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SPRUCH DES JAHRES

Die Zensur ist das lebendige Geständnis der Großen, daß sie nur verdummte Sklaven treten, aber keine freien Völker regieren können.

Johann Nepomuk Nestroy

SPRUCH DER WOCHE

Duldet ein Volk die Untreue von Richtern und Ärzten, so ist es dekadent und steht vor der Auflösung.

 

Plato

 

LUSTIGES

Quelle: Aus dem umgestülpten Papierkorb der Weltpresse (1977)

Rubrik: Das süße Leben

Dallas, Texas - Vor einem Gericht gab Jack Stinney an, er habe seine Frau nur des Spaßes wegen verprügelt. Auf die erstaunte Frage des Staatsanwaltes ergänzte Stinney dann seine Aussage: "Allerdings verprügelte ich meine Frau nur wegen des Spaßes, den sie mit drei anderen Männern gehabt hatte."

Die Lehmänner
Die Lehmänner

Das Karpatenschloß

Jules Verne

 

Kapitel 1-6

 

Kapitel 1

 

Diese Erzählung ist nicht phantastisch, sie ist nur romantisch. Sollte man sie auf Grund ihrer Unwahrscheinlichkeit als unwahr bezeichnen? Das wäre ein Irrtum. Wir leben in einer Zeit, wo alles vorkommt – man kann fast mit Recht sagen, wo alles schon dagewesen ist. Wenn unsere Geschichte auch heute nichts weniger als wahrscheinlich ist – so kann sie es doch morgen schon sein dank den wissenschaftlichen Hilfsmitteln, die der Zukunft vorbehalten sind, und niemand würde es einfallen, unsere Erzählung ins Reich der Sagen zu verweisen. An der Neige dieses praktischen und positiven 19. Jahrhunderts entstehen übrigens gar keine Sagen mehr – weder in der Bretagne, der Heimat der wilden Korrigans, noch in Schottland, dem Lande der »Brownies« und Gnomen, noch in Norwegen, dem Reiche der Asen, Elfen, Sylphen und Walküren, noch selbst in Siebenbürgen, wo das Massiv der Karpathen für alle überirdischen Erscheinungen einen so naturgemäßen Boden abgibt. Immerhin darf bemerkt werden, daß dieses »transsylvanische« Land noch sehr dem Aberglauben der Urzeiten huldigt.

Diese Provinzen im äußersten Europa sind von de Gerando beschrieben, von Elisée Reclus bereist worden. Natürlich auch Deutschen und Oesterreichern. Daß Jules Verne vornehmlich die Deutschen vergißt, oder nicht nennt, ist seine (verzeihliche!) Schwäche. A. d. Ü. Beide haben die merkwürdige Geschichte, auf der dieser Roman beruht, nicht erwähnt. Es ist möglich, daß sie sie gleichwohl gekannt haben, nur haben sie ihr keinen Glauben beigemessen. Das ist zu bedauern, denn beide würden sie verschieden wiedergegeben haben: der eine mit der Genauigkeit eines Analytikers, der andere mit der unbewußten Poesie, von der seine Reiseberichte erfüllt sind.

Da nun beide dies unterlassen haben, will ich versuchen, es für sie zu tun.

Am 29. Mai dieses Jahres hütete ein Schäfer seine Herde am Rande eines grünen Plateaus am Fuße des Retjesat, der ein fruchtbares, von gradstämmigen Bäumen bestandenes und reich bebautes Tal überragt. Ueber dieses Hochplateau, das schutzlos und offen daliegt, fegen die scharfen Nordwestwinde den Winter über wie schneidende Messer hin. Es heißt dann dortzulande, der Berg schneide sich den Bart – und zwar manchmal »ratzekahl«.

Dieser Schäfer hatte in seinem Aeußern nichts, was an Arkadien erinnert hätte, auch in seiner Haltung nichts Bukolisches. Es war weder Daphnis, noch Amyntas, Tityros, Lycidas oder Meliböos. Zu seinen Füßen, die in groben Holzschuhen steckten, murmelte kein Lignon; die walachische Sil war es, deren frisches klares, in ländlicher Ruhe und Schlichtheit fließendes Wasser es wert gewesen wäre, durch das gewundene Bett des Romanes »Asträa« zu fließen.

Frik-Frik vom Dorfe Werst – hieß dieser ländliche Schäfer – selber ebenso unsauber und schmierig wie sein Vieh – ganz der Mann danach, in der dreieckigen Kabuse zu hausen, wo seine Schafe und Schweine in Schlamm und Unrat schier umkamen.

Dieses immanum pecus Unreine Herde. weidete also unter der Hut dieses Frik – immanior ipse Er selbst noch unreiner.. Ausgestreckt auf einem Bund zusammengehäuften Grases schlief er mit einem Auge, mit dem andern wachend, die grobe Tabakspfeife im Munde. Ab und zu rief er seinen Hunden zu, wenn ein Lamm sich von der Weide entfernte, oder er ließ einen lauten Pfiff ertönen, der in den Bergen vielfältiges Echo fand.

Es war vier Uhr nachmittags. Die Sonne ging zur Neige. Einige Berggipfel, deren Füße sich in wogenden Nebel hüllten, waren gen Osten beleuchtet. Gegen Südwesten fiel durch zwei Lücken der Kette ein schräges Strahlenbündel gleich einem Lichtschein, der durch eine halbgeöffnete Tür fällt.

Dieses Gebirgssystem gehörte zu dem wildesten Teile Siebenbürgens, begriffen unter der Benennung des Komitats von Klausenburg oder Kolosvar.

Ein seltsames Stück des österreichisch-ungarischen Kaiserreichs, dieses Siebenbürgerland – »Erdely« auf magyarisch, d. h. »das Land der Wälder«. Es wird begrenzt durch Ungarn im Norden, die Walachei im Süden, die Moldau im Westen. Es erstreckt sich über 60 000 Quadratkilometer, also 6 000 000 Hektare; ungefähr einem Neuntel der französischen Republik, einem Zehntel der österreichisch-ungarischen Monarchie entsprechend, kann es als eine zweite Schweiz gelten, bloß um die Hälfte größer als der helvetische »Kantönli-Bund«, aber um keinen Kopf volkreicher. Mit seinen der Kultur erschlossenen Hochflächen, seinen üppigen Hutweiden, seinen kapriziös skizzierten Tälern, seinen steil aufragenden Schroffen wird Transsylvanien von den Verästelungen der Karpathen, vulkanischen Ursprungs, streifenförmig wie ein Zebrafell und von nicht minder zahlreichen Wasserläufen durchzogen, Zuflüssen der Theiß und der majestätischen Donau, die mit ihrem Eisernen Tore wenige Meilen weiter südlich das Defilee der Balkankette an der Grenze zwischen Ungarn und dem ottomanischen Kaiserreiche bildet.

Es ist das uralte Land der Dacier, das im ersten Jahre christlicher Zeitrechnung von dem römischen Kaiser Trajanus erobert wurde. Die Unabhängigkeit, die es bis zum Jahre 1699 unter Johann Zapolyi und seinen Nachfolgern genoß, fand ihr Ende durch Kaiser Leopold I., der es zu Oesterreich schlug. Alle politischen Wandlungen haben indessen nichts daran ändern können, daß Siebenbürgen gemeinsamer Wohnsitz verschiedener Rassen blieb, die miteinander kollidieren, statt sich miteinander zu verschmelzen, nämlich von Walachen oder Rumänen, Magyaren, Zigeunern, Szeklern moldauischer Abkunft und sogenannten »Sachsen«, denen schließlich zufolge von Zeit und Umständen nichts anderes übrig bleiben wird, als zugunsten der siebenbürgischen Einheit sich »magyarisieren« zu lassen.

Welchem dieser Völkertypen Schäfer Frik angehörte und ob er ein degenerierter Abkömmling der alten Dacier war, darüber sich bestimmt zu äußern, dürfte angesichts seines wirren Buschkopfs, seines Schmutzfinkengesichts, seines struppigen Barts, seiner borstigen Brauen von rötlicher Färbung, seiner dunklen Augen mit einem Stich halb ins Grüne, halb ins Blaue, die am Rande der Hornhaut den Greisenbogen zeigten, schwer festzustellen gewesen sein, – leichter, daß er schon Mitte der Sechziger war. Er war ein großer, hagerer Mann, der sich gar straff hielt unter dem gelblichen Schaffell, an dem freilich kaum soviel Haare noch hängen mochten, wie an seiner zottigen Brust – wahrlich, kein Maler hätte sich die Mühe verdrießen lassen, den Mann auf Papier zu bringen, wie er so dastand, unbeweglich wie ein Fels, mit dem aus Binsen geflochtenen Hute auf dem Kopfe und mit der Faust auf den Stecken mit dem Krähenschnabel-Griffe gestützt.

Gerade als die Sonnenstrahlen durch die Waldlücke im Westen brachen, drehte Frik sich um, bildete sich aus der halbgeschlossenen Hand ein Fernrohr – wie er es wohl gewohnt war sie als Sprachrohr zu benutzen, wenn er sich auf Entfernungen hin vernehmbar machen wollte – und hielt nach dieser Richtung scharfen Ausblick.

An dem hellen Hintergrunde des Horizonts, eine reichliche Meile weit und infolge der Entfernung stark verjüngt, aber nichtsdestoweniger scharf profiliert, erschienen die Formen einer Burg – eines altertümlichen Schlosses, das auf einem isolierten Sattel des Vulkanbergs den obern Teil eines unter dem Namen Orgall bekannten Hochplateaus einnahm. Unter dem Spiel eines hell schimmernden Lichts hob sich sein Relief mit jener Schärfe ab, durch die sich bessere Stereoskop-Ansichten auszeichnen. Immerhin mußte das Auge des Hirten eine große Sehschärfe besitzen, um aus dieser fernliegenden Masse bestimmte Einzelheiten zu erkennen.

Plötzlich rief er, den Kopf wiegend:

»Alte Burg, alte Burg! – Stütz' dich nur fest auf deine Grundmauer! – noch drei Jahre, und mit deinem Dasein ist's vorbei, denn deine Buche hat bloß noch drei Aeste.«

Am Rande einer der Bastionen, mit denen das Schloß befestigt war, stand jene Buche, am Himmelsgrunde sichtbar wie zierlich aus Papier geschnitten, aber auf solche Weite wohl kaum für jemand anders als Frik. Die Erklärung dieser Worte des Schäfers, die mit einer alten Schloßsage zusammenhängen, wird folgen, wenn es an der Zeit ist.

»Ja, ja,« wiederholte er, »drei Aeste – gestern waren es ihrer noch vier, aber der vierte ist heute Nacht abgebrochen, und nun steht bloß noch der Stumpf! ich zähle bloß drei Aeste noch von der Gabelung ab – bloß drei noch, alte Burg! bloß drei noch!«

Wird ein Hirt von der idealen Seite aufgefaßt, so zeigt ihn uns die Phantasie gern als ein träumerisches, sinnierendes Wesen, das sich mit den Planeten unterhält, mit den Gestirnen verhandelt, am Himmel liest. In der Wirklichkeit sieht man ihn im allgemeinen als dummes, verbohrtes Subjekt. Indessen schreibt ihm der im Volke herrschende Aberglaube gern Vertrautheit mit übernatürlichen Dingen zu, er soll im Besitze von Zauber- und Hexenkünsten sein, soll Böses beschwören, Gutes fügen, Menschen und Tiere von bösen Krankheiten heilen oder mit bösen Krankheiten behaften können usw.; er treibt Handel mit Sympathie-Mitteln und Pülverchen, Trünkchen und Sprüchen, die Haß oder Liebe säen, Gewinn oder Schaden bringen; er kann fruchtbares Feld in unfruchtbares wandeln durch verhexte Steine, die er in die Furchen schleudert; er kann Schafe durch Anschielen unträchtig machen; und was von dergleichen Aberglauben noch mehr in der Welt herumspukt – überall und zu allen Zeiten. Auch Frik stand im Rufe eines Zauberers in ganz Siebenbürgen. Alle im Lande wußten, daß ihm die Vampyre gehorchten und die Stryges nicht feind waren, daß man ihn bei abnehmendem Monde in finstern Nächten verkehrt auf Mühlrädern reiten sah, gemeinhin mit Wölfen schwatzend oder mit den Sternen träumend. Er ließ die Leute reden, denn er fand seinen Nutzen dabei. Er verkaufte Zaubermittel, und Mittel, die gegen Zauber halfen. Aber er war, nicht zu vergessen, ganz ebenso abergläubisch wie seine Kundschaft, und wenn er schließlich auch nicht auf seine eigenen Zauberkräfte schwor, so doch auf die Sagen und Mären, die im Lande umliefen.

Man wird sich demnach nicht wundern, daß er aus dem Abbrechen des vierten Buchenastes zu der Prophezeiung baldigen Verschwindens der alten Burg gelangte und daß er sich nicht nötigen ließ, diese Neuigkeit in Werst fleißig zu verbreiten.

Er blies mit vollen Lungen in seine aus weißem Holz geschnitzte lange Schalmei, und bald war seine Herde um ihn versammelt, worauf er sich auf den Weg zum Dorfe machte. Die Hunde, ein paar Terrier-Bastarde, knurrig und bissig, die mehr aussahen, als wenn sie Schafe fräßen statt hüteten, gingen hinter ihm her. Seine Herde zählte an die hundert Köpfe, halb Hammel, halb Schafe, bis auf ein Dutzend Lämmer vorjährigen Wurfs. Durchweg Tiere im dritten oder vierten Jahre.

Die Herde gehörte dem Werster Ortsschulzen, dem »Biro« Koltz, der an die Gemeinde einen guten Weidegroschen abführte und auf seinen Schäfer Frik große Stücke hielt, weil es demselben kaum jemand gleichtat bei der Schafschur und in der Behandlung aller Viehkrankheit, wie Drehwurm, Leberwurm, Trommelsucht, Lungensucht, Pocken, Unträchtigkeit usw.

Frik zog mit seiner Herde, die mit dem Leithammel voran und mit dem Mutterschaf daneben mit Geblök und Geklingel in geschlossenen Gliedern trabte, einen breiten Feldweg entlang, der mit großen Feldern eingesäumt war. Dort wogte hochstehendes Getreide mit seinen prächtigen Aehren; dort dehnten sich herrliche Mais- oder, wie der Siebenbürger sagt, »Kukuruz«-Pflanzungen. Der Weg führte zu einem Fichten- und Tannenwalde mit frischem, finsterm Unterholz. Weiter zum Tale hin führte die Sil ihren glitzernden Lauf, auf deren hellen über dichtem Kieselgrund geklärten Fluten Stämme und Klötze aus den stromauf gelegenen Sägemühlen schwammen.

Hunde und Schafe machten am rechten Ufer des Flusses Halt und stillten an dem steilen mit wilden Rosenbüschen bestandenen Uferrande gierig den Durst.

Werst lag nur drei Büchsenschüsse ab hinter einem dichten Weidicht, aus Weidebäumen, nicht aus Krüppelweiden bestehend, das sich bis zu den Abhängen des Vulkan und weiter bis zum Plesa-Gebirge hinzieht, auf dessen südlichem Ausläufer das gleichnamige Dorf liegt.

Um diese Zeit herum war es draußen im Lande leer und einsam. Die Leute kehrten erst mit einbrechender Dunkelheit vom Felde heim, und Frik hatte den landesüblichen Gruß unterwegs mit niemand wechseln können. Als die Herde den Durst gestillt hatte, wollte er gerade ins Tal hinunter abbiegen, als an dem Knie, das die Sil fünfzig Schritte stromab bildet, ein Mann sichtbar wurde.

»Heda, Freund!« rief er dem Hirten zu.

Es war einer von den Händlern »von draußen«, die auf den Komitatsmärkten herumziehen und in den Städten und Flecken, bis in den bescheidensten Dorfschaften zu finden sind. Sich zu verständigen bereitet ihnen keine Schwierigkeit, denn sie reden in allen Zungen. War der Mann, der sich jetzt Frik zeigte, ein Italiener, ein Sachse, oder Walache? niemand hätte es sagen können, aber Jude war er, polnischer Jude, groß, hager, mit Hakennase, Spitzbart, vorspringender Stirn, lebhaften Augen.

Es war ein Hausierer, der mit Brillen, Thermometern, Barometern und kleinen Uhren handelte. Was nicht in dem Kasten steckte, den er an starken Achselgurten über den Schultern trug, hing an seinem Halse und seinem Gürtel. Es war ein richtiger wandelnder Kramladen.

Dem Juden mochte wohl der Respekt, vielleicht auch die heilsame Scheu fehlen, die ein Schäfer einflößt. Darum grüßte er Frik mit der Hand. Dann fragte er auf rumänisch, in jener Mischsprache aus Latein und Slavisch, mit fremdem Accent:

»Geht alles gut und nach Wunsch, Freund?«

»O ja, wie die Witterung kommt,« entgegnete Frik.

»Also war es heute recht, denn die Witterung ist ja gut.«

»Und morgen wird's unrecht sein, denn es wird Regen setzen.«

»Regnen wird's?« rief der Hausierer – »gibt's bei Euch zulande Regen ohne Wolken?«

»Die Wolken werden in der Nacht kommen, von dort unten her, aus der schlimmen Bergecke.«

»Woran seht Ihr das?«

»An der Wolle meiner Schafe, die fest und trocken ist wie gegerbtes Leder.«

»Schlimme Aussicht für Leute, die auf der Heerstraße zubringen müssen –«

»Aber gute Aussicht für Leute, die in ihren vier Pfählen geblieben sind.«

»Da muß man über vier Pfähle gebieten können, Schäfer.«

»Habt Ihr Kinder?« fragte Frik.

»Nein.«

»Seid Ihr verheiratet?«

»Nein.«

Frik stellte diese Fragen, weil das dortzulande Brauch ist, an Leute, die man trifft, diese Fragen zu stellen. Dann fragte er weiter:

»Woher, Hausierer?«

»Aus Hermannstadt.«

Hermannstadt gehört zu den Hauptplätzen Siebenbürgens. Von da aus kommt man in das Tal der ungarischen Sil, das bis zu dem Flecken Petroseny hinabreicht.

»Wohin, Hausierer?«

»Nach Klausenburg.«

Wer nach Klausenburg will, braucht bloß in der Richtung des Maros-Tals weiter zu wandern; über Karlsburg, entlang den Ausläufern des Bihar-Gebirges, erreicht er dann die Hauptstadt des Komitats. Ein Weg von etwa 20 Meilen oder 150 Kilometern.

Solche Hausierer mit optischer Ware, Thermo-, Barometern und dergleichen, wecken immer den Gedanken an Wesen besonderer Art, von einem Gepräge à laE. T. A. Hoffmann. Das liegt an ihrem Handwerk. Sie schachern mit Wetter in all seinen Formen: mit dem Wetter, das herrscht, mit dem Wetter, das vorbei ist, mit dem Wetter, das kommt, wie andere Hausierer mit Korb-, Leinen- oder Strickware schachern. Landreisende für das Haus Saturn und Kompagnie, Schutzmarke Stundenglas, könnte man sie nennen. Einen ähnlichen Eindruck mochte wohl auch der Jude auf den Schäfer machen, der nicht ohne Verwunderung auf diesen Kram von Dingen blickte, die neu für ihn waren und deren Zweck und Bestimmung er nicht kannte.

»Heda, Hausierer,« fragte er, den Arm ausstreckend, »wozu braucht man denn den Krimskrams, der an Eurem Gürtel baumelt wie die Knochen eines armen Sünders am Galgen?«

»Das sind Sachen gar teuer und von Wert,« antwortete der Fierant, »Sachen, die von Nutzen sind für jedermann.« »Für jedermann?« rief Frik, mit den Augen blinzelnd – »auch für Schäfer?«

»Auch für Schäfer.«

»Und das Ding da –?«

»Das Ding,« antwortete der Jude, indem er einen Thermometer zwischen den Fingern tanzen ließ, »sagt Euch, wenn wir warme oder kalte Witterung bekommen.«

»Ei, Freund, das weiß ich allein, wenn ich unter meinem Schaffell schwitze oder unter meinem Flauskittel friere.«

Offenbar mußte das für einen Schäfer genügen, der sich um das Warum? der Wissenschaft den Kopf nicht beschwerte.

