Ludwig Ganghofer
Kapitel 6-10
Kapitel 6
Als die Sterne funkelten und der Nachtwind rauschend von den Felswänden hinunterfuhr isn finstere Tal, suchte Friedl mit kochendem Blut den Heimweg zur Jägerhütte. Schlaflos warf er sich die ganze Nacht auf seinem Heubett herum, tobenden Zorn in jedem Gedanken. Dass Blasi der von allen Jägern gehasste und gesuchte Neunnägel wäre, daran hatte er nie im Traum gedacht. Nun er es wusste, und alles andre dazu, vermeinte er kaum den Morgen erwarten zu können, um hinauszuziehen in den Bergwald und jeden frischen Fußtritt auf der Erde zu prüfen. Keiner ehrlichen Jägerkugel hielt er diesen Menschen wert! Fangen wollte er ihn, greifen und fesseln, wie man den Dieb fesselt, der zur Nacht in die Stille der Häuser bricht. Stoß für Stoß wollte er ihn vor sich hertreiben, den ganzen Weg bis zur Schwelle des Landgerichtes zu Tölz, auf offener Straße mitten durch Lenggries hindurch, um ihn der verdienten Schande preiszugeben.
Es dauerte lang, bis in Kopf und Seele des Jägers der erste Wutsturm sich ausgetobt hatte. Als er ruhiger wurde, kam gleich der Gedanke: Da muss man helfen! Modeis Bild, ihr Kummer, ihr zerbrochenes Leben stieg vor seinen Augen auf. Und wie er sich auch wehrte dagegen, er konnte es nicht hindern, dass neben dem Willen zur Hilfe auch Träume von kommendem Glück sich rührten in seinem Herzen. Wohl sprach er sich in der finsteren Nacht mit lauten Worten vor, wie grundschlecht das wäre: Bei allem Gram des armen Mädels an seine eigene Liebe, an sein eigenes Herz zu denken. Aber die heißen Wünsche, die er seit Jahren mit Gewalt in sich unterdrückt hatte – nur seiner Mutter gegenüber war ihm in einer schwachen, dürstenden Stunde das verschlossene Herz aufgesprungen – flammten nun gegen seinen Willen auf, wie ein von der Luft abgesperrtes Feuer im leisesten Windhauch auflodert, nachdem es mit halberstickter Glut die Pfosten und Balken dörrte. Da sah er sich schon zu Hause sitzen, in der kleinen, gemütlichen Stube, an der Seite des geliebten Weibes, erfreut und erheitert durch das drollige Lachen des Kindes. Das Kind! – Da fiel dem Jäger seine Mutter ein, die nach einem schweren, an Sorge und Mühsal reichen Leben streng über solche Dinge urteilte – und die Worte kamen ihm in den Sinn, die ihm die alte Frau zum Abschied auf der Türbrücke ins Ohr gesprochen hatte.
Und war es denn nicht das Kind des Verhassten? Nein, nein! Ihr Kind war es, ihr Kind allein! Das waren die gleichen dunklen, tiefen Augen, das war die Farbe ihres Haars, das war das gleiche Grübchen im Kinn, und aus dem Lallen des Kindes hörte er immer die linde Stimme der Mutter. Nur ein paar Mal hatte er das kleine liebe Ding gesehen und trug es schon in seinem Herzen wie sein eigen Fleisch und Blut. Nur die Leute, die Leute – und –
Aber war er selbst denn ohne Sünde, frei von jeder Schuld gegen Gott und Menschen? Er dachte an die Kirche und sah sich im Beichtstuhl auf den Knien liegen. Immer und alles hatte ihm der Pfarrer verziehen, dieser unfreundliche Herr, der die Jäger nicht leiden konnte, weil sie ihm kein Wildbret zum Präsent machten, wie es die Raubschützen taten. Und er, er sollte nicht vergessen und nicht verzeihen können, nicht einmal dieser Einzigen, an der sein Leben hing?
Dann wieder überlief ihn kalt der Gedanke, wozu er das alles dachte und hoffte? Wie sollte denn sie ihm gut werden können, da sie ihn schon verworfen hatte durch die Wahl eines anderen, freilich ohne zu wissen, was er in seinem Herzen für sie empfand. Und jetzt sollte sie ihm gut werden, jetzt, wo die Tränen um den andern noch auf ihren Wangen brannten? Gerade jetzt sollte sie Liebe empfinden können, da Liebe sie so grausam getäuscht und verraten hatte?
Es hielt ihn nicht länger auf dem schwülen Heubett. Er sprang auf und trat ins Freie. Die Kühle der Nacht tat ihm wohl, und er setzte sich draußen auf die Holzbank, um so den Morgen heranzuwachen. Über ihm blinkten die Sterne, in der schwarzen Runde rauschten die Bäume, und drunten auf dem Jagdsteig sang das Geplätscher des kleinen Wasserfalles. Ruhelos stritten in der Seele des Jägers die springenden Gedanken. Aber hell und laut in aller kämpfenden Qual sprach immer wieder die Stimme seiner Hoffnung.
Als nach Stunden die Sterne erloschen waren und über den Felshang die ersten falben Lichter nieder flossen, erhob sich Friedl. Eine bleierne Müdigkeit lag in seinen Gliedern. So matt und zerbrochen hatte er sich noch nie gefühlt, wenn er von der ersten Dämmerung bis in die sinkende Nacht umhergeklettert war in den unwegsamsten Steinwänden, oder wenn er den schwersten Hirsch auf dem Rücken hinunter getragen hatte nach Fall, um das Liefergeld zu verdienen. Langsam ging er den Steig hinunter bis zum Bach; dort legte er die Kleider ab und stellte sich unter den klatschenden Wasserfall, dessen Kälte ihn erfrische und die Kraft seiner Knochen wieder aufrüttelte.
In die Jagdhütte zurückgekehrt, brachte er Schlafstube und Küche in Ordnung; dann zog er aus, mit dem Hund an der Leine. Als er bei hellem Morgen die Lärchkoglalm erreichte, trat er in eine der Hütten und ließ sich eine Schüssel mit frischer Milch reichen. Halb trank er sie leer und stellte den Rest für Bürschl auf die Erde. Und weiter!
Still war es im Bergwald. Unter den Bäumen lag noch der Frühschatten, der Tau noch auf den moosigen Steinen.
Wie Balsam auf brennende Wunden, so legte sich die Bergwaldstille auf Friedls heiß erregtes Gemüt. Und als er nach diesem langen, einsamen Tag unter Modeis Türe trat und dem blassen Mädel zum Grüßgott die Hand reichte, waren die Bangnisse der verflossenen Nacht von seiner Stirn gewischt. Sein Auge blickte freundlich, sein Mund konnte lächeln.
Tag um Tag verging. Und Abend um Abend kam Friedl zur Grottenhütte und brachte entweder einen Strauß frischer Blumen oder einen absonderlichen Wurzelauswuchs zum Schmuck der Hüttenwand, oder sonst ein Ding, wie es die Aufmerksamkeit ihn suchen, der Zufall des Weges ihn finden ließ. Immer war er der gleiche, der gleich Freundliche. Nie kam ein Wort über seine Lippen, das Modei nur leise an die Vergangenheit erinnern oder in ihr die Ahnung hätte wecken können, dass Friedl um alles wusste. Heiter plauschend saß er am Herd und guckte zu, wie Modei still und ruhig ihre Arbeit tat, oder er lauschte den verworrenen Geschichten ihres Bruders, für den der Tag immer erst begann, wenn Friedl des Abends in die Hütte trat. War alles getan, was das Tagewerk der Sennerin erfordert, so saßen die drei oft stundenlang noch beisammen vor der Hüttentür. Da nahm dann Friedls Modeis Zither auf die Knie und sang von seinen kleinen Liedern eines, oder Modei spielte selbst einen Ländler, und Friedl plauderte dazu von der Zeit, da sie als Kinder auf den Straßen und Wiesen von Lenggries noch „Blindekuh“ und „Fangemanndl“ gespielt hatten. Er dachte auch daran, wie Modei in die Schule kam, während er schon in der letzten Klasse saß, und wie er sie oft vor den groben Späßen der anderen Schulbuben in Schutz genommen hatte. Davon aber schwatzte er nicht, er lächelte nur still vor sich hin, wen ihm das einfiel.
Diese wandellose Freundlichkeit des Jägers blieb auf Modei nicht ohne Wirkung. Stille Ruhe legte sich auf ihr Herz und Denken; von Tag zu Tag milderte sich die strenge Falte zwischen ihren Brauen; und gerne lächelte sie zu einer von Friedls lustigen Geschichten. Stark, entschlossen und besonnen, wie ihr Schicksal sie gebildet hatte, war sie in einem einzigen Schmerz mit allem Vergangenen und mit allen Klagen fertig geworden und dachte jetzt nur noch an eine Zukunft notwendiger, unermüdlicher Arbeit. Freilich lag das Gefühl der Einsamkeit wie ein drückender Stein auf ihrem Leben. Lenzl war über seine Jahre gealtert, zuzeiten recht griesgrämlich und für die Schwester mehr ein Gegenstand der Sorge als ein stützender Kamerad. Und das Kind, dem nun ihr ungeteiltes Herz gehörte und für das ihre Hände rastlos arbeiteten, war weit von ihr, war fern ihrer Zärtlichkeit und ihrem Liebesbedürfnis.
Da empfand sie die freundliche Art und Weise Friedls wie einen starken und warmen Trost. Wenn er sich bei Anbruch der Nacht von der Bank erhob und dem Lenzl für den nächsten Abend das Wiederkommen versprach, hörte sie das gerne mit an. Und wenn er ging, und sie sah ihm nach, dann schlichen ihr unwillkürlich vergleichende Gedanken durch den Kopf. Aber das erregte in ihr auch wieder den Ekel über das Vergangene und den Unmut über alles in ihr selbst, was solch ein Vergangenes erlaubt und ermöglicht hatte. Und wenn sie zur Ruhe ging, lag sie oft lange Stunden noch schlaflos in ihrem Kreister und dachte zurück an alles Geschehene: Wie sie als junges Mädel, fast noch als Kind, auf die Alm heraufgezogen, wie sie sich so unglücklich, so von Gott und Menschen verlassen gefühlt hatte, und wie Blasi eines Abends, nach einem schweren Unwetter, zum ersten Mal in ihre Hütte getreten war und bei ihrem Anblick gestutzt und gelächelt hatte. Nicht der schmucke Bursch mit den blitzenden Augen, nicht seine zärtliche Wendung, nicht seine kosenden Liebesworte hatten sie zu der unseligen Neigung beredet. Ihre Verführer waren die Einsamkeit und die Liebessehnsucht ihres jungen Herzens gewesen. Und lange schon, bevor sie Blasis wahre Natur in ihrer üblen Hässlichkeit erkannte, hatte sie in Schmerz die Torheit des eigenen Herzens erkennen müssen. Hätte nur Friedl mit seinem wohlmeinenden Rat ihr in jener einsamen Zeit zur Seite gestanden! Dann wär’ es nicht so gekommen, alles wäre anders – und besser! Es war Modei seltsam zumut, als sie sich über diesem Gedanken ertappte; aber auch bei klarem Bewusstsein konnte sie ihm nicht unrecht geben. War Friedl nicht auch jetzt ihr guter Berater, wenn auch nur bei den kleinen Sorgen ihres Almhaushaltes? Und das wusste sie: Wenn sie jemals in ernster Sorge was zu fragen hätte, dann würde Friedl nur raten zu ihrem Besten.
So zehrte sie von seinem freundlichen Entgegenkommen, auch wenn er ihr ferne war. Und wenn sie selbst nicht an ihn dachte, plauderte Lenzl von ihm, immer wieder, mit einer Wärme und Anhänglichkeit, die Modei oft lächeln machte.
Kam der Abend und jammerte Lenzl, dass Friedl heute „so endslang“ ausbliebe, dann stellte sich Modei wohl unter die Hüttentür und blickte wartend hinunter nach dem Steig.
Wieder einmal ging es auf den Abend zu. Modei hatte ihre Arbeit früher als gewöhnlich beendet, und eben trug sie, vom Brunnen kommend, eine Butte mit Trinkwasser zur Hüttentür, als drunten auf dem Almsteig langsame, schwere Tritte klangen. Sie hielt inne und horchte. Friedl war das nicht, sie kannte seinen Schritt.
Aus der Tiefe tauchte die Gestalt eines älteren Mannes herauf; sein Gewand zeigte eine seltsame Mischung städtischer und bäurischer Tracht: Eine lange, blau und grün karierte Hose, die Lodenjoppe und die schweren Bergschuhe, auf dem Kopf eine alte Ulanenmütze mit großem Lederschild, hinter dem Rücken der Bergsack, in der rechten Hand ein Hakenstock von spanischem Rohr, und eine große blaue Brille auf der gebogenen Nase, die über struppigem Bartgewuschel glänzte wie ein nackter, im Abendschein erglühender Fels über dunklem Latschengestrüpp.
„Grüß dich Gott, Modei!“
„Jeh, der Doktermartl! Was suchst denn du heut noch bei mir daheroben?“
„Lass mich nur grad a bissl verschnaufen, nacher wird sich alles finden!“ Mit blauem Taschentuch den Schweiß von der Glatze trocknend, kam der Doktermarktl auf die Hütte zu und trat hinter Modei in die Stube.
Doktermartl? Vor langen Jahren, als er zu Dillingen bei den Ulanen gedient hatte, war er Gehilfe des Regimentsveterinärs gewesen. In die Heimat zurückgekehrt, versuchte er das in solcher Stellung errungene Wissen an den Pferden und Hunden von Lenggries und an den Kühne der umliegenden Almen. Er „dokterte“. Und diesen, frei von ihm, ohne Wissen und Zustimmung der Behörde gewählten und ausgeübten Beruf vereinigte der Volksmund mit seinem Vornamen zu dem Ehrentitel: Doktermartl.
Auf allen Almen zwischen Lenggries und Hinterriß war er bekannt und wenn auch kein ungern gesehener, doch ein ungern gerufener Gast. Auch auf der Grottenalm hatte er in den letzten vierzehn Tagen des öfteren vorgesprochen, um nach Modeis kranker Kuh zu sehen. Deshalb konnte er heut nicht kommen; die Patientin war schon wieder gesund, und eben klang der Ton ihrer Halsglocke von der Höhe her, während Lenzl die kleine Herde der Milchkühe einsammelt ein den Stall.
Martl erzählte der Sennerin, er käme von der Lärchkoglalm herüber, wo es mit ein paar Kühen wieder recht schlecht stünde, und da möchte er im Vorbeispringen nur ein paar Minuten in Modeis Hütte rasten.
Dem Mädel erschien es wunderlich, dass man, um ein paar Minuten zu ruhen, einen Umweg von einer Stunde macht. Dazu kam noch, dass der Doktermartl ein bisschen konfus von fern liegenden Dingen zu schwatzen begann, das Gespräch wieder stocken ließ, verlegen wurde und von was anderem zu reden anhub. Modei trat vor den Alten hin und fragte kurzweg: „Martl, du willst was? Plag dich net lang mit Ausreden und sag’s grad aussi!“
„No also, ja, der Blasi schickt mich.“
Nicht eine Miene zuckte in dem Gesicht des Mädels. „Und?“
„Ja, gfragt is gleich, aber gsagt is so ebbes net so gschwind. Schau, du musst es ihm net verübeln, dass er mich in dö Sach hat einischauen lassen! Gwiss wahr, von mir erfahrt kein Sterbensmensch a Wörtl.“
„Meintwegen brauchst du ’s Reden net verhalten. Aber ich mein’, der Blasi müsst dir von eh a guts Wörtl geben haben, dass d’ über ihn nix rumredst.“
Martl zuckte schmunzelnd die Achseln. „Kann leicht sein auch. Also, gestern hab ich ihn drunt in Lenggries auf der Post troffen. Da hab ich ihm so ganz zufällig verzählt, dass ich heut auf d’ Lärchkoglalm auffi müsst, ja, und da hat er gmeint, ich kunnt am Heimweg wohl dös Katzensprüngl daher machen, um an dich a verschwiegene Botschaft –“ Martl stockte, weil Lenzl in die Stube trat.
„Kannst unscheniert weiterreden“, sagte Modei, „vor meim Bruder hab ich nix Heimlichs.“
„Mir kann’s recht sein!“, meinte der Doktermartl. „No und da hat mir halt nacher der Blasi d’ Hauptsach a bissl ausananderdeutscht. Du sollst net glauben, lasst er dir sagen, dass er auf sei’ Schuldigkeit vergessen tät. Weil’s halt amal sein muss, schau, da hat er gmeint, es wär doch besser, wann man in Fried und Güt ausanander käm. Du hast mit’m Kindl Sorgen und Kösten gnug, und da wär’s net mehr als billig von ihm, hat er gsagt, dass er dich entschädigen tät, weißt, und da hat er selber so an zweihundert Markln denkt.“
„So? Dös lasst er uns sagen? Der Lump!“, schrie Lenzl in galligem Zorn. „Was d’ Schwester tut, dös weiß ich net. Aber von mir kannst dem saubern Herrn sagen, dass ich mir ganz gut denken kann, woher ihn sein Gwissen druckt. Er war wohl schon beim Avakaten, der ihm gsagt hat, dass derselbig Wisch, den d’ Modei unterschrieben hat, niemals a grichtliche Gültigkeit haben kann. Und da kannst ihm ausrichten von mir –“
„Sei stad, Lenzl!“, unterbrach ihn die Schwester. Die Hände an der Schürze trocknend, ging sie auf den Doktermartl zu und sagte ruhig: „Ich kann mir gar net denken, wie der Blasi dazu kommt, an mich so a Botschaft ausrichten z’ lassen. Er hat’s ja schwarz auf weiß, dass er zu meim Kindl in keiner Verwandtschaft steht. Und ich setz den Fall, es wär anders, so hab ich’s selber schon lang vergessen. Wann’s auch grad kei’ Ewigkeit her is, dass ich mich mit’m Vergessen abgib – du als Dokter weißt ja selber am besten, dass gwisse Medizinen a bissl arg schnell wirken. Im übrigen kannst ihm sagen, dass ich kein Geld net brauch. Und wann ich eins brauchet, käm der Blasi lang nach’m letzten, von dem ich eins haben möchte. So, jetzt wären wir mit der Botschaft fertig. Jetzt kannst mir wieder verzählen, wie’s mit’m Vieh am Lärchkogel steht. Dös interessiert mich.“
Verdutzt guckte Martl in das ernste Gesicht des Mädels, ratlos, was er da erwidern sollte. Nach dem, was Blasi ihm mitgeteilt hatte, war er auf eine andere Wirkung seiner Botschaft gefasst gewesen. Den ganzen Weg über hatt er sich auf sanfte und kluge Trostworte besonnen, um sie bei einem heftigen und tränenreichen Auftritt lindernd zu verabreichen. Und nun! Schweigend saß er da, rückte verlegen die Brille und war herzlich froh, als Stimmen, die sich draußen näherten, ihm Veranlassung gaben, ins Freie zu treten. Lenzl folgte ihm, während Modei unter der Türe stehen blieb.
