. Da diese zu klein war, schätzte ein Freund Temmes, Herr Kleine, ein wohlhabender Beamter, es sich zur Ehre, die kindlich-naive, heitere, sanfte, gemütvolle Frau in seine Wohnung aufzunehmen, – sie, die ihre nach solchem Schicksal so natürliche Schwermut mit feinfühliger Rücksicht auf die Gesellschaft zu unterdrücken wußte, die vornehm, freigebig und die Güte selbst war.

Man freute sich, wie die Musik die Leidende rühren konnte. Als ein junger Herr die Arie sang:

Eingehüllt in Dunkel sind die Wege,
Gott, die du uns führst!

ergriff sie tiefste Wehmut. Sie wollte nie ein tröstlicheres Lied gehört haben, keines, das so auf ihr Schicksal paßte; sie bat um eine Abschrift.

An ihre Freundin Marie, die von ihr Vergiftete, schrieb sie die herzlichsten Trostbriefe: Nichts könne ihr so die Freude ihres Aufenthalts in Hannover verkümmern als die Nachricht, daß sie ihre Marie noch immer leidend wisse. Sie bat dringend, wenn das ihren Zustand lindern könne, noch mehr Bäder zu nehmen, gern wolle sie dieselben bezahlen. »Verzage doch nicht,« so heißt es im Briefe, »Dein religiöser Sinn ahnet gewiß die dunklen Wege der Vorsehung, die doch immer unser Bestes will. Wir Kurzsichtigen, sehen wir nicht oft ein, daß alles zu unserm Besten geschieht? Laß uns Ihm glaubend vertrauen. Er ist unser Vater.« Zum Schluß, nachdem sie die liebste Freundin aufgefordert, ihr bei der Rückreise entgegenzukommen, sagt sie noch: »Du bist überzeugt, ich meine es gut, was ich schreibe, ist aufrichtig gemeint.«

 

Wieder in Bremen, hatte sie Ärger über Ärger. Da wurden Schulden eingefordert, die sie durch den Akkord ihres Vaters für getilgt hielt; X ... drohte, und Kassow, der schon bei der Verlobung mit Zimmermann erkannt, wie es nur ein leeres Versprechen der Gottfried gewesen, daß sie seine Kinder zu Erben einsetzen werde, wollte seine Vorschüsse wieder haben und hätte gern auch seine Geschenke zurückgenommen. Jener Magister, welcher die Ehe mit Miltenberg zustande gebracht, mußte für ihn mit Frau Gottfried unterhandeln. Die Briefe, die sie in dieser Angelegenheit schrieb, sind merkwürdige Proben dafür, wie sie verstand, ihre Ansprüche zu verteidigen. Es heißt darin: »Gott wird mich jetzt stärken; auf alles bin ich gefaßt. Mit gutem Gewissen erscheine ich, wo Sie es wünschen, die Wahrheit soll und darf der Mensch reden ... Ich bin nicht reich – aber ehrlich und redlich durchs Leben gehen, ist mein Vorsatz! ... O wie leicht irrt man in der Beurteilung des menschlichen Herzens! – Wie empfindlich der Schmerz ist, von anderen verkannt zu sein, und sich bei dem besten Willen höhnisch beurteilt zu sehen! Sie haben eine Wunde geschlagen, die nie zu heilen ist ... So unedel, wie Sie mich schildern, bin ich nicht; bloß unglücklich. Wer hat mehr Tränen der Verzweiflung geweint als ich – und lebe dennoch! Glück gibt es nicht auf dieser Welt voll Mängel und Trübsal. Wer aber wahrhaft glaubt, wird und soll nicht untergehen ... Mit Beschämung wird gewiß mancher Verleumder bereuen, mir wehe getan zu haben. Reue bleibt nicht aus ... Dem Reinen ist alles rein. Gott ist Zeuge meiner unglücklichen Lage. Ach, Herr Magister, welch ein schönes Gefühl, nach dem Tode meiner Lieben so zu handeln, wie ich tat! – Da ich am Sonntag zum heiligen Abendmahl gehe, werden Sie die Kürze meines Briefes verzeihen, indem mein Geist mit der heiligen Handlung zu sehr beschäftigt ist. So gewiß ich dieses Mahl empfange, rede ich die Wahrheit.« So schrieb die Giftmischerin – nur um der Bezahlung von fünfhundert Talern zu entgehen!

Aber dies Drehen und Wenden half ihr nichts. Von jetzt ab war ihr Leben eine fortgesetzte Angst vor ihren Gläubigern und eine ununterbrochene Kette von Versuchen, um Geld aufzunehmen, um die dringendsten Mahner zu beschwichtigen und Zeit zu gewinnen.

