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SPRUCH DES JAHRES

Die Zensur ist das lebendige Geständnis der Großen, daß sie nur verdummte Sklaven treten, aber keine freien Völker regieren können.

Johann Nepomuk Nestroy

SPRUCH DER WOCHE

Duldet ein Volk die Untreue von Richtern und Ärzten, so ist es dekadent und steht vor der Auflösung.

 

Plato

 

LUSTIGES

Quelle: Aus dem umgestülpten Papierkorb der Weltpresse (1977)

Rubrik: Das süße Leben

Dallas, Texas - Vor einem Gericht gab Jack Stinney an, er habe seine Frau nur des Spaßes wegen verprügelt. Auf die erstaunte Frage des Staatsanwaltes ergänzte Stinney dann seine Aussage: "Allerdings verprügelte ich meine Frau nur wegen des Spaßes, den sie mit drei anderen Männern gehabt hatte."

Die Lehmänner
Die Lehmänner

Der Jäger von Fall

Ludwig Ganghofer

 

Vorspiel

Kapitel 1-5

 

Vorspiel

 

Eine stille, kalte Dezembernacht lag über dem Bergdorfe Lenggries. Die beschneiten Berge schnitten scharf in das tiefe Nachtblau des Himmels, aus dem die Sterne mit ruhigem Glanz herunterblickten in das lange, schmale Tal. Dick lag der Schnee auf Flur und Weg, auf den starrenden Ästen der Bäume und auf den breiten Dächern der Häuser, hinter deren kleinen Fenstern das letzte Licht schon vor Stunden erloschen war.

Nur die Wellen der Isar, deren raschen Lauf auch die eisige Winternacht nicht zum Stocken brachte, sprachen mit ihrem eintönigen Rauschen ein Wort in die alles umfangende Stille; und zwischendrein noch klang von Zeit zu Zeit der Anschlag eines Hundes, dem die Vergesslichkeit oder das harte Herz seines Herrn die Tür verschlossen hatte, und der nun aus seiner fröstelnden Ruhe unter der Hausbank auffuhr, wenn vor dem Hofgatter die Tritte des Nachtwächters im Schnee vorüberknirschten.

Langsam machte der Mann dieses einsamen Geschäftes seine Runde im Dorf, eine hagere, noch junge Gestalt, eingehüllt in einen weitfaltigen, bis auf die Erde reichenden Mantel, dessen Pelzkragen aufgeschlagen war; eine dicke Pudelmütze war tief über den Kopf gezogen, so dass zwischen Mantel und Mütze nur der starke, eisbehauchte Schnurrbart hervorlugte. Die Hände des nächtlichen Wanderers staken in einem Schliefer aus Fuchspelz. Mit dem Quereisen in den Ellbogen eingehakt, hing unter dem rechten Arm der hellebardenähnliche „Wachterspieß“, dessen Holzschaft lautlos nachschleifte im fußtiefen Schnee.

Plötzlich hielt der Wächter inne in seiner Wanderung. Vor ihm stand ein kleines Haus, dessen Giebelseite bis dicht an die Straße reichte, von der es durch einen schmalen eingezäunten Raum getrennt wurde. Wenn man sich ein wenig streckte, konnte man mit der Hand über den Zaun bis ans Fenster greifen. So tat der Einsame, und zwei Mal klirrte unter einem schwachen Klopfen das letzte der drei Fenster. Nach einer Minute klopfte er wieder, etwas stärker. Wieder wartete er, klopfte von neuem und immer wieder. Hinter dem mit Eisblumen bedeckten Fenster wollte nichts lebendig werden.

„Heut hört’s wieder amal gar nix, dös Teufelsmadl!“, brummte der Wächter, während er zusammenschauerte und mit den Lippen schnaubte, dass ihm die Eistropfen vom Schnurrbart flogen. Eine Weile besann er sich, ob er gehen oder bleiben sollte. Dann schlug er mit der ganzen Hand an die Scheibe, die bei dieser groben Misshandlung so heftig klirrte, dass auch ein stocktauber Schläfer hätte erwachen müssen. Und wirklich, in der Stube ließ sich ein Geräusch vernehmen, als würde ein Stuhl gerückt; gleich darauf zitterte die Fensterscheibe, öffnete sich um ein paar Fingerbreiten, und durch den Spalt fragte eine gedämpfte Mädchenstimme: „Was is denn? Was für einer is denn schon wieder da?“

„Ich bin’s, der Veri!“, klang leise die Stimme des Wächters. „Geh, Punkerl, mach a bissl auf! Ich muss schier sterben von Kält und Langweil.“

„Was hast gsagt?“

Veri neigte den Oberkörper so weit als möglich über den Zaun. „Dass ich a bissl fensterln möchte bei dir!“

„Was dir net einfallt!“, lautete die unwillige Antwort des Mädels. „Es scheint, du bist noch net gscheid auf deine dreißg Jahr? Meinst, ich stell mich bei so einer Kälten im Hemmed daher ans offene Fenster?“

„Kannst ja in a Rock einischlupfen.“

„Ah na! Gut Nacht! ’s warme Bett is mir lieber.“

Das Fenster schloss sich, und alles war still.

„So, so? An andersmal mag ich halt nimmer. Weißt was? Steig mir am Buckel auffi!“ Diese Worte schienen den Ärger des Abgeblitzten beschwichtigt zu haben. Gleichmütig, als wäre nichts Kränkendes geschehen, schritt er wieder die Straße dahin.

Die Langeweile machte ihn gähnen. In der ersten Hälfte der Nachtwache hatte er von Stunde zu Stunde auf den Glockenschlag passen können, um seinen Wächterspruch in die Nacht hinein zu singen. Das letzte seiner Lieder war längst erledigt:

„Ös Mannder und Weibsleut, lasst senk sagen,
Die Glock am Turm hat zwei Uhr gschlagen!
Bewahrt das Feuer, bewahrt das Licht,
Das enk an Leib und Seel kein Schaden gschicht!“

Nun war ihm auch sein Gesangsvergnügen genommen, weil ihm von dieser Stunde an die Gemeindevorschrift das Absingen des Wächterspruches untersagte. Ein nächtliches Unheil, das um zwei Uhr morgens noch nicht geschehen ist, kann warten, bis es Tag wird und bis sich die Bauern den Schlaf aus den Augen reiben. So schritt der Wächter seines Weges, sich damit unterhaltend, dass er von den Stangen der die Straße geleitenden Zäune mit dem Schaft seines Spießes den Schnee wegstreifte. Von dem vielstündigen Umherwandern ermüdet, setzte er sich auf einen der dicken Holzpflöcke, die an Stellen, wo von der Straße ein Fußpfad durch die Gärten führt, zum leichteren Überstiegen der Zäune dienen.