Über den höheren Berghang kam die alte Punkl heruntergestiegen, mit Monika, ihrer Hüttennachbarin, einem drallen, runden Mädel, das lustig jodelte, wenn auch manchmal ein bisschen falsch. Lenzl schnitt dazu eine wehleidige Grimasse und schalt über den Hang hinauf: „Du! Hörst net auf, da droben! Dös fahrt eim ja wie a Stricknadel in d’ Ohrwascheln eini!“
„Geh, sei net so grantig!“, antwortete die gut gedrechselte Sennerin. „Mich freut halt ’s Leben. DA muss ich allweil dudeln.“
„Dös glaub ich, dass d’ heut gaggerst wie a Henn, wann s’ glegt hat. Meinst, ich hab’s net gesehen, wer heut in der Fruh aus deiner Hütten aussigschloffen is?“
Das Mädel lachte. „Verschaut hast dich!“
„Ja, lach nur, du!“ Lenzl wurde ernst. „Und wart drei Vierteljahr! Da fallt dir in die’ süße Musi a Tröpfl Essig eini.“
„Meintwegen! Jetzt bin ich noch allweil bei der Süßigkeit.“ Das Bein hebend, schrie Monika einen vergnügten Jauchzer in den schönen Abend hinaus.
Lenzl schüttelte den Kopf. „Da is eine wie die ander. Es wird halt so sein müssen. Sonst tät der Nachwuchs auslassen.“ Gleich einem Betrunkenen kreischte er ins Leere: „Du, Lisei, weißt es schon –“ Verstummend griff er wie ein Erwachender mit der Hand nach seiner Stirn und murmelte: „Jetzt glaub ich bald selber, dass ich a Narr bin.“
Bei der Stalltür sah der Doktermartl die gesund gewordene Blässin grasen. „No also“, rief er über die Schulter zur Modei hinüber, „gelt, ich hab dir’s gsagt: Dö macht sich wieder! Am Inkreisch hat’s ihr halt a bissl gfehlt. Dö hat beim Grasen ebbes Scharfs derwischt. So ebbes vertragt a jeder Magen net. Es ist mit’m meinigen grad so. Auf den muss ich aufpassen wie auf a kleins Kind. Bei der zehnten, zwölften Maß Bier macht er schon allweil Mannderln wie a derschrockener Kiniglhaas. Jaaa, Madl, wann sich die Blässin wieder amal überfrisst und a bissl schwermütig dreinschaut, nacher gibst ihr mein Trankl wieder und redst recht lustig mit ihr. Bei allem, was eim weh tut, Mensch oder Vieh, hat a fidels Gemüt a segensreiche Vereinflussung. Der Traurige stirbt allweil früher als wie der Lustige. Dös is a Naturgsetz.“ Er schnupfte.
Mit den Gedanken bei anderen Dingen, sagte Modei: „Weil mir nur grad dös Stückl Vieh wieder gsund is.“
„Nur nie verzagen!“ Martl hobelte mit dem blauen Taschentuch über die Nase hin und her. „Und allweil auf Gott vertrauen!“
„Freilich, ja! Und selber gut aufpassen.“
„Da kommt er am weitesten, der Mensch. Unser Herr Pfarr is voller Gottvertrauen. Aber wann er Hunger hat, verlasst er sich lieber auf sei’ Köchin.“
Müde lachend trat Modei in die Sennstube.
Hinter der Hütte droben, wo der Almbrunnen war, hatten Punkl und Monika ihre Wasserbutten niedergestellt. Da überholte sie ein knochiger Graukopf, dessen gedunsenes, von blauen Äderchen durchzogenes Gesicht die Diagnose auf chronischen Suff ermöglichte, ohne dass man medizinische Kenntnisse zu haben brauchte. Es war der alte Veri, der emeritierte Lenggrieser Nachtwächter, der in Monikas Hütte als Hüter eingestanden war. Auf dem Rücken trug er eine Kraxe, die mit dem Almgewinn der Woche beladen war. Der Alte musste an den zwei Weibsleuten beim Brunnen vorüber. Dabei ging es anscheinend ganz friedlich zu. Dennoch hörte man die Punkl kreischen: „Jesses, jesse, hörst net auf! Ich schrie, wann net aufhörst!“
„Lass mir lieber du mei’ Ruh!“, schimpfte Veri mit rauem Bierbass und wackelte über den Steig zur Hütte herunter.
„He, Mannderl, was is denn?“, rief ihm der Doktermartl entgegen. „Du wirst doch net auf die alte Punkl an Husarenangriff gmacht haben?“
„Ah!“ Ein Schwur empörter Verneinung lag in diesem kurzem Laut.
„Der is froh“, meinte Lenzl, „wann die Punkl ihm nix tut. Gelt, Veri?“
„Lass mir mei’ Ruh!“, knurrte der Alte und klapperte gegen den tieferen Steig hinüber.
„Musst abtragen?“, fragte Martl. „Oder reißt dich der Zug deines Hörzens wieder ins Wirtshaus abi?“
„Ah!“ Das klang wie ein hundertfaches Nein in einem einzigen Wort.
„Troffen hast es!“, nickte Lenzl. „Dem sein Schutzpatron is der heilige Fasselianus, der auf’m Nabelfleck a Spundloch hat.“
„Lass mir mei’ Ruh, du!“, gähnte Veri und tauchte über die Steigstufen hinunter.
„Soll er halt saufen!“, philosophierte Martl. „Ebbes muss der Mensch allweil haben, was ihn freut. Dös is a Naturgsetz. ’s Kinderglachter hört auf und d’ Liebsnarretei fangt an. Hinter die süßen Seufzer kommt ’s Schwitzen bei der Arbet. D’ Arbet macht Durst, und so verfallst auf’n Suff. ’s Leben is allweil an Übergangl. Und allzeit brauchst a Weibsbild dazu. ’s Wiegenkitterl zieht dir d’ Mutter aus, ’s Hochzeiterhemmed spinnt dir dein Bräutl, und ins kalte Leichenfrackl hilft dir an alts Weib eini. Ohne Hilf kommt der Mensch net aus, und für a Mannsbild is d’ Vielweiberei a Naturgsetz.“
Vom Almbrunnen klang die Stimme der Monika: „Je, Doktermartl, du bist da!“
„Geh, komm abi, du runde Erfindung Gottes! Nach deine Küh hab ich mich schon umgschaut auf der Weid. Jetzt musst mir noch sagen, wie’s dir geht.“
„Net schlecht!“ Das Mädel hopfte über den buckligen Rasen herunter, wandte sich, höhlte die Hände um den Mund und rief zum Brunnen hinauf: „Höi! Punkl! Komm abi!“
Die Alte droben guckte. „Was hast gsagt?“
„Abi sollst kommen!“, grillte Monika im höchsten Diskant. „Der Martl is da.“
„Jessas, ja, gleich, bloß d’ Händ muss ich mir waschen.“
Lenzl gab den Ratschlag: „Da soll s’ ihr Gsicht auch gleich mitspülen, dass man ’s Häutl wieder amal sieht.“
„Bei mir macht s’ deswegen doch kei’ Eroberung!“, lachte der Doktermartl.
„Im Alter täts ös zwei grad zammpassen.“
„Was? Ich bin noch in die besten Jahr. Aber die Punkl is schon älter als wie der luthrische Glauben.“
„Du, da hast sparsam grechnet!“, kicherte Monika. „Die is schon älter, als Gott allmächtig is. Bei der Punkl wird d’ Nasen schon grau.“
Jetzt kam die Alte. „So, da bin ich. Grad freuen tut’s mich, dass da bist, Martl! Hab dich schon lang ebbes fragen wollen. Für an Menschen wirst wohl auch an Rat haben, wann auch bloß fürs Vieh gut bist.“
„Da bin ich grad der richtige für dich. No also, wo fehlt’s denn? Musst mir halt von deim Leiden a Bild machen.“
„Na, naaa –“ Errötend schüttelte Punkl den grauen Zwiebelkopf. „Auf Ehr und Seligkeit, bei mir is kein Mannsbild gwesen.“
Martl brüllte ihr ins Ohr: „Wo’s fehlt, hab ich gfragt.“
„Ah so? Ja, schau, mir is allweil so viel entrisch, net recht und net schlecht, ich weiß net, wie. Drucken und stechen tut’s mich, allweil tut’s a so wumseln in mir, und überall hab ich Kopfweh.“
„Was?“ Martl macht eine alles umfassende Handbewegung. „Überall?“
„Jaaa, grad da hab ich’s am allerärgsten.“
„Teifi, Teifi, Teifi! Bei dir findt halt ’s Kopfweh kein’ Kopf net, weißt, und verschlagt sich nach alle Windrichtungen.“ Der Almhippokrates zeigte ein ernstes Gesicht. „Dös is a bedenklicher Kasus.“
„Ah naa, Kaas hab ich heut kein’ gessen. Rahmnockerln hab ich mir gmacht.“
„Mar’ und Joseph! Rahmnockerln? In dem Zustand!“ Martl schüttelte sorgenvoll das Haupt. „O du arme Seel! Da wirst sterben müssen.“
Während die zwei anderen lachten, rundeten sich die Augen der Alten in wachsender Angst: „Herr jöises, jöises, jöises!“
Mit dem Kinn in der Hand, studierte Martl das Aussehen der Patientin und brüllte: „Wie! Streck amal dein Züngl aussi!“
Punkl tat es.
„Lang gnug wär’s!“
„Was hast gsagt?“ Nach dieser flinken Frage puffte die Alte gleich den krebsroten Lecker wieder heraus.
„Dein Pratzl tu her! Dass ich den Geblütschlag visatieren kann.“
„O heilige Maaarja!“, klagte Punkl. „Was meinst denn, dass mir fehlt?“
Er schrie ihr ins Ohr: „Jetzt drah dich um a bissl!“
Die Patientin begann obstinat zu werden. „Na, na, na, dös tu ich net. Hint aussi fehlt mir gar nix. Da bin ich gsund.“
„Umdrahn, sag ich! Der Dokter muss alls beaugenscheinigen.“ Martl wirbelte die Alte energisch herum und legte das Ohr an ihren Rücken, tief unten, wo er schon anfängt, anders zu heißen. Und während die Alte sich in steigendem Schreck bekreuzigte, staunte der Medikus: „Herrgottsakra, da drin rumpelt’s wie in der Kaffeemühl!“ Kopfschüttelnd richtete er sich auf. „Da kenn ich mich noch allweil net aus. Wärst a Kuh, so wüsst ich schon lang, wie ich dran bin mit dir. Aber ’s Menschliche hat seine Hakerln. Tu mir amal dein’ Zustand a noch bissl diffanieren!“
„Mein, es tut mich halt gar nix freuen!“, trenzte die Alte wie ein Kind, das nah am Weinen ist. „Bald tut’s mich frieren, bald muss ich schwitzen. Und allweil betrüben mich so gspaßige Traurigkeiten. Allweil tu ich ebbes mängeln und weiß net, was. Und so viel harte Nächt schickt mir der liebe Gott! Ich sag dir’s, Martl: Oft liegt’s mir wie a paar Zentner auf der Magengrub. Und allweil muss ich von die Mannsbilder träumen.“
„Ah sooooo?“ Weil die zwei andern lachten, zürnte der weise Mann: „Dös is fein gar nix zum Lustigsein! Dös is a gfahrlicher Zustand!“
„Jöises, jöises, jöises!“ Unter Tränen streckte Punkl die Zunge wieder heraus.
Da sagte Lenzl mit wunderlich schrillen Lauten: „Ich kunnt dir schon sagen, was dir fehlt! Hungerleiden is hart. Bloß ich kann’s. Die andern sterben dran.“ Seine Augen irrten, während er mit der Hand die Stirne rieb. „Was hab ich denn sagen wollen?“ Er sah die Alte an und konnte lachen.“
„Ös zwei! Geht’s a bissl auf d’ Seiten!“, befahl der Doktermartl. „Jetzt muss ich mit der Punkl medazinisch reden.“
„Ui jegerl!“ Kichernd zog Monika den Lenzl zum Stall hinüber. Und Punkl fragte in Angst: „Was is denn? Was is denn? Is dös ebbes Ansteckets? Oder muss ich ebba schon bald sterben?“
Martl wollte reden, blieb stumm und besann sich.
„Malefiz noch amal, wie mach ich denn jetzt dös?“
„Was hast gsagt?“
Er brüllte der Alten ins Ohr: „Mit dir lasst sich ’s Medazinische schwer verhandeln. Weil man schreien muss, dass d’ Leut alles hören.“
„Muss ich sterben?“, wimmerte Punkl. „Muss ich sterben?“
Ohne ihre Klage zu beachten, rief Martl zum Stall hinüber: „Ös zwei! Halts enk d’ Ohrwascheln a bissl zu!“ Gleich steckten die beiden ihre Zeigefinger als Stöpsel in die Ohren.
„Martele, liebs Martele, so sag mir doch um Gotts willen: Muss ich sterben?“
„Ah na! Du kannst hundert Jahr alt werden. Aber plagen wird’s dich noch bis an dein tugendhäftiges Lebensende. Dös is a Naturgsetz.“
Um der hundert Jahre willen wagte die Alte ein bisschen aufzuatmen. „Was hab ich denn nacher für a Leiden?“
Mit Löwenstimme verkündete der Isartaler Äskulap: „D’ Altjungfernkrankheit hast! Da hat sich ’s verhaltene Geblüt auf d’ Nerviatur gschlagen. Und dös wumselt und rumpelt a so in dir. Naturgesetz! Da kannst nix machen. D’ Unschuld is ebbes Schöns. Aber wann s’ gar z’ lang dauert, hat s’ ihre Mucken. Da säuerlt s’ in eim Menschen wie ’s Bier im überständigen Fassl!“
„Gelt, ja? Gelt, ja?“, pflichtete Punkl in heißem Eifer bei. „Oft schon hab ich mir denkt: Ich hätte net so fest bleiben sollen vor a zwanzg a dreißg Jahr. Jetzt hab ich den Schaden. Jöises, jöises! Aber da wird man ja doch um Gotts willen noch helfen können?“
„Bei dir?“ Nach kurzer Betrachtung der Patientin erklärte Martl entschiedne und im reinsten Hochdeutsch: „Nein!“ Dann rief er zum Stall hinüber: „So, ös zwei, kommts wieder her da!“
Nachdenklich kraute Punkl sich hinter den Ohren und murmelte vor sich hin: „Da muss ich mich a bissl umschaun – dass ich mei’ Gsundheit wieder find.“
„Grüß Gott beinander!“, klang die Stimme Friedls, der über den Hang des Steiges herauftauchte. Ihm voraus lief Bürschl, der winselnd in der Hüttenstube verschwand.
Von allen wurde Friedl begrüßt. „Schau, schau“, sagte Monika, als sie ihm die Hand reichte, „bist schon wieder da? Seit vierzehn Täg is ja der Modei ihr Hütten ’s reine Pirschhäusl! Da geht der Jager aus und ein wie der Pfarr in der Sakristei.“
„Sei net neidisch!“, fiel der Doktermartl ein. „Du wirst auch dein’ trosthaften Kapuziner haben!“
Lachend versetzte ihm das Mädel ein Puff und ging zum Brunnen.
Der Jäger stieg zur Hüttentür hinauf. Als er an Lenzl vorbeikam, fragte er leise: „Wie geht’s ihr denn?“
„Gut!“, flüsterte Lenzl, während Friedl Gewehr und Bergstock neben der Tür an die Hüttenwand lehnte. „Modei, geh, komm aussi, es is wer da!“
„Ja“, klang die Stimme der Sennerin aus der Hütte, „der Bürschl hat sein’ Herrn schon bei mir angmeldt.“ Modei trat unter die Tür und reichte dem Jäger die Hand. „Grüß dich Gott! Wie geht’s dir denn?“
Friedl lachte mit heißem Gesicht. „Gut geht’s mir, jetzt schon gar!“
„Bist gestern auf d’ Nacht gut heimkommen?“
„Gwiss auch noch! Wirst dich doch net gsorgt haben um mich?“
„Mein, weil’s gar so finster war, wie d’ fort bist. Aber jetzt musst mich schon a paar Minuten verentschuldigen, bis ich drin vollends zammgräumt hab. Schau, hast ja derweil Gsellschaft da.“ Modei nickte ihm lächelnd zu und kehrte in die Hütte zurück.
„Lass dich net aufhalten!“, rief ihr Friedl nach. „Z’erst d’ Arbeit und nacher ’s Vergnügen, sagt der Herr Pfarr, wann er von der Kirch ins Wirtshaus geht.“ Er trat zu den andern.
„Soooo!“, sagte eben der Doktermartl nach einer ausgiebigen Prise seines Schnupftabaks. „Jetzt hab ich klare Augen für’n Heimweg.“
„Aber! Martl! Du wirst doch net gehen, grad weil ich komm?“
„Ah na! Mit dir bin ich allweil gern beinand, du Seelenräuber!“ Freundlich betrachtete Martl den Jäger. „Aber es tut schon baldzwielichtln, der Heimweg is weit, und müd bin ich. Der Diskurs mit die vielen Rindviecher hat a geistige Abspannung bei mir veranlasst. Ja, mein Lieber! ’s Doktern! Dös is an aufreibende Arbet. D’ Viecher mach ich gsund, und ich selber geh drauf dabei. No also, pfüe Gott mitanand!“
Da erwachte die alte Punkl aus ihrer kummervollen Gedankenarbeit. Sie schien einen hoffnungsreichen Einfall zu haben. „Hö! Martl! Wart noch a bissl! Zu dir hab ich a Zutrauen.“
„Mar’ und Joseph!“ In drolligem Entsetzen flüchtete Martl über den Steig hinunter. „Bloß jetzt kein Naturgsetz!“
„Jöises, jöises, so lass dir doch a bissl Zeit. Ich muss dich medazinisch noch ebbes fragen.“ Die Alte zappelte unter hoffnungsfreudigem Grinsen hinter dem Verschwundenen her. Und vom Brunnen rief lustig die Monika herunter: „Du, Viechdokter! Jetzt brauchst an guten Schutzengel. Sonst passiert dir ebbes!“
Verwundert fragte Friedl: „Was hat denn die Alte?“
Lenzl zuckte die Achseln. „Gsund möchte s’ halt sein.“
„Was hat s# denn für a Krankheit?“
„Die gleiche wie du. Bloß a bissl anders.“
„Geh, du Narr du!“ Der Jäger lachte. „Ich? Und krank? Ah na! Gsund bin ich allweil.“
„Grad von der Gsundheit kommen die ärgsten Leiden.“
„Aber Lenzl! Hat’s dich heut schon wieder?“
Leise lachte der Alte. „Wie gscheider einer wird, umso leichter glauben die andern, dass er a Narr is.“ Er spähte zur Hüttentür hinüber. „Lus auf, ich weiß dir was Neus.“ Unter hetzendem Geflüster erzählte er von der Botschaft, die Blasi durch den Doktermartl hatte ausrichten lassen.
In Erregung lauschte Firedl und hörte mit Freude, wie Modei den Botengänger abgefertigt hatte. Zögernd fragte er: „Hat d’ Schwester gweint?“
„Net an einzigs Zahrl!“ In Lenzls Augen brannte eine wilde Freude. „Es macht sich, Friedl, es macht sich! Und alle miteinander halten wir Stuhlfest, du und d’ Schwester, und ich und ’s Lisei. Und Balken spreißen wir eini untern Tanzboden. Und nachher –“ Sein verstörter Blick suchte im Leeren. „Was hab ich denn sagen wollen? Steh ich schon lang bei dir vor der Hütten da? Es kommt mir so für, als tät’s hundert Jahr her sein, derzeit wir gredt haben mitanand!“ Den Kopf schüttelnd, ging er davon und murmelte: „Gspaßig, was unserm Herrgott für Sachen einfallen!“ Müd, wie ein an allen Gliedern Zerbrochener, stieg er gegen den Berghang hinauf, über den schon die ersten Schatten des Abends fielen.
Kapitel 7
Modei trat aus der Tür. Sie hatte die Arbeitsschürze abgelegt und eine weiße umgebunden; über dem Mieder trug sie eine kurze, offene Jacke. In der einen Hand hielt sie einen blauen Leinenrock, in der anderen ein altes Zigarrenkistchen, das angefüllt war mit allerlei Nähzeug.