»Und die große Knarre dort mit dem Zeiger?« fragte Frik weiter, auf ein Aneroid-Barometer zeigend.

»Das ist keine Knarre, sondern ein Instrument, das angiebt, ob es morgen schön sein wird oder regnen –«

»Wirklich?«

»Wirklich!«

»Schön,« versetzte Frik – »ich dankte aber dafür, und wenn es bloß einen Kreuzer kostet. Ich brauche doch bloß die Wolken anzusehen, ob sie im Gebirge schleichen oder über die Gipfel ziehen, wenn ich wissen will, was für Wetter wir in 24 Stunden haben werden. Ihr seht doch, z. B. den Nebel dort, der aus dem Erdboden zu steigen scheint? Nun, wie gesagt, der bedeutet, daß wir morgen Wasser bekommen.«

Frik der Schäfer, als Wetterkundiger von Geburt an, konnte sich freilich eines Barometers entschlagen.

»Ob Ihr eine Uhr braucht, darf man wohl gar nicht fragen?« fuhr der Hausierer fort.

»Eine Uhr? – ich habe eine Uhr, die ganz von selber läuft, die mir über dem Kopfe hängt: dort oben die Sonne. Wenn sie über der Spitze des Roduk steht, haben wir Mittag, und wenn sie durch das Egelt-Loch guckt, ist es um sechs. Das wissen meine Schafe so gut wie ich und meine Hunde so gut wie ich und meine Hunde so gut wie meine Schafe. Behaltet also Euren Plunder!«

»Na, das muß man sagen,« antwortete der Hausierer, »hätte ich bloß Schäfer zu Kunden, so möchte es mir schwer fallen, Geld zu machen. Ihr braucht also nichts?«

»Gar nichts.«

Was der Jude an Ware führte, war übrigens Ramsch von durchweg geringem Wert und mittelmäßigen Fabrikats; die Barometer stimmten weder wenn sie auf Schön, noch wenn sie auf Regen, sondern meist nur, wenn sie auf Veränderlich zeigten. Die Uhrenzeiger wiesen zu lange Stunden oder zu kurze Minuten usw. Der Schäfer mochte das ahnen und bezeigte keine große Lust, als Käufer zu erscheinen. Indessen griff er noch, gerade als er den Stecken zum Weitergehen hob, auf etwas, das wie eine Röhre aussah und am Hosenträger des Hausierers hing.

»Wozu wird denn die Röhre gebraucht?«

»Das ist keine Röhre.«

»Also ein Feuerrohr?«

Der Schäfer meinte damit eine von den alten Steinschloßflinten, die in der siebenbürgischen Gegend noch zu Hause sind.

»Nein,« versetzte der Jude, »ein Fernrohr.«

Es war ein gewöhnliches Fernrohr, das die Gegend um das Fünf- bis Sechsfache vergrößert oder, was auf dasselbe hinausläuft, um soviel näher rückt.

Frik hatte das Fernrohr losgemacht, beguckte es, betastete es, drehte es nach allen Seiten und von oben nach unten und schob die Zylinder übereinander. Dann wiegte er mit dem Kopfe und fragte:

»Ein Fernrohr?«

»Jawohl, Schäfer, und ein sehr gutes Fernrohr, aus einer der ersten Fabriken, das Euch den Blick verlängert ins Endlose.«

»O, ich habe gute Augen, Freund! bei hellem Wetter erkenne ich die hintersten Felsen bis zur Kuppe des Retjesat und die letzten Bäume in den Talschluchten des Vulkan.«

»Ohne Blinzeln?«

»Ohne Blinzeln. Das dank ich dem Tau, wenn ich vom Abend bis zum hellen Morgen unter freiem Himmel schlafe. Nichts macht die Augen so rein und so hell wie der Morgentau.«

»Was – der Morgentau?« fragte der Hausierer – »der muß doch blind machen –«

»Die Schäfer nicht!«

»Mag sein. Aber wenn Ihr auch gute Augen habt, so sind meine doch besser, wenn ich durch mein Fernrohr sehe.«

»Das käme auf die Probe an.«

»Guckt doch mal durch.«

»Ich?«

»Probiert's mal!«

»Kostet das auch nichts?« fragte Frik, von Natur höchst mißtrauisch.

»Gar nichts – solange Ihr mir das Ding nicht abkauft.«

In dieser Hinsicht beruhigt, nahm Frik das Fernrohr, das der Hausierer für sein Auge passend einstellte, kniff das linke Auge zu und setzte das Glas auf das rechte.

Zunächst blickte er in der Richtung des Vulkansattels, zum Plesa hinauf. Dann hielt er das Fernrohr tiefer und richtete es auf die Dorfschaft Werst.

»Hm, hm,« machte er, »das stimmt! das Ding reicht weiter als mein Auge. Dort läuft die große Straße. Ich sehe Leute. Dort kommt Nik Deck, der Waldhüter, von seinem Wege heim, mit dem Rucksack auf dem Buckel und dem Gewehr über der Schulter –«

»Ich habe es Euch doch gesagt!« rief der Jude.

»Gewiß, das dort ist Nik, leibhaftig!« fuhr der Schäfer fort – »und wer ist die Dirne, die aus Koltzens Hause tritt im roten Rock und schwarzen Mieder, als wenn sie auf ihn zulaufen wollte?«

»Seht nur durch das Rohr, Schäfer, und Ihr erkennt die Dirne so genau wie den Burschen –«

»Richtig, jetzt sehe ich sie – das ist ja Miriota, die schöne Miriota! Ach, das verliebte Volk! na, diesmal mögen sie sich vorsehen, denn jetzt habe ich sie wörtlich auf dem Rohre, und mir kann von ihrem zärtlichen Getue nicht das geringste entgehen.«

»Hm, was sagt Ihr nun zu meinem Dinge?«

»O! o! – daß es den Blick tüchtig weitet, sehr tüchtig!«

Wenn Frik noch nie vorher durch ein Fernrohr geguckt hatte, so mußte wohl das Dorf Werst verdienen, unter die weltfremdesten Menschen-Asyle des Komitats Klausenburg eingeordnet zu werden. Daß dem auch so war, und nicht anders, wird man bald merken.

»Na, Schäfer,« nahm der Fierant wieder das Wort, »visiert doch noch einmal! über Werst hinaus – das Dorf liegt viel zu nahe – visiert darüber hinaus – weit darüber hinaus, sage ich Euch!«

»Kostet das auch noch nichts?«

»Auch noch nichts!«

»Schön! also mal nach der ungrischen Sil hinüber – richtig! da ist der Kirchturm von Liwadsel – ich erkenne ihn an einem Kreuze, dem der eine Arm fehlt. Und darüber hinaus, im Tal zwischen den Tannen seh ich den Kirchturm von Petroseny mit seinem blechernen Wetterhahn, der den Schnabel aufreißt, als wollte er seinen Hühnerschwarm zu sich rufen – und dort unten der Turm, der zwischen den Bäumen vorguckt? das muß der Turm von Petrilla sein! Aber, Hausierer,« sagte der Schäfer, wärmer werdend, »wartet doch, wenn sich am Preise noch immer nichts ändert?«

»Noch immer nichts!«

Frik drehte sich nun nach dem Orgall-Plateau herum, verfolgte mit dem Fernrohr den düstern Waldvorhang, der über den Abhängen des Plesa-Gebirges hing, und nahm den in der Ferne liegenden Schattenriß der Burg in das Sehfeld seines Fernrohrs.

»Richtig,« rief er, »der vierte Zweig liegt am Boden – ich habe ganz richtig gesehen – und aufheben wird ihn keiner, um ihn zum Sankt Johannistage als Staatsfackel zu nehmen – nein, niemand! nicht einmal ich selber – das hieße Kopf und Kragen riskieren! aber setzt Euch nicht in Ungelegenheiten! einer ist da, der ihn heute nacht noch in seinen Höllenmeiler schieben wird – das ist der Schort!«

Mit »Schort« ruft oder beschwört man im Siebenbürgerlande den Teufel. Vielleicht hätte der Jude, der doch nicht aus Werst stammte, also nicht verstehen konnte, was der Schäfer mit dem Worte meinte, um Erklärung gebeten, aber plötzlich rief Frik mit einer Stimme, in der sich Schrecken und Staunen mischte:

»Was ist denn das? über dem Lugturm steigt Nebel auf? – Ist denn das Nebel? – Nein, Rauch ist's, Rauch! – Aber das kann ja nicht sein – seit Jahr und Tag raucht doch im Schlosse kein Schlot mehr!«

»Wenn Ihr da draußen Rauch seht, Schäfer, so wird's schon Rauch sein.«

»Nein, Hausierer, nein! es muß Schmutz am Glase von Eurem Rohre sein.«

»Wischt es doch ab!«

»Und wenn –?«

Frik kippte das Fernrohr von oben nach unten, rieb und putzte das Glas mit seinem Schaffell und hob es wieder vor das Auge.

Es war wirklich Rauch, der sich über dem Lugturm in die ruhige Luft emporschlängelte und seinen Schweif im Höhendunst verlor.

Frik stand, ohne ein Glied zu rühren, ohne ein Wort zu sprechen. All seine Aufmerksamkeit richtete sich auf das Schloß, über das die vom Orgall-Plateau heraufsteigende Finsternis ihre Schatten zu werfen begann.

Plötzlich ließ er das Fernrohr sinken, griff mit der Hand in den Quersack unter seinem Schaffell und fragte:

»Wieviel kostet das Ding?«

»Anderthalb Gulden,« antwortete der Hausierer.

Er hätte das Fernrohr um einen Gulden hingegeben, bei der geringen Kauflust, die Frik an den Tag gelegt hatte. Aber der Schäfer feilschte nicht. Sichtlich unter der Gewalt einer ebenso jähen wie unerklärlichen Verblüfftheit griff er mit der Hand in seinen Quersack und langte das Geld heraus.

»Kauft Ihr das Fernrohr für Euch selbst?« fragte der Hausierer.

»Nein – für meinen Dienstherrn, den Ortsschulzen –«

»Koltz?«

»Ja –«

»Na, der gibt Euch das Geld ja wieder –«

»Versteht sich – die zwei Gulden, die es mich kostet –«

»Was? zwei Gulden?«

»Na, gewiß! – aber nun, gute Nacht, Freund!«

»Gute Nacht, Schäfer!«

Frik pfiff seinen Hunden, trieb seine Herde weiter und marschierte schnellen Schrittes den Abhang hinauf, auf dem sich Werst entlang zog. Der Jude sah ihm kopfschüttelnd nach mit einer Miene, als wenn er seinen Augen nicht traute.

»Hätte ich gewußt,« murmelte er, »daß er sich bezahlen läßt zwei Gulden für das Fernrohr, so hätte ich es ihm nicht verkauft zu so billigem Preise.«

Dann rückte er Leibgurt und Achselriemen zurecht, brachte die daran hängenden Gegenstände in Ordnung und schlug den Weg rechts am Sil-Ufer hinunter nach Karlsburg ein.

Wohin? Das hat keinen Belang. Er spielt in dieser Erzählung keine Rolle mehr und wird nicht wieder auftreten.

 

Kapitel 2

 

Ob es sich handelt um Felsmassen, die in den geologischen Epochen nach den letzten Erderschütterungen von der Natur aufgeschichtet wurden oder um Felsbauten, die durch Menschenhand geschaffen wurden und über die die Zeit hinweggebraust ist, der Anblick wird wohl, sobald man sie aus ein paar Meilen Abstand betrachtet, so ziemlich derselbe sein. Was natürliches Gestein ist, und was behauener Stein ist, kommt sehr leicht alles auf eins hinaus. Färbung, Umrisse, Abweichungen in der Linienführung zufolge der Perspektive bleiben sich ziemlich gleich und die graugrüne Patina der Jahrhunderte überzieht beides mit der gleichen Deckschicht.

So war es auch mit der gemeinhin unter dem Namen Karpathenschloß bekannten Felsenburg. Ihre unbestimmten Formen auf diesem Plateau von Orgall zu erkennen, das sie links von dem Vulkansattel krönt, wäre kaum angegangen, denn sie heben sich von dem Gebirgshintergrunde gar nicht ab. Was man für einen Lugturm zu halten geneigt ist, mag vielleicht ein bloßer Felsblock sein. Wer den Blick darauf richtet, meint die Zinnen einer Wallmauer zu sehen, wo sich am Ende bloß ein ausgezackter Felsgrat hinzieht. Kurz, ein Gesamtbild unbestimmten, schwankenden, verschwommnen Charakters. Darum herrscht bei einer gewissen Klasse von Touristen auch die Meinung, das Karpathenschloß existiere bloß in der Phantasie der Bewohner des Komitats.

Wie es sich damit verhält, hätte sich doch am leichtesten und einfachsten feststellen lassen, wenn man sich vom Vulkan oder aus Werst einen Führer genommen hätte, durch die Schlucht auf den Grat mit ihm hinauf gestiegen wäre und das Felsennest besichtigt hätte. Bloß möchte es wohl leichter gewesen sein, den Weg sich selber zu suchen als einen Führer zu finden, der einen auf die Burg hinauf gebracht hätte. In der ganzen Gegend der beiden Sils hätte sich kein Mensch hierzu hergegeben.

Was man durch ein stärkeres und besser geschliffenes Fernrohr als den vom Schäfer dem Juden abgekauften Plunder gesehen hätte, wäre übrigens folgendes gewesen:

8–900 Fuß rückwärts vom Vulkansattel eine sandsteinfarbene, mit dichtem Steinpflanzen-Teppich überwachsene Wallmauer, die sich über eine Kreisfläche von 4–500 Klaftern erstreckt und zwar im engsten Anschluß an die Unebenheiten des Plateaus. An jedem Ausläufer zwei Bastionswinkel; auf dem zur Rechten stand die berühmte Buche, überragt noch von einem dürftigen Wacht- oder Warttürmchen mit spitzem Dache; linksseitig ein paar Mauerflächen, von durchbrochnen Strebepfeilern gestützt, auf deren Rande der Glockenturm einer Kapelle stand, dessen geborstene Glocke sich zum Grausen aller Leute in der Umgegend in Schwingungen setzt, wenn der Sturmwind durch das Gebirge fegt. In der Mitte, gekrönt von seiner krenelierten Plattform, ein schwerfälliger Turmbau mit drei Reihen in Blei gefaßter Fenster, dessen erstes Stockwerk mit einer ringsherumlaufenden Terrasse versehen ist. Von der Plattform ragte eine lange Eisenstange auf, an deren Spitze sich das Wahrzeichen des Feudalbesitzes, eine vom Roste zerfressene Wetterfahne, nach Südost zeigend, drehte.

Was innerhalb dieser stellenweis eingestürzten Mauer steckte, ob dort ein bewohnbares Gebäude stand, ob Zugbrücke und Falltor den Zugang sperrten oder erlaubten, war seit Jahren über Jahren keiner Seele bekannt. Wenngleich das Karpathenschloß tatsächlich besser erhalten war als sich nach seinem Aussehen meinen ließ, so lieh ihm jetzt eine ansteckende, durch Aberglauben verstärkte Angst keinen geringern Schutz als ehedem seine Donnerbüchsen, Feldschlangen, Bombarden, seine Mörser und Verteidigungswerkzeuge verwichener Jahrhunderte.

Und doch hätte für Touristen und Altertümler der Besuch des Karpathenschlosses gelohnt. Seine Lage auf dem Rande des Orgall-Plateaus ist herrlich. Von der obern Plattform des Lugturms erstreckt sich der Fernblick bis zur Gebirgsgrenze. Dahinter wogt die hohe, reich verschlungene Kette, die die Grenze der Walachei bezeichnet. Im Vordergrunde gräbt sich der Engpaß des Vulkans als einziger gangbarer Weg zwischen den Grenzprovinzen seine gewundene Bahn. Jenseits vom Tale der beiden Sils steigen die Flecken Liwadsel, Lonyai, Petroseny, Petrilla auf, gruppiert um die Schachtmündungen der reichen, im Abbau begriffenen Kohlenlager dieses Gebiets. Den Horizont schließt eine prächtige Reihe von Bergrücken ab, am Fuße mit dichtem Walde bedeckt, der sich an ihren Wänden hinaufzieht, aber ihre Gipfel meidet, die kahl und dürr über die Schroffen des 2496 Meter hohen Retjesat und des nur um weniges niedrigeren Paring ragen. In noch weiterer Ferne treten hinter dem Tale des Hatßeg und jenseits vom Laufe des Maros die im Höhendunst verschwimmenden Profile des Mittelstocks der siebenbürgischen Alpen in Sicht.

Auf dem Grunde dieses Trichters hat die Bodenvertiefung vor Zeiten einen See gebildet, in welchem sich die beiden Sils verliefen, bis sie sich den Weg durch die Gebirgskette gebrochen hatten. Jetzt bildet diese Senkung ein Kohlenlager mit allen Vor- und Nachteilen eines solchen, die hohen Ziegelessen mischen sich zwischen die Aeste und Zweige der Pappeln, Tannen und Buchen; schwarzer Qualm verdirbt die Luft, die vordem gewürzt wurde vom Wohlgeruch der Obstbäume und Blumen. Indessen hat die Szenerie, wenn auch durch die Bergwerksindustrie zwischen ihre Eisenfaust genommen, zur Zeit da diese Erzählung spielt, von dem wilden Charakter, den ihr die Natur verliehen hat, noch nichts eingebüßt.

Das Karpathenschloß stammt aus dem 12. oder 13. Jahrhundert. Damals, als die Wojwoden oder Stammeshäuptlinge hier die Herrschaft übten, wurden Klöster, Kirchen, Schlösser so gut wie Städte, Flecken, Dorfschaften befestigt, mit Wällen umschlossen, durch Zugbrücken gesichert. Grundherren und Bauern mußten sich gegen allerhand Angriffe schützen. Hieraus erklärt sich, wie es gekommen, daß der uralte Wall mit seinen Bastionen und seinem Lugturm dem Schloß das Aussehen eines wohlverteidigten Feudalbollwerks leihen. Welcher Baumeister es auf diesem Plateau, in dieser schwindelnden Höhe erbaut hat? man weiß es nicht; niemand kennt den kühnen Künstler, es müßte denn gerade der in den Legenden der Walachei so herrlich besungene Rumäne Manoli sein, der in Curte d'Argis das berühmte Schloß Rudolfs des Schwarzen erbaut hat.

Während über den Baumeister Zweifel herrschen, besteht über das Geschlecht, das diese Burg besaß, völlige Klarheit. Grundherren waren hier seit undenklichen Zeiten die Barone von Görz; sie waren verwickelt in alle Kriege, die diese siebenbürgischen Lande mit Blut düngten; sie kämpften wider die Ungarn, die Sachsen, die Szekler; ihr Name erscheint in den Kriegs- und Volksliedern, durch die das Andenken an diese grausigen Zeiten wach erhalten wird; ihr Wahlspruch war das berühmte walachische Sprichwort: Da pe maorte(»gib bis zum Tode«), und sie gaben, sie vergossen ihr Blut für die Sache der Unabhängigkeit, altes Römerblut, denn ihr Geschlecht führte seinen Ursprung zurück bis auf jenes mächtigste aller Völker des Altertums, das seine Kultur bis in diese seiner Heimat so fernen Lande trug.