Veri machte sich’s bequem, scharrte von dem Fleck, wo seine Füße standen, den Schnee fort und betrachtete das ihm gegenüberliegende Gehöft des Meierbauern. Es war ein hölzernes Haus: Wohnraum, Stallung und Scheune in ein Ganzes zusammengebaut und alles überdeckt von dem lang gestreckten, weit über die Holzmauern vorspringenden Schindeldach, über dem sich der Schnee mit fester Decke gelagert hatte. Es war kein großer, reicher Bauernhof, aber Veri wäre glücklich gewesen, sich im Besitz eines solchen Gütls zu wissen; vielleicht wäre dann das verfrorene Punkerl vor einer halben Stunde weniger empfindsam gegen die Kälte gewesen.

Beim Meierhofer ging Veri häufig ein und aus, als Freund und „Spezi“ des fünfundzwanzigjährigen Lenzl, der mit den Eltern und seinem dreijährigen Stiefschwesterchen Modei1, einem Kind aus zweiter Ehe, hier wohnte. Es war ein bisschen Neid gegen Lenzl, was Veri empfand, als er sich dachte, wie hübsch es wäre, wenn er mit Punkerl, nein, mit einem anderen, mildherzigen und warmblütigeren Mädel durch diese schmale, niedere Haustür einziehen könnte als Mann und Frau. Er dachte sich mit einem junge, fröhlichen Weiberl in die geräumige Wohnstube, die mit der Küche den Raum zu ebener Erde einnahm; die große Bodenkammer, die über dem Stalle lag, an der Langseite ein Dachfenster hatte und den beiden alten Leuten als Schlafraum diente, erschien ihm in seinen Träumen von Glück und bettwarmer Liebe als die gemütlichste Ehestube; für die kleine Kammer, deren einziges Fenster nach der vorderen Giebelseite ging und in welcher Lenzl mit dem Schwesterchen schlief, hätte sich im Lauf der Zeit wohl auch eine passende Verwendung gefunden, meinte Veri. Und nun gar der schöne Stall mit den acht Kühen! Und die große Scheune, dick voll gepfropft mit dem besten Heu!

Aber Veri war ein armer, heimatloser Bauernknecht, der, um sich ein paar Kreuzer zu verdienen, jede Nacht für irgendeinen faulen und schläfrigen Burschen die von Haus zu Haus wechselnde Nachtwache übernahm. Ein Seufzer hob seine Brust, während sein Blick über das stille Gehöft glitt. Da bemerkte er auf dem Dach eine schwarze, schneelose Fläche, die ihm früher nicht aufgefallen war. Je schärfer er hinsah, desto deutlicher kam es ihm vor, als würde dieser Fleck immer größer; nun schwand auch an anderen Stellen der Schnee, und es klang dabei wie das Klatschen fallender Tropfen.

Kam Tauwetter? Veri hauchte kräftig in Luft. Als er im Dämmerschein des Schneelichtes den feinen Eisstaub gewahrte, zu dem sein Atem in der Kälten gerann, schüttelte er nachdenklich den Kopf und sah wieder hinauf zu den rätselhaften Flecken, die sich erweitert hatten und schon hinaufreichten bis zur Schneide des Daches. Nun war es ihm, als kräuselten sich da oben kleine, weiße Dampfwölkchen in die Luft; nun kam es dicker, nun grau, nun in schwarzen Wolken – nun barst das Dach, und eine Funken sprühende Feuergarbe schoss gegen den Himmel.

„Feuerjo! Feuerjo!“

Gellend hallte der Schreckensruf in die Nacht.

Veri stürzte auf das Haus zu und sprengte das verschlossene Gartenpförtchen. In hallenden Schlägen fuhr der Schaft seines Spießes gegen die verriegelte Haustür. Nichts regte sich da drinnen; nur im Stall war es unruhig; dort rasselten die Ketten, und dumpf brüllten die Kühe durcheinander. Immer wieder schlug Veri gegen die Tür und schrie den Feuerruf. Das war es ihm, als hätte er im Haus ein Poltern und Rufen vernommen; hastig sprang er auf die Straße hinaus, und in keuchendem Laufe rannte er hinunter durch das Dorf, vorüber an den Häusern, deren Fenster sich zu erleuchten begannen.

„Feuerjo! Feuerjo!“

Die Fenster klirrten, die Türen wurden aufgerissen. „Jesus, Mar’ und Joseph!“, klang es. „Wo brennt’s?“ Und der Schreckensruf des Wächters fand in hundert Kehlen ein kreischendes Echo. Wenige Minuten, und das stille Dorf war Leben und Aufruhr. Lärmend liefen die Leute zum Unglückshaus.

Der ganze Dachstuhl war schon umwirbelt von Flammen, die das brennende Heu und Stroh in dicken Bündeln mit sich hinaufrissen in die Lüfte und einen sprühenden Funkenregen niedergossen über die Nachbarhöfe. Und immer noch standen die Türen geschlossen. Aus der Stallung klang ein Poltern, Klirren, Stampfen und Brüllen, dass es zum Erbarmen war. Und immer noch standen die Türen geschlossen.

„Wo is der Bauer, die Bäuerin? Wo is der Lenzl?“, scholl es um das brennende Haus. „Heiliger Herrgott! Helfts! Um Gotteswillen, helfts! Schlagts alle Türen und Fenster ein!“

„Da her, Mannder, da her!“, schrie im Hintergrund des Gartens eine Stimme. „Da liegen zwei Zaunpfosten, da können wir d’ Haustür einschlagen!“

Wer in der Nähe stand, griff zu, die Balken wurden herbei getragen, dröhnend schlugen sie gegen die Haustür. Einige Sekunden noch, und krachend flog die Tür in den Flur zurück. Ein paar der Mutigsten versuchten einzudringen. Eine stickende Rauchwolke schlug ihnen entgegen, und im Dunkle des Flures leuchtete das vom Luftzug ermunterte Feuer. Alles da drinnen war altes, hundertjähriges Holz, an das die Flamme nur zu rühren brauchte, um Nahrung zu finden.

Ein Jammern ging durch das Gedränge der Leute; die Weiber fingen zu beten an, und vom Kirchturm klang das schrille Wimmern der Feuerglocke.

Plötzlich hörte man laute Hilferufe von der Giebelseite des Hauses. Die Leute rannten dieser Stimme nach.