„Was is denn?“, fragte der Jäger. „Willst dich gar noch zur Nahterei hocken? Siehst ja fast nix mehr.“
„A halbs Stündl tut’s es schon noch. Untertags hab ich kei’ Zeit.“ Modei setzte sich auf die Steinbank, nahm den blauen Rock übers Knie, stellte das Kistchen neben sich und unterzog einen langen, klaffenden Riss einer aufmerksamen Betrachtung. „Und ich möchte mei’ Sach allweil sauber beinand haben. Geh, setz dich her da! D’ Nahterei macht sich leichter, wann man a bissl plauscht dazu. Heut musst dich auch net so tummeln mit’m Fortgehn, heut hast an guten Heimweg, der Himmel is klar, und der Mond wird da sein, vor’s Nacht is.“
„Ich geh heut gar nimmer ummi in d’ Jagdhütten“, sagte Friedl, während er sich neben Modei auf die Bank niederließ.
„Wo gehst denn nacher hin?“
„Heim, nach Fall abi.“
„Morgen kommst aber wieder auffi?“
„Na! Von morgen an hab ich d’ Aufsicht im Rauchenberg, und an andrer Jagdghilf, wahrscheinlich der Hies, kommt auf vierzehn Täg in den Bezirk da.“
Modei hob das Gesicht. „Geh! Kommst nacher du vierzehn Täg lang gar nimmer da her?“
„Der Dienst halt! Was kannst da machen!“
Modei beugte sich seufzend über ihre Arbeit; achtsam schnitt sie mit einer plumpen Schere aus dem Rock an der Stelle des Risses ein großes Viereck heraus und säbelte ein ebenso geformtes, etwas größeres Stück aus einer alten, löcherigen Schürze, die schon öfters zu ähnlichen Reparaturen Stoff hatte hergeben müssen. Während sie das Leinenstück mit Stecknadeln über die Lücke des Rockes heftete, sprach sie vor sich hin: „Es is mir gar net recht, dass ich dich solang nimmer sehen soll. Ich hab mich ganz gwöhnt dran, dass d’ jeden Abend da bist.“
Dem Jäger fing das Herz zu hämmern an, und auf seinen Lippen lagen hundert Fragen; mit Gewalt zwang er sie zurück und heilt schweigend den Blick auf die emsigen Finger gerichtet, die in die Nadeln den blauen Faden zogen, einen Knopf an das Ende flochten und dann eifrig zu sticheln begannen. So guckte er lange zu. Dann sagte er: „D’ Nahterei muss a schwere Sach sein!“
„Können muss man’s halt.“
„Freilich, ja. Wann ich a Nadel einfadeln will, brauch ich allweil a halbe Stund dazu. So a Nadel, so a feine, is a Ludersteuferl!“ Weil Modei ein bisschen lachte, rückte er mutig näher. „Wann ich jetzt vierzehn Täg nimmer komm, tut’s dir auch wirklich a bissl ahnd nach mir?“
„Gwiss, Friedl! Du bist allweil gleich gut aufglegt und unterhaltsam. So bist gegen alle Leut. Aber es kommt mir so für, als wärst du’s gegen mich noch a bissl mehr wie zu die andern. Bist a guter Mensch!“
„Gut?“ Er lächelte. „Ich weiß schon, d’ Leut sagen so: A guter Mensch – und da meinen s’: A Rindvieh.“
„Geh! Na!“
„Aber glaub mir’s, Madl: ’s richtige Gutsein is grad so a schwere Arbet wie d’ Nahterei. Oft schon in der Nacht bin ich gsessen mit brennheiße Augen. Und hab gstritten mit’m Unmutsteufel in mir. Gut sein müssen, weil man net anders kann, dös is a Gwicht, an unkommods. Aber gut sein mögen und ’s Gutsein derzwingen, dös macht eim ’s Leben besser.“ Friedl stellte die Nähschachtel, die zwischen ihm und Modei stand, auf die andere Seite und rückte näher. „Wann ich gut bin, weiß ich allweil, warum.“
Ein kurzes Schweigen.
„Friedl?“
„Was?“
„Bist gut zu mir? Und weißt, warum?“
„Ja. Weil d’ es verdienst. Und weil ich mir denk, du kunnst a bissl Freundschäftlichkeit grad jetzt gut brauchen.“
Das Mädel hob die Augen. „Brauchen?“ Das hatte strengen, fast erregten Klang. „Warum?“
Friedl hätte viel darum gegeben, wenn er das unvorsichtige Wort wieder ungesprochen hätte machen können. Verlegen sah er in Modeis Augen. „No ja –“
„Du?“ Ihre Stimme zitterte. „Du weißt was?“
„Alles!“
„Von wem?“
„Augen hab ich ja selber. Und –“
„Der Lenzl? Gelt?“ In Zorn war Modei aufgesprungen. Wortlos kramte sie ihr Nähzeug zusammen. Als sie sah, dass ihr Friedl den Weg zur Tür vertrat, schob sie das Kistchen wieder auf die Bank, setzte sich und nähte schweigend weiter.
„Deswegen musst dich net alterieren!“, sagte Friedl und stellte die Schachtel fort. „Ich mein’ dir’s gut! Und bei mir is a heimlichs Wörtl aufghoben. Da brauchst dich net fürchten.“
„Früchten?“ Sie unterbrach die Arbeit nicht. „Ah na! ’s Fürchten hab ich verlernt. Glauben und Fürchten is allweil an Einzigs. Verliert man ’s Strumpfbandl, nacher rutscht der Strumpf halt auch. Die letzten Wochen haben fest grissen an mir. Den ganzen Tag so allein! Und alles allweil einiwürgen! Vielleicht is’s grad gut für mich, dass d’ alles weißt. Da hab ich doch wen, mit dem ich reden kann.“ Die Stimme erlosch ihr. Sie drehte das Gesicht auf die Seite, wollte einfädeln und fragte mit erwürgtem Laut: „Wo is denn d’ Schachtel schon wieder!“
Friedl machte einen flinken Griff. „Is schon da!“
Sie zog den Faden von der Spule und krümmte sich plötzlich tief hinunter, von lautlosem Schluchzen geschüttelt.
„Mar’ und Joseph!“ Erschrocken rüttelte Friedl sie an der Schulter, rückte näher, stieß die Schachtel fort und umschlang das Mädel. „Jesses, geh, so schaam dich doch a bissl! Hör auf, hör auf, ich kann’s net vertragen. Wann ich wem gut bin, kann ich’s net anschaun, dass er leiden muss!“ Er versuchte sie aufzurichten. „Komm, lass dich a bissl trucken legen!“ Schwer schnaufend, zerrte er sein Taschentuch heraus, trocknete ihre Wangen und fuhr sich auch flink über die eigenen Augen. „Geh, sei gscheid und nimm a bissl Verstand an! Schau, jetzt is halt amal alles a so, und da muss man sich einischicken wie der Fuchs in sein’ Bau.“
„Freilich, ja!“ Mit zitternden Händen begann sie die Arbeit wieder.
„Weißt, mit allem muss man fertig werden. Wann der Mensch net a bissl nachgeben kunnt, müsst er Tag und Nacht a Sauwut aufs Leben haben. Fest anschauen muss man halt die harten Sachen. Und hat man gsehen, wie s’ sind, nacher muss man sagen: In Gotts Namen, wie’s is, so muss man’s haben.“ Nachdenklich schwieg der Jäger eine Weile. „Freilich, wann’s einer so nimmt, da tut er gar oft ebbes, was ander Leut für an Unsinn halten. Aber z’erst muss ich mit mir zfrieden sein. Nacher kann’s gehen, wie’s mag. Drum schau, tu dich net kränken! A Madl wie du! Und einer wie der? Na! Der is gar net wert, dass d’ a Tröpfl Wasser fallen lasst um seintwegen.“
„Wegen dem, meinst?“ Sie schüttelte den Kopf. „Wegen dem lauft mir ’s Brünndl nimmer über. In den hab ich einigschaut. Aber um mich allein geht’s net her. ’s Kindl halt!“ Modei beugte sich über die Arbeit. „So an arms Häuterl!“
„Arm? Und hat a Mutter wie du!“
„A Mutter is viel. Aber net alles. Tag und Nacht muss ich drüber nachdenken. So a Kindl! Und hat kei’ Schuld. Und is net gfragt worden, wie man’s eini gschutzt hat in d’ Welt. Und muss leiden drunter. So an Ungrechtigkeit sollt unser Herrgott net zulassen.“
Sinnend guckte Friedl hinauf zum glühenden Abendhimmel. „Den da droben, den hab ich schon oft ebbes gfragt. Aber gsagt hat er mir nie was. So a ganz Gscheider is allweil a Stader. Weil er ihm denkt: Wann ich ebbes sag, versteht mich ja doch keiner, da halt ich lieber ’s Maul! Aber weißt, bei der Stang is er allweil. Da brauchst ums Kindl kei’ Sorg net haben. So a Käferl so a liebaugets! Dös findt schon sein Dach, pass auf! Und a Madl wie du, gsund, sauber, fleißig, wirtschäftlich – wirst schon bald wieder an andern Schatz finden!“
„An andern?“ Sie lachte müd. „Wie der Anfang war, weiß ich. Was nachkommt, sagen d’ Leut, is allweil minder.“
Friedl schnaufte schwül. „Musst halt a bissl gnügsam sein! Und musst –“
„Lass gut sein!“ Ihr Nähzeug zusammenraffend, erhob sie sich.
„Aber Madl?“, fragte er verdutzt. „Was is denn?“
„D’ Nahterei heb ich auf. ’s Licht wird a bissl schwach. Und wann mir du d’ Schachtel allweil verräumst!“ Sie ging zur Tür und trat in die Hütte.
In Friedls Augen brannte die Sorge. Hatte er zuviel gesprochen? Hatte sie aus seinen Worten erraten, welches Dach und welchen anderen er meinte? Und warum ging sie so schnell davon? War es Verlegenheit? Oder eine verblümte Warnung vor dem Weitersprechen? „Herrgott, Herrgott, wann ich nur wüsst, wie ich dran bin!“ Und nun fortmüssen, für vierzehn Tage, und die Ungewissheit immer mit sich herumschleppen auf Schritt und Tritt, bei Rast und Arbeit, bei Tag und Traum!
Da klang mit flüsterndem Laut sein Name aus den Latschenbüschen, die neben der Hütte standen und im Abendwind ihre Nadelfahnen bewegten. Der Jäger wandte sich rasch und sah im Grün zwei funkelnde Augen. „Lenzl? Du? Was willst denn?“
„Kurasch, sag ich dir! Schenier dich net! Sag’s ihr grad aussi!“
„Kurasch?“ Ein bedrückter Atemzug. „Du hast leicht reden! Haushoch über a Wand abispringen? Da hätt ich Kurasch gnug. Aber da –“
Modei trat aus der Hütte, und Lenzl verschwand. Mit zwei blühenden Nelkenstöcken auf den Armen ging das Mädel zu der Scheiterbeuge neben der Hüttentür.
Beklommen fragte der Jäger: „Was machst denn da?“
„Meine Nagerln stell ich in d’ Nacht aussi. So a feine Nach tis gut für alles, was blüht.“
In Friedls Augen glänzte was Frohes auf. „Modei! Da hast a gescheidts Wörtl gsagt.“ Er machte ein paar flinke Schritte zu ihr hin, als wäre die erschütterte Hoffnung in ihm wieder fest und gläubig geworden. Zum Reden kam er nicht, weil vom Steig herauf zwei Stimmen sich hören ließen. Verdrossen murrte Friedl vor sich hin: „Wer kommt denn heut noch da auffi? Dass d’ Leut aber allweil kommen, wann man s’ net brauchen kann.“ Nun erkannte er die lachende Mannsstimme. „Dös is ja der Hies! Was will denn der da heroben? Heut schon!“
Im gleichen Augenblick tauchte der Jagdgehilf über die Steigstufen herauf und guckte fidel in die Tiefe hinunter. Da drunten quiekste die Stimme der noch unsichtbaren Punkl: „Geh, wart a bissl, Hieserl, wart a bissl!“
„Du narrete Urschl!“, kreischte Hies über den Steig hinunter. „Ich bin ja kein Doktern et. Ich kann dir net helfen.“ Als er sich kichernd wandte, sah er den Jäger, der auf ihn zukam. „Ah, da bist ja! Grüß dich, Friedl! Und gleich kannst heimgehn.“
„Gar so pressieren tut’s mir net! Wie kommst denn heut noch da auffi?“
„Bloß deintwegen. Weil morgen dein Dienst da heroben aus is, hab ich dir sagen wollen, du sollst heut oder morgen in aller Fruh heim und sollst dich net am End woanders verhalten. Morgen hat der Herr Dokter für uns Jager a kleins Scheibenschießen verarranschiert. Da därfst net fehlen. Eigens hat mich der Herr Dokter auffigschickt. Ich habe dich z’erst in der Jagdhütten suchen wollen, aber die Punkl hat mir gsagt, dass bei der Modei bist.“ Er dämpfte die Stimme zu leisem Geflüster: „Hast von der Sennerin ebbes erfahren können? Ob selbigs Mal einer bei ihr in der Hütten gwesen is?“
Friedl schüttelte stumm den Kopf. Dabei fuhr ihm das Blut ins Gesicht.
„Wie schaut’s denn aus im Revier?“
„Net schlecht.“
„Hast den Neunnägel noch amal gspürt?“
Es dauerte eine Weile, ehe Friedl mit kaum hörbarem Laut erwiderte: „Seit vierzehn Täg nimer.“
„Kann sein, dass er mir übern Weg läuft!“, knirschte der andere zwischen den Zähnen heraus. „Da gnad ihm unser Herrgott!“
„Hies –“ Rasch fasste Friedl den Arm des Kameraden und warf einen Sorgenblick zu Modei hinüber.
„Was?“
„Hieserl, Hieserl“, pfiff es atemlos aus der Steigtiefe herauf, „wo bist denn? Tu doch warten auf mich!“
Mit einer lustigen Grimasse kicherte Hies: „Dö Alte! Mar’ und Joseph! So hab ich meiner Lebtag noch net glacht.“
„Was hast denn mit ihr?“
„Haben? Naaaa Brüderl!“ Hies konnte kaum reden vor Lachen. „Gsund – gsund soll ich s’ machen! Ich! Und als medazinischen Taglohn hat s’ mir a Nachtmahl versprochen – derspringen müsst ich, wann ich alles fraß.“
Schnaufend kletterte Punkl über die Steigstufen herauf. „Da is er, da is er ja, Gott sei Lob und Dank!“ Sie grinste in aller Hoffnungsfreudigkeit ihrer leidenden Jungfernseele. „Komm, Hieserl, komm! Jetzt steigen wir gleich auffi mitanand zu meiner Hütten. Gleich zünd ich ’s Fuierl an. Und aufkochen tu ich für dich – so gut sollst es noch nie net ghabt haben.“
„Pressiert’s denn gar a so?“
„Was hast gsagt?“
„Ob heut noch gsund werden musst? Kannst net warten bis übermorgen?“
„Was hast gsagt?“
„Ob heut noch gsund werden musst? Kannst net warten bis übermorgen?“
„Was hast gsagt?“ Das Misstrauen der Schwerhörigen funkelte in Punkls Augen. „Tust mich ebba für an Narren halten? Bist auch so a falscher Jager?“
„Öha, Alte“, mahnte Friedl, „net auf d’ Jager schimpfen!“
Punkl drehte sich flink. „Was hat er gsagt?“
„Wann die noch lang so fragt“, lachte Hies, „da muss ich heut ohne Nachtmahl abschieben von der Alm.“
Unter wachsenden Ärger forschte die Alte: „Was hat er gsagt?“
Friedl schraubte die Stimme: „Dass ihm vor Hunger der Magen schreit.“
„Waaas sagen d’ Leut?“ Wütend schnappte Punkl nach Luft. „D’ Leut sollen sagen, was s’ mögen. Mei’ Gsundheit is a kostbars Gut. Wann ich sterben müsst, da machen mich d’ Leut nimmer lebendig. Naaa!“ Mit hohem Fistelton begann sie zu heulen. „Jiiiiii –“ Die Schürze vor die Augen hebend, klagte sie gegen die Hütte hinüber: „Ich sag dir’s, Modei, iiiijaaa, ganz recht hast ghabt! Und schau, deswegen bist gsund blieben. Aber – aber iiiiii –“ Der Storm ihrer Schmerzen ergoss sich in die blaue Schürze.
„Geh“, sagte Modei, halb erheitert und halb unwillig, „tuts doch dös gute alte Weiberl net so plagen!“
„Wann’s allweil falsch versteht!“, lachte Hies. „Zu der kannst Herrgott und Cherubin sagen – dö versteht allweil Mannsbild und Kindstauf.“
Punkl hob den gekränkten Zwiebelkopf aus der Schürze: „Waaaas hast gsagt?“
„Dass dir der Friedl a Ruh lassen soll!“, brüllte Hies der Alten ins Ohr. „Sonst hat er’s mit mir z’ tun. Dich mag ich, weißt!“
In Punkls verheulten Augen ging die Sonne der Freude auf und glänzte. „Bist a braver Mensch, du! Zu dir hab ich a Zutrauen. Komm, Hieserl, komm!“ Sie umklammerte seinen Arm. „Jetzt koch ich dir auf! An Äpfelschmarren und Dopfenknödel!“ Energisch zerrte sie den Lachenden gegen den Brunnen hin. „Heut sollst es gut haben.“
Unter grotesken Tanzbewegungen schnackelte Hies mit den Fingern und sang in den leuchtenden Abend hinaus:
„Geht’s auffi in Himi,
Geht’s abi in d’ Höll,
Es is mir alls einding,
Und sei’s, wie dr wöll!
Und holt mich der Tuifi,
Und sied ich und brenn,
Sei’ Großmutter kocht mir
An Äpfelschmarrenn!“
Auch Modei musste lachen.
„A lustiger Zipfel!“, sagte Friedl. „Allweil einer von die Sonnseitigen!“
„Ja“, nickte Modei, „und die Gstanzeln, dö schüttelt er grad so aussi aus’m Ärmel.“
Hies wandte sich. „Da hast recht! Pass auf, bei deiner Hochzet sing ich, dass d’ Fenster scheppern!“
Wie von jäher Müdigkeit befallen, ließ Modei sich auf die Steintreppe hinsinken und sah ins Leere. „Bei meiner Hochzet!“
„No ja, warum denn net?“, scherzte Friedl in Sorge, während er sich auf eine der tieferen Stufen setzte. „Du wirst doch amal deine Hochzetgäst net ’s Gstanzelsingen verbieten?“
„Ich? Und heireten? – Bei mir is ausgheiret. Ich hab kein’ Glauben nimmer an d’ Mannsbilder.“
„Madl, da übertreibst wieder a bissl. Hast ja bloß an einzigen ausprobiert. Wann’s den Sonntag verregnet hat, kann d’ Woch noch allweil sechs schöne Täg haben.“
„Geh, du Narr, du guter!“ Modeis Brauen zogen sich hart zusammen. „Soll ich ebba ein’ um den andern durchkosten, bis ich den richtigen derwisch, in dem d’ Sonn scheint? Lass mir mei Ruh, sagt der Veri. In mein’ Kittel hat ’s Leben an Triangel einigrissen, der nimmer zum flicken is, net mit der besten Nahterei. Wer kauft, will ebbes kriegen, was ganz is. Es mag schon mich keiner nimmer.“
Friedl wurde bleich bis in die Lippen, und ohne Besinnen fuhr’s ihm heraus: „Ich nimm dich gleich.“
„Du?“ Modei hob das Gesicht. Dann lachte sie kurz und gezwungen.