Der letzte des Freiherrngeschlechts der Görze war Rudolf, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts lebte. Im Karpathenschloß geboren, verwaiste er schon in früher Jugend. Ein Reis seines Geschlechts nach dem andern sah er von dem alten Stamme schwinden. Als er sein 22. Jahr vollendete, stand er allein da in der Welt, ohne Verwandte, ja auch fast ohne Freunde. Womit sollte Baron Rudolf diese eintönige, durch den Tod um ihn her gesäete Einsamkeit verscheuchen? was liebte er? wofür hatte er Neigung? wozu besaß er Fähigkeit? einen unwiderstehlichen Hang zur Musik, eine glühende Passion für die großen Sänger der damaligen Zeit wurde ihm nachgeredet, sonst wußte man nichts von ihm, dem Weltfremden. Eines Tages wandte er dem schon stark verfallnen Schloß den Rücken, übergab die Verwaltung ein paar greisen Dienern und verschwand. Was später einmal von ihm verlautete, war nicht viel: er widmete sein ziemlich bedeutendes Vermögen dem Besuch der Hauptmusikstätten Europas, den Bühnen Deutschlands, Frankreichs, Italiens; dort konnte er seine Musik-Launen befriedigen, seinen unersättlichen Dilettanten-Durst stillen. War Baron Görz ein Sonderling? ein überspannter Mensch? vielleicht gar ein wahnbesessener Mensch? Die wunderliche Art seiner Lebensführung gab gewisse Berechtigung zu solcher Meinung.

Die Erinnerung an die Heimat war ihm aber tief ins Herz gegraben. Auf all seinen Wanderungen durch ferne Lande hatte er sein Siebenbürgerland nicht vergessen, und als sich die rumänischen Bauern zum blutigen Aufstand wider ihre ungarischen Bedrücker erhoben, kehrte er heim und zog mit den Aufständischen ins Feld.

Die Abkömmlinge der alten Dacier wurden überwältigt, ihr Grund und Boden wurde unter die Sieger verteilt. Dieser herbe Schlag, der ihn und seine engeren Landsleute traf, bestimmte ihn, dem Schlosse seiner Väter, das zum Teil schon in Trümmern lag, endgültig den Rücken zu wenden. Bald raubte der Tod dem Schlosse die letzten Diener; es vereinsamte gänzlich, und vom Baron Görz lief das Gerücht im Lande, er habe sich mit dem berühmten Rosza Sandor zur Verfolgung patriotischer Ziele zusammengetan, mit jenem alten Bandenführer und »Ritter von der Heerstraße«, den die Freiheits- und Unabhängigkeitskriege zum Bühnenhelden gemacht haben. Ein Glück für Rudolf von Görz, daß er sich von der Schar des Ruf und Vermögen gefährdenden »Betja« nach dem schlimmen Ausgang des Kampfes beizeiten getrennt hatte, denn aus dem politischen Bandenführer wurde ein Räuberbandenführer, der schließlich der Polizei in die Hände fiel und im Kerker von Szamos-Ujtvar unschädlich gemacht wurde. Indessen fand bei den Leuten des Komitats noch ein anderes Gerücht Glauben, nach welchem Baron Rudolf bei einem Rencontre Rosza Sandors mit den Zollwächtern umgekommen sein sollte. Das traf aber nicht zu, trotzdem sich der Baron seit dieser Zeit nie mehr im Schlosse hatte sehen lassen und sein Tod für niemand mehr zweifelhaft war. Klug ist es eben, den Gerüchten solcher abergläubischen Bevölkerung mit allem Vorbehalt zu begegnen.

Das Schloß stand also leer und öde, Geister spukten darin, Verwunschene suchten es nächtlicherweile heim. Geschehen solche Dinge auch anderwärts in Europa noch, so darf sich doch Siebenbürgen hierin des ersten Platzes in der Welt rühmen.

Wie hätte wohl auch ein Dörfchen wie Werst sich seines Glaubens an übernatürliche Dinge entschlagen oder nur erwehren können? lehrten doch Pfarrer und Schulmeister, in deren Händen alle geistige Pflege lag, all die Gespenstermär mit um so größerer Liebe und Treue als sie ja selbst steif und fest daran glaubten. Hatten doch sie die Beweise dafür in der Hand, daß der Wärwolf noch im Land hause, daß Vampyre oder »Strygen« dem Menschen nachts das Blut aussaugen, daß »Staffien« durch das Getrümmer von Schlössern und Burgen sausen und dem Lande allerhand Schlimmes antun, sobald dessen Bewohner vergessen, ihnen abends Speise und Trank vor die Hütten zu setzen. Hexen hausen im Siebenbürgerlande, hier »Babes« genannt, deren Begegnung man an Dienst- und Freitagen, den beiden schlimmsten Tagen der Woche, meiden muß. Wage sich doch bloß einmal jemand in die Tiefen dieser verhexten Komitatswaldungen, in denen es von »Balauris« wimmelt, Drachen-Ungetümen, die ihre Kinnladen bis zu den Wolken hinauf reißen können, von räuberischen »Smeis« mit Fittichen von maßloser Größe, die hinter Jungfrauen aus königlichem und auch gemeinerem Blut ärger her sind als Satanas hinter Judenseelen, sobald sie hübsch und zierlich sind! Ja, im Siebenbürgerlande wimmelt es von solchem und zahllosem andern Ungetüm, gegen das die Volks-Phantasie keinen andern Schutz oder Schutzgeist weiß als die »Serpi de Casa«, die Schlange des häuslichen Herdes, die traute Genossin im häuslichen Heim, deren wohltätigen Einfluß der Bauer sich durch reichliche Nahrung mit der besten Milch von seinem Gute sichert.

War nun je eine Burg danach beschaffen, den Auswüchsen solcher rumänischen Götterlehre als Unterschlupf zu dienen, so doch vor allem das Karpathenschloß auf jenem einsamen weltfernen Hochplateau, das außer dem schwierigen Pfade über den linken Vulkansattel völlig unzugänglich war. Hier mußten ja Drachen, Hexen, Vampyre und ganz sicher doch auch all die Geister der hier gestorbenen Görze hausen! Kein Wunder, daß das alte Schloß im schlimmsten Rufe stand, daß es niemand einfiel, sich hinauf oder gar hinein zu wagen, daß es ein epidemisches Entsetzen um sich verbreitete, gleich dem ungesunden Sumpfe, der durch seine Miasmen für Pest und Seuche im Lande sorgt. Aber dieser Zustand der Dinge mußte sein Ende finden, sobald von der alten Görz-Feste kein Stein mehr übrig war, und hier setzte eben die Mär oder Sage ein. Nach den Reden der angesehensten Dorfleute war das Dasein aufs engste verknüpft mit dem Dasein jener uralten Buche, die mit ihrem Stamme über die rechtsseitige Bastion der alten Wallmauer aufragte. Seit Baron Rudolfs Verschwinden von der Burg büßte die alte Buche alljährlich einen Hauptast ein. Das hatten die Dorfleute, vor allem Schäfer Frik, genau beobachtet. Achtzehn Hauptzweige waren an der Gabelung der Buche gezählt worden, als Baron Rudolf zum letzten mal auf der Plattform des Lugturms gesehen worden war, und jetzt waren ihrer bloß drei noch vorhanden. Mit jedem geschwundenen Aste war ein Daseinsjahr der Burg geschwunden. Mit dem letzten Aste würde auch sie verschwinden; dann würde man umsonst nach Trümmern des Karpathenschlosses auf dem Orgall-Plateau suchen.

In Wirklichkeit war das Ganze weiter nichts als eine von jenen Legenden, die sich in rumänischen Phantasien gern festsetzen. Es war nicht einmal erwiesen, daß die alte Buche in jedem Jahr einen Hauptzweig verloren hatte. Frik freilich hätte sich nicht besonnen, diese Behauptung gegen alle Welt aufrecht zu halten, denn so lange seine Herden die Silweiden abgrasten, hatte er die Burg nicht aus dem Gesicht verloren. Immerhin bestand, wenn auch Frik beim letzten Bauer wie beim Dorfschulzen als ein Mensch galt, dem man bei weitem nicht alles glauben durfte, kein Zweifel an der Meinung, daß dem Schlosse bloß noch drei Daseinsjahre beschieden seien, seitdem an seiner »Schutzbuche« bloß noch drei Zweige gezählt wurden.

Der Schäfer hatte sich also auf den Weg nach dem Dorfe gemacht, um dort die gewichtige Neuigkeit zu melden, als sich der Zwischenfall mit dem Fernrohr zutrug.

Eine gewichtige, sehr gewichtige Kunde freilich! auf dem Grate des Lugturms war Rauch sichtbar geworden. Mit bloßem Auge hätte er das nicht wahrnehmen können, aber durch das Fernrohr hatte er es deutlich gesehen, ganz deutlich; und zwar nicht bloß Dunst, sondern richtigen Rauch, der sich zwischen den Wolken verlor – das Schloß ist aber doch seit Jahren verlassen, seit Jahren hat kein Mensch den Fuß durch das Falltor, das doch geschlossen, und über die Zugbrücke, die doch heruntergelassen sein muß, gesetzt! wenn das Schloß bewohnt ist, so doch sicherlich bloß von übernatürlichen Wesen – aber zu welchem Zweck hätten Geister in einem Wohnraum des Lugturms Feuer anmachen sollen? – ferner: ist es Stubenfeuer oder Küchenfeuer, dessen Rauch man sieht? Hierfür Erklärung zu schaffen, wäre in der Tat ein Ding der Unmöglichkeit.

Frik trieb sein Vieh schnellstens in den Stall. Auf seinen Zuruf hin hetzten die Hunde die Herde den steilen Pfad hinauf, dessen Staub durch die Abendnässe niedergeschlagen wurde.

Ein paar Bauern, die sich auf ihren Feldern verspätet hatten, gingen grüßend an ihm vorbei; er fand kaum Antwort auf den Gruß. Das ermangelte nicht, Unruhe zu wecken; denn wer vor Schaden und Ungemach gefeit sein will, muß nicht bloß den Schäfer grüßen, sondern muß auch vom Schäfer wieder gegrüßt werden. Aber Frik mit seinen eingefallenen Augen, seiner sonderbaren Haltung, seinen wirren Gebärden schien geringe Neigung hierzu zu haben; er hätte nicht betretener, verstörter aussehen können, wenn ihm die Hälfte seiner Hammelherde von Wölfen und Bären zerrissen worden wäre. Welcher schlimmen Kunde Träger war er?

Der erste, der sie vernahm, war Ortsschulze Koltz. Schon von weitem aus rief Frik ihm zu:

»Schulze, im Schlosse brennt's!«

»Was faselst du, Frik?«

»Im Schlosse brennt's, sage ich – und so ist's!«

»Bist du verrückt?«

Wie konnte es denn auch in diesem alten Steinhaufen brennen? ebenso gut hätte man sagen können, den Negoi, den höchsten Karpathen-Gipfel, hätte Feuer von der Erde getilgt. Verrückter wäre das auch nicht gewesen.

»Was sagst du, Frik? Die Burg soll brennen?« fragte Schulze Koltz wieder.

»Wenigstens raucht sie –«

»Das wird Dunst sein.«

»Nein, Rauch – kommen Sie doch mit und überzeugen Sie sich!«

Die beiden Männer schritten bis mittwegs auf die große Dorfstraße, bis an den Rand eines über die Böschung ragenden Vorbaues, von welchem aus sich das Schloß erkennen ließ. Hier angelangt, gab Frik dem Schulzen das Fernrohr in die Hand. Augenscheinlich war ein solches Ding und sein Gebrauch dem Schulzen ganz ebenso fremd wie dem Schäfer.

»Was ist denn das?« fragte der Schulze.

»Ein Werkzeug, Schulze, das ich um zwei Gulden gekauft habe, das aber vier Gulden unter Brüdern wert ist.«

»Von wem?«

»Von einem Hausierer.«

»Und wozu?«

»Stellt es nach Eurem Auge, richtet es auf das Schloß, guckt hinein – und Ihr werdet ja sehen.«

Der Schulze richtete das Fernrohr auf das Schloß und blickte geraume Zeit hindurch – ja! wirklich! aus einer der Schloßessen stieg Rauch auf. Von dem Windhauche gefaßt, schlängelte der Rauch sich gerade an der Bergwand hin.

»Rauch!« wiederholte betroffen Schulze Koltz – »Rauch im Schlosse?«

Mittlerweile gesellten sich Miriota und der Waldhüter Nik Deck, die gerade heimgekehrt waren, zu ihnen.

»Wozu denn das Ding da?« fragte der junge Mann, indem er nach dem Fernrohr griff.

»Um in die Weite zu sehen.«

»Machst wohl Scherz, Frik?«

»Ich bin kein Freund von Spaß und Scherz, Waldhüter; aber vor kaum einer Stunde, so lange ist's etwa her, habe ich dich auf der Werster Straße gesehen, die kamst du entlang mit –«

Aber er sprach nicht weiter, denn Miriota hatte errötend die hübschen Augen gesenkt. Dabei ist es doch einem ehrbaren Mädchen gar nicht verboten, dem Bräutigam entgegenzugehen.

Miriota und Nik nahmen hintereinander das Fernrohr zur Hand und richteten es auf die Burg. Inzwischen war reichlich ein halbes Dutzend von Nachbarn auf die Straße hinaus bis zu dem Vorbau gelaufen, wo der Ortsschulze mit Frik und dem Brautpaare stand, und alle guckten, als sie gehört hatten, um was es sich handelte, durch das Fernrohr.

»Rauch! Rauch im Schlosse?« rief einer.

»Vielleicht hat's in den Turm eingeschlagen?« meinte ein anderer.

»Hat's denn gedonnert?« fragte Ortsschulze Koltz den Schäfer.

»Seit acht Tagen hat es nichts gesetzt,« erwiderte dieser.

Hätten die braven Dörfler gehört, auf dem Gipfel des Netjesat hätte sich ein Krater aufgetan, um unterirdischen Dünsten Abzug zu schaffen, so hätten sie sich wahrlich nicht stärker erschrecken können als jetzt.

 

Kapitel 3

 

Das Dörfchen des Namens Werst hat so geringe Bedeutung, daß es auf den meisten Karten gar nicht verzeichnet steht. Verwaltet wird es vom Nachbardorfe Vulkan, das seinen Namen nach dem Plesa-Gebirge trägt, an dessen Abhange sie zusammen malerisch kleben – untersteht also diesem in dieser Hinsicht. Gegenwärtig ist durch die Ausschachtung der Steinkohlenflötze in die beiden Dörfer und in die anliegenden Flecken Petroseny, Liwadsel und andere im Umkreis einiger Meilen reges Leben gekommen. Aber direkten Nutzen von dieser unmittelbaren Nähe eines großen Industrie-Zentrums haben beide Dörfer nicht aufzuweisen, weder Vulkan noch Werst, sondern beide sind geblieben, was sie vor fünfzig Jahren waren, und beide werden nach weiteren fünfzig Jahren nichts weiter sein als was sie heut sind. Die Einwohnerschaft Vulkans besteht im Grunde genommen, soweit Elisée Reclus' Angaben lauten, aus Grenz- und Zollwächtern, Gendarmen, Steuer- und Gemeindebeamten und Grenzkranken, die in Quarantäne liegen. Zieht man die Gendarmen und Gemeindebeamten hiervon ab und setzt an ihre Stelle Landvolk und Ackerbauer, so erhält man, und zwar in Stärke von 4–500 Köpfen, die Werster Einwohnerschaft.

Das Dorf ist eine einzige große Straße, zufolge der steilen Lage mühsam auf- und abzusteigen. Sie dient zwischen der walachischen und sibirischen Grenze als natürlicher Weg, auf dem die Rindvieh-, Schaf- und Schweineherden entlang getrieben, Getreide und Obst verfrachtet werden und die spärlichen Reisenden entlang ziehen, die sich durch diesen Engpaß wagen, statt mit der Bahn über Karlsburg durch das Maros-Tal zu fahren.

Soviel steht fest, daß die Natur den Talkessel von Bihar zwischen dem Retjesat und dem Paring-Gebirge mit verschwenderischer Pracht ausgestattet hat. Nicht bloß durch die Schätze, die sein Boden trägt, sondern durch die Schätze, die sein Boden birgt, gehört dieser Landstrich zu den reichsten der Erde; liegen doch bei Thorda die Steinsalzbergwerke mit einem Jahreserträgnis von über 20 000 Tonnen; besteht doch der Parajd, der an seiner Kuppe 7 Kilometer Umfang aufweist, durch und durch aus Chlornatrium (Kochsalz); liefern doch die Gruben von Toretzko Blei, Bleiglanz und Quecksilber, insonderheit aber Eisen in reicher Ausbeute schon seit dem 10. Jahrhundert, die Gruben von Wajda Hunyad Erze, die einen vorzüglichen Stahl liefern, die Bezirke von Hatßeg, Liwadsel und Petroseny in leicht abbaubaren Schichten von ungeheurer Ausdehnung, geschätzt auf 250 Millionen Tonnengehalt, Steinkohlen bester Marke, endlich die Goldbergwerke von Offenbanja im Bezirk Topanfalva, wo Mühlen über Mühlen von übereinfachem Bau und Betrieb den kostbaren Sand des Beres-Patak, »des siebenbürgischen Paktolus«, auswaschen und Gold im Ausfuhrwert von reichlich einer Million jährlich zu Tage fördern.

Dem Anschein nach ein von der Natur überreich bedachtes Land, und doch bringt all sein Reichtum seiner Bevölkerung kaum Wohlstand. Jedenfalls darf man ihn, wenn er auch in den größeren Wohnstätten herrschen mag, weder im Dorfe Vulkan noch im Dorfe Werst suchen. Gutgerechnet stehen dort, unregelmäßig zu der einzigen Straße aneinander gereiht, etwa 60 Häuser, durchweg mit wunderlichen Dächern, deren Firstfetter die Mauern mit ausgestampftem Lehm krönen, mit der Giebelseite dem Garten zugekehrt, als Oberstock einen Kornboden mit Einfahröffnung tragend, dazu als Anbau eine halbverfallene Scheune, ein schiefer, mit Stroh gedeckter Stall, hin und wieder ein Ziehbrunnen mit Galgen, woran der Schöpfeimer hängt, ein paar Tümpel, aus denen jeder Sturm das bißchen Wasser fegt, das sie halten, ein paar Bächlein, deren Lauf durch die gewundenen Karrenspuren sich offenbart – das ist Werst, das rechts und links der einzigen Straße zwischen den schrägen Berghängen gebaute Dorf. Aber ein hübscher Anblick, frisch und munter, den es zeigt, mit seinen Blumen an den Haustüren und Hausfenstern, mit seinen grünen Laubbehängen an den Mauern, mit seinen Pappeln, Ulmen, Buchen, Tannen, die über die Häusergipfel hinausragen, mit den mächtigen Bergkuppen und Bergspitzen, die in blauer Ferne mit dem Azur des Himmels verschwinden.

In Werst wird, wie in dieser ganzen Gegend von Siebenbürgen, weder Deutsch noch Ungarisch gesprochen, sondern Rumänisch, sogar von den wenigen Zigeunerfamilien, die sich in den verschiedenen Dörfern des Komitats halb und halb seßhaft gemacht haben. Diese Fremdlinge machen sich die Landessprache zu eigen, wie auch die Religion. Die Zigeuner von Werst bilden einen kleinen Stamm für sich unter der Hoheit eines Wojwoden, haben ihre eigenen Hütten oder »Barakas« mit Spitzdächern, in denen Scharen von Kindern krabbeln, leben nach eigenem Brauch und eigener Sitte, streng unterschieden von ihren durch Europa schweifenden Stammesgenossen, bekennen sich sogar zum griechischen Ritus und halten zur Religion der Christen, in deren Mitte sie leben. Werst hat nämlich einen Popen als religiöses Haupt, mit dem Wohnsitz drüben in Vulkan, von wo aus er die beiden bloß eine halbe Meile voneinander entferntliegenden Dörfer versieht.