„Heilige Maria! Helfts! Helfts! Mein Vater verbrennt und d’ Mutter!“ An dem kleinen Fenster der Giebelkammer stand Lenzl, in den Armen das Schwesterchen, dessen herzzerreißendes Geschrei sich in die Hilferufe des Bruders mischte. Über seinem Kopfe qualmte der Rauch durch das Fenster, steig an der Holzwand in die Höh und verschwand in den Flammen des Firstes. Eine wilde Aufregung bemächtigte sich der Leute, die zu dem grauenvollen Bild hinaufsahen. „Lenzl, spring aussi!“, rief ein Bauer. „Bringts Leitern!“, schrie ein zweiter. Ein dritter: „Tragts Betten her, dass er draufspringen kann!“ Ein anderer wies auf einen großen, mit Brettern überdeckten Heuhaufen, der im Hof eines Nachbarn stand. Männer und Burschen sprangen hinzu, rissen die Bretter fort und schleppten das Heu herbei, das sie unter dem Fenster auf die Erde warfen, während die anderen zu Lenzl hinaufschrieen: „Spring, Bub! Jesus, Maria! Spring!“

Lenzl schien nicht zu sehen, was unten vorging. Mit erwürgter Stimme schrie er immer hinein in die Tiefe des Hauses: „Vater! Mutter! Vater! Mutter!“

Da scholl aus dem Innern des Hauses ein dumpfes Krachen. Hoch schlugen über dem Dach die Flammen auf und leckten über den First gegen die Wände des Giebels. Es war höchste Zeit für die beiden Menschen dort oben am Fenster. Der ausströmende Rauch zeigte schon eine rote Färbung, die vom Feuer im Innern herrühren musste. Und immer noch wollte Lenzl nicht springen. Das schreiende Kind an seine Brust gedrückt, neigte er nur manchmal den Oberkörper heraus über die Fensterbrüstung, wenn der Rauch stärker anschwoll. Dann klangen wieder seine Jammerrufe: „Vater! Mutter!“

„Er springt net! Und verbrennt mitsamt dem Kind!“, flüsterte einer der Bauern dem Pfarrer zu. „Ich bitt Ihnen, rufen S’ auffi zu ihm, dass der Vater und d’ Mutter schon heraußen sind.“

„Seid ruhig“, gebot der Pfarrer den Leuten, „damit er mich hören kann!“ Dann hob er die Stimme: „Lenzl! Spring herunter! Dein Vater und deine Mutter sind nicht mehr im Haus!“ Ein wilder Freudenschrei gellte droben von den Lippen des Burschen; hastig schwang er sich auf die Fensterbrüstung und sprang herunter in das aufgeschüttete Heu, das über ihm zusammenschlug. Alles drängte auf den Heuhaufen zu, aus dem sich Lenzl herauswühlte. Das Hemd und die kurze Lederhose war alles, was er am Leibe trug, und an der Brust hielt er das Kind umklammert, eingewickelt in eine Lodenjoppe.

„Wo is der Vater? Wo is d’ Mutter?“, fragte er mit bebender Stimme, zitternd an allen Gliedern. Er hörte keine Antwort von den Leuten, die still und bleich den Geretteten umstanden. „Wo is der Vater? Wo is d’ Mutter?“, schrie Lenzl wieder. Ein Schauer rieselte über seine Gestalt. Da trat der Pfarrer auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter: „Fasse Mut! Wir alle sind sterbliche Menschen. Der Tod ist nur ein Übergang zu besserem Leben. Dort oben im Himmel wohnt ein Gott –“ Er konnte seine Trostrede nicht zu Ende bringen. Mit weit geöffneten, verglasten Augen hatte ihm Lenzl auf die Lippen gestiert. Nun fuhr er auf, stieß mit harter Faust den Tröster von sich und schrie: „Ich will kein’ Herrgott jetzt! Ich will den Vater haben! Und d’ Mutter!“ Scheu wichen die Leute vor ihm zurück, als er mit taumelnden Knie auf sie zuwankte. Er irrte durch Garten und Gehöft, im Kreis um das brennende Haus. Jedem Menschen spähte er ins Gesicht. „Vater! Mutter!“, klang immer wieder sein Geschrei. Und wenn das Kind in seinen Armen zu wimmern begann, neigte er das Gesicht zu ihm und flüsterte: „Sei stad, liebs Modei, sei stad! Ich find ihn schon, mein’ Vater! Und die’ Mutter! Sei stad, sei stad!“

Er fand sie nicht.

Gewaltsam musste man ihm den Weg zur Haustür verlegen, aus der schon die Flammen lohten. Mit geballter Faust schlug er auf die Burschen ein, die ihm den Zugang verwehrten, dann wankte er nach der Giebelseite des Hauses, trat wie ein Irrsinniger auf den Pfarrer zu und schrie ihm ins Gesicht: „Anglogen hast mich, Pfarrer! Sag mir’s, du! Was für a Herrgott is denn der deinig? Einer, der d’ Leut verbrennt? Mein Vater und d’ Mutter –“ Seine Worte verloren sich in ein schweres Stöhnen.

Da drängte sich durch den Kreis der Leute eine alte Bäuerin und fasste den Schluchzenden am Arm. „Komm, Lenzl! Dein Schwesterl kunnt verkranken in der Kält.“

Lenzl starrte in das vom Feuerschein gerötete Gesicht der Alten. „Grüß dich, Gold! Bist auch da? Weißt es schon?“ Tränen erstickten seine Stimme. „Der Vater und d’ Mutter –“

Es waren nicht übermäßig kluge Worte, die das alte Weibl in Lenzls Ohr flüsterte, aber es waren Worte, die aus einem fühlenden Herzen kamen. Lenzl hörte nur den warmen Klang dieser Worte, nicht ihren Sinn. Seine Kraft war zerbrochen. Willenlos folgte er der Alten, die ihn mit sich fortzog, hinaus aus dem Hofraum, ein Stück entlang die Straße und durch die niedere Tür ihres kleinen Hauses. Als sie mit ihm in die enge, vom Abend her noch wohl durchwärmte Stube trat, die von dem durchs Fenster hereinfallenden Feuerschein und von einer kleinen, auf dem Tische stehenden Öllampe rötlich erleuchtet war, stieg ein achtjähriger Knabe von der Fensterbank. „Grüß Gott, Ahnl“, sagte er schüchtern, „wo is denn der Vater und d’ Mutter?“

„Draußen sind s’ und helfen löschen. Geh zu, Friederl, hol a paar Kissen aussi aus der Kammer, und warme Decken! Geh, tummel dich!“ Der Bub warf einen scheuen Blick auf Lenzl und auf das klagende Kind, dann sprang er davon und verschwand in der Kammertür.

Nun nahm die Alte das Kind aus den Armen des Burschen, der wie geistesabwesend vor sich hinstarrte, und zog ihn zum Tisch. „Geh, setz dich a bissl nieder!“ Sie drückte ihn auf die in das Mauerwerk eingelassene Bank; willenlos ließ Lenzl alles mit sich geschehen; dann kreuzte er die Arme über dem Tisch, und stöhnend vergrub er das Gesicht. Mit zitternder Hand fuhr ihm die Alte ein paar Mal über das kurze, struppige Haar.