 

Der alte Herr Kleine streckte ihr bei einem abermaligen Aufenthalt in Hannover achthundert Taler zur schleunigen Abtragung dringender Schulden vor, aber auch das half ihr wenig. Sie brauchte bald darauf in augenblicklicher Verlegenheit dringend drei Louisdor. Sie selbst wollte sich nicht mehr an X... wenden. Eine langjährige Freundin, die Musiklehrerin Anna Meyerholtz, ward von ihr ersucht, bei ihm um diese kleine Summe zu bitten. Umsonst – X... wollte nichts mehr geben. Die Meyerholtz selbst lebte in dürftigen Umständen, von ihrem geringen Einkommen mußte sie noch einen blinden, achtzigjährigen Vater ernähren. Aber sie hatte früher Wohltaten von der Gottfried erfahren, so erbot sie sich in ihrer Herzensgüte, von den seit Jahren zusammengesparten Begräbniskosten für den zu erwartenden Tod des alten Vaters ihr auf kurze Zeit die nötige Summe zu leihen.

Der Gedanke, der Frau Gottfrieds Hirn durchzuckte, wurde binnen vierundzwanzig Stunden zur Tat. Statt von dieser aufopfernden Liebe gerührt zu werden, beschloß sie, die hilfsbereite Freundin zu vergiften und ihres sauer ersparten Geldes sich durch Diebstahl zu bemächtigen.

Warum mußte das geschehen, da ihr doch die Freundin das Geld zugesagt hatte? –

Im Anfang hatte sie gemordet, um ihrer Sinnenlust ungehemmt frönen zu können; dann, um sich ein behagliches Dasein zu sichern. Aber nun? – Die Untersuchung hat die Motive zu dieser und zu mancher der folgenden Taten nicht völlig aufklären können. Das Vergiften hatte längst alles Schreckliche für sie verloren. Die Arbeit und Spannung dabei wurde allgemach ihre liebste Unterhaltung. Ihr fehlte ja schon seit langem alle und jede Tätigkeit. Sie selbst sagt: »Mir war gar nicht schlimm bei dem Vergiften zumute. Ich konnte das Gift ohne die mindesten Gewissensbisse und mit völliger Seelenruhe geben. Es war mir, als wenn eine Stimme zu mir sagte, ich müsse es tun. Ich hatte gewissermaßen Wohlgefallen daran. Ich schlief ruhig, und alle diese ungerechten Handlungen drückten mich nicht. Man schaudert doch sonst vor dem Bösen, allein das war nicht bei mir der Fall. Ich konnte mit Lust Böses tun.«

Gift in kleineren Dosen hatte sie grundlos früher schon gegeben; so einer entfernten Verwandten, die sie nicht recht mochte; ferner der sechsjährigen Tochter des in ihrem Hause wohnenden Lehrers Sp..., weil dessen Frau ihr zuwider war; endlich ihrem lieben Freunde, dem frommen Mosees, damit sie während dessen Unwohlsein seine Speisekammer bestehlen konnte!

Die Musiklehrerin erhielt im Hause der Gottfried Mäusebutter auf Zwieback geschmiert. Schon auf der Straße befiel sie heftiges Erbrechen. Zu Bett gebracht, schrie sie, als wenn sie von einem Schwert durchstoßen würde, packte die Umstehenden an, schleuderte sie von sich und starb, furchtbar entstellt. – Natürlich war Frau Gottfried die treueste Krankenpflegerin gewesen. Als eine gemeinschaftliche Bekannte ausrief: »Herr Jesus, die hat gewiß etwas eingekriegt,« schüttelte sie ruhig den Kopf und tadelte die andere, daß sie sich von ihrem lebhaften Gefühl hinreißen lasse. »Möchten Sie dem alten Vater den Schmerz antun?«

Als der Arzt die Leiche öffnen wollte, kam er zu spät. Die Gottfried hatte für schleunige Einsargung gesorgt. Niemand hegte Verdacht. Dagegen plünderte, von dem blinden Greis, dem achtzigjährigen Vater der Ermordeten nicht gehindert, die Gottfried deren Schränke, während sie vorgab, für den armen, nun seiner letzten Stütze Beraubten den Haushalt zu führen.

 

Im Jahre 1825 vergiftete sie, doch ohne tödliche Folge, den schon erwähnten Lehrer Sp..., wie schon früher dessen Kind, nur weil sie seine Frau nicht mochte.