Die Zivilisation gleicht Luft und Wasser. Wo sich ihr nur ein Riß oder Spalt zum Einschlupf bietet, läßt sie nicht auf sich warten und wandelt die Verhältnisse und Lebensbedingungen einer Gegend. In diesem südlichen Teile der Karpathen hatte sich jedoch, wie hier bemerkt sei, noch kein solcher Einschlupf aufgetan. Vulkan gilt als äußerster Kultur-Posten im Tale der walachischen Sil, während Werst noch immer eins der rückständigsten Dörfer des Komitats Karlsburg oder ungrisch Kolosvar ist. Man darf sich hiernach nicht wundern, denn wie könnte es anders sein in einem Landstrich, in dessen Ortschaften heranwächst und stirbt, wer drinnen geboren wird, und nie im Leben seinen Fuß wo andershin setzt?

Und doch gibt es in Werst, wird man fragen, einen Schulmeister und einen Schulzen? Gewiß, ganz ohne Frage. Aber Magister Hermod kann nur unterrichten in Dingen, die er selbst versteht, und vielerlei Dinge sind das freilich nicht; über ein bißchen Lesen, Schreiben und Rechnen geht seine Wissenschaft nicht hinaus, und was er von Geschichte, Landeskunde und Literatur weiß, beschränkt sich auf den Inhalt der Volkslieder und Volkssagen der Gegend. Aber auf diesem letzten Gebiete verfügte er über ein ziemlich bedeutendes Gedächtnis, und in Gespenster- und Geistergeschichten suchte er tatsächlich seinen Meister. In diesem Unterricht leistete er Bedeutendes und nicht wenige Schüler schöpften hieraus mancherlei, zuweilen gar nicht geringen Nutzen.

Der Ortsschulze bedarf, seiner Person nach wie seiner Würde nach als erste Magistratsperson im Dorfe einiger Schilderungssätze.

Vater Koltz, der »Biro«, wie auf Siebenbürgisch Ortsschulze heißt, war ein kleiner Mann zwischen 55 und 60 Jahren, Rumäne von Geburt, mit spärlichem, schon ins Graue spielendem Haar, noch immer rabenschwarzem Schnurrbart und einem Augenpaar, das eher sanft als lebhaft zu nennen war. Von gedrungenem kräftigem Bau als echter Sohn des Gebirges, trug er auf dem kräftigen Kopfe den mächtigen Filzhut, um den Leib den hoch herauf reichenden Gurt mit Zierschloß und Zierschnallen, über dem Rumpf die ärmellose Jacke; dazu die kurze, halb gebauschte, in hohen Kanonenstiefeln steckende Hose. Mehr Ortsvorstand als Ortsrichter, befaßte er sich, wenngleich ihn sein Amt oft nötigte, in allerhand Zwist zwischen Nachbar und Nachbar zu vermitteln oder zu entscheiden, in der Hauptsache doch mit der Gemeindeverwaltung und zwar nicht ohne Nutzen für seine Börse. Alles, was in seine Ortsschulzentätigkeit fiel, Käufe und Verkäufe und sonstige Vermittelungsgeschäfte, war nämlich mit einer Abgabesteuer belegt, die in seine Tasche floß. Hierzu kamen noch die Wegegelder, die von Landfremden, Touristen, wie Hausierern und Händlern, entrichtet werden mußten.

Es war also eine recht einträgliche Würde, die Vater Koltz bekleidete, und durchaus nicht zu verwundern, daß er durch diese mancherlei Sporteln mit der Zeit zu gewisser Wohlhabenheit gelangt war. Wird die Mehrzahl der Komitatsbauern seit Jahren schon durch jüdische Wucherer ausgesaugt, denen im Grunde genommen der siebenbürgische Grund und Boden gehört, so hatte es Vater Koltz bislang noch immer verstanden, sich diese Vampyre vom Leibe zu halten. Sein Besitztum war frei von Hypotheken oder, wie es hierzulande heißt, »Intabulationen«. Er war niemand einen Heller schuldig. Lieber hätte er andern Geld geliehen, als welches für sich, und ganz sicher hätte er armen Leuten die Kehle nicht zugeschnürt. Für seine Herden besaß er gutes Wiesen- und Weideland, und wiewohl er den neuen Kulturmethoden fremd war, waren seine Aecker und Felder doch in gutem Stande. Viel tat er sich auf seine Weinberge zugute, zwischen den dichtbehangenen Stöcken ging er gern einher, und aus der Traubenernte löste er alljährlich ein schönes Stück Geld, trotzdem er für den eigenen Trunk ein reichliches Maß einbehielt.

Daß Vater Koltzens Haus im Winkel des quer über die bergan steigende Straße geführten Ueberbaus das schönste im Dorf war, braucht nicht erst gesagt zu werden. Es war aus Stein erbaut, seine Giebelseite lag nach dem Garten hinaus, zwischen dem dritten und vierten Fenster befand sich die Tür, an der Dachrinne entlang wand sich grünes Laub in reichen Behängen, im Dachstroh blühten Blumen über Blumen, und hoch über das Dach ragten ein paar mächtige Buchen, deren Zweige breit über das Haus hinweg reichten. Hinter dem Hause lag ein schöner, wohlgepflegter Obst- und Gemüsegarten, der sich hoch am Hügelhange hinauf zog. Drin im Hause waren schöne, saubere Stuben, Eß-, Wohn- und Schlafstuben, ausgestattet mit schmuckem, buntgestrichnem Mobiliar, Tischen, Betten, Bänken, Schemeln; in hellgestrichenen Küchenregalen blitzten Töpfe und Schüsseln und Teller, an den Deckbalken hing Geschirr, mit buntem Papier ausgelegt und mit bunten Bändern umwickelt; an den Wänden entlang standen schwere Truhen, zugedeckt mit Woll- und mit Steppdecken, die als Kommoden und Schränke dienten, und an den weißgetünchten Wänden hingen in grellen Farben die Bilder der rumänischen Volkshelden, darunter der berühmteste von allen, der in unzähligen Liedern gefeierte Woiwode Wajda-Hunyad.

Eine schmucke, blitzblanke Behausung, die für einen Menschen allein viel zu groß und geräumig gewesen wäre. Aber er hauste nicht allein drin, der Vater Koltz. Seit einem Jahrzehnt etwa Witwer, besaß er ein Töchterchen, ein gar liebliches Dirndl, die schmucke Miriota, der Abgott der Gegend zwischen Werst und Vulkan und weit darüber hinaus. Sie hatte alles Recht darauf gehabt, gleich all den bessern Walachenfamilien, einen der alten absonderlichen Heidennamen zu führen, wie Florika, Daina, Dauritia, die hier so stark in der Mode sind. Aber das war für sie nichts – sie hieß Miriota, zu deutsch soviel wie »Schäfchen«. Das Schäfchen war aber groß geworden, eine liebliche Jungfrau von zwanzig Jahren, Blondine mit braunen Augen und freundlichem, angenehmem Gesicht und Wesen. Daß es ihrer Schönheit keinen Eintrag tat, daß sie für dieses verlorene Karpathendorf reich zu nennen war, braucht nicht gesagt zu werden. Ob auch gute Hausfrau? Ohne Frage, denn sie leitete dem Vater mit klugem Sinne die Wirtschaft. Ob sie auch Bildung hatte? Ei, der Tausend! sie war doch bei Magister Hermod in die Schule gegangen, hatte Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt, las, schrieb und rechnete tadel- und fehlerlos, war aber nicht über diese Grundwissenschaften hinaus gekommen, und zwar aus gutem Grunde. Statt dessen war sie Meisterin in allem, was zu dem siebenbürgischen Sagen- und Märchenkapitel gehört. Darin stach sie sogar den Magister aus. Die Sage vom Leany-Kö oder dem Jungfrauen-Felsen, auf dem sich eine etwas überspannte Dirne von den Verfolgungen der Tataren in Sicherheit bringt, kannte sie ebenso gut wie die Sage von der Drachengrotte im Tale der »Königsstufe«, die Sage von der Teva-Feste, die zur Zeit der Hexen und Maren gebaut wurde, von der Tetunata oder »Donner-Getroffenen«, dem mächtigen Basaltberge, der wie eine riesenhafte steinerne Geige aussieht, zu der der Teufel in Sturmesnächten den Baß spielt – und wenn wir auch noch hinzusetzen müssen, daß Miriota an all diese erdichteten Geschichten so fest glaubte wie an das Evangelium, so blieb sie darum nicht minder eine prächtige liebreizende Dirne.

Gar vielen Burschen in der Gegend hatte sie den Kopf verdreht, manchem auch, ohne daß er gerade daran dachte, daß sie die einzige Tochter des »Biro«, Vater Koltzens, sei. Aber ihr den Hof zu machen, erwies sich gar bald als verlorene Liebesmüh, denn sie hielt nicht lange hinter dem Berge mit ihrer Wahl, die auf Nikolaus Deck gefallen war.

Ein prächtiger Rumänentypus, dieser Nikolaus oder vielmehr Nik Deck: 25 Jahre alt, hochgewachsen, kräftig gebaut, trug er den Kopf stolz im Nacken und stolzer noch den weißen Kolpak auf dem schwarzen Haar, und blickte frei und offen in die Welt hinaus. Frei und ungezwungen war auch seine Haltung und sein Wesen. Unter der mit bunten Nähten besetzten Schaffell-Jacke schlug ein kühnes Mannesherz, und gar kräftig und männlich war der Rumpf, der auf den kräftigen und doch feingeformten Beinen saß, und gar kräftig und männlich sein Schritt. Seines Zeichens war er Waldhüter, das heißt, er bekleidete ein Amt halb soldatischen, halb bürgerlichen Charakters. Da er in der Gegend von Werst ein bißchen Feld besaß, war es dem Vater recht, daß er um die Tochter freite, und da er sich als netter, lieber Bursch erwies, der was auf sich hielt und sich nicht ducken ließ, war er der Dirne auch recht, die er sich nun von keinem hätte abspenstig machen lassen, ja die kein anderer mehr hätte ansehen dürfen. Das ließ sich übrigens auch gar niemand mehr einfallen.

Um die Mitte nächsten Monats sollte Hochzeit sein, sollte Miriota Koltz mit Nik Deck getraut werden. Vierzehn Tage war es noch hin. Das sollte ein großes [Fest] im Dorfe setzen. So was verstand Vater Koltz herzurichten, und Vater Koltz war kein Knicker! Ihm war es immer recht, Geld zu verdienen, aber wenn Geld dasein mußte zum Ausgeben, dann fehlte es auch nicht daran. Nach der Hochzeit sollte Nik beim Schwiegervater Haus halten, denn Herr von dessen Haus und Hof und Hab und Gut wurde er doch einmal, wenn derselbe das Zeitliche segnete, und wenn Miriota ihn erst um sich wußte, ließ sich wohl annehmen, daß sie sich nicht mehr fürchten würde, wenn in den langen Wintersnächten eine Tür knarrte oder ein Möbel krachte, nicht mehr vor Angst, die Geister könnten erscheinen, sich in den finstersten Winkel verkriechen würde.

Um die Liste der großen Herren im Dorfe vollständig zu machen, empfiehlt es sich, noch zwei anderer zu gedenken, die von nicht geringerer Wichtigkeit waren als der Schulze: des Schullehrers und des Herrn Doktor.

Magister Hermod war ein großer dicker Mann mit Brille auf der Nase, etwa 55 Jahre alt, der das krumme Rohr seiner Tabakspfeife mit Porzellankopf immer zwischen den Zähnen hielt, das spärliche Haar in Borstenbüscheln auf dem plattgeformten Schädel trug und ein aalglattes Gesicht hatte, das nur zeitweilig von einer linksseitigen Migräne in Falten gezogen wurde. Seine Hauptarbeit war, seinen Schülern aus Gänsekielen Schreibfedern zu schneiden, denn Stahlfedern durften in seiner Schule nicht gebraucht werden – aus Prinzip nicht. Worauf er vor allem beim Unterricht hielt, war eine gute Handschrift, und eine solche konnte niemand sich mit Stahlfedern aneignen, diese Meinung stand bei ihm felsenfest – aber das Ziel mit Gänsekielen zu erreichen galt ihm als Lebensaufgabe, und für ein Dorf wie Werst verdienten die Erfolge, zu denen er es dann und wann brachte, in gewissem Maße Bewunderung.

Und nun zum Doktor Patak – in Werst also, einem Dörfchen, in welchem der Aberglaube noch in allen Gemütern festsaß, wie angepicht, konnte ein Arzt bestehen? O ja, man muß sich bloß klar sein, um das zu verstehen, über den Titel, den sich Doktor Patak anmaßte und mit dem es sich im Grunde genommen genau so verhielt wie mit dem Ortsschulzen- und Richtertitel des Vaters Koltz. Patak war ein kleines Männchen mit stattlichem Bäuchlein, »kurz und dick« à laFalstaff, stand im 45. Lebensjahre und kurierte in Werst flott und keck, wie es in Werst und Umgegend am Platze und Sitte war. Mit seiner unverwüstlichen Zuversicht und Zungenfertigkeit flößte er den gleichen Vertrauensgrad ein wie Schäfer Frik, was gewiß nicht wenig besagt. Aerztlichen Rat und ärztliche Mittel ließ er sich bezahlen, Rat und Mittel waren aber so harmloser Art, daß sie kein Leiden verschlimmerten und daß jeder Kranke wieder gesund auch ohne sie geworden wäre. Zudem muß ja auf dem Vulkansattel sich jeder wohl befinden, denn die Luft ist hier von bester Sorte, epidemische Krankheiten sind hier unbekannt, und wer hier stirbt, stirbt eben, weil jeder einmal sterben muß, selbst in diesem siebenbürgischen Winkel. Ja, Doktor Patak – gewiß, den Doktortitel zollte man ihm, wenn er ihn auch nicht besaß, – Doktor Patak hatte weder Medizin noch Pharmazie, noch sonst was studiert. Er war ein bloßer »Pflasterkasten«, d. h. ein Mensch, seines Zeichens Barbier, aber nicht Bader, der lange Zeit bei der Grenz-Quarantäne als Wärter bedienstet gewesen war und die Obliegenheit gehabt hatte, die an der Grenze behufs Feststellung ihres Gesundheitszustandes internierten Durchreisenden zu beobachten und zu bedienen. Das war die ganze ärztliche Kunst und ärztliche Vergangenheit, aus welcher seine Doktorwürde und seine Dorfpraxis als Doktor hervorgegangen war. Die Werster Bauern waren in solchen Hinsichten nicht heikel; ihnen genügte das. Beizufügen haben wir noch, daß Doktor Patak, was niemand verwundern wird, ein Mann von starkem Geiste, eine Art Freigeist, war, wie es sich wohl auch schickt für jeden, der sich mit Kur und Pflege von seinesgleichen befaßt. Bei ihm kam weder Aberglaube auf, noch ließ er Aberglauben gelten, selbst solchen nicht, der mit dem Karpathenschloß zusammenhing. Ueber solchen »Schnak« lachte und spottete er; und wenn ihm gegenüber jemand geltend machte, daß sich seit undenklicher Zeit niemand mehr ins Schloß hinauf getraut habe, war er stets mit dem Bescheid bei der Hand: »Ich ließe mich nicht auffordern, Euerm Burgnest einen Besuch zu machen!« Aber da ihn niemand dazu aufforderte, sich jeder vielmehr davor in acht nahm, war auch Doktor Patak noch nicht hinaufgekommen, und so war dem Karpathenschloß nach wie vor der dichte Schleier eines undurchdringlichen Geheimnisses verblieben.

 

Kapitel 4

 

Die vom Schäfer mitgebrachte Neuigkeit war in wenigen Minuten im Dorfe herum. Vater Koltz, von Nik und Miriota gefolgt, war mit dem kostbaren Fernrohr in der Hand wieder in sein Haus getreten. Auf dem Straßenüberbau draußen stand nun bloß noch Schäfer Frik, umringt von etwa zwanzig Männern, Weibern und Kindern, zu ihnen waren ein paar Zigeuner getreten, die keineswegs das schläfrigere Element der Werster Bevölkerung bildeten. Alles drängte sich um Frik, alles bestürmte Frik mit Fragen, und wenn der Schäfer Antwort gab, tat er es mit jener stolzen Wichtigtuerei eines Menschen, der eben etwas sehr Wichtiges gesehen hat.

»Jawohl,« sagte er in einem fort, »auf dem Schloß hat's geraucht, auf dem Schlosse raucht's noch, auf dem Schlosse wird's rauchen, solange noch ein Stein auf dem andern liegt.«

»Aber wer kann bloß dort Feuer angemacht haben?« fragte ein altes Weib dazwischen und schlug die Hände ineinander.

»Der Schort!« versetzte Frik, den Teufel bei seinem Siebenbürger Landesnamen nennend, »dieser Halunke versteht sich nun doch mal besser darauf, Feuer anzustecken, als Feuer zu löschen.«

Auf diesen Bescheid hin bemühte sich jeder, den Rauch über der Turmspitze zu erkennen. Schließlich behauptete alles, ihn ganz deutlich zu sehen, obgleich er auf solche Entfernung unmöglich gesehen werden konnte.

Die durch dieses merkwürdige Vorkommnis verursachte Wirkung überstieg alles, was sich denken läßt. Auf diesem Punkte zu verweilen, ist notwendig. Möge sich doch der Leser einmal in eine Stimmung versetzen, die sich mit der Stimmung der Werster Bauern deckt, und er wird sich über den weitern Verlauf dieser Geschichte nicht mehr verwundern. Ich verlange nicht, daß er an übernatürliche Dinge glaubt, wohl aber, daß er sich vor Augen hält, daß dieses unwissende Bauernvolk rückhaltlos daran glaubt. Zu der Scheu, die das Karpathenschloß einflößte, gesellte sich nun, seitdem es aufhörte als leer und einsam zu gelten, das Entsetzen darüber, daß es bewohnt zu sein schien, und bewohnt, Jesus Maria Josef! von was für Wesen!!

In Werst gab es ein Plätzchen, wo es einen guten Trunk gab und wo zufolgedessen alles, was Durst hatte, gern Einkehr hielt, wo aber auch Leute gern verkehrten, bloß um einen kleinen »Plausch« – wie es im österreichischen für Plauderstündchen heißt – zu halten. Daß der erstern mehr waren als der andern, sagt sich wohl jeder Leser allein. Dieses Plätzchen war die Haupt-Herberge oder, richtiger gesagt, die einzige Herberge im Orte.

Wem gehörte dieselbe? einem Juden mit Namen Jonas, einem braven Manne im Alter von etwa 60 Jahren, mit ansprechenden Gesichtszügen, der aber mit seinen schwarzen Augen, seiner krummen Nase, seiner vorhängenden Lippe, seinem glatten straffen Haar, seinem herkömmlichen Zottelbart den ausgesprochenen Semitentypus zeigte. Dienstwillig und gefällig, verborgte er gern in kleinen Summen, ohne hohen Zins zu nehmen, ohne ängstlich zu sein wegen Bürgschaft, hielt aber darauf, daß er sein Geld zum verabredeten Termine pünktlich wieder bekam. Jonas war leider eine Ausnahme im Lande, denn was sonst dort von seinen Glaubensgenossen vorhanden war – der Zahl nach wirklich nicht wenig – trieb neben Gast- und Schankwirtschaft und Kolonialwarenhandel auch Wuchergeschäfte, und der Zeitpunkt, wo Grund und Boden nicht der eingesessenen, sondern der eingewanderten Rasse gehören mußte, war sicherlich nicht mehr fern; wer weiß, ob nicht einmal das Siebenbürgerland, nachdem es mit Palästina vorbei ist, als »Gelobtes Land« in unsern Landkarten erscheinen wird!