Da kam der kleine Bub. Er trug zwei große weiße Bettkissen und schleifte eine wollene Decke hinter sich her. Mit der freien Hand ergriff die Alte die beiden Kissen und legte sie, jedes ein wenig aufschüttelnd, über die niedere Lehne des neben dem Ofen stehenden Ledersofas. Dann wickelte sie das Kind aus der Joppe heraus, legte es in die Kissen, zog ihm das Hemdchen glatt, breitete ihm über die nackten Füße die Joppe und darüber die doppelt gefaltete Decke. Als sie das Kind noch auf dem arm getragen, war es schon eingeschlafen, und regungslos lag nun das Köpfchen mit den heißroten Wangen in den Kissen; die halb geöffneten Lippen zitterten unter stockenden Atemzügen, und von Zeit zu Zeit flog ein Zucken über die geschlossenen Lider.

Während die Alte sich in Sorge über das Kind beugte, fühlte sie ein leises Zupfen am Rock. Als sie aufsah, hingen die großen Augen des Buben angstvoll an ihrem Gesicht. „Ahnl, was is denn?“, fragte er scheu die Großmutter. „Is denn ’s kleine Maderl krank?“

„Gott soll’s verhüten!“, lautete die flüsternde Antwort. „Geh, Friederl, bet a Vaterunser! Dem armen Kindl is der Vater und d’ Mutter verbrennt.“

Die Tränen schossen dem Buben in die Augen, und erschrocken faltete er die Händchen über der Sofalehne.

Die Alte ging zum Tisch hinüber. Lenzl rührte sich nicht, als sie halblaut seinen Namen rief. Sie glaubte, dass auch ihn nach Aufregung, Schmerz und Ermattung der Schlaf überkommen hätte. Liese schlich sie durch die Stube und kauerte sich beim Ofen nieder, um das Feuer anzuschüren. Während sie langsam, jedes Geräusch vermeidend, die kurzen, dürren Holzscheite unter dem Ofen hervorzog, murmelte sie einen Feuersegen und bekreuzigte sich. Von draußen leuchtete noch immer mit wechselnder Helle die Lohe des brennenden Hauses in die Stube.

Friederl hatte, als die Großmutter hinter dem Ofen verschwunden war, die Hände unter das Kissen geschoben. Immer betrachtete er das schlafende Mäderl. Jetzt kam die eine Hand wieder zum Vorschein und glitt über das Kissen, bis sie das Kind berührte. Ein Zittern überflog die schmächtige Gestalt des Buben; nun neigte er das Gesicht und küsste schüchtern die heiße Wange des Kindes.

Da scholl von draußen ein dumpfes Krachen, begleitet von hundertstimmigem Geschrei. In der Stube zitterte der Boden, und die Fenster klirrten.

Lenzl fuhr auf und blickte verstört um sich.

Da fiel ihm der Feuerschein in die Augen. „Heilige Maria!“, schrie er. „Vater! Mutter! Es brennt!“ Dann sprang er zur Tür und stürzte hinaus. „Wo brennt’s denn? Jesus, wo brennt’s denn?“, scholl von draußen seine Stimme.

„Lenzl!“, jammerte die Alte, während sie sich aufrichtete und dem Burschen nachrannte. „Lenzl!“, schrie sie über die Straße hinaus. „Lenzl, wo bist denn?“ Sie sah und hörte nichts mehr von dem Burschen. So schnell, als ihre alten Füße sie zu tragen vermochten, lief sie hinüber zur Brandstätte.

In sich zusammengestürzt lag das Haus; glühend, glimmend und rauchend kreuzten sich auf der Erde die eingesunkenen Balken und Sparren; nur auf der Stelle, wo der Stall gewesen, prasselte noch eine helle, gelbe Flamme, und zugleich mit ihr wehte ein dicker Dampf und ein widerlicher Fettgeruch in die Lüfte. Vor dem Gluthaufen, im Hofe, stand die Feuerspritze des Dorfes und sandte stoßweise ihren dünnen Wasserstrahl zwischen das eingestürzte Gebälk. In zwei langen Reihen standen die Leute bis hinunter an die Isar, und die leeren und wieder gefüllten Wassereimer wanderten durch hundert Hände hin und zurück. Diese Arbeit ging schon träge vonstatten; das verschüttete Wasser hatte in der scharfen Kälte die Hände der Leute starr gemacht; auch sahen sie ein, dass hier nichts mehr zu retten und für die Nachbarhäuser ein Schutz nimmer nötig war. Die einen und anderen waren schon, aus der Reihe getreten, die Hände reibend und behauchend oder die Arme um die Brust schlagend.

Bei allen Gruppen, überall hatte die Alte nach Lenzl gefragt; niemand konnte ihr Bescheid geben, niemand hatte den Burschen gesehen.

„Mich sollt’s gar net wundern“, sagte ein Bauer, „wann der arme Kerl mitten eini gsprungen wär ins Fuier oder am End gar in d’ Isar. Vater und Mutter verlieren! Und so a schöns Anwesen! Dös is kein Spaß. Mich dauert er schon recht, der Lenzl!“

„Und erst die armen Küh!“, jammerte ein anderer. „Die dauern mich am meisten. So viel dumm is so a Viech. Wann’s brennt und man macht ihm d’ Stalltür auf, meinst, es lauft aussi? Na! Erst recht rennt’s mitten eini ins Fuier!“

 

„Jesus! Da ist der Lenzl!“, scholl die Stimme der Alten aus einer Ecke des Gartens. Die beiden Bauern und mit ihnen noch ein paar andere liefen der Stimme nach. Lang ausgesteckt ,die Arme gespreizt und unbeweglich, lag Lenzl mit Brust und Gesicht im Schnee. Wie es schien, hatte er den Zaun überklettern wollen und einen bösen Sturz getan. An seiner Seite kniete die Alte, rief seinen Namen und schüttelte seine Schulter. Und bettelte: „Mannder, so helfts mir doch a bissl! Und hebts ihn auf! Und tragts ihn ummi zu mir! Ich fürcht, ich fürcht –„

Vier Männer hoben den Lenzl auf und folgten mit ihrer Last der Alten. Eine Schar von Neugierigen geleitete den Zug; ein Teil von ihnen kehrte auf halbem Wege wieder um, denn die Leute mussten nun auch daran denken, die ausgefrorenen Glieder zu wärmen und an die Arbeit zu gehen, die der Morgen brachte.

Längst schon hatte sich das Dunkle des Himmels abgetönt in das fahle Grau des werdenden Wintertages, und über die Spitzen der Berge fiel das erste Frührot.

Als die Alte mit den Männern, die den Ohnmächtigen trugen, in die Stube trat, fand sie den kleinen Friedl vor dem Sofa auf den Knien liegen. Sein Kopf ruhte auf den Kissen, und schlummernd hielt er ein Händchen des Kindes an seinen Mund gehuschelt.