Ihr lieber Mietsmann Mosees kränkelte an dem ihm von ihr beigebrachten Gifte. Als er im Begriff schien, sie heiraten zu wollen, hielt sie es an der Zeit, ihn ernstlich zu vergiften. Unter Küssen und Tränen gab sie ihm die stärkste Dosis, und er starb, vor Schmerz rasend, nachdem sie sich versichert, daß er ihr ein bedeutendes Legat ausgesetzt hatte. Zum ersten Male schien sie beim Leichenbegängnisse dieses Opfers ihre Maske abzunehmen. Nach der Aussage von Zeugen verbarg sie nicht die kälteste Gleichgültigkeit, und zu einer neben ihr stehenden Frau sagte sie während der Leichenrede: das sei nun die einundzwanzigste oder zweiundzwanzigste Leiche, bei der sie zugegen sei; es komme ihr gerade so vor, wie eine Hochzeit.

 

In ihren Bekenntnissen über jene Zeit schreibt sie, sie sei damals in einem unbehaglichen Seelenzustand und am liebsten allein gewesen. Vorzüglich tat es ihr leid, daß sie bei ihrem Tode den Armen nichts hinterlassen könne, wie andere, um ihre Sünden gutzumachen. Aber nie sei sie auf den Gedanken gekommen, etwa Selbstmord zu begehen; »im Gegenteil, ich mochte gern leben. Überhaupt habe ich immer ein sehr zufriedenes Herz gehabt! Die kleinste Aufmerksamkeit machte mich so sehr froh.«

Sie versuchte sich jetzt fortwährend in kleinen Vergiftungen, die schwerlich alle zur Kenntnis der Richter gekommen sind. Um der unbedeutendsten Ursache willen griff sie zu ihrer Mäusebutter. So wurde angegiftet: ihre Magd, das Kindermädchen des Lehrers Sp..., die Magd einer ihrer Mieterinnen. Schon verfolgte sie nicht mehr einzelne, vielmehr gab sie dem, den der Zufall ihr gerade zuführte. »Zuweilen war ich monatelang von dem Triebe frei; dann aber kam wieder eine Periode, wo ich mit dem Gedanken aufwachte: wenn der oder die kommen sollte, da solltest du etwas geben!«

Sie konnte oft, wenn sie einmal zum Nachdenken kam, sich darüber wundern, daß alles unentdeckt blieb. Zugleich hatte sie es aber in der teuflischen Heuchelei soweit gebracht, daß sie ihre gequälten Opfer noch neckte. Seit Jahren vergiftete sie fort und fort, jedoch mit geringen Dosen, ihre Freundin Marie Heckendorf. Einst konnte sie, als von den Flecken die Rede war, welche infolge des häufigen Giftgenusses im Gesichte derselben entstanden, den Finger heben und im Tone warnender Liebe fragen: sie genösse doch wohl nicht heimlich starke Getränke?

Mancherlei immer dringender werdende Mahnungen zwangen die Witwe Gottfried, ihr Haus zu verkaufen; es dauernd aufzugeben, daran dachte sie aber keineswegs. Durch verschiedene Vergiftungen des Käufers, des Radmachers Rumpf, hoffte sie, bald wieder in seinen Besitz zu kommen. Es galt hier eine Arbeit mit großem Ziel, und mit voller Kraft ging sie ans Werk. Die Methode, die sie bei Gottfried, Zimmermann und Mosees angewandt, schien ihr auch hier geeignet.

Wollte sie aber Rumpf als Bräutigam gewinnen, damit er ihr auf dem Totenbette seine Habe, oder wenigstens den Teil davon verschrieb, den sie wünschte, so mußte sie zuvor, da er unglücklicherweise schon verheiratet war, seine Frau beiseite schaffen.

Frau Rumpf starb am fünfzehnten Tage nach ihrer Entbindung, wie niemand zweifelte, infolge der Niederkunft, in der Tat aber am Genuß einer sorglich zubereiteten Hafersuppe; als diese zu langsam wirkte, gab die Gottfried der Unglücklichen drei Tage vor dem Tode noch einmal Gift.

Wer hätte gegen die aufopferungsvolle Pflegerin Verdacht schöpfen sollen, obwohl bald darauf auch, wie angegeben, Gesellen, Magd und Amme, von ihr – aus Mutwillen oder aus kleinen Nebenanlässen – mit schwachen Dosen bedacht, qualvoll litten? – Nach einigen Wochen spielte sie dem Witwer gegenüber auf eine Wiederverheiratung an. Der wies den Antrag spaßend, aber bestimmt zurück; er erklärte, er werde nicht wieder heiraten, zuallerletzt eine Witwe. Nun mußte auch er erkranken, und verdankte nur dem Umstande, daß er sich nicht, wie die früheren Opfer, durch ihr einschmeichelndes Wesen zu Versprechungen und Vermächtnissen bewegen ließ, die Fristung seines Lebens; freilich auch die größere Dauer der Qualen.