„Was is jetzt da zum lachen?“, fragte er mit zerdrückter Stimme. „So a ganz Sonnscheiniger bin ich freilich net. Ich bin halt einer, wie s’ im Dutzend ausfallen. Aber an Antrag is allweil an Antrag. Da wirst wohl a Wörtl reden müssen.“
In die dämmernde Weite blickend, schüttelte sie stumm den Kopf.
Er musste sich räuspern, als wäre ihm eine Mücke in den Hals geflogen. Dann suchte er mühsam einen scherzenden Ton. „Ah na! Ah na! Gar so übers Knie reißen wir’s net ab. A bissl anschaun kann man’s allweil. Oder net?“
Noch immer schwieg sie.
Es hatte zu dämmern begonnen, und das letzte rötliche Zwielicht glänzte schon hinüber in den weißen Mondschein, der die Gratkanten der grauen Felswände in ein silbernes Zackenwerk verwandelte. Der Wind fuhr schärfer über das Almgehäng herunter, man hörte den Strahl des Brunnens plätschern, und die schwarz gewordenen Wedel der Latschen griffen wunderlich durcheinander wie plumpe Hände, die etwas zu haschen suchen, was sich nicht fangen lässt.
Scheu guckte Friedl zu Modei hinauf. Er konnte ihre Augen nimmer sehen, das Dunkel des Abends vertiefte noch den Schatten der gesenkten Wimpern. Hart Atme holend, nahm der Jäger den Hut herunter und kämmte mit schwerer Hand das Haar in die Stirn. „Wie a Prinzessin wirst es freilich net haben bei mir. Aber schlecht auch net. Mein Häusl hat Platz für uns Sechse.“
„Sechse? Wie zählst denn dass“
„No ja – du, dein Büberl, mei’ Mutter, dein Bruder, unser Kuh und ich. Und d’ Mutter hat ebbes gspart. Da legen wir uns a zweits Stückl Vieh zu. Un an noblen Ghalt hab ich auch. Dreihundert zwanzg Gulden. Und in fünf, sechs Jahr bin ich Forstwart. Geh, Madl, bsinn dich a bissl!“ Mahnend drückte er den Ellbogen an ihr Knie. „Schau, da brauchst dich nimmer plagen für fremde Leut, hast dein Heimatl, hast dein Büberl bei dir und kannst amal a richtigs Mannsbild aus ihm machen. Und wann ebbes nachkommt –“ Er lachte unbehilflich. „Dö kleine Waar wird sich schon vertragen mitanand.“
Sie beugte das Gesicht zwischen die Hände und presste die Ohren zu. „Hör auf! Hör auf!“
Er rückte eine Stufe höher und zog ihr die Arme herunter. „Geh, komm, lass reden mit dir! A bissl gut bist mir eh schon. Und ’s ander macht sich von selber. Und wann wir uns haben, und ich komm am Abend vom Berg heim, und du stehst unter der Haustür und lachst mich an –“
Ruhig befreite sie ihre Hände. „Lass gut sein! Tu mich net plagen! Mach mir ’s Na-Sagen net gar so schwer. Und nimm Verstand an, Bub! Um deintwegen. Du verdienst a Bessere, als ich eine bin.“
„Jetzt bist aber stad!“, fuhr Friedl zornig auf. „Was ich gern hab, lass ich net beleidigen.“ Er rückte wieder eine Stufe höher, an Modeis Seite. „So sollt a verstandsams Weiberleut net daherreden! Eine, wie du bist? Was du für eine bist, dös weiß ich schon. Die Beste von alle bist mir. Dös is mir d’ Hauptsach. Und –“ Was er weiter noch sagen wollte, schien ihm schwer zu fallen. „Wann ebba an dös andre denkst – dass bei der Hochzet ’s Kranzl nimmer tragen därfst? Ui jöises! Da reden wir net davon. Dös! No ja, dazughören sollt’s freilich. Aber für an richtigen Menschen muss d’ Lieb noch ebbes anders sein. Und wann einer a Witib heiret? Is ebba dös net an ehrenvolle Sach? Und da kriegt er den Guglhupf auch net frisch vom Bäcken. Man muss net allweil so verdrahte Ansprüche machen im Leben.“
„Na, Friedl! Na, na, na! Es is kein Glück dabei.“ Sie schüttelte heftig den Kopf und rückte von ihm weg.
„Nix da! Erst recht is eins dabei. Komm her! Jetzt reden wir alles aus bis aufs letzte Schnürl!“ Er haschte ihre Hand. „Heut hab ich amal den richtigen Schritt, und jetzt lass ich nimmer aus.“
„Es hat kein’ Verstand! Lass gut sein!“, sagte sie gequält, während sie ihm ihre Hand zu entwinden suchte. „Jetzt bist halt a bissl verliebt –“
„A bissl? Oho? Mein gern Haben is net von gestern. Du selber kannst gar net zruckdenken an dö Zeit, wo ich dich schon mögen hab. Selbigs Mal in der Nacht, wie s’ dich von der Brandstatt weg in unser Stuben tragen haben – wie noch a kleins Kindl warst und ich noch a Büberl – selbigs Mal is mir’s in d’ Seel einigfallen. Und nimmer hat’s auslassen –“
Wieder schüttelte sie den Kopf. „Dös bildst dir halt jetzt so ein. A guter Mensch bist. Da schaust halt alles mit schöne Augen an. Und d’ Welt is dir kugelrund, wie der Lenzl sagt. Aber hint her wirst dir mit’m Ellbogen ’s Mäusl aussistoßen am schiechen Kasten. Der Ehstand bringt Sorgen, und Sorgen verdrießen den besten Sinn. Da kommt an unguts Stündl, und es fahrt dir an ungrechts Wörtl übers Züngl aussi – a Fürwurf wegen dem, was gwesen is – und so a Wörtl kunnt ich net vertragen. Und a Graben is da. Und keiner holt’s nimmer auffi.“ Sie erhob sich. „Na Friedl!“
„Wie, wart noch a bissl!“ Er haschte sie bei einer Rockfalte und sprach erregt an ihr hinauf: „An Fürwurf hören? Du? Von mir? Dein Büberl mag ich, als ob’s mein eigens wär. Und du? Geh, schau, ich kann mir’s doch denken, wie’s geschehen is, dass der Guglhupf a Zwibeben einbüßt hat. Ich bin doch auch kein Frischbachener nimmer. Was jung is, muss Purzelbäum machen. Oder man hätt mit zwanzg Jahr schon an krankhaften Zustand und ’s Alter im Blut. Der Mensch ist keine Heiliger. Seit der Adam ’s erstmal einibissen hat in’ süßen Apfel, hat’s ihm a jeder nachmachen müssen. Hörst, Madl! Müssen, sag ich – net: mögen. ’s Blut is a Knechtl, dös an fremden Herrn hat.“ Ein paar Sekunden schwieg er, wie in Erwartung einer Antwort. „Madl? Glaubst mir noch allweil net?“
Sie hob das Gesicht. Es war bleich im Licht des Mondes, der über die östlichen Berge herauf geschwommen war. Wie eine Gold funkelnde Scheibe hing er im Leeren und warf den Schatten der beiden Menschen lang und dunkle über die Steine.
Ohne ein Wort zu finden, zog Modei die Rockfalte aus der Faust des Jägers und ging zur Hüttentür.
Erschrocken sprang er auf, verstellte ihr den Weg und streckte die Hand. „Geh, schau – wie d’ bist, so bist mir recht, und so mag ich dich. Schlag ein! A feins Pratzl hab ich freilich net. Aber Verlass is drauf. Schlag ein!“
„Ich hab aufs Glück kein’ Glauben nimmer!“, sagte sie mit Überwindung. „Und dass ich dich bloß als Versorgung anschau, da bist mir z’ gut dazu.“ Sie wandte sich. „Reden wir nimmer davon.“ Den Arm vor die Stirn pressend, trat sie auf den Schwellbalken der Sennstube und wurde grau im schwarzen Geviert der Hüttentür.
Nach kurzem Schweigen murrte Friedl vor sich hin: „Da bin ich schön abgfahren!“ Seine Zähne knirschten. „Himmelherrgottsakra –“ Er griff nach Gewehr und Bergstock und wollte gehen. Da fiel ihm Bürschl ein – der Hund lag wohl wieder in der Hütte auf dem Lager, das ihm Modei mit alten Futtersäcken neben dem Herd zurechtgemacht hatte. Friedl pfiff, und da kam der Hund wie ein Pfeil aus der Tür gefahren, schüttelte die Ohren und bellte gegen den Mondschein. „Komm, Bürschl! Jetzt können wir heimtappen.“ Die Schritte des Jägers klapperten auf den Steinstufen.
Modei wandte das Gesicht. „Ohne Gruß willst fort? Bist mir jetzt harb?“
Es riss ihn herum. Dann trat er rasch zu ihr hin. „Madl? Is dir ebbes dran glegen, dass ich dir gut bleib?“
Sie sagte zögernd: „Als Kamerad – no freilich, ja.“
„Nacher musst mir an Gfallen tun.“
„Außer dem andern – alles, was d’ willst.“ Dabei reichte sie ihm die Hand.
„So gib dein Büberl zu meiner Mutter ins Haus.“
Es dauerte lang, bis sie sagen konnte: „In Gotts Namen!“
Friedl lachte wie ein Berauschter. „Ja? Handschlag! Und gnagelt und gsiegelt! Und morgen in aller Fruh, da renn ich abi nach Lenggries und hol mir’s Kindl auffi nach Fall. Und recht schön grüßen tu ich’s von dir. Gelt, ja? Und wie wär’s denn? Kunntst mir ja gleich a Bussl fürs Kindl mitgeben?“ Er umschlang sie.
Erschrocken wehrte sich das Mädel, konnte sich befreien und sprang in die Sennstube. „Ah na! Wer eh schon an Rausch hat, dem därf man nimmer einschenken.“
Wie eine schwarz und weiß gesprenkelte Säule stand Lenzl im Mondschein. Er lachte leise. „Gut hast anpackt, Friedl! Aber z’ fruh hast auslassen.“
„Macht nix! Morgen is auch wieder a Tag. Und wo ’s Kindl is, muss d’ Mutter nach. Der Doktermartl tät sagen: Dös is a Naturgsetz.“ Mit einem klingenden Jauchzer sprang der Jäger zum Steig hinüber. Und der tollende Schweißhund bellte, dass von den silbernen Felsen ein vielfaches Echo kam.
Lenzl stand unbeweglich in dem weißen Licht und raunte wie ein Träumender vor sich hin: „Jetzt glaub ich, dass ich gsunden tu. ’s Glück zeiht alles in d’ Höh. So viel licht und lustig is mir’s im Hirnkastl!“ Mit leisem Lachen ging er zum Steig hinüber und spähte in das Licht- und Schattengewirr der Tiefe.
Da drunten, wo sich der Pfad im Mondschein wie ein weißer Silberstreif durch den dunklen Rasen hinzog, klirrten die flinken Schuhe und der Bergstock des Jägers.
Es war eine weite Strecke bis hinunter ins Tal; nie noch war sie dem Jäger so kurz geworden wie heut. Aus der Erfüllung seiner Bitte lachte ihn die Hoffnung an mit freundlichem Gesicht, und frohe Gedanken wanderten mit ihm den stillen Weg.
Als Friedl das Tal erreichte, sah er die Fenster des Wirtshauses hell erleuchtet. Er hörte Gesang, Musik und Lachen. Von der Straße guckte er durch ein Fenster in die Stube. Da saß eine muntere Gesellschaft um einen langen Tisch versammelt: Der Förster mit seiner Frau, die Jagdgehilfen, Benno Harlander und der neu nach Fall versetzte, schwerbäuchige Grenzaufseher Niedergstöttner mit seinem ratzenkahlen Dampfnudelkopf, der jeden Einfall, den er hatte, mit flinker Sprudelzunge mehrmals wiederholte, wie nach dem mephistophelischen Rezept: „Du musst es drei Mal sagen!“ Vater Riesch hielt die Geige an das Kinn gedrückt, sein Ältester klimperte auf einer Gitarre, sein schmuckes Töchterchen, das „Wirtsanerl“, hobelte auf einer Mundharmonika, und der lachende Hies, der dem Gesundheitsverlangen der leidenden Punkl unmedizinisch entronnen war, hatte die Zither vor sich stehen und ließ die Saiten schnurren. Da drinnen feierten sie den Vorabend des Scheibenschießens.
Bürschl, der von seinem früheren Herrn her alle Wirtshäuser weitum im Lande kannte, wollte der offenen Tür zulaufen. Friedl rief ihn zurück. Er hatte keine Lust, den fidelen Rummel mitzumachen. Sonst war ihm lustige Gesellschaft immer willkommen. Heut trieb es ihn heim – weil er noch ein Wort mit der Mutter zu reden hatte. Als er die Haustür öffnete, tat er einen schwülen Atemzug. In der Stube, durch deren Fenster nur noch dünn ein Strahl des Mondes fiel, stellte Friedl den Bergstock in eine Ecke, hängte Rucksack und Gewehr an das Zapfenbrett, schob die Schuhe unter den Ofen und richtete mit einem alten Wettermantel dem Hund eine Liegestatt. Dann ging er zur Kammertür und öffnete sie um einen schmalen Spalt. „Mutter, schlafst schon?“
„Na, Bub!“, klang aus dem Dunkel die Stimme der alten Frau. „Wie soll ich denn schlafen, wann ich weiß, mein Bub kommt heim? Aber niederglegt hab ich mich halt a bissl, weil ich gar soviel müd war.“
„Schau, Mutter, du machst dir z’ viel Arbet!“ Friedl trat in die Kammer und setzte sich auf den Rand des Bettes, dessen weiße Leinwand in der Dunkelheit schimmerte. „Es is schon wahr!“ Er suchte die Hände der Mutter. „Unser kleins Hauswesen kunntst mit weniger Müh grad so sauber imstand halten. Und schau, Mutter, du bist alt und musst dir a bissl Ruh vergunnen.“
„Ah, geh weiter! Ich müsst ja sterben, wann ich net arbeiten durft von der Fruh bis auf d’ Nacht.“
„Ja, ja, schon – aber jetzt kriegen wir von morgen an noch a Dritts in unser Haus.“
Die Bäuerin richtete sich auf. „Was? Ja wen denn?“
„Der Modei ihr Büberl.“
„Jesses! Friedl!“
Sanft drückte er mit beiden Händen die Mutter auf das Kissen zurück und fing zu erzählen an, die ganze lange Geschichte der verwichenen vierzehn Tage bis zu Modeis letztem Wort. Schweigend lauschte die alte Frau. Und sie schwieg auch noch, als Friedl schon lang geendet hatte. „Mutter?“, brach der Jäger endlich mit leiser Stimme das Schweigen. „Hast jetzt gar kein Wörtl für mich?“
„Bub – du weißt, wie ich über söllene Sachen denk. Ich will dir heut net weiter fürreden, was ich oft und oft schon zu dir gsagt hab. Aber ich bin allweil a verstandsames Weiberleut gwesen, dös sich mit allem hat abfinden können, was an ausgmachte Sach war. Du musst ja ’s Madl besser kennen als ich. Unter allem, was ich von ihr ghört hab, hat mir dös am besten gfallen, dass ’s Madl heut net gleich an verliebten Purzelbaum gmacht hat. Aber wie mir scheint, wird dös Na blad a richtigs Ja werden. So kann ich nur hoffen, dass sich ’s Madl nach allem, was geschehen is, deiner wert halt in Ehren. Tag und Nacht will ich zu unserem Herrgott beten, dass er dir alles zum besten ausanander kletzelt. Was hat schließlich der Mensch auf der Welt, wann er Glück, Ruh und Fried net hat im Herzen und im Haus? Dös soll dir unser lieber Himmelvater halt geben! Nacher bin ich mit allem einverstanden. So! Und jetzt geh schlafen, Bub! Und morgen bringst mir halt unser Kindl! Gut Nacht!“
„Du liebs Mutterl du! Gut Nacht!“ Friedl drückte in seiner lachenden Freude die Hände der Mutter so ausgiebig, dass die alte Frau einen Wehlaut ausstieß und ärgerlich murrte: „Hörst net auf! Du narreter Schüppel! Meinst denn, ich hab Pratzen wie a Holzknecht?“
„Mar’ und Joseph!“, stotterte Friedl erschrocken. „Hab ich denn gar so narret druckt?“
„An Schwachen hätt’s umgworfen. Gut, dass ich im Bett glegen bin!“
„Jesses, jesses!“ Und auf den Zehen schlich Friedl aus der Kammer, während er immer die Hände schlenkerte, als könnte er den gefährlichen Überschuss an Kraft aus sich heraus werfen.
Leise zog er hinter sich die Tür ins Schloss.
Kapitel 8
Anderen Tages, am Sonntag, wurde es in Fall mit aller Frühe laut und lebendig. Schon um fünf Uhr morgens knallte der Wirtsknecht mit seiner Peitsche neben dem Wagen her, auf dem er in der Nacht das frische Bier von Tölz gebracht hatte; dann rasselte die Fassleiter, und dröhnend kollerten im Wirtshaus die schweren, vollen Banzen über die Flursteine. Vater Riesch, in großen Pantoffeln und mit winzigem Hauskäppl, einen kalten Zigarrenstummel zwischen den Zähnen, stand dabei, um das Abladen zu überwachen. Benno kam und erkundigte sich angelegentlich nach dem Fässchen Hofbräu, das er von München mit nach Tölz gebracht und dort in der Post eingestellt hatte. Vater Riesch zuckte die Achseln: Davon wisse er nichts, das Fässchen müsse wohl vergessen worden sein. Benno war außer sich. Da tröstete ihn der Wirt mit Lachen: „Haben S’ kein Angst, es liegt schon drunt im Keller, kalt einschlagen in nasse Tücher!“
Flink sprang Benno die Treppe zum ersten Stock des Wirtshauses hinauf und weckte die drei Holzknechte, die der Förster herbeordert hatte, um die Schießstätte zu richten. Das kleine Sommerhaus des Wirtes, das über der Straße drüben am Ufer der Isar lag, sollte zur „Schützenhalle“ umgewandelt werden. Von da aus wollte man über den Fluss hinüber schießen nach einem etwa hundertfünfzig Schritt entfernten Felsen, der drüben am Ufer kahl aus dem Waldgehäng hervorsprang, eine leichte Aufstellung der Scheibe gestattete und dem Zieler Schutz vor den Kugeln bot. Benno wies an Ort und Stelle den Holzknechten die Arbeit an, rannte zum Forsthaus zurück, in dem er wohnte, und warf sich in festlichen Staat.
Als er wieder kam, war im Sommerhaus die Arbeit schon in vollem Gang. Die Holzknechte hatten sich noch ein paar Leute zur Aushilfe geholt; nun wurde hier gesägt und gehämmert, dort wurden Pfähle eingerammt, hier wurden aus breiten Brettern die Scheiben geschnitten, dort hockte einer auf der Erde und schnitzelte aus Weidenästen kleine Holzklötzchen zum Verschließen der Schusslöcher, und vom Wirtshaus herüber kamen die einen und anderen, um nach den Fortschritten der Arbeit zu sehen. Ganz Fall war Leben und Bewegung; um neun Uhr sollte ja schon das Schließen beginnen. Der Eifrigen Eifrigster war Benno; er zirkelte die Scheiben aus, bemalte die Kreise mit schwarzer und weißer Leimfarbe und gab dem Sohn des Wirtes Anweisung, wie mit Tannenreis die „Schützenhalle“ am hübschesten zu schmücken wäre. Dann nagelte er die seidenen Fahnen, um die er eigens nach München gefahren war, an blau und weiß geringelte, Gold beknaufte Fahnenstangen und steckte sie rechts und links vom Eingang der „Festhalle“ in den Rasen, wo die Tücher lustig im leichten Winde flatterten und ihre Seide in der Sonne schimmern ließen.