Die Herberge »zum König Mathias« – diesen Namen führte die Jonassche Gastwirtschaft – stand in einem andern Winkel des mehrgenannten Straßen-Ueberbaus, dem Schulzenhause gerade gegenüber. Es war eine alte Baracke, halb Holz-, halb Steinbau, stellenweis stark ausgeflickt, aber von grünem Laub dicht überwachsen und von recht ansprechendem Aussehen. Es bestand bloß aus einem Erdgeschoß. Eine Glastür führte von der Straße herein und auf die Straße hinaus. Zuerst trat man in einen großen, saalähnlichen Raum, in welchem Tische für die Trinkgläser und Schemel für die Trinkgäste in Menge standen. Die eine Wandseite nahm ein Schenktisch ein aus wurmstichigem Eichenholz, auf dem es von Tellern, Töpfen und Flaschen blitzte, daneben stand eine Art Schreibpult aus Holz und schwarz lackiert, hinter welchem Jonas den Kunden-Verkehr abwickelte.

Sein Licht erhielt dieser Raum durch zwei in der Giebelseite, nach dem Straßenüberbau zu, und zwei an der gegenüberliegenden Rückwand befindliche Fenster. Von den letztern beiden war eines durch einen dichten Vorhang von Kletter- oder Hängepflanzen verdeckt, so daß nur wenig Licht hindurchgelangen konnte; durch das andere hatte man einen herrlichen Ausblick auf das ganze Untertal des Vulkan. Wenige Fuß unterhalb der Hausmauer vom Orgall-Plateau, wo er entsprang, strömte mit Getöse der Nyad, ein wilder Gießbach, zum Tale hinunter, der walachischen Sil zu, in die er sich ergoß.

Auf der rechten Saalseite, dicht an den Saal stoßend, lag ein halbes Dutzend von Stübchen oder Kämmerchen, zum Nachtquartier hergerichtet für die spärlichen Reisenden, die sich im »König Mathias« vor dem Uebertritt über die Grenze ausruhen wollten. Einer guten Aufnahme zu mäßigem Preise und aufmerksamen Bedienung durch einen umsichtigen, für das Wohl seiner Gäste eifrig besorgten Wirt, der auch einen guten Tabak führte, durften sie sich versichert halten.

Jonas selbst schlief in einer engen Dachkammer, aus der eine noch engere Luke über das blumige Strohdach hinweg einen engbegrenzten Ausblick nach dem Straßenüberbau hinaus gewährte.

In dieser Gastwirtschaft saßen am Abend des 29. Mai die Werster »Honoratioren« beisammen: Vater Koltz, Magister Hermod, Waldhüter Nik Deck mit ungefähr einem Dutzend der besser situierten Ortsbauern, unter denen auch Schäfer Frik, zur Zeit wahrlich nicht der unbedeutendste Mann im Dorfe, ein Plätzchen gefunden hatte. Dagegen fehlte Doktor Patak bei dieser Honoratioren-Versammlung, weil er kurz vorher zu einem alten Patienten gerufen worden war, der bloß auf seine Anwesenheit lauerte, um seinen Uebertritt ins Jenseits zu bewirken. Aber Doktor Patak hatte sein Erscheinen zugesagt. Sobald er im Sterbehause nicht mehr von nöten sei, wollte er kommen.

Bis dahin schwatzte man über das wichtige Tagesereignis, vergaß jedoch Essen und Trinken nicht darüber. Wirt Jonas speiste die Hungrigen mit »Mamaliga«, einer Mehlspeise aus Mais, die mit frischer Milch nicht übel schmeckt; die Durstigen labte er mit einem Fläschchen Rosoglio, einem weißen Kirschschnapse, der zum Heller für das Glas die rumänischen Kehlen wie Wasser hinunter rinnt, oder auch mit Rakju, dem in den Karpathen so vielgetrunkenen Pflaumenschnaps von wesentlich stärkerem Alkoholgehalt. Beim Wirte Jonas war es Sitte, wie schließlich noch erwähnt sei, bloß Leute zu bedienen, die am Tische saßen, denn er hatte von früh an die Beobachtung gemacht, daß Gäste im Sitzen mehr verzehren als Gäste im Stehen. Heute abend schien ein äußerst flottes Geschäft zu winken, denn die Schemel reichten für die anwesenden Gäste nicht aus. Wirt Jonas ging munter von einem Tisch zum andern, mit dem Krug in der Hand, und füllte die »Stamperl«, die geleert, aber kaum gezählt wurden.

Es war um halb neun herum. Seit Einbruch der Dämmerung waren, ohne daß man zu einem Ziele gelangte, Debatten im Gange, was bei solchem Falle am besten zu tun sei. Nur in einem Punkte waren die Werster Bauern einig: wenn das Karpathenschloß von unbekanntem Volk bewohnt wurde, so bedeutete das für ihr Dorf eine Gefahr ganz ebenso schlimm wie wenn am Dorfeingang eine Pulvermühle stände.

»Ein sehr ernster Fall!« meinte Vater Koltz.

»Ein sehr schlimmer Fall!« pflichtete Magister Hermod bei, während er vor und nach dieser Aeußerung aus seiner Pfeife eine Wolke aufsteigen ließ.

»Ein ernster Fall, ein schlimmer Fall!« plapperte den beiden Leithammeln die versammelte Bauernschaft nach.

»Allzu sicher ist bei der ganzen Sache,« nahm Wirt Jonas das Wort, »daß der schlechte Leumund, in welchem die Burg steht, der Gegend schon schweren Schaden gebracht hat.«

»Jetzt kommt das noch ganz anders!« rief Magister Hermod.

»Fremde kamen ja ohnehin nicht viel,« bemerkte Vater Koltz mit einem Seufzer.

»Jetzt wird gar keiner mehr kommen,« setzte Wirt Jonas hinzu, dem Seufzer des Schulzen einen vielleicht noch tiefern Wirtsseufzer beigesellend.

»Es denkt schon mancher daran, sich aus dem Staube zu machen und sein Glück anderswo zu versuchen,« bemerkte ein Gast.

»Ich bin mit einer der ersten dabei, sobald ich meinen Wingert verkauft habe,« rief ein Bauer aus der Umgegend.

»Nach Käufern werdet Ihr wohl noch ein Weilchen suchen können, Alterchen,« versetzte der Schenkwirt.

Man merkt, von welchem Standpunkt aus die Debatten im wesentlichen geführt werden: kamen keine Fremde mehr, so ging die Gasthofseinnahme zurück, so ging der Steuerertrag zurück und der Grundstückswert desgleichen. Schon mehrere Jahre war dies der Fall, und nun drohte sich die an sich schon schlimme Lage noch zu verschlimmern, seitdem die bisher stillen Burggeister zu rumoren anfingen. Schäfer Frik meinte, hier seiner Ansicht Ausdruck, wenn auch mit schüchterner Stimme, geben zu sollen.

»Vielleicht wäre es gut –« hub er an.

»Was wäre gut?« fragte Schulze Koltz.

»– wenn man mal oben nachsähe, Schulze?«

Alles blickte einander an. Alles schlug die Augen nieder – und keine Gegenansicht wurde laut.

»Euer Schäfer, Schulze,« nahm da Wirt Jonas nach einer Weile das Wort, »zeigt den einzigen Weg, der sich einschlagen läßt.«

»Hinauf aufs Schloß gehen?«

»Jawohl, Freunde,« entgegnete der Gastwirt; »wenn aus der Turmesse Rauch aufsteigt, so muß doch Feuer angemacht worden sein, und dazu muß doch eine Hand dagewesen sein –«

»Eine Hand,« erwiderte kopfschüttelnd der alte Bauer – »wenn nicht gar eine Kralle –«

»Ob Hand oder Kralle,« sagte der Gastwirt, »ist ziemlich gleichgiltig. Aber wissen muß man, was es bedeutet. Es passiert zum ersten mal, daß aus einer Schloßesse Rauch aufsteigt, seit Baron Rudolf der Gegend den Rücken gewandt hat –«

»Unmöglich wäre es aber nicht, daß es schon öfter oben geraucht hätte, ohne daß es bemerkt worden,« deutete Schulze Koltz an.

»Das kann ich keinesfalls annehmen,« versetzte lebhaft Magister Hermod.

»Das läßt sich im Gegenteil recht wohl annehmen,« bemerkte hierauf der Schulze, »weil wir bisher kein Fernrohr hatten, um zum Schlosse hinaufzugucken.«

Die Bemerkung war richtig. Es konnte schon lange oben rauchen, ohne daß es der Schäfer trotz seiner scharfen Augen gesehen hatte. Gleichviel nun, wie es sich darum verhielt, soviel stand außer Zweifel, daß jetzt Leute im Karpathenschloß sich aufhielten. Diese Tatsache an sich war aber schon mehr als hinreichend, um die Bewohnerschaft von Werst und von Vulkan aufs höchste zu beunruhigen.

Magister Hermod meinte indessen seiner Meinung durch die folgende Bemerkung Geltung schaffen zu sollen:

»Leute, Freunde! – daß ich daran nicht glaube, werdet Ihr wohl gestatten – warum sollten wohl Leute auf den Einfall gekommen sein, Zuflucht im Schlosse zu suchen? Zu welchem Zwecke? und wie sollten sie hinauf gekommen sein?«

»Was für Eindringlinge sollen es denn sonst sein?« rief Schulze Koltz.

»Uebernatürliche Wesen,« versetzte Magister Hermod mit einer Stimme, die ihre Wirkung nicht verfehlte; »warum sollten es nicht Geister oder Gespenster sein? vielleicht Kobolde, vielleicht gar welche von den schlimmen Lamien, die sich in schöner Frauengestalt nahen?«

Aller Blicke hatten sich bei diesen Worten nach der Türe, dem Ofen, den Fenstern der großen Gaststube gewandt; jeder bildete sich schon ein, eins von dem Magister zitierten Gespenstern erscheinen zu sehen.

»Aber, Freunde,« beharrte Jonas, »wenn es Geister sein sollen, die oben im Schlosse Einzug gehalten haben, dann begreife ich nicht, zu welchem Zwecke sie oben Feuer angemacht haben sollen. Zu kochen brauchen doch Geister nicht –«

»Aber ihre Zaubertränke und Hexensalben und all das andere Zeug, das sie zu Beschwörungen usw. brauchen?« wandte der Schäfer ein – »vergeßt Ihr denn, daß, wer brauen will, auch sieden und kochen muß?«

»Ganz entschieden!« pflichtete der Magister bei in einem Tone, der keinen Widerspruch litt.

Es wurde auch kein Widerspruch laut, denn alle stimmten überein, daß es nicht menschliche Wesen, sondern überirdische sein müßten, die sich das Karpathenschloß zum Schauplatz ihres Treibens ausersehen hätten.

Bis zu diesem Augenblick hatte sich Nik Deck an der Unterhaltung noch nicht beteiligt, sondern sich auf Zuhören beschränkt. Die alte Burg mit ihrem geheimnisvollen Gemäuer, ihrem Jahrhunderte alten Ursprung, ihrem feudalen Anstrich hatte ihm allezeit imponiert, hatte allezeit seine Neugierde gereizt. Ja als tapferer Bursch, wenn auch keineswegs frei von dem Aberglauben, der in der ganzen Gegend herrschte, hatte er schon wiederholt Lust gehabt, die Schloßmauer zu ersteigen. Aber Miriota hatte ihn, wie sich wohl denken läßt, von solchem wagehalsigen Unternehmen auf alle Weise abzubringen versucht. Als Bräutigam durfte er sich doch so etwas nicht mehr einfallen lassen! was sie bislang in dieser Hinsicht getröstet hatte, war der Umstand, daß Nik niemals die Absicht, sich das Schloß einmal anzusehen, hatte laut werden lassen; denn sonst hätte ihn kein Mensch, auch sie nicht, zurückhalten können. Das wußte sie, und daß er ein resoluter, zäher Bursche war, der kein gegebenes Wort uneingelöst ließ, wußte sie auch – aber wenn sie hätte ahnen können, mit welchen Gedanken der Jüngling sich in diesem Augenblick befaßte, dann wäre sie ganz gewiß vor Angst vergangen.

Aber Nik Deck schwieg nach wie vor, und so kam es, daß der von dem Schäfer gemachte Vorschlag nicht weiter verfolgt wurde. Wer hätte es auch, solange er seine fünf Sinne noch beisammen hatte, riskieren sollen, dem Karpathenschlosse, nachdem es gar verhext war, einen Besuch abzustatten? jeder brachte die besten Gründe vor, sich von solchem Abenteuer zu drücken, der Schulze war zu alt, der Magister konnte seine Schule, der Gastwirt seine Schenke, der Schäfer seine Herde nicht im Stiche lassen, die andern Bauern hatten bald mit der Ernte, bald mit dem Vieh soviel zu tun, daß sie sich wochenlang nicht aus dem Hause rühren durften. Da ging, zu aller Schreck, plötzlich die Tür auf – aber es war bloß Doktor Patak, und dies kleine Männchen mit dem stattlichen Spitzbauch für eine gespenstische Lamie in berückendem Frauenleib zu halten, wäre doch schließlich dem Dümmsten und Abergläubigsten nicht gut möglich gewesen.

Sein Patient war im Jenseits – zum Ruhme, wenn nicht seines Geschicks, so doch seiner Klugheit als Arzt – und nun hätten ihn keine zehn Pferde mehr von dem Kneipabend im »König Mathias« ferngehalten.

»Na, endlich da!« rief Schulze Koltz.

Doktor Patak hatte alle Hände voll zu tun, um jedem Gaste die Hand zu drücken – und es dauerte geraume Zeit, bis die ziemlich ironische Ansprache aus seinem Munde floß:

»Also, Freunde, nach wie vor die Burg, die Euch den Kopf warm macht? die Burg des Schort? o, Ihr Hasen! aber wenn der alte Kasten rauchen will, dann laßt ihn doch rauchen! raucht denn unser Magister nicht auch den ganzen Tag? Na, so was! das Dorf ist schreckensbleich, die Gegend ist schreckensbleich – wohin ich heut den Fuß gesetzt habe, bei allen Patienten ist bloß vom Schloß und seinem Rauch die Rede gewesen – Gespenster und Geister haben sich also drüben eingeheizt? na, warum denn auch nicht? wer Schnupfen hat, der liebt die Wärme, und wie es scheint, friert's im Mai noch in den Turmstuben, es müßte denn gerade sein, daß man sich Brot für's Jenseits hat backen wollen oder backen müssen – nun, wenn's keine Lüge ist, daß der Mensch mal wieder aufersteht, so muß er sich doch dort oben auch ernähren – wer weiß, am Ende sind gar Bäckergesellen vom Himmel ins Schloß hinunter gestiegen und haben sich ihren Backofen dort eingerichtet?«

So jagte ein schlechter Witz aus seinem Munde den andern, wenn auch keiner so recht nach dem Geschmacke der Werster Bauernschaft war. Aber man ließ ihn schwatzen und Witze machen, bis zuletzt der Schulze ihm mit der Frage das Wort abschnitt:

»Sie legen dem Vorgange droben im Schlosse also gar keinen Wert bei, Doktor?«

»Gar keinen, Schulze.«

»Haben Sie nicht früher oft gesagt, daß Sie hinaufgehen wollten, wenn Sie dazu aufgefordert würden?«

»Ich?« versetzte der ehemalige Krankenwärter, nicht ohne einen gewissen Verdruß darüber, daß man sich seiner Worte zu solch ungelegener Zeit erinnerte.

»Na, bitte,« mischte der Magister sich ein, – »haben Sie das etwa nicht gesagt? etwa nicht mehr denn einmal gesagt?«

»Gewiß – ohne Zweifel – gesagt habe ich es – und wenn Ihr es von neuem hören wollt, nun, dann – dann sage ich es Euch abermals –«

»Hier gilt kein Reden, sondern nur Machen –« rief Hermod.

»Machen? was machen?«

»Jawohl, der Magister hat recht, und statt Euch dazu aufzufordern, wollen wir es beim Bitten bewenden lassen,« ergänzte der Schulze.

»Ihr begreift doch, Freunde – ein solcher Vorschlag – eine solche Aeußerung –«

»Nun, Doktor,« nahm da Wirt Jonas das Wort, »da Ihr Euch besinnt, so lassen wir es nicht länger beim Bitten bewenden, sondern stellen, Euren Worten gemäß, die Forderung an Euch –«

»Ihr stellt die Forderung an mich –?«

»Jawohl, Doktor!«

»Jonas, das ist zu weit gegangen,« nahm da der Schulze das Wort, »fordern läßt sich nichts von Patak! wir wissen doch alle, daß er ein Mann von Wort ist, und daß er halten wird, was er versprochen hat – wäre es auch nur, um Dorf und Gegend einen Dienst zu tun –«

»Wie? ist das Ernst? Ihr wollt, ich soll aufs Schloß hinauf?« stotterte der Doktor, und sein rotes Gesicht wurde von fahler Blässe überflogen.

»Darum herum kommt Ihr nicht, Doktor!« rief mit entschiedener Betonung der Schulze.

»Aber, Freunde! seid doch vernünftig, bitte!«

»Wir sind doch vernünftig!« antwortete Jonas.

»Nun, dann seid gerecht!« nahm der Doktor wieder das Wort – »was habe ich davon, wenn ich dorthin gehe? und was kann ich dort finden? ein paar brave Leute, die sich auf der Burg einen Unterschlupf gesucht haben – die alle andern Leute ungeschoren lassen –«

»Nun,« versetzte der Magister, »wenn Ihr meint, daß es ehrliche Leute sind, die dort oben hausen, so braucht Ihr Euch doch auch nicht zu fürchten – im Gegenteile bietet sich für Euch doch eine ganz hübsche Gelegenheit, Euch als Arzt zu empfehlen –«

»Wenn Sie mich brauchen, mich rufen lassen sollten,« erwiderte Patak, »würde ich nicht Bedenken tragen, glaubt mir, mich nach dem Schlosse hinauf zu begeben. Aber ungebeten erscheine ich nicht gern bei den Leuten und von Gratisbesuchen bin ich erst recht kein Freund.«

»Der Lohn für Eure Mühe soll Euch nicht vorenthalten bleiben,« sagte der Schulze; »liquidiert doch einfach für die Stunde soundsoviel!«

»Und wer bezahlt mich?«

»Ich – wir – just was Ihr liquidiert,« antworteten die meisten der Gäste.

Sichtlich war der Doktor trotz seiner beständigen Mauldrescherei zum allerwenigsten ebenso feige wie seine Werster Mitbauern. Kein Wunder, daß es ihm jetzt, nachdem er sich so oft als Freigeist aufgespielt, nachdem er so oft die Sagen und Mären der Bauern verspottet hatte, nicht eben leicht wurde, die an ihn gerichtete Forderung abzulehnen. Anderseits mochte es ihm in keiner Weise passen, selbst gegen Bezahlung den Weg zum Schlosse hinauf zu machen. Deshalb suchte er nach möglichen und unmöglichen Gründen, solchen Weg als überflüssig und aussichtslos hinzustellen und zu erweisen, daß sich das ganze Dorf bloß lächerlich machen würde, wenn es ihn zur Burg hinauf schickte. Schier kein Ende fand er mit seinen Worten.

»Aber, Doktor,« nahm der Magister wieder das Wort, »mir scheint doch, als ob bei solchem Vorhaben nicht das mindeste für Euch zu riskieren sei, denn an Gespenster und Geister glaubt Ihr doch nicht –«

»Nein, an solches Zeug glaube ich nicht.«

»Nun, wenn es keine Geister sind, die im Schlosse ihr Wesen treiben,« fuhr der Magister fort, »so können sich doch bloß menschliche Wesen dort eingefunden haben, und mit denen macht Ihr Euch eben bekannt.«

Die Ausführungen des Magisters entbehrten der Logik nicht; ihnen zu widersprechen war keine so leichte Sache.