 

Der Gottfried mochte diese Geschichte mit Rumpf zu lange währen; jedenfalls gewährte sie ihrem rastlosen Wesen nicht Beschäftigung genug. Sie vergiftete inzwischen ihre treue Beta Cornelius, die jetzt verehlichte Schmidt, während der Abwesenheit von deren Manne. Das Motiv: fünfzig Taler, welche Schmidt seiner Frau für die Kosten ihrer bevorstehenden Entbindung zurückgelassen hatte. Frau Gottfried brauchte das Geld. Die Wöchnerin mußte die letzte Mäusebutter, die sie noch in Vorrat hatte, verzehren, aber Betas gesunde Natur widerstand lange. Noch gebar sie einen Knaben; noch mußte die Todkranke ihre dreijährige Tochter vor sich sterben sehen, da das Kind von der vergifteten Kirschsuppe zu essen bekommen hatte. Neue Mäusebutter, die sich die Gottfried schnell zu verschaffen wußte, vollendete endlich die Zerstörung des kräftigen Körpers ihrer Beta. Kein Todesfall schien sie später auf gleiche Weise zu bedrücken, als dieser und der ihres Sohnes Heinrich: »Ach, ich bekenne,« schrieb sie, »zwei Menschen getrennt zu haben, die sehr glücklich waren, und die beide ihr Leben für mich würden hergegeben haben.«

Dieser Raubmord, bei dem sie nur etwa fünfundzwanzig Taler gewonnen haben will, genügte nicht, sie aus der Verlegenheit zu reißen. Der alte Herr Kleine in Hannover drängte wegen der geliehenen achthundert Taler. Sie konnte nur mit Mühe eine viel geringere Summe aufnehmen, um ihn einstweilen zu befriedigen. Darum faßte sie den Plan, nach Hannover zu reisen und dort den Vater Kleine und womöglich auch seine Kinder zu vergiften, um so allen weiteren Mahnungen zu entgehen. Mehr wollte sie nicht; sie ging eigentlich niemals habsüchtig auf Gewinn aus, sie wollte in der Regel nur aus einer augenblicklichen Verlegenheit gerettet sein und frisch Atem schöpfen. Die Zukunft kümmerte sie wenig.

Sie schickte Briefe über Briefe voller Zärtlichkeit an den lieben Vater Kleine, der ihr einziger Freund wäre und ihr in allen Angelegenheiten seinen Rat schenken müsse, denn sie könne nichts tun, was er nicht billige. Dann trat sie mit einer vollen Kruke Mäusebutter ihre letzte Reise zu dem Guten an.

Der Alte und seine Familie nahmen Frau Gottfried wie eine Tochter auf. Ihr ganzes Sinnen und Trachten war, ihr den Aufenthalt angenehm zu machen. Am 17. Juli reichte sie Herrn Kleine beim Frühstück den Schinken, und genau eine Woche später gab er unter unsagbaren Schmerzen seinen Geist auf. Das ärztliche Gutachten gab als Ursache seines Todes die Gallenruhr an.

Am Tage darauf erkrankte die ganze Kleinesche Familie infolge des Genusses einer Hafersuppe. Glücklicherweise mußten sich alle so stark erbrechen, daß die Wirkungen des Giftes nicht erheblich waren.

Über den Todesfall schrieb die Gottfried nach Hause: »Wenn Sie es doch gesehen hätten, wie der Selige mich mit seinen Kindern vor sein Sterbebett kommen ließ, mich bat, bei diesen zu bleiben, und Luise, die Tochter, nie zu vergessen! Wir haben uns in seiner Gegenwart ewige Freundschaft gelobt. Ich kann sagen, an ihm wohl einen zweiten Vater verloren zu haben. Wen habe ich jetzt? – Es ist schrecklich, mein Los auf der Welt! Alles, was ich liebe, wird mir genommen!«

Durch Kleines Tod gewann sie nicht nur Aufschub, denn niemand dachte natürlich daran, die fünfhundert Taler, die sie ihm noch schuldete, jetzt zurückzufordern – sie log auch, sie habe dem Verstorbenen fünf Louisdor zum aufbewahren gegeben. Obwohl dies auffiel, da man weder die Goldstücke noch eine Notiz darüber fand, und Kleine der sorgsamste Mann in Geldangelegenheiten war, erhielt sie dieselben, ohne den geringsten Verdacht zu erregen. Ferner stahl sie einem Fräulein Stockhausen einen Doppellouisd'or und Luise Kleine Wäsche und anderes.