Das Öllicht auf dem Tische musste eben erst erloschen sein; von dem rußigen Dochte stieg noch ein dünner Qualmfaden gegen die Stubendecke.

 

Kapitel 1

 

Wer von Lenggries an der Isar aufwärts wandert, um über Hinterriß und das Plumserjoch hinabzupilgern an den blaugrünen Achensee, der hat voraus zwei gute Stunden zu marschieren, um die erste Haltstation, den Weiler Fall, zu erreichen. Eng eingezwängt zwischen ragende Berge und bespült von den kalten Wassern der Isar und Dürrach, die hier zusammenfließen, liegt dieser schöne Fleck Erde in stillem Frieden. Hier ist nur wenig Platz für Sommergäste; ein kleines Bauernhaus zuvorderst an der Straße, dann das Wirtshaus, das den Köhlern und Flößern zur Herberge dient, dahinter das lang gestreckte Forsthaus mit den grünen Fensterläden und dem braun gemalten Altan, das neue weiß getünchte Stationshaus der Grenzwache, eine kleine rußige Schmiede und einige Köhlerhütten, das war um 1880 der ganze Häuserbestand von Fall.

Im Hochsommer, zur Zeit der Schulferien, sah man wohl von Tag zu Tag ein paar Touristen, selten einen Wagen. Die Stille des Ortes wurde nur unterbrochen durch das dumpfe Poltern der Holzstämme, die, von den Hebeln der Flößer getrieben, hinabrollten über die steilen Ufer der Lagerplätze und mit lautem Klatsch in das Wasser schlugen. Hier und da durchhallte ein krachender Schuss das kleine Tal, wenn der Förster oder einer der Jagdgehilfen seine Büchse probierte. Am lautesten war es, wenn des Abends die Schatten niederstiegen über die Berge; dann füllte sich die geräumige Gaststube des Wirtshauses mit Köhlern und Flößern, die Jagdgehilfen kehrten zu und die Holzknechte, die in den benachbarten Bergen arbeiteten. Durch die offenen Fenster schollen dann vergnügte Lieder hinaus in die Abendluft, die Zither klang, verstärkt durch die schnarrenden Töne einer Gitarre oder einer Mundharmonika, und der Fußboden dröhnte unter dem Stampftakte des Schuhplattltanzes. Dazwischen tönte lautes Gelächter über ein gelungenes Schanderhüpfel, über irgendeinen derben Witz oder über den misslungenen Sprung eines Tänzers, der es vergebens versuchte, im Tanz den schwer beschuhten Fuß bis an die Stubendecke zu schlagen. Das Wirtstöchterchen und die Kellnerin hatten dann vollauf zu tun mit Tanzen und Einschenken, und erst in später Nacht endete die laute Fröhlichkeit, wenn entweder das Bier ausging oder wenn die Gäste sich daran erinnerten, dass die frühe Morgenstunde sie wieder zur Arbeit rief.

So war’s im Sommer. Im Winter liegt hier alles eingeschneit; oft reicht der Schnee bis hoch an die Fenster, zum großen Leidwesen der Jagdgehilfen, die sich dann mit schwerer Müh einen gangbaren Weg bis zur Tür des Wirtshauses ausschaufeln müssen. Nur die Isar bleibt auch in solcher Zeit noch munter und lebendig. Jahraus, jahrein, durch Sommer und Winter, rauscht das eintönige Lied ihres hurtigen Wellenlaufes. Früher, vor Jahren, suchte sie nicht so gemütlich ihren Weg. Da grollte, brauste und toste sie in ihrem steinernen Bette, warf an den starrenden Felsen ihre lauten, weißen Wellen auf, mit wilder Gewalt zwängte sie ihre Wassermassen durch die einengenden Steinklötze der beiden Ufer und stürzte sie dann hinab, schäumend und wirbelnd, über drei aufeinander folgende Fälle. Da hatten die Flößer schwere Not, wenn sie mit ihren zerbrechlichen Fahrzeugen diese Stelle passieren mussten, und mancher verlor mit seinem Floße auch das Leben. Die meisten Schiffer zogen es vor, eine Strecke oberhalb der Fälle ans Land zu steigen, die steuerlosen Flöße an den Felsen der Flussenge zerschellen zu lassen und dann weiter unten im Storm die einzeln daher treibenden Stämme wieder aufzufangen. Die Klugheit der neuen Zeit hat sich auch hier betätigt. Pulver und Dynamit haben die „Steine des Anstoßes“ zertrümmert, und ungefährdet passieren jetzt die Flöße die einst so gefürchtete Stelle der Isar.

Hier in Fall, ganz zuvorderst an der Straße, die von Lenggries einher zieht, steht ein kleines, freundliches Bauernhaus. Der ebenerdige Stock, der einen nicht übermäßig geräumigen Stall und eine Futterkammer umfasst, ist aus Felsstücken aufgeführt und lehnt sich mit seiner Rückwand gegen einen Hügel, in dem Winkel, den die Straße mit dem Strom bildet, wo sie vom Ufer sich abzweigt gegen das Wirtshaus. Über dem Unterstock erhebt sich der aus Balken gefügte Oberstock, der die Wohnräume umfasst: Neben Flur und Küche eine Wohnstube und zwei Kammern. Darüber spannt sich, weit vorspringend über den Giebel, das mit schweren Steinen belegte Schindeldach. In seinem Schatten hängen drei Scheiben an der Giebelwand. Der kleine weiße Holzzapfen, den jede in ihrem durchschossenen Zentrum trägt, verkündet, wie gut der Herr dieses Hauses die Büchse zu handhaben weiß. Unter diesen Scheiben und zwischen den beiden Fenstern des Giebels führt in das Innere des Hauses eine niedere Tür, zu der sich vom Hügel her eine kleine Holzbrücke spannt.

Es ist ein heißer Augusttag. Die Sonne brennt vom Himmel herab und zeichnet mit dunklen Schatten die Umrisse des vorspringenden Daches auf die Holzwand des Hauses.

Auf der Brücke vor der Tür steht ein schlank gewachsener Bursch in der Tracht der Jagdgehilfen: Schwer genagelte Schuhe an den nackten Füßen, dickwollene weiße Wadenstrümpfe, die kurze gamslederne Hose, ein blaugestreiftes Leinenhemd, an der Brust offen und nur zusammengehalten von einem leicht geschwungenen schwarzen Halstuch, die graue Joppe mit dem grünen Aufschlag, der als Dienstzeichen das goldgestickte Eichenlaub trägt, der Bergsack auf dem Rücken, und auf dem Kopf der kleine, runde Filzhut mit dem nickenden Gamsbart. Das Gewand des Burschen ist abgetragen und verwittert; die Büchse, die er hinter dem Rücken trägt, ist neu und blank, und die Stahlläufe blitzen in der Sonne.