»Einverstanden, Hermod,« antwortete Doktor Patak, »aber es kann doch sein, daß man mich auf der Burg festhält –«

»Doch bloß dann, wenn Ihr willkommen oben seid,« bemerkte Jonas.

»Freilich, freilich – aber wenn sich meine Abwesenheit in die Länge ziehen sollte – wenn mich jemand im Dorfe brauchen sollte –«

»Uns geht es doch durch die Bank ausgezeichnet,« erwiderte der Schulze, »und in ganz Werst haben wir keinen einzigen Kranken, seit Euer letzter Patient seine Fahrkarte ins Jenseits gelöst hat –«

»Rund heraus sagt, wie Ihr es halten wollt,« rief der Gastwirt – »wollt Ihr aufs Schloß gehen oder nicht?«

»Meiner Treu, nein!« antwortete der Doktor; »nicht etwa, weil ich Furcht hätte – o nein! wißt Ihr doch recht gut, daß ich an allen Geisterkram nicht glaube – sondern bloß, weil mir die ganze Sache albern vorkommt, verrückt – aufs Schloß hinauf zu tanzen, weil aus der Turmesse Rauch aufgestiegen ist – Rauch, der am Ende gar kein Rauch ist – nein! das fällt mir nicht ein, entschieden nicht! aufs Karpathenschloß hinauf laufe ich solcher Dummheit wegen nicht!«

»Nun, dann werde ich gehen!«

Der diese Worte sprach, war Nik Deck. Es waren die ersten Worte, durch die er sich an der Unterhaltung beteiligte.

»Du – Nik –?« rief Vater Koltz.

»Ja – ich – doch unter der Bedingung, daß mich Patak begleitet.«

Die Worte hatte Nik Deck direkt an den Doktor gerichtet, der sich mit einem energischen Sprunge dagegen verwahrte.

»Meinst du wirklich, Waldhüter?« entgegnete er – »ich soll mit dir mitlaufen? Freilich, das wäre gar kein übler Spaziergang zu zweit – wenn er bloß Zweck hätte – wenn man sich bloß drauf einlassen könnte – na, weißt du was, Nik? ich denke, du läßt die Finger davon, und ich desgleichen! es führt ja nicht einmal ein Weg zum Schlosse hinauf – schließlich kommen wir gar nicht hinauf –«

»Ich habe gesagt, daß ich hinaufgehe,« rief Nik Deck, »und was ich gesagt habe, gilt – ich gehe!«

»Aber ich habe nichts gesagt, ich nichts!« rief der Doktor, mit Händen und Beinen strampelnd, als wenn ihn jemand am Kragen genommen hätte.

»Doch – Ihr habt's gesagt – habt's mehr als einmal gesagt –« versetzte Jonas.

»Jawohl! jawohl!« rief einstimmig die ganze Versammlung.

Gedrängt von allen auf einmal, sah sich der einstige Krankenpfleger keinen Rat mehr. Ach, wie leid tat es ihm, sich mit seiner Mauldrescherei in solche Patsche gebracht zu haben. Daß man ihn beim Worte nehmen und zwingen würde, seine Reden wahr zu machen, das hatte er sich doch nicht träumen lassen – und nun stand es so, daß er gar nicht mehr zurück konnte, wenn er sich nicht zum Gespött von ganz Werst und ganz Vulkan obendrein machen wollte – wohl oder übel mußte er nun schon gute Miene zum bösen Spiele machen.

»Na, wenn Ihr's nicht anders wollt, will ich ja mit Nik hinaufgehen,« sagte er, »wenn es auch nicht den geringsten Zweck hat.«

»Bravo, Doktor, bravo!« schrieen alle Gäste des »König Mathias« wie aus einem Munde.

»Und wann brechen wir auf, Waldhüter?« fragte Patak, einen gleichgiltigen Ton anschlagend, der seine Feigheit nur schlecht verbergen konnte.

»Morgen in aller Frühe,« antwortete Nik Deck.

Auf diese letzten Worte folgte ziemlich lange Stille: ein Beweis dafür, daß die Aufregung des Schulzen und der Bauern echt war. Gläser und Krüge waren geleert, und doch stand niemand auf und niemand dachte daran, obwohl es schon spät war, den Fuß aus der großen Stube zu setzen und sich auf den Heimweg zu machen. Drum dachte Jonas, daß die Gelegenheit günstig sei, mit einer neuen Lage Rosoglio und Rakju aufzuwarten – als plötzlich die tiefe Stille durch eine Stimme unterbrochen wurde, die langsam, doch ziemlich deutlich die Worte sprach:

»Nikolaus Deck, geh morgen nicht aufs Schloß – geh nicht hinaus – sonst geschieht dir Unglück!«

Wer hatte so gesprochen? – woher rührte diese Stimme, die niemand bekannt war, die aus einem unsichtbaren Munde zu dringen schien? Es konnte bloß eine Geisterstimme, eine Stimme aus der andern Welt sein! – Das Entsetzen stieg auf den Höhepunkt – keiner wagte den andern anzusehen – keiner wagte ein Wort zu sprechen – –

Der Tapferste, ohne Frage Nik Deck, wollte nun wissen, woran er sich zu halten habe. Daß die Worte in der Gaststube selbst gefallen waren, unterlag keinem Zweifel. Der Waldhüter hatte von allen zuerst den Mut, sich der Truhe zu nähern und sie zu öffnen.

Niemand drinnen!

Nun stieß er die Gaststubentür auf, trat ins Freie, lief auf dem Straßenüberbau bis zur Werster Hauptstraße.

Niemand da!

Kurz darauf hatten der Schulze, der Magister, der Doktor, der Waldhüter, der Schäfer und alle Bauern die Schenke und ihren Wirt verlassen, und dieser beeilte sich seine Tür doppelt zu verschließen.

In dieser Nacht verbarrikadierten sich die Werster Bauern, als wenn ihnen Gott weiß welche phantastische Erscheinung zu nahen drohe, in ihren Häusern. Im ganzen Dorfe herrschte der Schrecken.

 

Kapitel 5

 

Am andern Tage gegen neun Uhr vormittags rüsteten sich Nik Deck – der Waldhüter – und Doktor Patak zum Aufbruch. Der erstere gedachte den Vulkansattel auf dem kürzesten Wege zu der verdächtigen Burg zu ersteigen.

Daß nach dem Erscheinen von Rauch über dem Turme und nach dem Erklingen der seltsamen Stimme in der Schenkstube die ganze Bewohnerschaft von Werst rappelköpfisch geworden war, wird niemand verwundern. Ein paar Zigeuner sprachen schon davon, die Gegend zu verlassen. In allen Häusern wurde von nichts anderm, und nur ganz leise, gesprochen. Wer hätte wohl abstreiten wollen, daß der Teufel, der »Schort«, bei der an den jungen Waldhüter gerichteten Warnung seine Klaue im Spiel gehabt habe? waren doch in der Gastwirtschaft an fünfzehn erwachsene, durchweg glaubwürdige Personen anwesend gewesen, als die Stimme erklang, und alle fünfzehn hatten die Stimme gehört! Da ließ sich doch nicht sagen, sie seien alle zusammen das Opfer einer Sinnestäuschung gewesen! die Sache stand vielmehr bombenfest: Nik Deck war ausdrücklich und namentlich gewarnt worden, sich in das Abenteuer einzulassen, denn es drohe ihm dabei Unglück. Und doch rüstete sich der junge Waldhüter zum Aufbruch, noch dazu, ohne daß ihn irgend etwas dazu zwang! denn wenn auch Schulze Koltz in gewissem Grade Interesse daran hatte, das über dem Schlosse lagernde Geheimnis aufzuklären, wenn auch der Dorfbewohnerschaft daran liegen mußte, in Erfahrung zu bringen, was dort vorginge, so hatte man doch alles mögliche versucht, Nik Deck von der Ausführung seines Entschlusses abzubringen. Miriota hatte sich die Augen ausgeweint, ihn bei sich festzuhalten. War es nicht schrecklich, daß Nik Deck kurz vor der Hochzeit sein Leben in solche Gefahr setzte und seiner Braut, die ihn auf den Knieen bat, der warnenden Stimme Gehör zu leihen, so gering achtete?

Aber nichts vermochte den Waldhüter zu beirren, weder die Bitten und Vorstellungen der Freunde, noch die Tränen der Braut. Das setzte jedoch niemand in Verwunderung, denn jeder kannte den zähen Sinn des jungen Mannes, für den es in keiner Lage, unter keinen Umständen ein Zurück von einem gefaßten Entschlusse, von einer verlautbarten Absicht gab.

Als die Stunde zum Aufbruch geschlagen hatte, schloß der Jüngling die Braut noch einmal ans Herz, während die arme Dirne, rumänischer Sitte gemäß, zum Zeichen des Glaubens an die Dreieinigkeit sich mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger bekreuzigte.

Und Doktor Patak? Nun, angestellt hatte er noch alles mögliche, sich von dieser Last freizumachen, aber geholfen hatte es ihm nicht – alles, was sich dagegen sagen ließ, hatte er gesagt, alle erdenklichen Vorstellungen hatte er gemacht, auch hinter jenes durch die Geisterstimme so deutlich gegebene Verbot des Schloßbesuchs hatte er sich verschanzt. Aber nichts, nichts hatte gefruchtet.

»Die Warnung hat ja bloß mir gegolten,« hatte sich Nik Deck beschränkt zu antworten.

»Und wenn dir Unglück zustößt, Waldhüter,« hatte hierauf Doktor Patak geantwortet – »würde ich dann ohne Schaden davonkommen?«

»Ob mit oder ohne Schaden, Ihr habt doch versprochen, mit aufs Schloß zu gehen, und da ich hinaufgehe, wird Euch nichts weiter übrig bleiben, als Euer Versprechen zu halten.«

Die Werster Bauern begriffen, daß er sich durch nichts an der Ausführung seines Vorhabens hindern lassen werde, und hatten ihm deshalb recht gegeben, daß er auch den Doktor zur Erfüllung seines Versprechens anhielt. Besser war es doch ohne Frage, wenn sich Nik Deck nicht allein in dieses Abenteuer begab. Auch der Doktor, in der richtigen Erkenntnis, daß es kein Zurück für ihn gab, wenn er sich nicht um Ruf und Ansehen und Stellung bringen wollte, fand sich schließlich darein, aber voll angsterfüllten Herzens und fest gewillt, das kleinste Weghindernis, das sich bieten sollte, als Anlaß und Mittel zur Umkehr zu benutzen.

Nik Deck und Doktor Patak brachen also auf, und Schulze Koltz, Magister Hermod, Schäfer Frik und Gastwirt Jonas gaben bis zur Wegbiegung das Geleit. Dort wurde Halt gemacht. Von dort aus richtete Schulze Koltz zum letzten Male sein Fernrohr, das nicht mehr von ihm wich, auf das alte Schloß. Ueber der Turmesse zeigte sich keine Spur von Rauch; an dem hellen klaren Horizont des schönen Frühlingsmorgens hätte man ihn ohne Anstrengung sehen müssen. War hieraus zu schließen, daß sich die natürlichen oder übernatürlichen Schloßgäste aus dem Staube gemacht hätten, weil sie gesehen, daß sich der Waldhüter nicht vor ihnen fürchtete und ihrer Drohungen lachte? manche meinten es und erblickten hierin einen weiteren Grund, die Sache bis zur völligen Lösung und Aufklärung weiter zu betreiben.

Man drückte einander die Hände. Dann nahm Nik Deck den Doktor unter den Arm und verschwand in dem Winkel, den der Bergsattel bildete.

Der junge Waldhüter trug seine Uniform: das galonnierte Käppi mit breitem Schilde, die durch den Leibgurt gehaltene Joppe, im Gurt den Hirschfänger in der Scheide, dazu die bauschige Hose, die mit eisernen Nägeln beschlagenen Schaftstiefel, um die Hüfte die Patrontasche und über der Schulter die Büchse. Er stand mit Recht im Ruf eines sehr geschickten Schützen, und da es nicht ausgeschlossen war, daß man statt Geistern Grenzmarodeuren oder auch einem knurrigen Bären in den Weg lief, war es nur klug und weise, sich mit den nötigen Verteidigungsmitteln auszurüsten.

Was den Doktor angeht, so hatte er gemeint, sich mit einem alten Steinschloßgewehr auszurüsten, das bei fünf Schüssen drei Versager zum wenigsten hatte. Auch ein Beil führte er bei sich, das ihm sein Kamerad für den nicht unwahrscheinlichen Fall mitgegeben hatte, daß man sich Bahn durch das dichte Gestrüpp des Plesa hauen müsse. Mit dem breiten Bauernhut auf dem Kopfe, den dichtbeschlagenen Stiefeln und dem fest zugeknöpften groben Flauskittel war der Doktor im Grunde genommen für den Versuch schneller Flucht zu schwer equipiert, ließ aber trotzdem die Hoffnung, daß sich Gelegenheit dazu bieten werde, nicht fallen.

Beide Männer hatten sich außerdem, um sich die Möglichkeit einer Ausdehnung des Ausflugs offenzuhalten, mit einigem Mundvorrat versehen, den sie in ihrem Quersack trugen.

Sobald sie nun die Wegbiegung herum waren, wanderten sie ein paar hundert Schritt am rechten Nyad-Ufer hinauf. Hätten sie den Schlangenweg durch die Schluchten des Gebirgsstocks gehen wollen, so würden sie zu weit in westlicher Richtung abgekommen sein. Von größerm Vorteil wäre es gewesen, wenn sie am Bett des Gießbachs, der in den Bodenfalten des Orgall-Plateaus entspringt, hätten weiter gehen können, denn dadurch hätten sie ein reichliches Drittel vom Wege abgeschnitten. Aber weiter hinauf war von einem gangbaren Weg oder Pfade an diesem Gießbachbett keine Rede mehr, selbst für gewandte Kletterer nicht; sie mußten deshalb links abbiegen, in der Hoffnung, die Richtung zum Schlosse hin wieder zu gewinnen, sobald die untere Zone der Wälder des Plesa hinter ihnen wäre.

Es war zudem die einzige Seite, auf der sich zur Burg hinauf gelangen ließ. Zur Zeit als es noch vom Grafen Rudolf bewohnt wurde, war zwischen dem Schlosse, den Dorfschaften Werst und Vulkan und dem Tale der walachischen Sil der Verkehr aufrecht erhalten worden durch eine schmale Schneise, die in dieser Richtung durch den Wald geschlagen worden. Aber seit zwanzig Jahren verwachsen und verwildert, wäre es vergebliche Mühe gewesen, noch eine Spur von dieser Schneise zu suchen.

Als sie das tief in dem Boden lagernde Bett des von tosendem Wasser angefüllten Gießbachs verlassen wollten, machte Nik Deck kurzen Halt, um sich zu orientieren. Das Schloß war schon nicht mehr sichtbar. Erst wenn man über den Wald hinaus war, welcher sich staffelweis über die unteren Bergeshänge zog, wie fast überall in den Karpathen, ließ sich damit rechnen, daß es wieder in Sicht treten werde. Da es an jeglichem Merkpunkte fehlte, stand zu erwarten, daß es nicht leicht sein werde, sich ein richtiges Bild von Lage und Richtung zu machen. Bloß auf die Sonne blieb man angewiesen, deren Strahlen schon nach Osten hin die fernen Grate streiften.

»Nun siehst du doch, Waldhüter,« sagte der Doktor – »nicht mal ein Weg oder vielmehr nicht mal ein Steg mehr ist da!«

»Es wird schon einen geben,« entgegnete Nik Deck.

»Das läßt sich leicht sagen, Nik –«

»– und leicht machen, Patak.«

»So? du bist nach wie vor entschlossen –?«

Der Waldhüter begnügte sich mit einem Nicken des Kopfes und drang durch die Bäume vor. Der Doktor bezeigte hingegen große Lust, umzukehren. Da traf ihn aber von seinem Kameraden ein so energischer Blick, daß dem Feigling der Mut verging, seine Absicht auszuführen.

Eine letzte Hoffnung blieb demselben noch: daß es nicht mehr lange dauern würde, bis sich sein Kamerad in diesem Urwald, wohin ihn sein Dienst noch nie geführt hätte, verirrte. Aber er übte, indem er sich mit solchem Gedanken trug, jenen erstaunlichen Spürsinn, die Witterung oder, wenn man so sagen darf, jenes »animale« Vermögen, sich nach den geringsten Anzeichen zu richten, die die Natur bietet, wie z. B. Stand der Zweige nach dieser oder jener Himmelsrichtung, Bodenabgleichung, Baumrindenfärbung, die unterschiedliche, durch den Einfluß von Süd- oder Nordwinden bedingte Schattierung der Moose usw. usw. Nik Deck war in seinem Berufe ein zu großer Praktikus, um sich irgendwo im Walde zu verirren, ganz gleich ob er sich auf bekanntem oder unbekanntem Terrain befand. Er war so ganz der Bursche danach, einem Lederstrumpf oder einem Chingachgook in den romantischen Jagdgründen Coopers den Rang streitig zu machen.

Und doch war es mit gar großen Schwierigkeiten verknüpft, sich durch dieses Waldgebiet einen Weg zu öffnen. Ulmen, Buchen, auch Ahornbäume von der unter dem Namen »falsche Platanen« bekannten Art, stattliche Eichen bildeten den Bestand der ersten Region. Dann kam die Region der Birken, Fichten und Tannen auf den oberen Sätteln der linken Bergseite. Ein Staat diese Bäume mit ihren mächtigen Stämmen, ihren vom Jungsaft strotzenden Aesten, ihrem dichten Laube, das zu einem Dache verwachsen war, durch das kein Sonnenstrahl dringen konnte! Dazu das Unterholz, die Farrn- und Nesseldickichte, die Wurzeln und Knorren! An schnelles Vordringen unter solchen Umständen war absolut nicht zu denken, wenn auch Nik Deck nicht der Mann war, der sich an ein paar Hautrisse oder Brandwunden kehrte. Aber daran konnte den beiden Männern nicht gelegen sein, daß sie erst in den Nachmittagsstunden zum Schlosse hinauf gelangten. Wenn irgend möglich, wollten sie doch noch am selben Tage wieder nach Werst hinunter.

Mit dem Beil in der Faust drang der Waldhüter mitten durch die dichten Dornhecken mit ihren Stachelbajonetten, auf einem Terrain vor, uneben, holperig, mit Wurzeln und Knorren durchwachsen, wo der Fuß keinen Halt fand, wo jeder Schritt vorwärts erkämpft werden mußte, wo man aller Augenblicke in Gruben und Löcher sank, die von nassem, keinem Winde zugänglichen Blätterlaub bis dicht an den Rand gefüllt waren. Myriaden von Samenkapseln zerplatzten wie Knallerbsen bei jedem Tritte der Männer, zum Entsetzen des Doktors, der jedesmal, wenn es zu prasseln anfing, Luftsprünge machte, entsetzt nach rechts und links guckte oder sich umdrehte, wenn ihm ein Nadelzweig ins Gesicht schlug oder ein Dorn sich an seiner Jacke festhing gleich einer Kralle, die ihn packen wollte. Nein! hier fand er keine Ruhe, hier war er seines Lebens nicht sicher, der arme Wicht – aber jetzt allein umzukehren, wäre ihm doch nie eingefallen, das hätte er sich nimmermehr getraut, im Gegenteil gab er sich jetzt alle Mühe, seinem Vordermann so dicht wie möglich auf den Fersen zu bleiben. Leicht war das für den kleinen, dicken Mann mit den kurzen Beinen und dem Spitzbauch ganz gewiß nicht, dem jungen, behenden, kräftigen Waldhüter gegenüber war er körperlich zu sehr im Nachteil; keuchend, pustend, ächzend, stöhnend drang er ihm hinterher in dies Wirrsal von Hochwald und Unterholz, oft außer stande, das Gleichgewicht zu bewahren, und auf die Hilfe des Kameraden angewiesen, um wieder auf die Beine zu kommen.