Zwischen den klatschenden Hammerschlägen und dem Ächzen der Holzsäge schollen vom Garten des Forsthauses herüber hallende, von rollendem Echo begleitete Schüsse. Da drüben probierten der Förster und die Jagdgehilfen ihre Büchsen. Und draußen an der Scheibenstatt übte sich der Jüngste des Wirtes mit Juhschreien und Purzelbäumen in seinem Beruf als gewissenhafter Zieler.
Als auf dem Schießplatz alles fix und fertig war, ging es mit der Zeit schon knapp auf neun Uhr. Bald war auch die kleine Schützengesellschaft versammelt: Der Förster, Hies und die anderen Jagdgehilfen mit ihren Pirschstutzen; Vater Riesch mit seinem Vorderlader alten Kalibers; der „Herr Götz“, ein Elsässer, der an der Isar zwischen Fall und Lenggries eine Papierfabrik stehen hatte, und sein auf Besuch anwesender Bruder, die zusammen mit einem funkelnagelneuen Martinigewehr zu schießen gedachten; und schließlich Benno mit seinem bewunderten Scheibenstutzen. Nur Friedl fehlte noch. Ein paar Mal schon hatte Benno nach ihm gefragt; niemand wollte ihn gesehen haben. Und Friedl kam nicht, obwohl der Beginn des Schießens immer näher rückte. Punkt neun Uhr, als der Böller krachte, gab’s auf der Schießstätte einen fidelen Jubel. Benno war mit einer letzten, bis zu diesem Augenblick geheim gehaltenen Überraschung herausgerückt. Während seines Aufenthaltes in München hatte er einen ihm befreundeten Maler aufgesucht, und das Ergebnis dieses Besuches war eine prächtige Ehrenscheibe, deren Bild die Schlussszene von Bennos letzter Gamsjagd darstellte. Über dem Bilde stand in fetten Buchstaben: „Jagdschießen zu Fall, 1881.“ Und am untersten Rande war im Bogen auf die Scheibe geschrieben: „Gewidmet vom freiwilligen Jagdgehilfen Benno Harlander.“
Lang umstand man das hübsche Bild; dann wurde es, bis es seinem Zwecke dienen sollte, in der „Schützenhalle“ aufgehängt.
Das Schießen begann. Benno als Festgeber tat den ersten Schuss, dann knallte und knallte es in ununterbrochener Folge, und das kleine Tal war angefüllt mit Donner und Echo. Doch Benno wollte, so fröhlich es um ihn her zuging, nicht in die richtige Festlaune kommen, weil Friedl noch immer fehlte. Als er wieder einmal geschossen hatte, lief er zum Haus des Jägers hinüber. Die alte Frau machte ihm die Haustür auf. „Was ist denn, Mutter? Ist der Friedl gestern nicht heimgekommen?“ Zu einer Antwort blieb der alten Frau keine Zeit. Hinter den beiden knarrte das Zauntürchen, und als Benno sich umblickte, stand der Jäger vor ihm, auf den Armen ein Kind, das die kleinen Ärmchen fest um seinen Hals geschlungen hielt.
„Friedl?“, fragte Benno. „Bei wem bist denn du als Kindsmädel eingestanden?“
„Seit gestern bei mir selber!“, lachte Friedl.
„No, wenn auch das Kindsmädel ein bissl massiv geraten ist, so ist das Kindl umso netter und feiner! Geh, du kleines Kerlchen mit deinen Haselnussaugen, gib mir ein patscherl!“ Das Kind löste einen Arm von Friedls Hals und steckte Benno das Händchen hin. „Schau, wie schön du das kannst!“, scherzte Benno, während er dem Bübchen freundlich die Wange streichelte. Dann sagte er zu Friedl: „Jetzt mach aber, dass du nüberkommst, sonst schießen dir die andern die schönsten Preise vor der Nase weg!“
„Ja, ja! Von aller Weiten hab ich’s schon krachen hören. Lassen S’ Ihnen net aufhalten, Herr Doktor! Ich komm gleich.“
Benno ging und hörte die alte Frau noch sagen „Geh, komm zu mir, Schatzerl!“ Sie nahm den Kleinen von Friedls Arm. „Na, so was Liebs! Gelt, Herzerl, jetzt bleibst bei uns, und so gut sollst es haben, so gut –“
Als Benno wieder in die Schützenhalle trat, klang ihm lauter Jubel entgegen. Vater Riesch hatte einen Punkt geschossen. „So an alter Kalfakter!“, brummte der Förster. „Gehen und hören tut er bloß halb. Aber beim Scheibenschießen wackelt er’s allweil noch eini. In der Schusslisten steht ein Dreier um den andern drin.“
Nun, der Förster selbst, ebenso wie jeder andere, war auch zufrieden mit seinem Erfolg. Und als Friedl kam und den ersten Schuss mitten hinein ins Schwarze brannte, war ihm das eine gute Verheißung für den weiteren Verlauf. Nur der „Herr Götz“ – du mein Gott – der hatte ein Kreuz mit seinem funkelnagelneuen Martinigewehr. Bald versagte ein Schuss, dann wollten sie nicht aus dem Lauf. Und krachte der Schuss, so ging das Gewehr bald zu hoch, bald zu tief, bald zuviel rechts, bald zuviel links. Der „Herr Götz“ wurde ärgerlich und klagte: „Heiliger Chrischtof! Jetzt macht mi aber die Sach mit dem Schtutze schon bald e bissele schtutzig!“
Die Schützen lachten, und es lachten auch die Bauern und Burschen, die den Eingang der Schützenhalle umdrängten. Da stand der Lenggrieser Bauer, der seine Alm besuchen wollte, der Flößer, der von Tölz zurückgewandert kam, nachdem er seinen Floß gut an den Mann gebracht, da stand der eine und der andere Bursch, den auf die Nacht sein Schatz in der Sennhütte oder in einem fernen Dorf erwartete, da stand auch ein Tiroler Hausierer, den Warenkasten auf dem gekrümmten Rücken – und alle lachten sie. Besonders einer lachte so laut, dass man ihn aus allen heraushörte, ein rohes, hölzernes Lachen.
Hastig drehte Friedl den Kopf. Alles Blut wich ihm aus dem Gesicht – der Lacher war der Huisenblasi! Breit stand er unter der Tür, den Hut schief gesetzt, den Schnurrbart aufgedreht und die Daumen in die gestickten Hosenträger eingehakt. Den Augen Friedls begegnete ein stechender Blick, und ein spöttisches Lächeln zuckte um den Mund des Burschen.
In Friedl kochte das Blut, seine Hände zitterten und krampften sich um den Gewehrschaft. Mit Gewalt musste er sich zur Ruhe zwingen, um nicht auf den Burschen loszustürzen. Auch in seiner glühenden Erregung sah er ein, wie widersinnig und nutzlos das wäre. Auf frischer Tat muss der Jäger den Wilddieb fassen, mit dem Gewehr in der Hand, wenn seine Anklage Wert und Kraft haben soll. Jede Unvorsichtigkeit des Jägers hätte den Blasi nur zur Vorsicht gemahnt oder ihn veranlasst, die räuberische Büchse für lange Zeit wieder an den Nagel zu hängen, während sie wohl jetzt noch droben in der Grottenbachklamm versteckt lag unter Moos und Steinen.
Auch der Förster und die anderen Jagdgehilfen hatten Blasi bemerkt und waren von seiner Gegenwart unerquicklich berührt. Sie dachten jener Geschichte, die sich vor Jahren an der Isar abgespielt hatte. Wenn sie auch vermuteten, dass Blasi vom Wildern nicht völlig kuriert war, so hatten sie doch nicht die leiseste Ahnung von dem, was Friedl wusste: Dass die beiden Füße dort in den sauberen Feiertagsschuhen auf den Bergen droben jene langen, breiten Spuren traten, jene Spuren mit den neun Nägelköpfen. Friedl hatte, was er wusste, vor dem Förster verschwiegen wie vor den anderen Jagdgehilfen. Er allein wollte mit dem Blasi Abrechnung halten. Da hatte er keinen Helfer nötig. Und als ihn am Schießstand wieder die Reihe traf, als er die Büchse zum Schuss an die Wange legte, schwamm es ihm vor den Augen – das Rauschen der Isar wurde zum Rauschen des Bergwaldes, statt der Scheibe sah er Bäume und ragende Felsen, und dort im Schatten einer überhängenden Wand lag ein verendender Hirsch. Über das Wild gebeugt, mit schief gesetztem Hut und aufgedrehtem Schnurrbart, stand ein schwarzhaariger Bursch, der in Schreck das Gesicht hob, hineinspähte zwischen das Dunkel der Bäume, dann in langen Sätzen hinunter flüchtete über Geröll und Latschenbüsche – nun krachte Friedls Schuss – und der Jäger sah nur noch die Scheibe da draußen und den Zeilerbuben, der vergeblich den Treffer des verhallten Schusses suchte.
„Aber Friedl“, brummte der Förster, „jetzt sollst dich aber doch schamen! A Jager, und d’ Scheiben fehlen!“
Friedl hörte das Gelächter nicht, das sein schlechter Schuss bei allen Schützen hervorgerufen hatte. Und als er, das rauchende Gewehr in der Hand, seinem Platz am Ladetisch zuschritt, sah er nur wieder den Huisenblasi und sein spöttisches Lächeln.
Es war ihm, als vermöchte er keinen Augenblick länger auf dem Fleck Erde auszuharren, auf dem auch jener andere stand. Verjagen konnte er den andern nicht. Drum wollte er selber gehen. Er nahm die Büchse auf den Rücken und sagte zu Benno, dass er heim müsse, um den Lauf, in dem sich, nach dem schlechten Schuss zu schließen, wohl ein „Brand“ angesetzt hätte, mit heißem Wasser wieder sauber zu wischen.
Als er zur Türe kam, sah er, dass Blasi verschwunden war. Und hörte noch, wie Hies dem Förster zuflüsterte: „Wann der Blasi die ganze Zeit nimmer gangen is, so geht er heut – wo er gsehen hat, dass keiern von uns im Revier is!“ Dem Jäger fuhr eine Sorge durch den Kopf, doch er wurde ihrer nicht recht bewusst, weil hinter ihm ein fideles Gebrüll von der Schießstätte herüber scholl. Hier war der schwerbäuchige Grenzaufseher Niedergstöttner, der alles drei Mal sagte, mit seinem ratzenkahlen Dampfnudelköpfl und seiner fiskalischen Kugelspritze als Scheibenschütz erschienen. Das weckte ein Gelächter ohne Ende. Und wenn die Zwerchfelle im Dutzend wackeln, kann sich in einem Menschen, der das hört, eine Sorge nicht bedrohlich auswachsen.
Aufatmend, halb erlöst von einer drückenden Last, trat Friedl in den Flur seines Hauses und hängte die Büchse an das Zapfenbrett. In der Stube, vor dem blank gescheuerten Tisch, der zwischen den beiden Eckfenstern stand, kniete seine Mutter auf den Dielen. Über die eine Hand hatte sie ein weißes, an drei Enden geknüpftes Taschentuch gezogen und ahmte am Rand des Tisches die Bewegungen einer Marionette nach, während sie dazu mit tiefer Stimme eine selbst erfundene Rede sprach. Auf dem Tisch saß Modeis Bübchen und guckte auf das bewegliche Spiel der drei weißen Tuchzipfeln, jauchzend vor Freude und mit den nackten Ärmchen zappelnd.
Wohltuend legte sich der Anblick des heiteren Bildes auf das erregte Gemüt des Jägers. Als er näher trat, streckte ihm das kleine Franzerl die Ärmchen entgegen und jubelte: „Att, Atti1!“ Und deutete nach dem weißleinen Theaterhelden, als wollte es den Jäger einladen, an seiner Freude teilzunehmen.
Schon am Morgen, auf dem Heimweg von Lenggries, hatte Friedl ein frohes Staunen darüber empfunden, mit welch rascher Zärtlichkeit das Kind sich an ihn anschloss. Und da es ihm jetzt so herzlich entgegenlachte und den kindlichen Liebesnamen rief, erwachte in ihm ein warmes Gefühl. Er hob das Kind an seine Brust und küsste ihm Mund und Wangen. Doch ein Schatten fiel über seine Freude, als die Mutter sich erhob und fragte: "Was is denn, Bub, warum kommst denn heim? Bist schon fertig mit'm Schießen?"
„Es hat mich drüben nimmer glitten!“ Verstummend sah er an dem Kind vorüber auf das irdene Schüsselchen, in dem ein paar Fliegen von dem spärlichen Rest einer Milchsuppe naschten. Als seine Mutter den Napf in die Küche trug, setzte Friedl sich auf die Bank. Während das Kind mit den runden, Grübchen übersäten Fingerchen in seinem Bart wühlte, spähte er forschend in die von kindlicher Freude überhauchten Züge. Er mühte sich, darin eine Ähnlichkeit mit jenem anderen zu finden. Das gelang ihm nicht. Wohl war das Haar des Kindes dunkel und gelockt, aber das war nicht jene schwarze krause Wolle, es waren die gleichen dunkel glänzenden, seidenweichen Löckchen, wie sie unter Modeis Flechten sich hervor stahlen und um ihre Schläfen ringelten. Mit linder Hand strich Friedl dem Kind über das Köpfchen und hielt das liebe, frische Gesichtl neben das Bild, das er lebendig in seinem herzen trug. Und als ihm aus den Zügen des Kindes immer nur die Züge der Mutter entgegenblickten, stieg in seinem Herzen eine dürstende Sehnsucht nach der Geliebten auf, die er lange Tage nimmer sehen sollte. Warum nicht? Erst der kommende Morgen rief ihn wieder zu seinem Dienst. Den heutigen hatte er frei. Er wollte ihn nützen.
Was kümmerte ihn da drüben die Schießstätte, von welcher Schuss um Schuss herüberhallte! Um Modei zu sehen, hätte er noch anderes geopfert als die Hoffnung auf eine seidene Fahne für einen guten Schuss.
Ob Modei sich freuen würde über seinen unerwarteten Besuch? Was hinderte ihn, sich diese Freude zu erzwingen, wenn er der Geliebten nicht nur einen Gruß von ihrem Kind – wenn er ihr das Kind selbst brachte, das sie seit Monaten nicht mehr an ihr Herz hatte drücken können!
Friedl sprang auf und rief in den Flur hinaus: „Mutter! Gschwind! Komm eini!“
„Was is denn?“ Die Mutter kam gelaufen und guckte verwundert auf ihren Sohn, der in Hast seine gute Feiertagsjoppe gegen die mürbe Dienstjoppe vertauschte.
„Mutter, sei so gut und zieh dem Franzerl a bissl ebbes an!“ Friedl brachte flink seinen Rucksack in Ordnung. „Ich will zur Modei auffi und will ihr ’s Büberl auf a Stündl mitbringen. Jetzt geht’s auf elfe, um zwei bin ich droben, und wann ich bis um fünfe abschieb von der Alm, da bin ich gut wieder herunten, eh d’ Nachtkühlen da is!“
„Aber Bub! Was fallt dir denn ein! Du bist ja net gscheid!“
Friedl ließ sich sein Vorhaben nimmer ausreden. Für jede Besorgnis hatte er eine Widerlegung in Bereitschaft, so dass seine Mutter schließlich das kleine Kittelchen und die gestrickten Schuhe des Kindes holte.
Noch war Franzerl nicht völlig angekleidet, als Friedl schon wegbereit vor dem Tische stand, Bergsack und Büchse hinter dem Rücken; den Bergstock musste er daheim lassen, um beide Arme zum Tragen des Kindes frei zu haben. Auch Bürschl, der freudig winselnd an Friedl hinauf sprang, wurde zu Stubenarrest verurteilt. „Wann ich ’s Kind hab, kann ich net auch auf den Hund noch aufpassen!“
Nun hob die Mutter selber das Kind auf den Arm ihres Buben und steckte ihm noch für den kühlen Abend ein seidenes Tuch in die Joppentasche. Und bei der Stubentür besprengte sie die beiden so ausgiebig mit Weihwasser, dass Franzerl vor diesem Getröpsel das Gesicht versteckte.
Friedl, um nicht am Wirtshaus vorüber zu müssen, machte einen Umweg, so dass er erst eine gute Wegstrecke hinter Fall auf den richtigen Fußpfad wieder einbog. Gemütlich wanderte er unter dem Schatten des Jungholzes dahin, immer mit dem Kinde schwatzend, dem er jede bunte Blume zeigte, die am Wege stand, und jeden schillernden Falter, der umhergaukelte in der sonnigen Luft. Als mit dem Weg auch die Hitze stieg, unter der das Kind schläfrig wurde, zog Friedl die Joppe aus und deckte sie zum Schutz gegen die Sonne über das Franzerl, dessen glühendes Gesicht an seiner Schulter ruhte. Vorsichtig machte er Schritt für Schritt, um den Schlummer des Kindes nicht zu stören.
Gegen zwei Uhr war die Alm erreicht. Von dem Rasenfleck, der hinter der Hütte im Schatten lag, hörte Friedl schwatzende Stimmen und Gelächter. Das vernahm er nicht gern, er hätte Modei lieber, wenigstens beim ersten Gruß, allein gefunden. Durch die offene Hüttentür sah er, dass Modei in der Almstube war. Als er zur Tür wollte, hörte er in der Stube auch die Stimme des alten Lenzl. Rasch duckte er sich hinter das aufgeklafterte Scheitholz, um zu warten, ob sich Lenzl nicht entfernen würde. Und da hörte er, was die beiden Geschwister da drinnen sprachen.
„Meinst net, heut kommt noch wer?“, fragte Lenzl.
„Die da draußen sind schon alle da“, klang Modeis Antwort, „wer soll denn sonst noch kommen?“
„Ich kunnt mir schon ein’ denken, der kommt.“
„Geh, du! Heut hat er ja dienstfrei und is beim Scheibenschießen.“
Dem Jäger in seinem Versteck begann das Herz zu hämmern; lauschend streckte er den Hals, um keinen Laut zu überhören.
„Was, Scheibenschießen?“, staunte Lenzl. „Wen meinst denn du?“ Ein spottendes Lachen. „Ich hab den alten Veri gmeint. Höi, Schwester, was bist denn auf amal so fuirig übers ganze Gsicht? Bis in Hals eini?“
Eine Weile blieb’s in der Sennstube mäuschenstill. Dann grollte Modei: „Lenzl, tu mich net plagen! So a Hitz, wie’s heut hat! Da wär’s kein Wunder, wann eim ’s Blut a bissl auffisteigt. Aber jetzt mach weiter und trag mir d’ Schüssel mit die Schucksen aussi! Die hungrigen Gäst müssen ebbes kriegen.“
Kichernd trat Lenzl aus der Tür und ging um die Hüttenecke, ohne den Jäger zu gewahren. Rasch erhob sich Friedl und sprang über die Stufen hinauf: „Grüß dich, Modei!“
„Jesus!“, klang es mit leisem Schrei vom Herd, und ein Teller klirrte. „Du bist da!“
„Ja! Und schau a bissl her, was ich mitbracht hab.“ Er zog die Joppe weg, die das Kind verhüllte, und Franzerl, aus dem Schlummer aufgeschreckt, guckte mit verschlafenen Augen in der Stube herum und auf die Mutter.