Die nachlässige, vornüber gebeugte Haltung des Oberkörpers lässt kaum vermuten, welch kraftvolle und sehnige Gestalt in diesem verblichenen Gewande steckt. Das Gesicht ist sonnverbrannt, ist dunkler als der leicht gekrauste, rötlichblonde Bart, der es umrahmt. Es redet eine stille, gewinnende Sprache; die klaren, lichtblauen Augen sind es, die dem Gesicht diesen freundlichen Ausdruck verleihen.

In der einen Faust hält der Jäger den langen Bergstock, während er mit der anderen die Hand einer alten Frau umspannt, die unter der Türe steht. „Pfüet dich Gott, Mutter! In vierzehn Täg bin ich wieder daheim vom Berg. Und sorg dich net!“

„Pfüe Gott halt, Friedl! Und gib mir a bissl acht beim Steigen!“

„Ja, ja!“

„Und was ich noch sagen will –„ Die Mutter zog ihn näher an sich. „Wann droben in d’ Näh von der Modei ihrer Hütten kommst, geh lieber dran vorbei!“

„Mutter, da bin ich, wie d’ Mucken sind! Allweil zieht’s mich wieder eini ins Licht, und ich weiß doch, wie’s brennt!“ Friedls Stimme klang gedrückt, und ein Schatten von Schwermut huschte über seine Augen.

Die Mutter legte ihm die Hände auf die Schultern. „Geh! So a Mannsbild wie du! Und so an unsinnige Narretei! Schau, ich setz den Fall, ’s Madl kunnt dich gern haben, so wär’s doch allweil nix mit enk zwei. Du weißt schon, wegen was! – Jetzt geh! Sonst kunnt der Herr Förstner schelten, weil dich so lang verhaltst. Pfuet dich Gott, mein Bub!“ Dabei schob sie ihn über die Brücke und durch die niedere Zauntür, die sie hinter ihm ins Schloss drückte.

Ohne ein Wort der Erwiderung hatte Friedl das mit sich geschehen lassen und stieg nun, den Blick zu Boden gerichtet, über den Hügel hinab zur Straße.

Er musste sich beim Förster abmelden, bevor er auf die Berge stieg, um nach den paar Ruhetagen, die er genossen hatte, dort oben seinen vierzehntägigen Aufsichtsdienst wieder anzutreten. Der Weg zum Förster führte am Wirtshaus vorüber. Vor der Tür, auf einer erhöhten Backsteinterrasse, stand im Schatten der aus dem Giebel vorspringenden Holzaltane ein Tisch. Hier saß ein junger Mann; während er mit beiden Händen den vor ihm stehenden Bierkrug umspannte, lauschte er aufmerksam den Worten des neben ihm sitzenden Wirtes, der seine Rede mit lebhaften Armbewegungen begleitete.

Der Wirt – von allen, die bei ihm aus und ein gingen, kurzweg „Vater Riesch“ genannt – verkörperte mit seiner breiten, gedrungenen Gestalt und dem verschmitzten Faltengesicht, in den langen Schlotterhosen, dem weißen Hemd und der offenen Weste den landläufigen Typus der Hochlandwirte; auch der große Kropf fehlte nicht, dem ein braunseidenes Halstuch zur bequemen Schlinge diente. Sein Zuhörer trug ein Gewand, das der Tracht eines Jagdgehilfen glich; es war verwittert und abgetragen, zeigte aber doch eine bessere Art und einen feineren Schnitt. Die nackten Knie waren wohl auch gebräunt und von mancher Narbe durchrissen, aber die Stirne war weiß, und der wohl gepflegte blonde Bart wie die goldene Brille vor den blauen Augen verriet den Städter. Der Förster und die Jagdgehilfen nannten ihn „Herr Doktor“. Sein Vater, der einst Oberförster gewesen, amtete seit einigen Jahren in der Residenz als Forstrat; den Sohn zog es mit jedem Sommer in die Berge, und gerne saß er mit Flößern und Holzknechten beisammen, plauderte und sang mit ihnen in ihrer Art und Sprache, oder zog, das Gewehr auf dem Rücken, mit einem der Jagdgehilfen hinauf ins Gamsrevier, wo er an Ausdauer und Handhabung der Büchse keinem gelernten Hochlandsjäger nachstand, oder er saß, wie eben jetzt, mit dem Wirte hinter dem Bierkrug und ließ sich alte Geschichten von Jägern und Wildschützen erzählen.

So eifrig waren die beiden in Schwatzen und Lauschen vertieft, dass sie den Jäger nicht bemerkten, bevor er nicht dem Doktor auf die Schulter klopfte mit den Worten: „Sie sind ja schon ganz blau! Was hat er Ihnen denn schon wieder für a grausige Gschicht aufbunden, der Vater Riesch?“

„Gehst net weiter, du Kalfakter!“, schalt der Wirt. „Willst mir leicht gar mein’ besten Kunden abspenstig machen? Da, trink lieber, is gscheider!“

Friedl fasste den Krug, den der Wirt ihm geboten hatte, und tat einen festen Zug.

„Gehst du in Dienst? Wohin?“, fragte der Doktor.

Friedl setzte den Krug auf den Tisch. „Zur Lärchkoglhütten muss ich heut auffi. Was is? Nix mit? Im Luderergwänd wär a guter Gamsstand. Ich mein’, da schauet was aussi, wann wir morgen durchsteigen möchten.“

„Oho! Gleich bin ich fertig!“, rief der Doktor erfreut, sprang auf, steckte die auf dem Tisch liegende Zigarrentasche zu sich, auf deren Leder in Silber der Name des Eigentümers, Benno Harlander, eingepresst war, bot dem Wirt einen hastigen Gruß und rannte zum Forsthaus hinüber.