»Du erlebst es noch, Nik, daß ich mir Hals und Beine breche,« jammerte er in einem fort.

»Dafür seid Ihr ja Doktor!« versetzte dann Nik.

»Waldhüter, sei vernünftig! laß mit dir reden! gegen den Strom läßt sich doch nicht schwimmen.«

Paperlapapp! Nik Deck war schon weit vorauf, und der Doktor mußte alle Kräfte zusammennehmen, ihn einzuholen. Mit solchem Waldmenschen war nun einmal nichts anzufangen. Aber war denn auch die Richtung, in der sie vordrangen, richtig? gelangten sie zur Burg hinauf auf diesem Sattel? Sich hierüber Gewißheit zu schaffen wäre nicht leicht gewesen. Aber das Terrain stieg doch immer aufwärts und mußte demnach doch auch zur Waldgrenze führen. Diese von Nik Deck festgehaltene Ansicht bestätigte sich. In der dritten Nachmittagsstunde hatten sie den Wald hinter sich.

Von da ab wurde der Baumbestand dünner, und je näher die beiden Männer der Hochfläche kamen, desto größer wurden die Lichtungen und Schneisen. Hier kam auch der Gießbach wieder in Sicht zwischen Felsblöcken und Felsmauern. Entweder nahm also der Bach eine mehr nordwestliche Richtung, oder Nik Deck hatte ihn in schrägem Aufstieg »genommen« – ein Beweis für den jungen Waldhüter, daß er den rechten Weg eingeschlagen haben mußte, weil ja der Gießbach allem Anschein nach in den Bodenfalten des Orgall-Plateaus entsprang.

Eine Raststunde am Ufer des Bachs konnte der Waldhüter dem Doktor nicht abschlagen. Zudem forderte der Magen sein Recht nicht minder gebieterisch als die Beine. Die Rucksäcke waren ja gut gespickt und die beiden Kürbisflaschen bis zum Rande gefüllt mit kräftigendem Rakju. Wenige Schritte entfernt floß, über Kieselgrund gereinigt, frisches helles Wasser. Was konnte man weiter wünschen? Ausgepumpt hatte man genug, nun hieß es auch wieder mal einpumpen!

Seit dem Aufbruch hatte sich dem Doktor kein einziges mal Gelegenheit und Muße geboten, mit dem Waldhüter, der immer vorauf war, ein paar Worte zu wechseln. Jetzt aber, sobald sie am Bachrande saßen, hielt er sich schadlos für diese Entbehrung. War der Waldhüter, kerndeutsch gesagt, maulfaul, so war der Doktor Zungendrescher – hiernach darf sich niemand wundern, daß des Fragens kein Ende, des Antwortens kein Rat war.

»Reden wir eine Weile, Waldhüter,« hub der Doktor an – »aber im Ernst!«

»Ich höre zu,« antwortete Nik Deck.

»Ich denke, wenn wir hier Rast gemacht haben, ist's zu dem Zwecke geschehen, Kräfte zu sammeln?«

»Ihr trefft den Nagel auf den Kopf, Doktor.«

»Für den Rückmarsch nach Werst –«

»Nein, für den Marsch zur Burg hinauf.«

»Aber, Nik, nimm doch bloß Verstand an! sechs Stunden sind wir nun unterwegs und haben kaum die Hälfte der Strecke geschafft.«

»Ein Beweis dafür, daß wir keine Zeit verlieren dürfen.«

»Aber es wird ja Nacht, ehe wir zum Schlosse hinaufkommen; und daß du die Verrücktheit soweit treiben kannst, Waldhüter, ohne Tageslicht dich ins Schloß zu wagen, kann ich mir doch nicht denken. Wir werden also warten müssen, bis es Tag ist.«

»Dann warten wir eben.«

»Du willst also ein Vorhaben, das gar keinen Sinn hat, absolut nicht fallen lassen?«

»Nein.«

»Aber, um Jesu Christi willen! wir sind wie ausgemergelt, uns fehlt ein guter Tisch in einer guten Stube, ein gutes Bett in einer guten Kammer – und du willst dir einfallen lassen, die ganze Nacht im Freien zuzubringen?«

»Freilich, wenn uns was hindert, die Schloßmauer zu passieren –«

»Und wenn uns nichts hindert –?«

»Dann schlafen wir in den Turmgemächern.«

»In den Turmgemächern!« schrie Doktor Patak – »du bildest dir ein, Waldhüter, daß ich mich dazu verstehe, eine ganze Nacht im Innern dieser verfluchten Burg zu bleiben?«

»Ohne Zweifel, Ihr müßtet denn lieber allein im Freien nächtigen wollen.«

»Allein, Waldhüter? Das geht wider die Abmachung, und wenn wir uns trennen müssen, dann ist es mir lieber, wir trennen uns hier, denn von hier aus habe ich es doch näher zum Dorfe.«

»Die Abmachung, Doktor Patak, lautet, daß Ihr mir, soweit wie ich gehe, folgen müßt –«

»Bei Tage, ja! aber nicht bei Nacht!«

»Nun, es steht Euch ja frei, aufzubrechen. Bloß seht zu, daß Ihr Euch nicht verlauft.«

Das war es, was dem Doktor Angst machte: sich verlaufen! wie konnte er daran denken, auf sich selbst angewiesen, nicht heimisch in diesen Wäldern, ohne Kunde von diesen kreuz und quer laufenden Dickichten, den Weg nach Werst zurückzufinden? Und wenn ihn die Nacht überfiel? jedenfalls obendrein noch stockfinstre Nacht? die Aussicht, bei dem Abstieg der Sattel-Schroffen abzustürzen, war auch nicht verlockend; und da nach Sonnenuntergang nicht die Rede davon sein sollte, die Schloßmauer zu ersteigen, war es schließlich doch gescheiter, dem Waldhüter, wenn er davon nicht abgehen wollte, bis an den Fuß der Umwallung zu folgen. Indessen einen letzten Versuch, den Kameraden umzustimmen, wollte der Doktor doch noch wagen.

»Du weißt recht gut, Nikchen,« hub er an, »daß es mir nie einfallen wird, mich von dir zu trennen – und da du nun einmal drauf bestehst, nach dem Schloß hinaufzuklettern, werde ich dich nicht allein klettern lassen –«

»Gut gesprochen, Doktor! bloß meine ich, Ihr solltet auch daran festhalten.«

»Nein – noch ein Wort, Nikchen! kommen wir erst bei Nacht hinauf, versprichst du mir, daß keine Rede davon sein soll, noch den Fuß ins Schloß hineinzusetzen?«

»Was ich verspreche, Doktor, ist, daß ich nichts unversucht lassen will, hinein zu gelangen, daß ich keinen Fuß breit zurückweiche, bis ich nicht entdeckt habe, was oben vorgeht.«

»Was oben vorgeht, Waldhüter?« rief achselzuckend der Doktor; »aber was soll denn oben vorgehen?«

»Das weiß ich nicht, werde es aber erfahren, da ich es mir vorgenommen habe.«

»Dazu muß man doch erst drin sein in diesem Teufelsschlosse!« erwiderte der Doktor, der sich am Ende seiner Gründe sah – »wenn ich nun aber nach den Schwierigkeiten schließen soll, die wir bis jetzt gehabt haben, und nach der Zeit, die bis jetzt draufgegangen ist, um bloß erst durch die Plesa-Wälder zu dringen, so wird wohl der Tag draufgehen, bis wir in Sicht des Schlosses –«

»Das glaube ich nicht,« entgegnete Nik, »denn auf der Höhe haben wir kein so undurchdringliches Dickicht mehr!«

»Aber schwer zu steigendes Terrain.«

»Das macht nichts, wenn es bloß passierbar bleibt.«

»Aber in der Umgegend des Orgall-Plateaus sollen, wie ich mir habe sagen lassen, Bären hausen.«

»Ich habe ja meine Büchse und Ihr Euer Steinschloßgewehr zur Wehr, Doktor.«

»Bei Einbruch der Nacht laufen wir aber Gefahr, uns in der Finsternis zu verirren.«

»Nein, denn wir haben jetzt einen Führer, der uns hoffentlich nicht im Stiche lassen wird.«

»Einen Führer?« schrie der Doktor, und fuhr in die Höhe, um einen ängstlichen Blick um sich zu werfen.

»Gewiß,« versetzte Nik, »den Gießbach! wir brauchen uns bloß an seinem rechten Ufer zu halten, um bis zu dem Plateau hinaufzugelangen, wo er entspringt. In zwei Stunden, wenn wir uns unterwegs nicht aufhalten, sind wir, denke ich, oben.«

»In zwei Stunden, aus denen schließlich sechs werden –«

»Seid Ihr fertig?«

»Soll es denn schon wieder weiter gehen, Nik? wir haben doch kaum ein paar Minuten gerastet –«

»Ein paar Minuten, die eine reichliche Stunde ausmachen – zum letzten Male, seid Ihr so weit?«

»So weit? wenn einem die Beine wie Blei am Leibe hängen? – Nikchen, du weißt doch, daß ich keine Waldhüterwaden habe! mir sind die Füße geschwollen – es ist grausam von dir, mich zwingen zu wollen, mitzulaufen, wenn ich nicht laufen kann –«

»Nun hört aber auf, Patak! das wird ja langweilig – meinetwegen lauft mit oder bleibt – glückliche Reise!«

Ohne sich länger aufzuhalten, machte er Kehrt.

»Um Jesu Christi willen, Waldhüter!« schrie der Doktor; »noch ein Wort, noch ein Wort!«

»Noch mehr Dummheiten anhören?«

»Aber, Nickchen! es ist doch schon spät – warum wollen wir denn nicht hier bleiben? warum uns nicht unter dem Schutz dieser Bäume lagern? warum nicht lieber mit Sonnenaufgang aufbrechen und weiter marschieren? Dann kämen wir doch früh am Morgen hinauf –«

»Ich sage Euch ja, Doktor, ich will die Nacht im Schlosse verbringen,« entgegnete Nik.

»Nein, nein!« schrie der Doktor, »das wirst du nicht, Nik! das werde ich zu hintertreiben wissen –«

»Ihr – Doktor?«

»Jawohl, ich, Patak! an deine Jacke will ich mich klammern; ziehen, reißen will ich dich, prügeln, wenn es nicht anders geht –«

Der arme Kerl! er wußte nicht mehr, was er sagte. Nik Deck würdigte ihn gar keiner Antwort mehr, hing die Büchse über die Schultern und machte ein paar Schritte zum Gießbachufer hin.

»Warte, warte!« schrie kläglich der Doktor – »solch ein Satanskerl! bloß noch einen Augenblick! mir sind ja die Beine ganz steif, kein Gelenk bewegt sich mehr –«

Aber sie kamen bald wieder in Gang, denn es blieb dem einstigen Krankenpfleger nichts weiter übrig als seine kleinen Beine in Gang zu setzen und dem Waldhüter nachzulaufen, der schon ein tüchtiges Stück vorauf war und sich gar nicht einfallen ließ, umzudrehen.

Es war vier Uhr. Die Sonnenstrahlen streiften den First des Plesa, hinter dessen gewaltiger Felsmasse sie bald verschwinden mußten, und beschienen bloß noch schräge die obern Zweige der hohen Bäume. Nik Deck hatte alle Ursache zur Eile, denn in solchem Unterholz wird es im Handumdrehen stockfinster, wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist.

Der Weg war steil und mühsam. Das scharfe Gestein, das den Boden durchsetzte, machte die Füße wund. Ueber hohe, den Aufstieg sperrende Blöcke mußte geklettert werden, und dazu fehlte es dem Doktor an der notwendigen Schenkelkraft, Behendigkeit und Sicherheit in der Beherrschung der Glieder. Was der Waldhüter allein in einer Stunde bezwungen hätte, dazu waren zufolge der Unbeholfenheit seines »Anhängsels« ihrer drei nötig, denn aller Augenblicke mußte er warten, bis ihn der Doktor eingeholt hatte, oder helfen, wenn er über einen zu hohen Block mit seinen kurzen Beinen nicht hinüber konnte. Bloß eine Furcht beherrschte den Doktor, eine schreckliche Furcht: daß er am Ende gar mitten in dieser unheimlichen Einsamkeit allein zurückbleiben müsse.

Indessen winkte ihnen, sobald sie auf den Sattel des Plesa gelangten, mancherlei Erleichterung; die Bäume standen nicht mehr in geschlossenen Gliedern, sondern nur noch in vereinzelten Gruppen; auch ihr Umfang und ihre Höhe wurden geringer. Zwischen den Baumgruppen kamen die Gebirge in Sicht, die sich in scharfen Linien am Horizonte zeichneten und aus dem Abendnebel aufragten. Der Gießbach, von dessen Ufer der Waldhüter nicht gewichen war, war zum schmalen Rinnsal zusammengeschrumpft: ein Zeichen, daß seine Quelle nicht mehr weit sein konnte. Wenige hundert Fuß über den letzten Terrainfalten rundete sich das gekrönte Plateau des Orgall.

Endlich, nach einem letzten Anlauf, der dem Doktor den letzten Rest seiner Kräfte nahm, war das Plateau genommen. Nik Deck spürte die Anstrengung kaum. Aufrecht, ohne ein Glied zu rühren, verschlang er dieses Karpathenschloß, in dessen Nähe er noch nie geweilt hatte, mit den Blicken. Eine krenelierte Mauer, durch einen tiefen Graben geschützt, über den eine Zugbrücke führte, die aber aufgezogen und gegen ein Ausfalltor gelehnt war, dehnte sich vor ihm in der Runde. Rings um diese Mauer, auf der gesamten Fläche des Orgall-Plateaus, war alles still und einsam, verlassen und öde.

Ein Rest von Tageslicht gewährte die Möglichkeit, das Gesamtbild der Burg zu erfassen, die sich im abendlichen Dämmerschein in wirren Umrissen zeigte. Ueber der Brüstung war niemand zu sehen, auch auf der obern Plattform des Lugturms nicht, auch auf der rings um das erste Stockwerk laufenden Terrasse nicht. Um die wunderliche, von Jahrhunderte altem Rost zerfressene Wetterfahne ringelte sich kein Rauchfaden.

»Nun, Waldhüter,« fragte Doktor Patak, »wirst du nun gelten lassen, daß es unmöglich ist, über diesen Graben zu kommen und dieses Ausfalltor zu öffnen?«

Nik Deck gab keine Antwort. Er machte sich klar, daß es sich nicht umgehen lasse, vor den Schloßmauern zu rasten. Wie hätte man auch bei solcher Finsternis in den tiefen Graben steigen und an der steilen Wand auf der andern Seite hinauf klimmen sollen, um auf solchem Wege ins Innere zu dringen? Entschieden war es am gescheitesten, bis zur Frühdämmerung, die ja nicht mehr fern war, zu warten und bei Tagesanbruch das Weitere zu unternehmen.

Zum großen Verdruß des Waldhüters, aber zur höchsten Befriedigung des Doktors ließ sich kein anderer Entschluß fassen.

 

Kapitel 6

 

Die Sonne war untergegangen. Die schmale Mondsichel war auch schon so gut wie verschwunden. Vom Westen her kam Gewölk, das dem letzten Dämmerlicht langsam den Garaus machte, und langsam breitete sich, aus den untern Zonen mählich heraufziehend, Schatten über den Weltenraum. Der Gebirgskessel füllte sich mit Finsternis und bald verschwanden die Umrisse der Burg unter dem Schleier der Nacht.

Drohte auch die Nacht stockfinster zu werden, so deutete doch nichts darauf hin, daß sie durch ein atmosphärisches Meteor, Gewitter, Sturm oder Regen, heimgesucht werden sollte. Das war für die beiden Bergtouristen, die unter freiem Himmel kampieren mußten, ein Glück.

Auf diesem öden Plateau von Orgall fanden sich Bäume nicht mehr vor; stellenweis kroch noch Gebüsch am Boden hin, aber so niedrigen Wuchses, daß es gegen die nächtliche Kühle nicht schützen konnte. Felsen, bald zu halber Höhe in den Boden gesenkt, bald so weit überhängend, daß man meinen mußte, der erste beste Windstoß müßte hinreichen, sie in die Tannendickichte darunter zu wälzen, gab es in undenklichen Mengen.

Außer einem dichten Dorngewächs, unter dem Namen Russendorn bekannt und, wie es heißt, durch Moskowiterpferde hierher verpflanzt, wuchs auf diesem Steinboden nichts.

Jetzt galt es, einen geeigneten Ort ausfindig zu machen, wo man, halbwegs geschützt gegen die in solcher Höhe nicht unbedeutende Temperaturabnahme, den Tagesanbruch abwarten konnte.

»Wer die Wahl hat, hat die Qual,« brummte Doktor Patak – »hier freilich im schlimmen Sinne!«

»So beklagt Euch doch!« antwortete Nik Deck.

»Gewiß, das tue ich auch. Wahrhaftig, ein brillanter Ort, um sich Schnupfen oder Gliederreißen, das man nie wieder los wird, zu holen!«

Ein zwar unbewußtes, darum aber nicht schwächeres Armutszeugnis für den Werster Dorfbarbier!

Nik Deck hatte jedoch zwischen den verstreuten Blöcken bald eine Gruppe gefunden, die durch ihre Lage einen wirksamen Schutz gegen die bereits recht empfindliche Südwestbrise versprach, und der Doktor hatte sich bald bei ihm quartiert, und zwar unter einem großen Felsen, der an seiner Oberfläche platt wie eine Tischfläche erschien.

Dieser Felsen war eine jener steinernen Bänke, die unter Skabiosen und Saxifragen förmlich verschwinden und in der Walachei sich häufig an Wegkreuzungen vorfinden. Solche steinerne Bank bietet dem Wanderer nicht bloß einen Ort zum Ausruhen, sondern auch Gelegenheit, den Durst zu löschen, denn immer steht ein steinerner Krug darauf mit Wasser, das von den umwohnenden Landleuten tagtäglich erneuert wird. Solange Baron Rudolf im Schlosse sich aufhielt, solange hatte auch ein Wasserkrug hier auf dieser Steinbank gestanden, dessen ständige Füllung zu den Obliegenheiten der Schloßdienerschaft gehörte. Jetzt aber war er voller Schlamm, mit grünen Moosen überwachsen, und wäre sicher bei der geringsten Berührung in Staub und Asche zerfallen.

Am Ende der Bank stand eine Granitsäule, der Ueberrest eines alten Kreuzes, von dessen Armen bloß die halbverwitterten Fugen, in denen sie gesessen hatten, noch vorhanden waren. Doktor Patak als Freigeist konnte nicht gelten lassen, daß solches Kreuz ihm gegen übernatürliche Erscheinungen Schutz böte – und doch war er, einer Anomalie gemäß, die sich bei vielen Menschen findet, die von Glauben und Religion nichts wissen mögen, gar nicht so weit vom Glauben an Teufel und Teufelsspuk. Seiner Ansicht nach mußte der »Schort« doch eigentlich beim Schlosse oder im Schlosse stecken, denn wer anders als er trieb im Schlosse sein Wesen, und wenn ihm die Lust ankam, ihnen beiden den Hals umzudrehen, so konnten doch ihn weder das gesperrte Ausfalltor noch der tiefe Graben und die aufgezogene Zugbrücke hindern.

Wie nun der Doktor daran dachte, daß er unter solchen Bedingungen eine ganze Nacht hier zubringen solle, überrieselte ihn Schauder. Nein! das war zuviel von einem menschlichen Wesen verlangt, da mußte das kraftvollste Temperament zusammenknicken.