„Franzerl!“, schrie Modei in Freude, sprang auf Friedl zu, riss das Kind an ihre Burst, und während sie ihm das Gesicht mit Küssen überströmte, sprudelte ihr Jubel heraus: „Mein Franzerl! Franzerl! Liebs Schatzl, wie geht’s dir denn? An Ewigkeit hab ich dich nimmer gsehen! Engerl! Und wie schön bist worden! Schau nur, Friedl! Dös liebe, nette, süße kleine Gsichterl! Dö Äugerln! Dös Göscherl! Du mein liebs, liebs Kinderl du!“
Der Sturm dieser Zärtlichkeit war nicht nach Franzerls Geschmack. Das Kind schnitt ein Pfännlein. Und Friedl mahnte: „Geh, pflag’s net so! ’s Kindl is müd und verschlafen. Drei Stund am Weg! Und so a Hitz dazu!“
„Ja, Herzerl!“, flüsterte Modei. „Komm, jetzt mach ich dir recht a schöns Betterl. Da kannst nacher schlafen! Und wachst wieder auf, nacher sing ich dir Liederln, gelt, mein Herzl, mein liebs.“ Ihr Blick suchte in der Stube. „Daherinn mag ich’s net schlafen legen, der Herd macht soviel heiß, und alle Augenblick springt wer eini!“ Sie trat auf den Kreister zu, zog eine Decke und das Kissen vom Heu, ging in die Kammer und richtete auf dem Kühlen Backsteinboden dem Kind eine Schlummerstatt.
Friedl hatte Gewehr und Rucksack auf die Bank vor der Hütte gelegt. Nun kam er und lehnte sich an den Pfosten der Kammertür. „Weißt, ’s Kindl hat am Herweg schon a bissl gschlafen. Aber beim Steigen hat’s halt die richtig Ruh net ghabt und is allweil wieder aufgwacht. So a guts Kindl! Ich kann dir gar net sagen, was für a bravs Kindl dös is. Die ganze Mutter halt! Und drunt beim Kreuz, da hat’s a bissl zum weinen angfangt. Da hab ich mich mit ihm in Schatten einig hockt und hab ihm Blümerln bracht. Und den Kuckuck hab ich nachgmacht, ja. Und an Spielhahn, wie er falzt. Da war’s nacher gleich wieder zfrieden. Und pappelt hat’s, als ob wir schon hundert Jahr gut Freund wären mitanand. Und in d’ Haar und in Bart hat’s mi eini griffen mit die kleinen Handerln und hat mich beutelt, als ob’s a Schulmeister wär. Und bei der Nasen hat’s mich packt, und allweil hat’s mich Atti gheißen, Atti, Atti –“
„Net so laut!“, mahnte Modei. „Es schlaft schon ein!“
„Ja, und denk dir“, sprach Friedl flüsternd weiter, „dö Freud, dö d’ Mutter ghabt hat, wie ich’s bracht hab in der Fruh! Und wie mir eingfallen is, dass ich ’s Kindl auffitragen möchte zu dir, hat d’ Mutter gstritten und hätt’s am liebsten gar nimmer herlassen!“
Auf den Zehenspitzen trat Modei aus der Kammer und schloss mit leiser Vorsicht die Tür. „Dös freut mich von deiner Mutter. Jetzt wird s’ mir mein Büberl aber doch a paar Tag lang lassen müssen!“
„Na na, Modei! Am Tag tut’s es schon daheroben. Aber bei der Nacht is d’ Luft a bissl scharf für so a kleins Dingerl. Bis um fünfe müssen wir wieder durch. Da komm ich grad noch vor’m Schatten heim.“
„Geh“, schmollte Modei, „jetzt hab ich mich schon soviel gfreut!“
„Sei gscheid, Madl! Weißt, jetzt hab ich ’s Büberl, jetzt muss ich auch sorgen dafür.“
Mit frohem Lächeln sah Modei zu ihm au fund fasste seine Hand: „Schau, in der Freud hab ich ganz vergessen, dass ich dir a Vergeltsgott sag.“
„Geh, was fallt dir denn ein!“
„Soviel Plag hast dir aufgladen! Den weiten Weg! Und so a Kindl hat a Gwicht!“
Friedl lachte. „Ja, der Arm is mir a paar Mal eingschlafen. Wann ich aber denkt hab, wie viel Freud als d’ haben wirst, da hat mir d’ Muschkelatur gleich wieder pariert.“
Ein heißes Leuchten war in ihren Augen. „Friedl – soll’s ausschauen, wie’s mag – ich muss dir a Bussl geben!“ Sie schlang den Arm um seinen Hals und drückte einen herzhaften Kuss auf seinen Mund.
„No also!“ Er presste sie in Freude an sich. „Gut bist mir eh! Jetzt brauchst bloß noch ja sagen, und wir zwei sind Brautleut!“
„Hörst net auf!“ Lachend entwand sie sich ihm, schob ihn hurtig zur Hüttentür hinaus und sprang zum Herd, auf dem die Kochende Milch mit Zischen überlief.
Draußen in der Sonne griff der Jäger mit den Fäusten in die Luft. „Jetzt hab ich mein Glück! Jetzt hab ich’s! Und auslassen tu ich’s nimmer!“
Kapitel 9
Als Friedl die Hütte umschritten hatte, fand er eine kleine Gesellschaft, die im Schatten des vorspringenden Daches beisammen hockte.
Auf einer Holzbank, die man aus der Almstube herbei getragen hatte, saßen Punkl, Monika und ihre Freundin von der Scharfreiteralm, die Philomena. Die war so breit, wir ihr Name lang war. Vor den dreien stand der Tisch, dessen Alter erst eine Stunde zählte: Zwei in den Boden gerammte Pfähle und ein darüber genageltes Brett. Auf dem Tisch, in dessen Mitte die mächtige Schüssel mit den frisch gebackenen, appetitlich aussehenden „Schucksen“, prangte, standen vier Kaffeetassen von verschiedener Qualität: Die eine wollte nicht mehr gerade stehen, an zweien fehlte der Henkel, und bei der vierten ließen nur noch kleine Flimmerchen am Rand erkennen, dass sie vorzeiten einen schmalen Goldreif besessen hatte. Die vier Blechlöffel, die zwischen den Tassen lagen, zeigten eine schaufelartige Größe.
Der alten Punkl gegenüber, auf einer zweiten Bank, saß die andere Sennerin vom Scharfreiter, ein schlank gewachsenes, pfiffiges Mädel, die Binl, zwischen zwei Bauernburschen, dem Schnaderer-Hans von Winkel und dem Gauveitl-Gori von Achental. Während Lenzl auf dem Rasen ein bequemes Plätzchen gewählt hatte, deutete eine umgestürzte Wasserbutte an der Schmalseite des Tisches den Platz an, der für Modei bestimmt war.
In kummervollen Klagetönen, unter dem Schmunzeln der lauschenden Gesellschaft, erörterte Punkl die medizinischen Schwierigkeiten ihres leidvollen Daseins. „Ich sag’s enk, Madln, lasst senk verwarnigen von mir, solang’s noch Zeit is, und tuts an enker kostbare Gsundheit denken! Wann a Mensch da ebbes versaumt, da kommen zwidere Folgen. Die ganze Nerviatur verschlagt sich aufs Konstiduziament. Dös is a Naturgesetz, hat der Doktermartl gsagt. Und da hab ich an argen Gsundheitsversaumnisfehler verübt. Soviel reuen tut mich dös. Und spaternaus wird’s allweil rarer mit die Kurglegenheiten.“ Sie seufzte tief. „Auf’n gestrigen Abend hätt ich soviel Zutrauen ghabt. Aber es hat halt net mögen, es hat net mögen.“
„Was mich anbelangt, ich sorg allweil fleißig für mei’ Gsundheit!“, erklärte Philomen mit ernster Breite. „Eh dass ich da ebbes versaum, bleib ich lieber amal von der Kirch daheim.“
„Ah, was, geh“, stichelte die Binl, „wer wird denn so unchristlich sein! Für’n Herr Pfarr muss man allweil ebbes übrig haben.“
Da gewahrte Lenzl den Jäger und sprang mit einem Jauchzer vom Rasen auf. „Ah, schu, der Friedl! Gar net träumen hätt ich mir’s lassen, dass du heut noch da auffi kommst.“ Er kicherte und wurde leise: „Ich wart schon allweil seit in der Fruh!“
Auch von den anderen wurde Friedl munter begrüßt. Nur Punkl schien in schlechte Laune zu geraten, weil sie durch den Anblick des Jägers an den unbarmherzigen Hies und an die Enttäuschung des verwichenen Abends erinnert wurde. „Du, dein Kamerad, dös is a schiechs Luder!“, schimpfte sie erbost. „Äpfelschmarren kann er fressen. Aber sonst kann er nix.“
„Da tust d’ Mannsbilder unterschatzen“, sagte Philomen, „wann s’ mögen, können s’ alles.“
Noch hatte Friedl mit Gruß und Handschlag die Runde nicht gemacht, als Modei den Kaffee brachte. „Sooo!“ Sie stellte das Geschirr auf den Tisch. Die Punkl fuhr gleich mit der Nase schnuppernd in den Duft. Als sie zugriff, um die Tassen zu füllen, sah man es ihrem Eifer an, dass sie flinker den eigenen Genuss als den ihrer Freundinnen beschleunigen wollte. „Zucker! Zucker! Wo is denn der Zucker?“
„Geh, Lenzl“, sagte Modei, „drin am Herd steht er.“ Lachend sprang sie dem Bruder nach und flüsterte: „Schau a bissl ins Kammerl eini! Aber stad!“
Als Lenzl zurückkam, schmunzelte sein ganzes Gesicht. „Jesses, Modei –“
Die Schwester tuschelte: „Sei stad und sag nix! Sonst rennt mir die ganze Gsellschaft eini und weckt mir’s Kindl wieder auf.“ Sie wandte sich zum Tisch. „Also, greifts zu! Jeder muss selber schauen, dass er ebbes kriegt. Zureden, dös gibt’s net bei mir.“
Punkl griff mit beiden Händen in den Schucksenberg. „Wer trutzt bei der Schüssel, der schadt sich am Rüssel. Essen muss der Mensch. Dös is a Grundbedingnus für alles, was Gsundheit heißt.“
Während die Gäste sich mit ihrem Kaffee und den frisch gebackenen Nudeln beschäftigten, über deren Vorzüglichkeit sie sich in langen Lobsprüchen ergingen, ließ sich vom Steig ein lautes Putzen und Schnaufen hören. Veri bog um die Hüttenecke, die leere Kraxe auf dem Rücken. Bedenklich schwanke der Alte hin und her. Gori sagte: „Mir scheint, der möchte seiltanzen und kann’s noch net recht. Kerl, du hast ja an Rausch!“
„Ah!“, verneinte der Alte energisch.
„A schöns Quantl musst aufgladen haben“, meinte Monika, „wann du’s net amal bis da auffi wieder ausgschwitzt hast!“
„Lass mir mei’ Ruh!“, brummte Veri, während er die Kraxe ablud und sich neben Lenzl in das Gras plumpsen ließ.
Friedl trat vor ihn hin. „Wann ich von dir nur amal an anders Wörtl hören möchte als dien ewigs ‚Ah’ und dein ‚Lass mir mei’ Ruh’. Was denkst denn eigentlich du den ganzen Tag?“
„Nix!“
„A bissl ebbes musst doch denken!“
„Wann du so dumm bist, ich net!“
Ein schallendes Gelächter. Und an Veris Worte knüpfte sich eine lange Debatte, ob der Alte mehr Ursache hätte, von sich zu sagen: Ich bin net so dumm, als ich ausschau! Oder: Ich schau viel dümmer aus, als ich bin!
Veri kümmerte sich wenig um die Unterhaltung, die auf seine Kosten geführt wurde. Lang ausgestreckt lag er auf dem Rasen, hielt die Hände unter dem Nacken verschlungen, guckte mit steifen Augen in den blauen Himmel und machte einen Versuch, zu pfeifen, sooft der Gauveitl-Gori an den Saiten der Zither zupfte, die er neben sich auf der Bank hatte.
„Was is denn, Gori?“, sagte Monika. „Zupf net allweil unterm Tisch! Leg s’ auffi, die Klampfern, und spiel a bissl ebbes! Und gsungen muss werden! Nacher wird’s erst fidel!“
„Was hast gsagt?“, fragte Punkl.
„Dass man ebbes singen soll!“
„Ja, ja, wer fangt denn an?“
„Du, weil du die Schönste bist!“
Ein kokettes Lächeln grinste über das Gesicht der Alten. „Na, schön bin ich net, aber –“
„Tugendhaft, mager und wüst!“, rief Monika lachend.
Gori hatte die Zither auf den Tisch gestellt und seinem Kameraden zugenickt. Nun begannen die beiden jenes alte, im ganzen Hochland gern gesungene Lied: Vom Hütterl beim Baum am Bacherl.
„Bei eim Bacherl steht a Hütterl,
Bei dem Hütterl steht a Bam,
Und sooft ich da vorbeigeh,
Find und find ich halt net ham.
In dem Hütterl haust a Maderl,
Is so frisch als wie a Reh.
Und sooft ich ’s Maderl anschau,
Tut mir ’s Maderl anschau,
Tut mir ’s Herzerl halt so weh!
Und dös Maderl, dös hat Äugerln,
Wie am Himmel drobn die Stern,
Und sooft ich d’ Äugerln anschau,
Möchte ich halber narrisch wern!
Und ich kann’s halt ne vergessen,
Ob ich wach bin, ob ich tram,
Allweil denk ich an dös Hütterl
Bei dem Bacherl, bei dem Bam.“
In Friedls heitere Stimmung schien das Lied mit seiner fast schwermütigen Melodie nicht recht zu passen. Immer klopfte er mit den Fäusten auf die Knie, um den Takt des Liedes zu beschleunigen. „Ich glaub gar, ös zwei seids eingschlafen!“, rief er den beiden Burschen zu, als sie das Lied beendet hatten. „Auf d’ Alm ghört ebbes Lustigs!“ Er griff nach der Zither. Da fuhr ihm was Flinkes und Schnaubendes auf den Schoß herauf. „Jesses, mein Bürschl!“ Lang und rot ließ der Hund die Zunge zwischen den Zähnen heraushängen und keuchte, dass ihm die Flanken zitterten; dazu schnappte er freudig winselnd an der Brust seines Herrn hinauf, der den Kopf wenden und den Hals recken musste, damit ihm Bürschl mit der zärtlichen Schnauze nicht ins Gesicht käme. „Du Tropf du! Bist am End gar daheim durch d’ Fensterscheiben aussi? Ich glaub, du hast es schon heraus, dass von mir keine Schläg net fürchten musst? Aber jetzt mach weiter!“ Lachend streckte der Jäger die Knie, so dass der Hund auf die Erde rutschte. Dann rückte Friedl die Zither zurecht und sang in flottem Tempo:
„Ich bin halt vom Gebirg,
Und ich hab a frisches Blut,
Und ich hab a treues Herz
Und schöne Federn auf’m Hut.
Schöne Federn auf meim Hut
Stehn mir sakrisch gut,
Und a Schnurrbart dazua,
Bin a lustiger Bua!“
Bei den letzten vier Zeilen hatte sich der Taktschlag der Melodie noch verschnellert, und während Friedl spielte und sang, patschten Lenzl und die beiden Burschen die Hände zusammen, und die Mädchen schlugen im Takt mit den Blechlöffeln an die Kaffeetassen.
„A Sennrin, dö hat’s gern,
Hat’s gern, wann einer kimmt,
Der neue Liedeln kann
Und schöne Sträußerln bindt;
Der schön jodelt und schön singt
Und sein Hütl lustig schwingt,
Der schön jodelt und schön pfeift,
Und um d’ Almen ummaschleift.
Der Bua klopft leise an
Bei der Sennrin ihrer Tür:
Liebe Sennrin, geh, mach auf
Und lass mich ’nein zu dir!
Ja ja, so sagt die Sennrin gleich,
Komm eini, Herzensbua;
Wir kochen uns a Rahmsuppen,
Und alles haben mer gnua!
Sie bleiben da beisamm
In stiller Einsamkeit,
Bis fruh die Sonn aufgeht
Und bis der Kuckuck schreit!
Und wann der Kuckuck kugezt hat,
Geht’s wiederum vom Platz,
Gschwind noch a Busserl, oder zwei,
Und pfüet dich Gott, mein Schatz!“
Ein klingender Jodler, in den die andern einfielen, schloss sich an das Lied. Dann schwiegen plötzlich die Saiten und der Jodler verstummte – von den Bergen hallte ein Schuss, und rollend ging das Echo über die Wände hin.
Weiß wie die Mauer, war Friedl aufgesprungen. Der da geschossen hatte, das war der Förster nicht und keiner von den Gehilfen. Die waren drunten in der Schützenhalle zu Fall! Friedls Augen blitzten über den Berg hinauf. Wo der Schuss gefallen war, das konnte nicht weit sein, kaum eine halbe Stunde von der Alm. Und nun sprang der Jäger wortlos vom Tisch und verschwand um die Hüttenecke.
Modei, als sie den ersten Schreck überwunden hatte, wollte ihm folgen. Da kam Friedl ihr schon wieder entgegen, die Büchse in der Hand, den Rücksack über die Schultern ziehend.
„Friedl? Was is denn?“
„Fort muss ich!“
Sie umklammerte seinen Arm. „Jesus! Wo musst denn hin?“
„Fort, fort!“, keuchte der Jäger, während sein Blick die Höhe suchte. „Ich muss! Der Förster – ja, der Förster wartet da droben auf mich. Und da wird er gschossen haben, weil ich so lang net komm!“ Er wand seinen Arm aus Modeis Händen und sprang auf den Steig zu, der hinaufkletterte gegen die Berghöhe. Bürschl, der schlafend unter der Bank gelegen, fuhr knurrend auf und folgte in flinken Sätzen dem Jäger.
Regungslos stand Modei an der Hüttenecke. Da kam der Bruder zu ihr und flüsterte: „Dös war net der Förster!“ Modeis Gesicht verfärbte sich.
Friedl war schon eine Strecke emporgestiegen; ohne die Hast seiner Schritte zu mindern, bückte er sich und legte um Bürschls Hals die Schlinge der Hundsleine, die in den Tragriemen des Rucksackes eingeknotet war. Und jetzt verschwand der Jäger im Bergwald.
Zwischen den ersten Bäumen blieb er stehen, streifte die Schuhe herunter und steckte sie in den Rucksack. Nun sah er die Patronen in seiner Büchse nach und lauschte vorgestreckten Halses hinein in den steilen, von hohem Gestrüpp durchwucherten Wald. Er hörte nur das leise Rauschen der Wipfel und das matte Gurgeln einer nahen Quelle. Doch der Hund, der an allen Gliedern fieberte, streckte den Kopf und spähte mit funkelnden Augen zwischen die Bäume, während seine zitternden Augen zwischen die Bäume, während seine zitternden Nüstern den Wind einsogen, der ihm durch die Büsche entgegen strich. Friedl machte einen sachten Ruck an der Leine, und leise klang von seinen Lippen ein mahnender Zischlaut zu Bürschl nieder. Scheu wich der Hund hinter Friedls Füße zurück, schüttelte die Ohren und starrte wieder in die Büsche.
Langsam, Schritt für Schritt, jedes dürre Reis vermeidend, schlich Friedl unter den Bäumen hin. Seine Augen suchten, während er die Büchse schussfertig in den Händen hielt. Manchmal warf er einen unwilligen Blick auf den Hund, wenn unter Bürschls trippelnden Füßen das Reisig raschelte.