„Pressiert net so!“, rief ihm Friedl nach. „Ich muss sowieso noch beim Herrn Förstner fürsprechen!“

Benno war bereits in der Tür des Forsthauses verschwunden. Den Krug, den er auf dem Tisch hatte stehen lassen, zog der Wirt an sich und untersuchte ihn auf seinen Inhalt. „Hat wirklich wieder ’s ganze Bier vergessen!“, brummte er. „Is dös a Herr! Grad reden därfst von eim Gams, nacher is er schon in der Höh. Geh zu, Friedl, trink’s aus, wär schad um dös gute Bier.“

„Muss net so arg gut sein, sonst tätst es selber abischlücken.“

„Red net lang, trink!“

Friedl leerte den Krug und setzte ihn auf den Tisch, dass der Deckel klappte. „So! Vergelts Gott! Und pfüet dich Gott!“

„Halt a bissl!“, rief der Wirt und fasste den Jäger an der Joppe. „Was ich sagen will – a Neuigkeit, ja! Weißt es schon? Der Huisenblasi is dagwesen, a Stündl mag’s her sein.“

Friedls Gesicht wurde hart. „So? Ich hätt gmeint, der Weg nach Fall wär ihm a bissl verleidet worden, seit er Isarwasser hat schlucken müssen, der Lump!“

Der Wirt zuckte die Achseln. „So einer vergisst leicht! Er wird sich halt denken, dass daheraußen in Fall die Hirschen und die Gams a bissl gar z’viel geschont werden, und da meint er wohl, er kunnt dem abhelfen, dass in der nächsten Brunst die Hirschen wieder dutzendweis auf meiner Wiesen schreien.“

Friedl lachte kurz und rückte den Hut aufs Ohr. „Es scheint, der Blasi hat Langweil nach seinem Bruder, der in Fall den letzten Schnaufer gmacht hat? Wann er wieder zuspricht, der Blasi, kannst ihm ausrichten, dass ihm z’helfen wär. Adjes!“ Kurz wandte Friedl sich ab und ging auf das Forsthaus zu.

„Oho, oho!“, brummte der Wirt. „Meintwegen derschieß ihn heut oder morgen! Is grad a reicher Tagdieb weniger auf der Welt.“

Als Friedl in den Flur des Forsthauses trat, kam ihm Benno bereits entgegen, Rucksack und Büchse hinter den Schultern und den Bergstock in der Hand. Noch ein kurzer Plausch mit dem Förster. Dann wanderten die beiden über die Wiesen hinaus.

Durch junge Pflanzungen zog der schmale Weg, näherte sich der zur Isar hinabrauschenden Dürrach und führte über den lang gezogenen Rammsteg, an dem zur Zeit des Tauwassers und der Regengüsse das vom Berge niedergeflößte Scheitholz aufgefangen wird. Enge und hohe Stufen leiten von hier aus hinauf über die Höhe, die zur linken Seite der Dürrach stiel emporsteigt; droben führt ein bequemes Sträßchen bergan, immer die viel zerrissene Schlucht begleitend, in deren dunkler Tiefe das Bergwasser rauscht.

„Gelt, Friedl, der große, saubere Bursch, der vorhin drunten im Wirtshaus war, das ist der Blasi?“

Friedl nickte.

„Was ist denn das mit dem Blasi eigentlich?“

„A Lump is er, a gottvergessener! A Lump, der mir alles gstohlen hat, was –“ Mitten im Worte brach Friedl ab, und als Benno zu ihm aufsah, flog eine dunkle Röte über das Gesicht des Jägers, der die gesprochenen Worte zu bereuen schien. Benno merkte, dass er mit jenem Namen eine wunde Stelle im Herzen des Jägers berührt hatte, und schwieg, so gern er auch weiter gefragt hätte. Wortlos schritten die beiden eine Weile nebeneinander her. Dann sagte Friedl: „A Wildschütz is er, der Blasi! Oder is wenigstens einer gwesen, bis ihn ’s End von seim Bruder abgschreckt hat.“

„Wieso das?“

Der Jäger streifte mit forschendem Blick das Gesicht seines Begleiters.

„Geh, Friedl, wirst dich doch vor mir nicht scheuen!“, mahnte Benno. „Ich bin selber ein halber Jäger, in meinem Herzen ein ganzer.“

„Ich war net dabei bei der selbigen Geschicht“, begann Friedl nach kurzem Zögern, wobei er seine Stimme zum Flüstern dämpfte, „und weiß halt alles bloß vom Erzählen her. Zu der Zeit, wo der Vater Riesch, der jetzt drunten ’s Wirtshaus hat, noch der Förstner war, da is in Lenggries a Bauer gwesen, ‚beim Huisen’ heißt man’s auf seim Haus. Der Bauer is noch allweil draußt – aber selbigs Mal hat er zwei Söhn ghabt, den Toni und den Blasi. Der Toni war a Wildschütz, der’s grob trieben hat. Glauben S’, der wär zfrieden gwesen, wann er für sich allein an Gamsbock hätt stehlen können? Ah na, gleich fünf oder sechs Burschen hat er noch mitgnommen, und auch sein’ jüngern Brudern, den Blasi, hat er verführt. Und da haben s’ ganze Treibjagden angstellt auf die Berg droben, heut im Bayrischen und morgen im Tirolerischen, und alle Revier haben s’ unsicher gemacht auf zehn Stund in der Gegend, und schockweis haben dö Lumpen ’s Wild auf die Flöß abigführt nach Tölz und München. Amal, da hat’s ihnen fehlgschlagen. Da is dem Förstner gsteckt worden, dass die Huisenbuben drüben im Tirolerischen jagern und wahrscheinlich am andern Tag auf der Isar daherkommen mit’m Floß. Und am andern Tag auf d’ Nacht war an der gfahrlichsten Stell von der Isar und handbreit unter’m Wasser a Drahtseil gspannt, und in die Stauden drin sind d’ Jager gstanden auf der Pass! A Nacht war’s, so stockfinster, dass man kaum drei Schritt weit sehen hat können. Bis lang nach Mitternacht haben d’ Jager passt. Da hat’s Käuzl grufen. Einer von die Jager war weiter oben auf der Pass, und wann er ebbes hört am Wasser, so war’s verabredt, nacher sollt er den Känzlruf nachmachen. Der tut’s – a paar Augenblick dauert’s – nacher macht’s im Wasser an Krach, wie wann a Floß anrennt und ausanandreißt. D’ Jager pulvern eini in d’ Nacht, a paar Schrei werden laut, und alles war stad, mäuserlstad. Grad ’s Wasser hast noch rauschen hören.“

„Und?“, fragte Benno, als Friedl keine Miene machte, weiter zu sprechen.