 

Aus Hannover, von wo man sie mit Tränen und den innigsten Liebesbeteuerungen hatte abreisen lassen, brachte sie viele Geschenke an ihre Hausgenossen mit, bestahl aber alle dafür und setzte zugleich die Vergiftung des immer noch leidenden Rumpf fort. Wenn der arme Mann beim Erbrechen würgte, hielt Tante Gottfried ihm teilnehmend den heißen Kopf, sie wischte mit ihrem Tuche ihm den Angstschweiß ab und vergoß Tränen, daß sie nicht an seiner Statt leiden könne. Und wenn er erschöpft ruhte, steckte sie ihm Brieflein und Stammbuchblätter zu mit Gedenksprüchen erbaulichen Inhalts, wie etwa folgender: »Schuldlos sein ist des Leidenden höchste Würde, und der Edle, welcher mit heiterem Antlitz unter das Geschick sich beugt, ist ein Anblick, über den der Himmel sich freut.«

Auch bei anderen Personen nahm sie in sinnloser Weise ihre Tätigkeit wieder auf. Ihre Freundin Marie, die noch fortwährend an dem früher gegebenen Gift krankte, hatte einen Pflegesohn, einen elfjährigen Jungen. Als Marie die Gottfried besuchte, freute sich diese über den Johanniskopf des Knaben, aber sie reichte ihm im selben Augenblicke vergiftetes Butterbrot und frug bedeutungsvoll ihre Freundin: »Was meinst du, Marie, wenn du den einmal verlieren müßtest?« – Der Knabe erkrankte, aber erholte sich wieder, und nach drei Wochen war sein erster Gang zur guten Tante Gottfried. Jetzt empfing er gekochte Pflaumen mit Mäusebutter, aber kam auch diesmal mit dem Leben davon. – Ein junges Mädchen, welches ihr zum Geburtstag gratulierte, erhielt zum Dank gleichfalls Mäusebutter: Die Gottfried vergeudete und verspritzte das Gift wie eine Rasende, die mit ihrem Vorrat von Kraft zu Ende kommen will.

Bei Rumpf half ihr alles nichts, er wollte sie weder heiraten, noch ihrer im Testament gedenken; ja, er schien beinahe einen Widerwillen gegen sie zu fassen. Sie fürchtete, er ahne mehr, als er solle. So wollte sie ihm denn, schon um sich zu rächen, energisch zu Leibe gehen, mit der stillen Hoffnung, daß nach seinem Tode das Haus auf irgendeine Weise ihr doch wieder zufallen könne.

Aber der vergiftete Speck wurde entdeckt, und am 6. März 1828, ihrem vierundvierzigsten Geburtstage, wurde Frau Gottfried verhaftet. Die Laufbahn ihrer Verbrechen ward – von den zahlreichen Vergiftungen abgesehen, deren Opfer am Leben geblieben waren – mit dem fünfzehnten Giftmorde mit tödlichem Ausgang beschlossen. Außerdem belasteten die Gottfried: wiederholter Ehebruch, Meineid, Diebstahl, Einbruch, Unterschlagung und der Versuch der Abtreibung.

 

Die entsetzliche Angst durchschütterte sie im Gefängnis, die Angst vor der weltlichen Strafe, nicht etwa vor einem göttlichen Richter. So kühn, so verwegen sie in ihren Taten auch gewesen: sie war es nicht durch die Gewalt der Leidenschaft geworden; sie war es nur, weil sie sich allmählich in den Glauben eingelullt, daß ihr Treiben nie enthüllt werden könne. Sie suchte sich selbst zu belügen, sich die Möglichkeit vorzuspiegeln, daß es nicht zu dem Ärgsten, nicht zur Todesstrafe kommen werde. Darum mühte sie sich, vor den Richtern mit sich selbst schön zu tun und sich als unfreiwillig Handelnde, von bösen Dämonen Verführte darzustellen. Die Hoffnung hielt sie aufrecht, daß die vornehmen Herren Richter, gegen welche sie so demütig war, ihr die schärfste Strafe ersparen würden. Sie bat und stellte anheim, ob man sie nicht zur Abbüßung ihrer so großen Verbrechen im Gefängnis belassen und ihr Magddienste in demselben auftragen wolle. – Die lange Dauer der Untersuchung war ihr ein Trost; sie war vergnügt und zufrieden, als sie hörte, daß der Prozeß sich jahrelang hinziehen werde. Ihre fürchterlichste Angst war, daß doch plötzlich die Tür rasseln möchte und die Henker einließe, die sie zum Richtplatz abholen wollten. Ja, die kluge, gebildet-sein-wollende Frau, die nicht zitterte, wenn in ihrer Gegenwart die Leichen der von ihr Gemordeten ausgegraben wurden, gab sich allen Ernstes dem Gedanken hin, daß man sie mit diesen Leichen zusammenbinden, in eines der Gräber werfen, mit kochendem Wasser überschütten und dann lebendig begraben werde! Als wilde Tiere in Bremen gezeigt wurden, glaubte sie zuweilen, man könne sie den Bestien lebendig zum Fraß vorwerfen.