Die Stelle, wo der Schuss gefallen, konnte nicht mehr weit sein.
Dort drüben, nur ein paar hundert Schritt entfernt, wo sich die Bäume enger aneinander schlossen und kleine Felswände sich heraushoben aus dem buschigen Grund, da hielten die Gamsen gern ihre Mittagsrast, wenn sie aus der Sonne nieder zogen, um den Schatten zu suchen.
Je mehr sich Friedl dieser Stelle näherte, desto vorsichtiger wurde sein Schritt, desto achtsamer sein Aug und Ohr – desto unruhiger wurde aber auch der Hund.
Als der Jäger die erste der kleinen Felswände erreichte, gewahrte er auf feuchtem Grund eine frische Gamsfährte. Aus der Fährte musste Friedl schließen, dass die Gämse in der Flucht gewesen, entweder aufgeschreckt vom Schritt des Wilddiebes oder schon getroffen von seiner Kugel. Ja, getroffen! An den Blättern eines Almrosenbusches hing in roten Tropfen der frische Schweiß.
Bürschl war kaum mehr zu halten; er hatte die Fährte schon angenommen und hing mit gesenktem Hals an der straff gespannten Leine. So ließ sich Friedl von dem Hunde langsam auf der Fährte fortziehen, während er die Blicke forschend voraus sandte in jeden Busch, nach jeder Wandecke und in den Schatten eines jeden Baumes. Sein scharfes Auge war jetzt sein Leben.
Nun ein Laut wie das Klirren einer Messerklinge, die auf Stein fällt. Und hinter dem Astgewirr eines Latschenbusches gewahrte Friedl einen beweglichen weißen Schimmer. Es konnte nicht anders sein: Dort auf der Erde kniete einer, der die Joppe abgelegt hatte und mit den Händen an einem Etwas hantierte, das vor ihm auf dem Boden lag. Wer war das? Ein deutliches Erkennen war durch die Büsche hindurch nicht möglich – aber eine Ahnung, nein, eine untrügliche Stimme nannte dem Jäger den verhassten Namen.
Rasch entschlossen hob Friedl die Büchse. Schon wollte er die Lippen öffnen zum Anruf, da klang aus dem Busch das Röcheln eines verendenden Tieres. Heulend machte Bürschl einen wilden Satz und überschlug sich im Rückprall der Leine. Friedl wankte. Taumelnd fasste er, um nicht zu stürzen, nach einem Ast. Hinter den Latschen da drüben tauchte ein Kopf herauf und ein Büchsenlauf – ein Blitz, ein Knall – und Friedl spürte ein Brennen an der linken Wange. Er fuhr mit der Hand ins Gesicht und fühlte das Blut, das zu rinnen begann.
Dort drüben brachen die Äste, und die Steine kollerten unter den Füßen des Raubschützen, der in wilder Flucht den Berghang hinunterstürmte.
Noch einen Augenblick stand Friedl regungslos. Dann riss er das Messer aus der Tasche, durchhieb mit einem Streich die Hundeleine, in deren Schlinge Bürschl sich würgte. Winselnd sauste der Hund den Büschen zu, und Friedl stürmte, seiner nackten Füße nicht achtend, durch den Wald hinunter, in dem die Sprünge des Flüchtigen verhallten.
Kapitel 10
Hinter Modeis Hütte saßen sie alle beisammen, denen Friedl sein lustiges Lied gesungen hatte. Freilich, mit dem Jäger war auch der rechte Frohsinn verschwunden. Die Art seines Abschiedes hatte allen zu denken gegeben. Aber keines sprach seine Meinung offen aus. Immer wieder stockte das Gespräch – und als Gori auf der Zither ein paar altersgraue Schnaderhüpfeln zum Besten gab, fand er wenig Anklang.
Modei war verloren für jede Unterhaltung. Kaum vermochte sie die Unruhe zu verbergen, die an ihr nagte. Unter dem Vorwand, den Tisch zu räumen oder was zu holen, verließ sie immer wieder ihren Platz. In der Almstube stand sie klopfenden Herzens vor der Kammertür und lauschte, ob nicht das Büberl erwacht wäre – oder sie trat geräuschlos in den kleinen, kühlen Raum, ließ sich auf den Boden nieder, hauchte einen Kuss auf die im Schlummer glühende Wange des Kindes und blieb, bis ihre wachsende Unruh sie wieder aus der Hütte scheuchte. Einmal traf sie an der Hüttenecke mit dem Bruder zusammen. „Lenzl!“, stammelte sie. „Ich halt’s schier nimmer aus vor lauter Angst.“
„Was? Angst?“ Seine Stimme hatte harten, fast boshaften Klang. „Um den ein’ oder um den andern?“
Mit ihren trauernden Augen sah sie ihn schweigend an, tat einen schweren Atemzug und ging zurück in die Hütte.
Unter leisem Lachen streckte sich der Alte, hob die Fäuste und knirschte gegen die Berghöhe: „Wart, Mannderl! Heut kunnt der Tanzboden ebba noch ausrucken!“ Wie ein Erwachender sah er um sich her und murmelte: „Wo bin ich denn wieder gwesen?“ Beim Kaffeetisch hinter der Hütte fand er einen lustigen Spektakel. Da hatten sie den Veri und die Punkl hintereinander gesetzt. Vor Zorn pippernd, mit den Fäusten rudernd, knirschte die Alte: „Was? Ich, sagst, ich soll schuld dran gwesen sein, dass selbigs Mal vor a zwanzg a dreißg Jahr mit uns zwei nix füranand gangen is? Ah na! Ah na!“
„Lass mir mei’ Ruh!“, knurrte der Nachtwächter von ehemals.
„Ah na! Ich bin allweil a verstandsams Weiberleut gwesen. Ich hab allweil begriffen, was für a kostbars Gut die Gsundheit is. Aber du warst der Unverstand. Du Leimsieder, du gsundheitsfeindlicher! Gar net a bissl ebbes hast dir traut. Gar nix, gar nix, noch viel nixer als gar nix. Mach Reu und Leid und sag aufrichtig, ob’s wahr is oder net!“
„Ah!“ Diese erbitterte Verneinung aus seiner Torkelseele herausgurgelnd, wälzte Veri sich auf die Seite, vergrub das Gesicht in den Armen und wurde heftig vom alkoholischen Bock gestoßen.
Weil seine Schulterstöße anzusehen waren wie das Zucken eines Schluchzenden, verwandelte Punkls Empörung sich in klagende Rührseligkeit. „Gelt, siehst es endlich amal ein, wie viel ich deintwegen leiden muss?“ Mit hohen Gicksern fing sie zu weinen an. „Wann den angstifteten Schaden wieder – gutmachen willst – nacher kann ich auch net so sein – und – in Gotts Namen –“ Während sie schnuffelnd mit der einen Hand über Augen und Nase fuhr, streckte sie versöhnlich die anderen fünf Finger. „Da hast – mei’ Hand – du reumütigs Mannsbild, du!“
Einen galligen Zug in der sonst so zufriedenen Säuferphysiognomie, wackelte der Bekneipte sich mühsam vom Rasen in die Höhe. „Mei’ Ruh lass mir!“ Die leere Kraxe wie ein Kinderwägelchen hinter sich herziehend, taumelte er über den Berghang hinauf.
Entgeistert guckte ihm die Alte nach. Als sie den lustigen Rumor der anderen hörte, drehte sie sich wütend um. „Was is denn jetzt dös für a dumms Glachter? Heut hat er halt a bissl z’viel aufgladen, der Meinig. Wann er morgen sein Räuscherl ausgschlafen hat, so wird er schon mit ihm reden lassen.“
Da gewahrte Monika den Lenzl, der die Hände als Sonnenschirm über den Augen hatte und immer gegen den Bergwald hinaufspähte. „He, du, was speggalierst denn allweil da auffi?“
„Ich? So schauen tu ich halt a bissl – kunnt sein, dass heut noch a Wetter kommt! A grobs!“
„Was? A Wetter?“, lachte Gori. „Geh, du Narr! Aus’m Tirol glanzen die Berg ummi wie Glas. Und die verwunschene Alm schaut her, so weiß wie a frisch gwaschens Jungfernhemmed.“
Alle guckten sie zu der breiten Bergscharte hinauf, durch die aus blauer Weite die Zillertaler Gipfel mit ihrem silberweißen Ferner herüberblickten. Und Philomen fragte: „Was muss denn auf der verschneiten Alm da drüben passiert sein, dass man’s die verwunschene heißt?“
In erregter Heiterkeit antwortete Lenzl: „Dö Gschicht, dö hat sich vor tausend Jahr schon zutragen. Da musst die Punkl drum fragen. Dö is selbigs Mal schon Sennerin gwesen.“
Die Schwerhörige, mit dem Rest der Kaffeekanne beschäftigt, hatte ihren Namen vernommen. „Was hast gsagt?“
Philomen schrie ihr ins Ohr: „Dö Gschicht von der verwunschenen Alm sollst verzählen!“
„Ja, ja, dös is a schöne Gschicht. Tut senk herhocken! Jaaa, da drüben, wo jetzt der ewige Schnee liegt, da is vor viele hundert Jahr die schönste Alm gwesen. ’s Viech hat glanzt vor lauter Fetten, is kugelrund gwesen und hat Milli geben, ich kann gar net sagen, wie viel!“
Modei kam aus der Hüte. In ihrer quälenden Unruh hörte sie nicht, was am Tisch geredet wurde. Und immer irrten ihre Augen.
„Jaaa, Leutln, auf der selbigen Alm, da sind drei Sennbuben gwesen, einer a gottsfürchtiger, und zwei waren grausame Sünder.“
„Die schlechten sind allweil die mehrern!“, nickte Philomen.
„Was dö alles trieben haben! Dös is gar net zum glauben. Mit Kaaslaibln haben s’ d’ Hütten pflastert aus Übermut, und Kegel habens s’ gschoben mit die Butterballen.“
„Dös hat net weh tan“, meinte Gori, „wann’s dem Kegelbuben auf d’ Füß gangen is.“
Die Punkl hatte sich bekreuzigt um der Sünde willen, von der sie da erzählen musste. „So haben sie’s trieben, ja! Aber wann a hungriger armer Teufel kommen is, haben s’ Steiner ins Wasser glegt und haben s’ ihm geben als Nachtmahl. Oft hätt so a Verirrter verschmachten müssen, wann ihm der Gottsfürchtige net heimlich a Trumm Kaas zugschoben hätt. Deswegen haben ihn dö zwei Sündhaften wieder gmartert, den Gottsfürchtigen. Und dös hat sich gstraft.“
Die Spannung am Tisch erhöhte sich.
Den Zwiebelkopf zwischen die Schultern ziehend, machte Punkl sonderbare Bewegungen mit dem Zeigefinger. „Amal, auf’n Abend zu, is wieder a Fremder in d’ Hütten kommen, a magrer, langer, langer, endslanger Kerl –“
„Jöises“, staunte Philomen, „der is ja so lang, dass er gar nimmer aufhört!“
„Rappenschwarze Haar hat er ghabt und zwei Mordstrumm Augen wie brennheiße Glutbrocken –“
„Net schlecht!“, warf Binl ein. „Dös wär einer für der Punkl ihr Gsundheit gwesen.“
„Und der hat gsagt –“ Punkl fiel ins Hochdeutsche. „Üch habe ain Verlangän.“
Gor schüttelte den Kopf. „Wann er die Alte gsehen hätt, glaub ich kaum, dass er’s gsagt hätt.“
„Üch habe ain Verlangän, hat’rrr gsagt, gäbet mür zu ässen und zu drünken! Und da haben ihm die zwei Sündhaften wieder Wasser mit Steiner geben. Und selber haben s’ die größten Brocken Kaas verschluckt.“
In Monika rührte sich die barmherzige Seele. „Dö müssen schön Magendrucken kriegt haben.“
„Und auf amal –“ Geheimnisvoll ließ Punkl den Zeigefinger kreisen. „Auf amal, da fangt er zum Lachen an, der lange, lange Lange –“ Sie ahmte mit tiefer Stimme ein diabolisches Gelächter nach. Es klang, wie wenn ein Rehbock schreckt. „Und gsagt hat er:
Heut auf d’ Nacht
Werds alle umbracht.
Zwei werden gschunden grausi,
Den dritten schmeiß ich durchs Hüttendach außi!
Und wie er’s gsagt ghabt hat, da is er verschwunden – fffft – weg is er gwesen.“
Den Mädeln wurde gruslig zumut, und Monika konstatierte: „Dös war der Tuifi.“
„Jöises“, fieberte Philomen, „wird’s da nach Schwefel gstunken haben.“
„Dös kannst dir denken!“, nickte Punkl. „Und in der Nacht, wie’s auf zwölfe gangen is, da kommt a schauberhafts Unwetter.“ Ihre Hand machte eine flinke Bewegung im Zickzack. „A Blitz fahrt abi, und nacher tut’s an Kracher –“ Punkl schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch, dass die Löffel hüpften und die Tassen klingelten. Im gleichen Augenblick fiel droben im Wald ein Schuss – jener zweite Schuss des Wildschützen – und wie Donner rollte das Echo über die Felswände. Die drei Sennerinnen kreischten in ihrem abergläubischen Schreck. Dann herrschte beklommenes Schweigen am Tisch, und eines guckte das andre an.
Modei tastete nach einer Stütze. „Schwester!“, stammelte Lenzl und umschlang die Wankende. „Was hast denn?“
„Mir is net gut!“ Mit geschlossenen Augen fiel ihr Kopf auf die Schulter des Bruders.
„Was is denn mit der Modei?“, fragte Monika und erhob sich.
„Nix, nix!“, brummte Lenzl. „’s Madl is halt a bissl schreckhaft.“ Er wandte sich zur Schwester. „Komm, ich führ dich in d’ Stuben eini! Da kannst dich niederhocken in Ruh und a Tröpfl Wasser trinken.“ Er führte sie um die Hüttenecke.
„Kunnt sein, sie hat a schlechts Gwissen?“, kalkulierte Philomen. „Dös druckt allweil auf’n Magen, wann vom Tuifi d’ Red is.“ Ungeduldig schrie sie in Punkls Ohr: „Tu weiterverzählen! Gar net derwarten kann ich’s, bis er ihnen ’s Gnack umdraht. So ebbes is soviel schön!“
„Du!“, flüsterte Gori seinem Kameraden zu. „Da droben, mein’ ich, kunnt’s ebbes geben haben!“ Der andere zwinkerte mit den Augen und nickte.
„Wo war ich denn gleich?“ Um die Sinne zu sammeln, fasste Punkl mit beiden Händen ihren Kopf. „Ja, also, an Kracher hat’s tan, und d’ Hüttentür springt auf, und der rappenschwarze, lange, lange Kerl kommt eini –“
Monika schnatterte: „Mar’ und Joseph!“
„Kommt eini! Und packt den Gottsfürchtigen bei die Haxen und schmeißt ihn aussi durchs Hüttendach. Aber gar nix hat er gspürt, der Gottsfürchitge. Und gahlings is er dringlegen im schönsten Gras, so gmütlich, grad als ob er einigfallen wär zu mir ins Bett.“
„Vor so ebbes soll mich unser Herrgott behüten!“, sagte der Schnaderer-Hans von Winkel und bekreuzigte sich fromm unter dem Staunen der anderen.
„Jaaaa, Leutln“, erzählte Punkl, „und in die Lüft, da ha’ts zum Schneien angfangt, dass alles weiß war in der Nacht. Und aus der sündhaften Hütten hat der Gottsfürchtige zwei schauderhafte Brüller ghört –“
„Jetzt hat s’ der Tuifi in der Arbet!“, pipperte die aufgeregte Philomen, die ebenso reichlich mit Phantasie wie mit Speck gesegnet war. „Jetzt hat er s’ beim Gnack! Jetzt hat er s’! Herrgott, is dös ebbes Schöns!“
„Und alle Knöcherln hat er ihnen auf Bröserln druckt, grad dass man’s hören hat können – gnaaak, draaak, gwaaak – und nacher is a Schnee gfallen, und Schnee, und Schnee, und Schnee –“
Monika schauderte: „Geh, hör auf, es tut mich schon völlig frieren!“
„Und Schnee und Schnee und Schnee! Und wo ehnder amla die schönste Alm war, da hast nix mehr gsehen als lauter Schnee. Den hat kei’ Sonn nimmer gschmolzen, und z’ mittelst im Sommer liegt er da, wann umundum alles blüht. Und heutigentags noch heißt man’s die verwunschene Alm. Jaaa, Leutln, oft sagt einer: Dös is net wahr! Aber ich glaub’s, ich glaub’s, ich glaub’s – ich glaub alles!“ Hurtig fischte sie aus der Schüssel eine knusprige Nudel heraus und biss hinein, dass es krachte.
Kleinlaut sagte Monika: „Da mach ich a heiligs Glöbnis drauf – ich lass kein’ nimmer bei der Hütten vorbei, a jeder kriegt ebbes zum Essen, a jeder därf schlafen bei mir.“
„Da komm ich heut noch!“, schmunzelte der Hansl und bekam von seiner Binl einen festen Puff. „Weiter“, mahnte das Mädel, „heim, heim, heim! Mir brennt der Boden unter die Füß.“ Auch die Philomen ließ ihren Groi nimmer aus und tuschelte ihm an den Hals: „Heut Nacht, da bleibst bei mir in der Hütten. Sonst muss ich mich fürchten.“ Sie bekreuzigte sich ununterborchen, so lang, bis alle zum Aufbruch fertig waren, ausgenommen die alte Punkl, die beharrlich hochen blick und eine Nudel um die andere verschluckte. „Du“, schrie ihr die Monika ins Ohr, „kriegst denn gar net gnug?“
Traurig kauend, klagte die Alte. „Was hilft’s mir? Gsund machen tut’s mich doch net.“
Als die Wandergäste zur Hütte kamen, fanden sie Modei auf der Bank neben der Türe. „No, wie schaut’s denn aus mit dir?“, fragte Philomen. „Is dir a bissl besser?“
„Ah ja!“, nickte Modei. Ein müdes Lächeln verzerrte ihren Mund. „Wollts denn schon fort?“ Sie erhob sich und streckte die Hand. „An andersmal halt! Ich will en knet aufhalten. Ös habts an weiten Heimweg.“
Lenzl kam aus der Hütte, man schwatzte noch eine Weile, und dann wanderten die zwei Paare vom Scharfreiter über den Steig hinunter, während Punkl und Monika hinaufstiegen zu ihren Hütten. „Dö Geschichte hättst net verzählen sollen!“, sagte das Mädel. „So schön lustig war’s ehnder. Und jetzt! Völlig kalt is mir’s in der Magengrub.“
Noch immer kaute die Alte. „Was hast gsagt?“
Monika presste die Hand auf die Mitte ihres runden Lebens und brüllte: „Da drinn – ebbes Kalts tu ich allweil spüren, ebbes Kalts.“
„Ah naaa!“, grinste Punkl verschämt. „So dumm bin ich net. A bissl ebbes versteh ich schon von der Lieb. Jaaa, d’ Lieb is ebbes Warms – sagen d’ Leut.“
Die beiden verschwanden hinter den Latschenstauden, bis zu deren Nadelfahnen schon der Waldsaum sein langes Schattengezack herüberwarf.
Auch die Hütte war halb schon vom schleichenden Abendschatten umwoben.
Lenzl saß auf der Stubenschwelle. Flackernde Unruh in den Augen, lauschte er immer gegen die Kammer hin. Dort sang die Schwester. Das klang nicht wie ein Lied, es war wie ein leises Stöhnen in müder Qual. Nun schwieg die Stimme. Und nach einer Weile kam die Schwester und flüsterte: „’s Kindl schlaft wieder, Gott sei Dank!“
Der Bruder blieb stumm. Er sah nur die Schwester immer an.