Und nun kam ihm ein anderer Gedanke, »spät aber doch« – ein Gedanke, der ihm leider nicht eingefallen war, als er den Fuß aus dem Dorfe setzte – der Gedanke, daß heute Dienstag und Dienstag »der böse Tag« war, an dem jedem ein Unglück passierte, der sich aus dem Hause begab. Deshalb war es am Dienstag auf Gassen und Straßen totenstill, sobald die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war. Und nun war der Doktor nicht bloß weitweg von seinem Hause, sondern sogar ganz dicht bei einem verwunschenen, ein paar Meilen vom Dorfe gelegenen Schlosse und sollte vor dessen Mauern den Sonnenaufgang abwarten – wenn sich die Sonne überhaupt wieder sehen ließe – wahrlich! das hieß doch den Teufel herausfordern!

Während der Doktor über solche Dinge simulierte, griff der Waldhüter mit Seelenruhe in seinen Quersack, langte sich ein Stück kaltes Fleisch und nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Flasche. Nach einer Weile meinte der Doktor, es sei schließlich wohl das Gescheiteste, es ebenso zu machen. Ein Gansschlegel, ein tüchtiger Kanten Brot und dazu ein derber Schluck Rakju brachte auch ihn bald wieder zu Kräften und auf andere Gedanken. Aber seine Furcht zu stillen, wollte ihm, auch nachdem er seinen Hunger gestillt hatte, nicht gelingen.

»Na, und nun wollen wir uns aufs Ohr legen,« meinte Nik Deck, sobald er für seinen Quersack am Fuße des Felsens einen sichern Platz ausgesucht hatte.

»Schlafen, Waldhüter?«

»Gute Nacht, Doktor.«

»Gute Nacht ist bald gesagt; aber ich fürchte, ich fürchte, die Geschichte nimmt doch einen schlimmen Ausgang!«

Nik Deck hatte keine Lust zum Schwatzen und gab keine Antwort. Sein Stand brachte es mit sich, oft einmal im Walde zu nächtigen, und so lehnte er sich, so gut es ging, mit dem Kopfe an die Steinbank und war bald in einen tiefen Schlaf gesunken. Nicht so der Doktor, der trotz aller Müdigkeit keinen Schlaf fand, sondern mit offenen Augen und Ohren neben dem Schläfer hockte und über dessen Schnarchen des Brummens kein Ende fand. In seinem Hirn spukten, als Kinder der Schlaflosigkeit, allerhand wüste Gestalten und Formen; in verschwommenen Umrissen sah er die Dinge um sich her, das verstreute Himmelsgewölk, die kaum erkenntliche Masse der Burg, dann war es ihm, als ob die Felsblöcke des Orgall-Plateaus einen Höllenkankan tanzten, dann polterten sie über- und durcheinander und wälzten sich über die beiden Unglücklichen, sie zu Brei zermalmend, weil sie vor dieser Burg weilten, in die ihnen, wie allen übrigen Menschen, der Eintritt verboten war. Und an die Ohren des Unglücklichen drangen jene Geräusche, die sich auf den Spitzen hoher Flächen fortpflanzen, jenes beängstigende Gemurmel, Geflüster, Gezischel, das zwischen Summen, Seufzen und Stöhnen die Mitte hält. Nachtvögel strichen mit geisterhaftem Flügelschlag über die Felsen, Vampyre schwärmten aus, Eulen krächzten, Kröten schlüpften, Insekten huschten: hu! da zogen sich die Muskeln des Unglücklichen krampfhaft zusammen, die Beine schlotterten ihm, kalter Schweiß rann an ihm nieder, sein ganzer Leib zitterte.

So verstrichen ihm in fürchterlicher Länge die Stunden bis Mitternacht. Hätte er schwatzen, räsonnieren, seinen Klagen Luft machen können, dann würde ihn die Furcht nicht so beherrscht haben. Aber Nik schlief und – schnarchte, daß die Felsen zitterten.

Mitternacht! entsetzlichste aller Zeiten und Stunden, die Treffzeit für Gespenster und Bösewichte!

Was ging denn vor?

Der Doktor hatte sich aufgerichtet. Der Doktor fragte sich, ob er wache, oder ob ihn ein schrecklicher Alp heimsuche.

Dort oben, wirklich und wahrhaftig! dort oben war es ihm, als zeigten sich – nein, nein! dort zeigten sich wirklich seltsame Gestalten, erhellt von geisterhaftem Licht; Gestalten, die von einem Horizont zum andern schweiften und mit den Wolken stiegen, sanken, fielen. Es war, als wenn allerhand Ungetüme, Drachen mit Schlangenschweifen, geflügelte Rosse, Kraken und Vampyre von Riesengröße sich um ihn bissen und rissen, ihn mit ihren Klauen und Krallen zu packen, in ihren Schlund zu zerren trachteten.

Dann war es ihm, wie wenn sich alles auf dem Orgall-Plateau bewegte und regte, als wenn sich die Felsen auf seinen Schrägen türmten, die Bäume an seinem Saume reckten.

Dann drangen, ganz deutlich, in kurzen Pausen, genau im Takt gegeben, Töne wie Schläge an seine Ohren.

»Die Glocke,« flüsterte er, von Grausen gepackt, »die Burgglocke!«

Richtig, die Glocke der alten Kapelle tönt, nicht die Vulkaner Kirchenglocke, denn bei der konträren Windrichtung hätte kein Schall von Vulkan herüber klingen können.

Und jetzt ertönten sie schneller und schneller, diese Glockenschläge – die Hand, die die Kapellenglocke in Schwingungen setzt, läutet kein Grabgeläut – nein! Sturmgeläut ist es, das sie läutet – Sturmgeläut, dessen eilende Schläge das Echo drüben an der Siebenbürger Grenze wachrufen – –

Gräßliche Angst packt den Doktor, als er diese unheimlichen Glockentöne vernimmt, unbezwingliches Grausen, rasendes Entsetzen schüttelt ihn, eine Gänsehaut überläuft ihn.

Aber der Waldhüter ist durch diese fürchterliche Art erzener Musik munter gemacht worden. Während Doktor Patak ganz in sich zusammenkriecht, richtet er sich kerzengerade auf.

Nik Deck spannt das Ohr. Seine Augen suchen die dichte Finsternis zu durchdringen, von der die Burg umlagert ist.

»Jesus Christus! die Glocke! die Glocke!« schreit der Doktor, »der Schort läutet sie! der Schort und kein anderer!«

Ganz entschieden glaubt er an den Gottseibeiuns, der arme, total von Sinnen gekommene Doktor, und fester denn je!

Der Waldhüter hat kein Glied gerührt, hat mit keiner Silbe geantwortet.

Plötzlich entfesselt sich Gebrüll, das sich anhört wie das Heulen von Nebelhörnern an Hafen-Einfahrten, in tosenden Schallwellen. Der Weltenraum wird in weitem Umkreise durch diesen betäubenden Lärm erschüttert.

Dann schießt ein Lichtstrahl aus dem Mittelturm, eine starke Helle, gesteigert durch Blitze von durchdringender Schärfe und blendende Lichtbündel. Was ist es für ein Herd, der solches gewaltige Licht erzeugt? ein Licht von solcher phänomenalen Stärke, daß seine Ausstrahlungen in langen Schweifen über das ganze Orgall-Plateau ziehen? Was für ein Hochofen ist es, aus welchem dieser photogenische Quell entströmt, der die Felsen in Glut taucht und gleichzeitig mit seltsamer Fahlheit übergießt?

»Nik – Nik!« schreit der Doktor – »schau mich an! – bin ich nicht wie du, bloß Leiche noch?«

Tatsächlich haben sie beide eine Farbe, die an Leichen gemahnt, aschfahl ist ihr Gesicht, die Augen sind verloschen, die Höhlen sind leer, die Wangen schimmern halb gelb, halb grünlich, der Teint sieht aus wie Grau auf Weiß gespritzt, die Haare erinnern an jene Moose, die der Sage nach auf den Schädeln Gehenkter wachsen.

Nik Deck ist entsetzt über das, was er sieht, über das, was er hört. Doktor Patak steht auf dem Gipfelpunkt des Grausens, seine Muskeln knacken, sein Haar steigt zu Berge, seine Pupillen weiten sich, sein Leib wird von Starrsucht befallen. »Er atmet Grausen«, wie der Dichter der » Contemplations« sich ausdrückt.

Eine Minute – höchstens – dauert diese furchtbare Erscheinung. Dann wird das Licht stufenweis schwächer, das Gebrüll verstummt, das Orgall-Plateau versinkt wieder in Schweigen und Finsternis.

Weder der Doktor noch der Waldhüter suchen noch Schlaf. Den Doktor hat der Schreck zu Boden geschleudert, der Waldhüter steht an die Steinbank gelehnt. Beide harren der Frühdämmerung.

Woran dachte Nik Deck angesichts solcher in seinen Augen doch ganz entschieden übernatürlichen Dinge? War auch das nicht imstande, ihn in seinem Entschlusse wankend zu machen? Beharrte er noch immer eigensüchtig auf der Durchführung dieses verwegenen Abenteuers? Ganz gewiß! hatte er doch gesagt, daß er in das Schloß dringen, daß er den Lugturm besichtigen, untersuchen, erforschen werde. Aber war es denn nicht mehr denn genug, bis zu der unübersteiglichen Wallmauer gedrungen zu sein, den Zorn der Hexen und Kobolde wachgerufen, solchen Wirrwarr der Elemente bewirkt zu haben? wer würde ihm, wenn er wieder ins Dorf ginge, noch vorwerfen wollen, daß er sein Versprechen nicht eingelöst, daß er den Wahnsinn nicht soweit getrieben habe, sich durch dieses vom Teufel besessene Schloß zu wagen?

Plötzlich stürzt sich der Doktor auf ihn, packt ihn bei der Hand, sucht ihn wegzureißen, indem er fort und fort mit dumpfer Stimme schreit:

»Komm! komm!«

»Nein!« versetzt Nik Deck – und packt seinerseits den Doktor, der nach dieser letzten Kraftäußerung platt auf die Erde fällt.

Endlich ist die Nacht vorbei und beider Männer Geist in solche Verfassung geraten, daß weder der Waldhüter, noch der Doktor sich der Zeit bewußt gewesen sind, die bis zum Sonnenaufgang verstrichen ist. Nichts haftet in ihrem Gedächtnis von all den Stunden, die dem ersten Frühlicht voraufgehen.

In diesem Augenblick zeichnete sich auf dem Kamm des Paring, am östlichen Horizont, jenseits vom Tale der beiden Sil, eine rosafarbene Linie, und am Zenith streuten sich mattweiße Lichter über einen Himmelsgrund, der streifig war wie ein Zebrafell.

Nik Deck drehte sich nach dem Schlosse. Seine Umrisse hoben sich langsam heraus, der Lugturm löste sich ab von dem über den Vulkansattel emporsteigenden Nebel; Kapelle, Gänge, Bastionen tauchten aus den nächtlichen Dünsten und auf der Eck-Bastion kam die Buche in Sicht, deren Blätter im frischen Morgenwinde raschelten.

Im gewöhnlichen Aussehen der Burg war nichts anders geworden. Die Glocke hing unbeweglich in der Höhe. Die alte Wetterfahne, der Feudalsitze hergebrachtes Wahrzeichen, rückte sich nicht. Aus den Turm-Essen stieg kein Rauch. Die Gitterfenster der Türme waren dicht verschlossen. Ueber der Plattform schwirrten, hell aufkreischend, Vogelschwärme.

Nik wandte die Blicke dem Haupteingange des Schlosses zu. Die Zugbrücke lehnte am Ausfalltor, dessen beide Steinpilaster das Wappen der Barone von Görz zeigten, und sperrte den Zugang.

War der Waldhüter denn noch immer willens, dies verwegene Unternehmen zu Ende zu führen? Ja, und sein Entschluß hatte durch die Ereignisse der Nacht nicht den geringsten Stoß erlitten. »Das Wort gilt« war, wie man weiß, sein Wahlspruch. Weder die geheimnisvolle Stimme, die in der großen Gaststube des »König Matthias« ihn persönlich gewarnt hatte, noch die unerklärlichen Klang- und Licht-Erscheinungen, deren Zeuge er eben gewesen war, sollten ihn hindern an der Ersteigung der Burgmauer. Eine Stunde würde für ihn ausreichen, um die Schloßgänge zu durchwandern und den Lugturm zu besichtigen. Damit hätte er sein Versprechen eingelöst, und dann würde er sich auf den Rückweg nach Werst machen, wo er noch am Vormittag wieder sein könnte.

Der Doktor kam kaum noch in Frage, denn er war nichts anders mehr als eine träge Masse, die weder die Kraft noch auch nur den Willen besaß zu widerstehen. Wohin man ihn stieß, dorthin ging er. Sollte er fallen, könnte er sich nicht mehr aufrichten. Die gräßlichen Erlebnisse dieser einen Nacht hatten ihn vollständig verdummt, und als der Waldhüter auf das Schloß zeigte und »Vorwärts, marsch!« kommandierte, verhielt er sich mucksstill und tat, wie ihm geheißen wurde.

Und doch war es wieder Tag geworden, und der Doktor hätte, ohne Furcht, daß er sich in den Wäldern des Plesa verirren könne, recht gut nach Werst zurück laufen können. Aber es ihm zum Verdienst anrechnen, daß er bei Nik Deck blieb, dazu hätte kein Grund vorgelegen. Er war sich eben der Situation nicht mehr bewußt, war nicht länger mehr ein Leib mit, sondern bloß noch ein Leib ohne Seele. Drum wehrte er sich auch nicht, als der Waldhüter ihn zum Grabenrande zog.

War es nun möglich, auf einem andern Wege als durch das Ausfalltor in die Burg hineinzugelangen? das wollte Nik Deck feststellen, bevor er weiteres unternahm.

Der Wall zeigte keine Bresche, keinen Riß, keinen Spalt, durch den sich ins Innere hätte gelangen lassen. Es war geradezu erstaunlich, daß solch altes Gemäuer sich in so gut erhaltenem Zustande befand. Das ließ sich bloß auf seine Dicke zurückführen. Sich bis zu den Zinnen hinaufzuarbeiten, schien unausführbar zu sein, da sie sich reichlich 40 Fuß über dem Graben befanden. Hiernach gewann es den Anschein, als ob Nik Deck sich von dem Moment an, da er bis zum Karpathenschlosse gelangt war, unüberwindlichen Hindernissen gegenüber sehen sollte.

Zum Glück, oder richtiger zum Unglück für ihn, befand sich über dem Ausfalltor eine Art Schießscharte oder vielmehr eine Stückpforte, aus welcher vor Zeiten das Rohr einer Feldschlange drohend geblickt hatte. Für einen behenden, kräftigen Mann konnte es nun, wenn er sich einer der bis auf den Boden herunterhängenden Zugbrückenketten bediente, nicht sonderlich schwer sein, sich bis zu dieser Stückpforte hinauf zu arbeiten, die breit genug sein mußte, einen Mann hindurchzulassen. Wenn sie also nicht von innen verriegelt wäre, so ließ sich annehmen, daß Nik Deck auf diesem Wege ins Burg-Innere gelangen würde.

Der Waldhüter erkannte auf den ersten Blick, daß es ausgeschlossen sei, auf anderm Wege zum Ziele zu gelangen, und stieg deshalb, von der Puppe Doktor gefolgt, auf einem schmalen, in schräger Richtung steil hinunter führenden Pfade an der Innenwand der Kontreskarpe in die Tiefe. Bald hatten sie die Grabensohle erreicht, die mit wucherndem Unkraut bedeckt und mit Steinen gleichsam übersät war. Wohin man trat, und ob es unter dem Grase dieser feuchten Grube nicht von giftigem Getier wimmle, wußte man freilich nicht. Inmitten des Grabens und der Wallmauer parallel grub sich das Bett des fast ganz ausgetrockneten ehemaligen Abzugskanals, über den man mit mäßigem Satze hinweggelangen konnte.

Nik Deck, der von seiner geistigen und körperlichen Kraft nichts eingebüßt hatte, handelte kaltblütig, während der Doktor ihm mechanisch, wie ein Tier, das am Strick gezogen wird, folgte.

Sobald der alte Abzugskanal hinter ihm war, ging der Waldhüter etwa 20 Schritte am Fuße der Wallmauer hin und blieb dann unter dem Ausfalltor stehen an der Stelle, wo die Zugbrückenkette hing. Mit den Händen tastend und mit den Füßen sich stützend, konnte es ihm keine große Anstrengung kosten, sich zu dem Steinsims hinaufzuarbeiten, der unter der Stückpforte ausgekragt war.

Den Doktor zur Teilnahme an dieser Kletterpartie zu animieren, fiel Nik Deck gar nicht ein. Für solch ein schwerfälliges Individuum wäre das nichts gewesen. Er beschränkte sich darauf, ihn tüchtig zusammenzuschütteln, um ihm begreiflich zu machen, was er vorhatte, und daß er sich, ohne sich zu rühren und ohne zu mucksen, unten im Graben verhalten solle.

Hierauf fing Nik Deck an, sich an der Kette hinauf zu arbeiten. Für seine Bergsteigermuskel war solche Kletterpartie ein Kinderspiel. Als sich aber Patak im Graben unten allein sah, kam ihm bis zu gewissem Grade die Empfindung der Situation, in der er sich befand, zurück. Er begriff, er sah und erblickte seinen Kameraden schon etwa 20 Fuß hoch über dem Erdboden, und nun fing er mit einer von Angst und Furcht erstickten Stimme zu schreien an:

»Halt ein – Nik – halt, halt!«

Der Waldhüter hörte ihn gar nicht.

»Komm – komm – oder ich renne auf und davon!« ächzte der Doktor, dem es gelungen war, sich wieder auf die Beine zu stellen.

»So renne doch!« rief Nik Deck hinunter und kletterte langsam an der Kette weiter hinauf.

Doktor Patak, im Paroxysmus des Entsetzens, wollte nun den in die Kontreskarpe geschlagenen Steig wieder aufsuchen, in der Absicht, zum Orgall-Plateau hinauf und von dort aus, so schnell ihn die Beine trügen und so schnell es der Weg ihm erlaubte, nach Werst zurückzueilen.

O Wunder, vor dem alle diejenigen, die ihn in der verwichenen Nacht entsetzt hatten, zu nichts zerrannen – was ist denn das? er kann nicht vom Flecke, die Füße sitzen fest am Boden, wie zwischen einer Zange – kann er noch einen vor den andern setzen? nein, auch nicht! sie sitzen an Hacken und Sohlen fest – ist der Doktor etwa in ein Fangeisen geraten? er ist von Schreck und Angst zu sehr benommen, um den Sachverhalt festzustellen – es scheint vielmehr, als hielten ihn die Nägel fest, mit denen seine Sohlen beschlagen sind.

Gleichviel wie es sich verhalten mag, der arme Kerl ist an den Fleck genagelt und kann sich nicht rühren – er streckt voll Verzweiflung die Hände aus, ganz so, wie wenn er sich den Umschließungen eines schrecklichen Ungetüms, dessen Rachen aus dem Erdinnern aufragt, zu entwinden trachtet.

Mittlerweile war Nik Deck bis zur Höhe des Ausfalltors hinauf gelangt und hatte eben nach einer der eisernen Haspen gegriffen, in denen die Angeln der Zugbrücke liefen, – da entrang sich ihm ein Schrei, – dann schnellte er, wie von einem Blitzschlag getroffen, rückwärts – dann schoß er an der Kette, nach der er, von einem letzten Instinkt geleitet, wieder gegriffen hatte, wieder hinunter und kollerte bis auf die Grabensohle.

»Die Stimme hatte es ja gesagt, daß mich ein Unglück ereilen würde!« murmelte er und verlor das Bewußtsein.

 

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© Thomas Lehmann

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