Diese Furcht kann echt gewesen sein; vielleicht auch war sie nur gespielt, weil die Gottfried an ihrer Zurechnungsfähigkeit Zweifel erregen wollte.

Um zumindest eine seelische Unfreiheit bei ihren Handlungen glaubhaft zu machen, redete sie mit der größten Liebe, ja Zärtlichkeit von all ihren Opfern; sie zerfloß in Tränen, wenn sie ihrer gedachte, und dichtete den teuren Menschen gute Eigenschaften an, damit es immer unwahrscheinlicher werde, daß sie dieselben bei gesunden Sinnen habe vergiften können. Selbst ihren ersten Mann, der erweislich ein Taugenichts und Wüstling gewesen, konnte sie nicht genug rühmen. – Es brauchte darum der langwierigen und sorgsamen Untersuchung, um die selbstischen Beweggründe zu den einzelnen Verbrechen ans Licht zu ziehen. – Auch Visionen wollte die Gottfried im Gefängnis haben: Da sitzt der alte Kleine in einer Wolke über dem Kirchturm und droht ihr. Am häufigsten erblickt sie den blinden achtzigjährigen Herrn Meyerholtz, dem sie die Tochter, die einzige Stütze, geraubt – ohne die Barmherzigkeit zu üben, auch den Alten selbst zu vergiften – und den armen Küfer Schmidt und sein Kind, die beide traurig auf einer Wiese sitzen. Das Totenantlitz des alten Kleine in Hannover verläßt sie fast nirgends, seine Söhne rennen ihr nach, und der eine faßt sie bei den Haaren und schleudert sie auf den Schinderkarren. Einmal ist sie in der Kirche, aber wie sie sich niedersetzen will, stehen alle Leute auf und gehen weg. Zimmermann, ihren Bräutigam, sieht sie in einem schönen Laden totenblaß stehen. Als sie eintritt, reicht er ihr ein ganz schmutziges Gesangbuch mit den Worten: »Suche hierin deinen Trost, mein Gesangbuch ist verloren.« Ihr erster Mann, Miltenberg, erscheint als eine Art Heiland an der Hand von Pastor Dräseke und spricht: »Ich will dich erretten und selig machen, und du sollst mich preisen!«

Diese Visionen suchten sie meist nachts heim. Sie sprang aus dem Bette und bat himmelhoch, daß man Wächter in ihrer Zelle belasse. Auch mußte die Frau des Gefängniswärters ihr Gardinen vor das Fenster machen, weil die Gespenster immer von außen zu ihr kämen.

Es kann sich bei all diesen Dingen um wirkliche Halluzinationen gehandelt haben; aber abgesehen von den übrigen Gründen, die ihr Wahnvorstellungen als rätlich erscheinen lassen konnten, ist der Gedanke, daß die Eitelkeit bei dem Wunsch nach Gardinen mitspielte, durchaus nicht von der Hand zu weisen. Denn ihrer Eitelkeit hat sie auch sonst im Gefängnis, so weit möglich, Rechnung getragen. So schätzte sie es als die größte Humanität, daß man ihr vergönnt hatte, statt der gewöhnlichen Gefängniskleidung ihren seidnen Schlumper zu tragen, den sie auch – trotz aller Flicken – während all der Jahre der Gefangenschaft beibehielt. Sie schlief ohne Laken, um dieses des Morgens sauber über ihr Bett zu breiten, für den Fall, daß Besuch käme.

 

Ein Umstand hätte das Gericht zur Schonung der Gottfried vielleicht veranlassen können: daß sie bei den letzten, zum Teil grundlos erfolgten Vergiftungen offenbar wirklich unter einem Zwange, durch Gift zu töten oder doch Schmerzen zuzufügen, gestanden hatte. Aber daß dieser Trieb die Herrschaft über sie erlangt, daran trug sie selbst durch ihre ersten, mit freiem Willen vollführten Taten schuld.

Erst im Verlauf ihrer Sündenbahn wurde der Drang, zu vergiften, stark, bis er sie überwältigte. Es war nicht so, daß ein Unentrinnbares, daß dunkle, dämonische Mächte ihre Lebensbahn bestimmten. Und was diese Frau so grauenhaft macht, das ist gerade der Mangel an allem Dämonischen, ist das Fehlen jener großen, das ganze Sein vergewaltigenden Leidenschaft, die über Leichen zum Ziele treibt. Denn auch bei den ersten Mordtaten – damals, als sie Gottfried erringen wollte – ist kaum etwas von Leidenschaft zu spüren. Sie hätte sonst nicht von Anfang an den Geliebten hintergehen können.