Da trat sie aus der Hüttentür und krampfte die Hand in seine Schulter. „Lenzl! Halb umbringen tu mich d’ Angst!“
„Ah so? Wegen dem zweiten Schuss, meinst?“ Nach kurzem Schweigen sagte er hart: „Da brauchst net Angst haben! Der Blasi is a Feiner. Heut, am Sonntag, wird er gmeint haben, sind alle Jagdghilfen beim Scheibenschießen.“ Er lachte dünn. „Da hat er sich a bissl täuscht. Aber Angst? Ah na! Dem Blasi passiert net so leicht was.“
Unwillig schüttelte Modei den Kopf. „Ich mein’ ja net –“ Sie stockte, und die Blässe ihres Gesichtes verwandelte sich in Glut.
Schmunzelnd erhob sich Lenzl, wandte der Schewster den Rücken und machte sich mit dem Brennholz zu schaffen, das unter dem Schutz des vorspringenden Daches zum Trocknen an der Hüttenwand aufgeschichtet war. Schnell und eindringlich sagte er: „Arg gern muss dich der Friedl haben. Sonst hätt er dös schwere Kindl net bis da auffi tragen.“ Ein kurzes Lachen. „Oder meinst, es hätt sich der ander so plagt für dich?“
Lautlos presste Modei den Arm vor die Augen und ließ ihn wieder fallen, von einem Schauer gerüttelt. „Ich muss in d’ Hütten eini. Mein Kindl muss ich anschaun – oder ich halt’s nimmer aus.“ Sie wandte sich, blieb stehen, hob lauschend den Kopf und sah hinüber zu der Felshöhle, die nicht weit von der Hütte aus dichten Almrosenbüschen aufstieg.
Auch Lenzls Augen spähten da hinüber – Augen, in denen ein wildes Feuer brannte.
Droben, über dem Rand der Felsen, klang es wie flüchtige Sprünge auf lockerem Gestein. Nun kam es näher. Jetzt tauchte ein Kopf aus den Stauden.
„Blasi!“, schrie das Mädel erblassend.
Wie der Wilddieb herunterkam über die Wand, in der einen Hand die Büchse, mit der anderen da und dort nach einer Stütze haschend – das war kein Niedersteigen, es war wie ein Fallen und Stürzen. Kies und Erdstücke kollerten hinter ihm her, und pfeifende Steine schlugen in die Büsche. Und wie er aussah! An Brust und Armen war das Hemd zerrissen, und wo die Fetzen niederhingen, war die Haut bedeckt von blutigen Schrunden. Die Haare klebten ihm nass und wirr an den Schläfen, und das erschöpfte, mauerbleiche Gesicht war übergossen von Schweiß.
Keuchend wankte er auf die Hütte zu. „Modei! Verstecken musst mich! Der Jager is hinter mir!“
Unbeweglich, mit verstörtem Gesicht, mit schlaff hängenden Armen, stand das Mädel gegen den Pfosten der Hüttentür gelehnt. Und neben ihr schrillte in grausamer Freude die Stimme des Bruders: „Haben s’ dich amal! So hat’s kommen müssen! Hörst es rumpeln über deim Haardach? Tanzboden! Tanzboden, heut kriegst an Arbet!“ Unter irrem Lachen krampfte Lenzl die Faust um den Arm der Schwester. „Lisei! Her da zu mir! Dir lass ich nix geschehen –“ Seien erwachenden Augen irrten.
Atemlos hetzte Blasi über die Hüttenstufen herauf. „Mit jedem Schnaufer geht’s um mein’ Hals! Ich hab bloß noch a Schrotpatron in der Büx –“ Sein Blick huschte zum Wald hinüber. „Und der ander hat a Kugel im Lauf.“ Er taumelte zu dem aufgebeugten Holz hinüber und stieß die Büchse hinter die Scheiterbeuge. „Modei! Verstecken musst mich!“
Sie sagte tonlos: „Ich wüsst net, wo.“
„Bei dir im Bett. Da sucht mich keiner.“ Er wollte zur Hüttentür. Bevor er die Schwelle erreichte, sprang ihm Lenzl in den Weg und stieß ihn mit den Fäusten zurück. „Langsam a bissl! Solang ich da bin –“
„Du Narr! Meinst ebba, du zählst?“ Mit der Linken packte Blasi den Alten am Genick, mit der Rechten, presste er ihm den Mund zu und stieß ihn rücklings in die Hüttenstube, in deren Dunkel die lallenden Laute des Gewürgten erstickten. Modei wollte den beiden folgen, wollte wehren – und hörte hinter der Hütte einen jagenden Schritt. Eine Sekunde stand sie ratlos. Dann flog es wie ein Blitz der Erinnerung und des Entschlusses über ihr blutleeres Gesicht. Rasch zog sie die Hüttentür ins Schloss, riss Blasis Gewehr aus dem Versteck, klappte den Lauf auf, wie es ihr der Jäger einmal gezeigt hatte, zerrte die Patrone heraus, schleuderte sie hinunter in die Büsche und stieß das Gewehr wieder hinter die Scheiterwand.
Friedl erschien an der Hüttenecke. Beim Anblick des Mädels erzwang er seine Ruhe. „Modei?“
„Was?“ Wie versteinert war sie.
„Is da grad einer vorbei?“
„Kann sein – ich weiß net –“ Da sah sie das Blut an seiner Wange, und vor Schreck versagte ihr fast die Stimme. „Friedl! Jesus! Was hast denn?“
Er versuchte zu lachen. „Was soll ich denn haben?“
Sie jagte über die Stufen hinunter, mit erloschenem Laut. „Du blutest!“
„Ich? Bluten?“
Wortlos streckte sie die Arme.
Friedl griff nach seiner Wange, sah die Hand an und lachte. „Is schon wahr – so a bissl!“ Er ging zum Wassertrog und wusch das Blut von seinem Gesicht und lachte wieder. „Wird mich halt an Astl gstreift haben. Net amal gspürt hab ich’s. Und fort muss ich wieder. Gleich. Der Förstner, weißt –“ Während er hinüber sprang zum Talsteig, schwatzte er über die Schulter: „Wann ich net da bin bis um fünfe, muss der Lenzl unser Büberl abitragen – auf der Alm dürf ’s Kindl über Nacht net bleiben, es kunnt sich verkühlen. Pfüe Gott derweil!“
Aus ihrer Lähmung erwachend, sah Modei in tiefer Erschütterung den Jäger an, staunend in Qual und Freude. „Mensch! Was bist denn du für einer! Du bist wie der Christophorus.“
Lautlos öffnete sich die Hüttentür, Blasi sprang über die Schwelle, riss das versteckte Gewehr hervor und hob es an die Wange. Da schrillte hinter ihm die Stimme Lenzls mit gedrosselten Lauten: „Friedl! Decken musst dich!“ An Blasis Büchse knackte der Hahn. Und während Friedl sich wandte und das Gewehr zum Anschlag hinauf riss, starrte der Wilddieb in Bestürzung die versagende Waffe an, ließ sie aus den Händen fallen, sprang über die Stufen hinunter und brach vor Modei in die Knie. Das Gesicht in den Rock des Mädels wühlend, keuchte er: „Jetzt bin ich hin!“ Und droben bei der Hüttenschwelle schrillte das Gelächter des Alten.
Unter tonlosem Laut bedeckte Modei das Gesicht mit den zitternden Händen.
Langsam ließ Friedl die Büchse sinken. „Ah so?“ Sein Gesicht entfärbte sich, dass es wie Asche war. Nur der Blutfaden, der ihm von der Streifwunde über den Hals heruntersickerte, hatte Lebensfarbe. „Die alten Strick, scheint mir, heben noch allweil a bisserl.“ Er lachte heiser. „So ebbes kann dem gscheidesten Menschen passieren – einmal in der Wochen muss er a Schaf sein. Und heut hat’s mich troffen.“ Er ging zur Hütte und drehte auf den Stufen das Gesicht über die Schulter. „Da kannst jetzt denken, was d’ magst – ich tu, was ich muss.“ Während er über die letzte Stufe hinaufstieg, griff er nach seiner Wunde und sah die Hand an. „Blut? Is schon der Müh wert drum!“ Das Gewehr unter dem Arm, wollte er in die Hütte treten.
Von der Schwelle schrillte ihm die Stimme des Alten entgegen: „Friedl? Bin ich der Narr? Oder bist du einer? Mach kein’ Unsinn! Pack ihn zamm, den Saukerl, den gottverfluchten!“
„Wie, ruck a bissl!“, sagte der Jäger ruhig, schob den Alten mit dem Ellbogen beiseit und trat in die Sennstube.
Verdutzt hob Blasi den Kopf und sperrte die Augen auf.
Einen Schritt vor ihm zurückweichend, sagte Modei mit stählernem Laut: „Du – mach, dass d’ weiterkommst. Der Wasboden, über den a richtiger Mensch gangen is, vertragt kein’ söllenen, wie du einer bist.“
Blasi schnellte sich vom Boden auf, sprang zu den Stauden hinüber und blieb stehen. „Den hast dir aber gut dressiert! Pass auf, da komm ich bald wieder – wann’s bei dir so ungfahrlich zugeht.“ Lachend verschwand er hinter den Latschenbüschen.
Modei stand unbeweglich, mit dem Arm vor den Augen. Und über den Stufen droben setzte Lenzl sich auf den Stangenzaun und hob die gespreizten Hände zum Himmel. „O du heiliger Unverstand!“ Er ließ die Arme fallen und kicherte: „Jetzt hab ich allweil gmeint, dass ich verruckt bin. Derzeit sind’s alle andern – und ich bin der einzige mit Verstand!“
Der Jäger kam aus der Sennstube, hemdärmelig, hinter dem Rücken das Gewehr, auf dem Arm das schlafende Kind, über das er die Joppe gedeckt hatte. Mit dem Fuß stieß er Blasis Büchse beiseite, die auf den Stufen lag. „Sooo? Hat er schon flinke Füß gmacht? Freilich, Kurasch muss der Mensch haben. In Gotts Namen – und ’s Büberl trag ich wieder abi – es kunnt sich ebbes zuziehen da heroben.“ Als er an Modei vorüberging, sagte er bitter: „Heut bin ich a bissl unglegen kommen, gelt? Von morgen an hast die’ Ruh vor mir. Pfüe Gott!“
„Aber Mensch!“, kreischte Lenzl. „Sunst fallt dir gar nix ein?“
„Na!“ Der Jäger ging hinüber zum Steig.
„Friedl!“, schrie Modei mit erwürgtem Laut, rannte ihm wie eine Irrsinnige nach und umklammerte seinen Arm. „Lass dir doch sagen – Jesus, Maria –“
In Zorn befreite er sich von ihren Händen und wurde wieder ruhig. „Ja ja, is schon gut! Um ’s Kindl brauchst dich net sorgen. Dös is gut aufghoben bei meiner Mutter.“ Er räusperte sich, als wäre ihm was in die Kehle geraten, und ging mit jagendem Schritt davon.
Modei wollte schreien und hatte keinen Laut mehr. Sie wollte dem Jäger nachlaufen, taumelte mit zitternden Knien und strauchelte. Lenzl kam von der Hüttentür gesprungen, half der Schwester vom Boden auf und führte sie. Als sie auf die Stufen hinfiel und in Schluchzen ausbrach, sagte er: „No also! Jetzt tröpfelt ’s Wasser. Der Himmel is blau – und doch is a Wetter da!“ Sich aufrichtend, strich er langsam mit der Hand über seine Stirn. „Und was mit mir sein muss? Als wär mir ebbes aussigfallen aus’m Hirnkastl! Wie mich der Blasi drosselt hat – in der Stuben drin – da hab ich allweil a Fuier gsehen. A großmächtiges Fuier!“ Er machte eine wunderlich wilde Bewegung – wie einer, der ansetzt zu einem lebensgefährlichen Sprung. Dann löste sich plötzlich alle Spannung seines Körpers, und er hatte die Augen eines ruhig Erwachenden. „He? Schwester? Was is denn?“ Er rüttelte sie an der Schulter. „’s Wasser tröpfeln lassen? Und sunst kannst gar nix?“ Ein leises Lachen. „Hättst ihn halt net gehen lassen! Aber no, es wird schon so sein müssen, dass eim die besten Einfäll erst kommen, wann ’s Glöckl schon gschlagen hat.“ Er wandte das Gesicht zum Steig hinüber, und etwas Scheues, Feierliches war im Klang seiner Stimme. „Schwester! Jetzt weiß ich, was für an Menschen ’s Allerschwerste is.“
Sie klagte: „’s Elend tragen müssen, dös man verschuldt hat?“
„Na, Schwester! ’s Allerschwerste für an Menschen is: Verstehn, was gut sein heißt.“
Während sie langsam das Gesicht hob, ging er hinüber zum Steig und blickte hinunter in die Waldtiefe. Der Jäger war nimmer zu sehen; nur den Klapperschlag seiner Schuhe auf dem steinigen Bergweg hörte man noch. Lenzl lachte ein bisschen. „Von der Sonn weiß ich’s gwiss: Morgen kommt s’ wieder.“ Über die Schulter sah er zur Schwester hinüber. „Und der Mensch, sooft’s ihn abdruckt in d’ Nacht, der ruckt sich allweil wieder auffi. Drum muss er ebbes haben in ihm, was mit der Sonn a Verwandtschaft hat.“ Wieder spähte er hinunter in die schattige Tiefe. Dann schrie er einen klingenden Jauchzer in den Abend hinaus, dessen Himmel zu leuchten begann.
Diesen frohen Schrei hätte Friedl noch hören müssen, wenn seine Ohren nicht so taub gewesen wären, wie seine Augen blind. Er hetzte mit solcher Hast über den steilen Waldweg hinunter, dass er oft dem drohenden Sturz nur entging durch einen noch flinkeren Sprung. Nie des Weges achtend, immer mit dem Blick im Leeren, drückte er mit den Armen das wach gewordene, verschüchterte Kind an sich, als müsste er dieses kleine, hilflose Leben mit Gewalt hineinpressen in seine zuckende Seele. Unter seiner Stirne war ein Wirbel von Gedanken – keinen konnte er fassen und halten; an seinen Schläfen hämmerte das Blut; und die Streifwunde auf seiner Wange fing zu brennen und zu schmerzen an.
Als er zu einer Quelle kam, hielt er das Kind auf dem rechten Arm, tauchte mit der linken Hand sein Taschentuch in das Wasser und presste es auf die Wunde. Das tat ihm wohl. Die Kälte des nassen Tuches beruhigte ein wenig das tobende Blut. Aber je freier sein Kopf wurde, umso dumpfer fühlte er eine lähmende Müdigkeit in allen Gliedern. Und immer schwerer wurde die Last des Kindes auf seinem Arm.
Immer wieder blieb er stehen und lehnte sich zu kurzer Rast an einen Baum. Er fand keine Ruh, es trieb ihn heim. Kalte Schauer liefen ihm über den Rücken. Und es war doch die Sonne, nachdem sie schon gesunken, in einer Bergscharte wieder herausgetaucht und goss ihre warmen Strahlen auf ihn nieder durch das Gewebe der Äste!
Als könnte er diesen roten Glanz nicht ertragen, so schloss er immer wieder die Augen. Er tat es nur, um das Bild zu verjagen, das ihn quälte und nicht weichen wollte – das Bild des Mädels, dem die Angst aus den entstellten Zügen redete, die Angst um den Vater ihres Kindes, der sie verraten hatte – und dem zuliebe sie jenen verriet, dessen Herz ihr gehörte mit jedem Blutsstropfen!
Dann wieder war ihm, als hätte er nur einen wüsten Traum, aus dem er plötzlich erwachen müsste, um die liebe Wirklichkeit und das lachende Gesicht seines Glückes zu schauen. Aber die harten Steine auf seinem Weg, sie schreiende Qual in seinem Herzen, die brennende Wunde auf seiner Wange, das Kind auf seinen Armen – alles mahnte ihn: Das ist Wahrheit! Und dennoch konnte er diese Wahrheit nicht fassen, nicht begreifen. Er wusste nur, was er getan. Warum er so getan, und wem zu Nutz und Leibe – auf diese Frage fand er keine Antwort. Was musste ihm nur da droben durch den Kopf gefahren sein, dass er, im Augenblick der Entscheidung, seiner geschworenen Rache vergessen konnte, seines Jägerblutes und seiner Dienstpflicht, die ihm gebot, den Wilddieb zu fassen und vor den Richter zu liefern!
Die Hälfte des Weges hatte Friedl schon zurückgelegt, und in der Tiefe sah er schon die dunklen Felsklüfte der Dürrach. Da hörte er hinter sich die leichten Sprünge eines Tieres. Er brauchte sich nicht umzuschauen, um zu wissen, dass es sein Hund war, der wohl droben im Bergwald die von Blasi erlegte Gämse aufgespürt und nach langem Harren und Tot verbellen die Fährte seines Herrn gesucht hatte.
Friedl brachte es nicht über sich, dem Hund einen Blick zu gönnen. Bürschl trug die meiste Schuld, dass alles so gekommen war. Im ersten Groll, den Friedl gegen das Tier empfand, hätte er am liebsten die Büchse von der Schulter gerissen und dem Hund eine Kugel durch den Kopf gejagt! Doch er trug das Kind auf den Armen – und dann wieder schalt er sich selbst um dieser Regung willen. Er hätte voraus bedenken müssen, dass der Laut des Hundes ihm gefährlich werden konnte. Und war es denn nicht gerade die Treue des Tieres gewesen, die es bellend aufspringen machte gegen den Feind seines Herrn?
Auch Bürschl schien mit der Zurücksetzung, die er erfahren musste, nicht einverstanden. Winselnd stieß er immer wieder seine Schnauze an die Wade des Jägers.
„Hörst net auf!“ So hatte Friedl schon ein paar Mal hinunter gescholten zu dem Hund, dessen Zudringlichkeit ihn beim Gehen hinderte. Bürschl wollte nicht Ruhe geben. Unweit der Dürrachbrücke, wo rechts vom Pfad die Felsen sich niedersenken zur Tiefe des Bergwassers, während sie zur Linken steil emporsteigen, ließ Friedl sich endlich erweichen, beugte sich zu dem Hund hinunter, tätschelte ihm die fiebernden Flanken und hieß ihn durch eine Geste voraus springen auf dem schmalen Weg.
Als der Jäger sich aufrichtete, hörte er über der Felswand ein Knistern und Rascheln. Er blickte hinauf und sah einen großen Felsblock sich neigen, von dessen Rand zwei Hände sich lösten und verschwanden. Mit lautem Schrei wich Friedl einen Schritt zurück und deckte noch schützend seinen Arm über den Kopf des Kindes. Dann krachte und prasselte es nieder über die Steinecken der Wand, vor seinen Augen vorüber auf den Steig, den zerschmetterten Hund mit hinunter reißend in die Dürrachschlucht.
Auf Kopf und Arme waren dem Jäger die Steinsplitter geflogen, und ein schwerer Felsbrocken hatte seinen Fuß getroffen.
Grauen befiel ihn. Er jagte den Steig hinunter, wie von Sinnen die Arme um das Kind geklammert.
Die Wälder sah er tanzen und die Berge laufen. Und als er die Häuser erreichte, machten sie Purzelbäume – alle gegen seinen Kopf hin über das Franzerl weg.
Da war seine Stube – seine Mutter – er streckte ihr das Kind entgegen – „Jesus, Maria!“, dann brach er zusammen und stürzte mit Blut übergossenem Gesicht auf die weißen Dielen.