 

Am 17. September 1830, im dritten Jahre ihrer Gefangenschaft, erfolgte durch das Bremer Obergericht die Verurteilung der Gottfried zum Tode durch das Schwert.

Ihre Gesundheit, geschwächt durch die stete Furcht vor einem plötzlichen Tode, hatte sich in der letzten Zeit wieder erholt. Völlig unvorbereitet ward sie in der Frühe des 18. Septembers zur Urteilsverkündigung abgeholt. Beim Eintreten fiel ihr falkenartig spähendes Auge auf ein Gefäß, dessen Inhalt sie sogleich erriet. Es war Essig, für den Fall einer Ohnmacht. Sie wußte nun, ehe ein Wort gesprochen wurde, was ihr bevorstand. Nachdem sie den Spruch gehört, erklärte sie, daß sie dies Urteil und noch weit mehr verdient habe, weshalb sie es mit Dank annehme.

Dennoch legte sie Berufung ein.

Das Gericht befürchtete einen Selbstmord, und deshalb wurde sie von nun an unter die dauernde Bewachung von fünf Frauen, die miteinander abwechselten, gestellt. Da versuchte sie, durch den Hungertod dem Schafott zu entgehen. Vergebens stellte ihr Pastor Dräseke vor, daß sich dieser Vorsatz nicht mit ihrer angeblichen Religiosität vereinen lasse. Aber die Natur half sich selbst. Wenn der Hunger aufs höchste gestiegen war, verlangte sie doch etwas Fleischbrühe und Apfelmus.

Die fünf Frauen erzählen, in der letzten Zeit sei die Gottfried sichtlich immer »gallichter«, »häßlicher«, »unartiger« geworden. Sie betete nie und beklagte nie ihre Sünden. Die heuchlerisch-demütige Kreatur ward jetzt, da sie sah, daß alle Verstellung ihr nichts half, frech gegen die Beamten und Richter: Die Bewachung habe ihr ein Gallenfieber zugezogen; es fehle nur, daß man sie auch noch fessele! Es sei unausstehlich, wie viele Besuche man zu ihr lasse usw. Nur noch den fünf Frauen gegenüber heuchelte sie. Sie gab jeder einzelnen den Vorzug vor den anderen und schmähte auf die Abwesenden.

 

Sie hoffte aufs bestimmteste, noch vor ihrer Hinrichtung aus Schwäche zu sterben, und verordnete für diesen Fall, daß man ihr den Mund zubinde, damit er nicht so häßlich offen stehe. Bei allen Todesgedanken aber hatte sie doch das feinste Ohr für das, was im Gefängnis vorfiel; sie horchte an den Mauern, kannte die Gefangenensprache, interessierte sich aufs lebhafteste für die männlichen Sträflinge und hätte gern bei ihren Liebschaften die Kupplerin gespielt.

Ein besonderes Interesse erregte ihr die Gefangensetzung einer anderen Frau, die des Giftmordes an ihrem Gatten beschuldigt war. Sie versuchte durch die Wand deren Antworten bei der Vernehmung zu hören, und äußerte dann: »Die teufelt sich davon los! Wenn ich so hätte sprechen können, so wäre ich auch freigekommen!«

 

Am 14. April 1831 wurde ihr das am 6. April zu Lübeck ergangene Urteil des Oberappellationsgerichts der vier freien Städte Deutschlands, welches das Bremer Urteil bestätigte, vorgelesen. Keine sonderliche Bewegung ward an ihr sichtbar; doch vergoß sie viele Tränen und sagte: ihr Leben sei das wenigste, was sie für so viele Verbrechen geben könne.

Fest und entschieden erklärte sie, als ihr Verteidiger sie darauf aufmerksam machte, daß sie beim Senate um Begnadigung einkommen könne, sie wolle nicht darum bitten, sie gebe gern ihr Leben hin.

Noch war ihr Vertrauen darauf gerichtet, aus Schwäche vor der Hinrichtung zu sterben. Zusammengekauert lag sie im Bette, stumpfsinnig den Tod erwartend. Vom Lesen und Beten mochte sie nichts hören; sie sei zu schwach dazu, und kurz erklärte sie allen, die sie befragten: »Gottes Barmherzigkeit sei größer als alle Sünden, und niemand könne mehr tun, als sein Leben hingeben, zumal, wenn er es gern opfere wie sie.

Als die Hoffnung, aus Schwäche zu sterben, sich nicht zu erfüllen schien, beschäftigte sie sich mit den Äußerlichkeiten der Hinrichtung. Sie nahm nach vielem Aufschub endlich das Abendmahl, doch nur auf das Drängen von Pastor Dräseke. Ihre Toilette war ihr viel wichtiger. Als man ihr im Gefängnis einige Tage vor der Exekution zum ersten Male einen Spiegel gebracht, erschrak sie heftig darüber, wie sie jetzt aussehe und wie sie gealtert habe. Sie lieh eine Haube von der Gefangenenwärterin, und da sie ihr nicht weiß genug war, bat sie die Frau, sie vorher in ihrem Garten noch etwas zu bleichen.

 

Am 19. April erfuhr sie, daß sie am nächsten Morgen hingerichtet werde. Sie erkundigte sich genau nach Ort und Stunde und versicherte, sie habe alles gestanden und keinen weiter vergiftet, als wer auf der Liste stände; ihr Herz sei ganz rein.

Morgens um fünf Uhr erschien der Geistliche und fand sie noch schlafend. Als man sie weckte, war sie nichts weniger als erfreut über den Besuch, forderte Wein zum Trinken und Einreiben, Kaffee und andere Kleinigkeiten, ohne sich um den Prediger sonderlich zu kümmern.

Ihr Anzug beschäftigte sie fast ausschließlich in der letzten Stunde. Drum ließ sie den Geistlichen, der einen zweiten Besuch machen wollte, nicht zu sich. Die neuen Schuhe von grober Arbeit, die man ihr hingestellt, wehrte sie mit Abscheu von sich und gab sich erst zufrieden, als eine Frau ihr ein Paar leichte Zeugschuhe brachte; die schwarzen Strümpfe, die ihr geliefert wurden, zog sie über ihre alten grauen an, um ihre Waden dadurch mehr hervorzuheben.

Noch kam ein furchtbarer Augenblick für das eitle Weib. Man wußte, wie sie sich gegen das übliche Totenkleid – ein weites, weißes Gewand mit schwarzer Einfassung – sträuben würde. Deshalb ward es erst herbeigebracht, als die Gottfried schon, von zwei Gerichtsdienern unterfaßt, zum letzten Gang bereit stand. Ihre Augen verdrehten sich auf furchtbare Weise, als sie das Kleid zu Gesicht bekam, sie seufzte tief, als man es ihr über den Kopf warf, faßte sich aber doch und zupfte es zurecht.

Ihr weißes Tuch vors Gesicht drückend wankte sie die Treppe hinunter.

In guter Haltung saß sie während des ganzen Weges zur Richtstatt auf dem Leiterwagen, den sie ohne große Unterstützung bestiegen. Ihre Hände hatte sie schon beim Anfang von dem Stricke, der lose darum geschlungen worden, befreit, und hielt während der ganzen Fahrt krampfhaft die Hand des neben ihr sitzenden Polizeidieners.

 

Auf dem Marktplatze war das Schafott aufgeschlagen, elf Fuß hoch, schwarz behangen. Ihm gegenüber stand die Tribüne zur Hegung des hochnotpeinlichen Halsgerichts. Auf sie hinaufgehoben, hörte sie, dem Gerichte gegenüber, mit sichtbarer Angst, doch ohne Tränen, die Vorlesung des Todesurteils an. Nachdem von dem Senator der Stab über ihrem Haupte gebrochen, und sie dem Scharfrichter übergeben worden war, reichte sie den Richtern zum Abschied die Hand, nahm einen guten Schluck Wein und wankte dem Schafott zu. Zierlich raffte sie beim Ersteigen der Treppe das Gewand. Als sie oben den für sie bestimmten Lehnstuhl sah, – so wird uns von ihrem Verteidiger berichtet – »stierte ihr Blick wild, ein satanisches Leben, ein Feuer der Hölle blitzte stechend aus dem sonst erloschenen Augapfel.«

Da der zur Aufrechthaltung des Kopfes bestimmte Riemen nicht passen wollte, vergingen noch einige Minuten. Die Knechte stießen den kraftlos übersinkenden Kopf wiederholt durch Stöße unter das Kinn empor, bis ein kräftiger Hieb das Haupt vom Körper trennte.

 

Bei der Sektion des Leichnams ergab sich eine vollkommen regelmäßige Struktur aller edlen Körperteile und zugleich die völlige Gesundheit der Verbrecherin. Ihre Schwäche war lediglich die Folge des versuchten Hungertodes. Nur die Brustknochen waren durch das gewaltsame Schnüren emporgetrieben worden.

 

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© Thomas Lehmann

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