„Wer außer die Huisenbuben dabei war, hat man nie erfahren. Abgangen is keiner von die Burschen, und dass einer krank gwesen wär von dem Tag an, da hat man nix ghört davon. Der Huisenblasi aber, so haben d’ Leut verzählt, wär in der selben Nacht zum Rauchentaler kommen, der a Stund unterhalb Fall an der Isar sein Haus hat, und hätt bei ihm Einlass begehrt, weil er nimmer weiter kunnt. Tropfnass wär er gwesen am ganzen Leib, hat’s gheißen. Er selber hat nacher überall rumgredt, als hätt er an Kuhhandel in Tirol drin ghabt, und am Heimweg wär er so viel müd gwesen, hätt beim Marschieren allweil halber gschlafen und wär über die Böschung abikugelt ins Wasser. Glaubt hat ihm dö Gschicht freilich keiner, umso weniger, als man zwei Tag später bei der Sägmühl unterhalb Lenggries sein’ Brudern, den Toni, tot aus’m Wasser zogen hat, und an drei Zentner schweren Hirsch dazu, der mit’m Gweih im Toni seim Janker einghakelt war.“

„Und du? Warst du damals schon in Fall?“

„Ah na! Ich war zur selben Zeit Jager beim Herzog von Nassau, der hinter Lenggries dös schöne Schloss hat. Aber wissen S’, die Burschen vom Ort haben damals an argen Hass auf alles gworen, was Jager gheißen hat. Drum war für mich kein Bleiben nimmer in Lenggries. Da is noch dazu kommen, dass im selben Jahr mein Ahnl und mein Vater gstorben sind. So hat halt d’ Mutter unser Häusl in Lenggries verkauft und hat sich nach Fall verzogen, weil mein Herzog so gnädig war und hat mir’s erwirkt, dass ich in’ königlichen Dienst hab eintreten därfen. Ja, und so bin ich halt jetzt in Fall.“

Die beiden hatten während dieses Gespräches die Stelle erreicht, an welcher rechts vom Sträßchen der Fußweg abzweigt, der hinabführt zum Dürrachsteg und drüben hinauf zu den Almen und zur Jagdhütte. Stufen leiten hinunter über eine kleine Lichtung, von der aus man ein gutes Stück des gegenüberliegenden Berghanges überschauen kann. Hoch oben auf dem Berge sah Benno eine breite Almfläche liegen, in deren Mitte das sonnbeglänzte Dach einer Sennhütte blinkte.

„Was ist das für eine Hütte?“, fragte er.

„Dö Hütten da droben? – Dös is d’ Hütten von der Modei!“ Friedl machte flinkere Schritte.

„Die Modei? Das ist doch das hübsche junge Mädel, bei dem wir neulich einkehrten? Ich hätte die Alm von hier aus nicht erkannt, weil wir neulich auf der anderen Seite, gegen den Grottenbach zu, abgestiegen sind.“ Benno hatte den Steg erreicht. Mit einem lauten Ausruf der Überraschung blieb er stehen und schaute, über das Geländer gebeugt, hinunter in die Tiefe der Schlucht. Ihre Ränder waren breit auseinandergespannt, und auf vorgeschobenen Erdpolstern schwankte in dicken und langen Bündeln das Berggras über den steil abfallenden Wänden. Die am Saum des Absturzes aufragenden Fichten waren aus ihrer senkrechten Stellung geraten und neigten ihre Wipfel der Schlucht entgegen, als wollten auch sie neugierig hinunterblicken in die Tiefe. Je mehr die Schlucht sich senkte, umso näher traten die Wände zueinander, und weil von beiden Seiten massige Felsklötze nach der Mitte zu hervorsprangen, bildete die Schlucht ein zerklüftetes Zickzack. Überall sah man Reste von geflößtem Holz; in den Felsspalten lagen Scheitstücke eingeklemmt, und dicke, rindenlose Baumstämme kreuzten sich zwischen den Wänden. Unter ihnen Floss das Wasser der Dürrach, blad niederrauschend über kleine Fälle, bald tiefe, stille Kessel bildend, blad wieder hinplätschernd über leicht geneigte Kiesgründe. Im Schatten der Felswände lag das Wasser mit smaragdgrüner Farbe; an einer Stelle nur, wo bei einer Wendung der Schlucht das Sonnenlicht hell hereinbrach, war das Wasser durchsichtig wie Glas, und da sah man auf dem Grund die Forellen spielen, die manchmal nach einer Mücke heraussprangen über den glatten Spiegel.

Friedl war schon ein Stück voraus den Berg hinaufgestiegen; Benno konnte sich nicht losreißen von dem schönen Bild, in dessen Betrachtung er versunken war.

„Herr Dokter!“, mahnte die Stimme des Jägers. „Wir haben noch an weiten Weg, und der Tag dauert net ewig.“

Einen Blick noch warf Benno in die Tiefe, dann folgte er dem Jäger. Eine gute Stunde stiegen sie empor mit gleichmäßigem Schritt. Kein Wort wurde gesprochen, und außer dem eintönigen Klappen der Schuhe, dem Einsetzen der Bergstöcke an beschwerlicheren Stellen und dem Kollern der kleinen Steine, die sich unter ihren Tritten lösten, hörte man nur die tiefen Atemzüge der beiden Steiger.

Sie hatten eine jener weit ausbiegenden Felskanten umgangen, die von der Höhe des Grates niederliefen über den ganzen Berg, als Friedl plötzlich innehielt und die Büchse von der Schulter riss. „Wer da? Reden, oder –“

„Oho!“, klang eine tiefe Bassstimme, und lachend, so dass man trotz der Entfernung die weißen Zähne unter dem schwarzen Schnurrbart blinken sah, trat Hies, der zweite Jagdgehilf der Wartei, aus dem Dickicht heraus. „Ich glaub, du wärst imstand und tätst mich als Wildschütz niederpulvern?“ Während er seine Büchse, die er in der Hand getragen, über die Schulter hängte, stieg er den Hang herunter: Eine hagere, knochige, nicht übergroße Gestalt in einem Gewand, dessen Farben durch Zeit, Wetter und Felsen in ein gleichmäßiges Grau zusammengestimmt waren. Der schwarze buschige Vollbart, der ihm bis über die Mitte der Brust herunterhing, ließ ihn älter aussehen, als er war; auf vierzig Jahre hätte man ihn schätzen können, und doch stand er fast im gleichen Alter mit Friedl.

Überall war Hies beliebt als lustiger Sänger und Zitherschläger, und gerne saß alt und jung an seiner Seite, wenn er vom Kriege gegen Frankreich erzählte, den er als junger Bursch mitgemacht hatte.

Nun trat er zu den beiden auf den Steig. „Grüß Gott, Herr Dokter! Und grüß dich, Friedl! Wann mir jetzt der Schrecken d’ Stimm verschlagen hätt, ich glaub, du hättst mir eins auffibrennt auf’n Pelz, dass ich an Purzlbaum hätt machen können wie a Schneehas. Aber hast schon recht, dass a bissl scharf aufmerkst. Heut hab ich den Neunnägl wieder gspürt.“

Friedl hob den Kopf.

„Ja! Drüben wieder, am alten Fleck! Es waren bloß drei oder vier Trittspuren, aber ganz gnau hab ich’s gmerkt, dass er’s gwesen sein muss und kein andrer. Weißt was! Es ist noch Zeit bis auf d’ Nacht, machst halt den kleinen Umweg über der Modei ihr Hütten und fragst so nebenbei, ob ’s Madel kein’ gsehen hat. Vielleicht kannst ebbes erfahren.“

Friedl rückte den Hut in den Nacken und fuhr sich mit der Hand über die Stirne. „No ja, muss ich halt auffi und nachschauen! Da bleibt nix anders übrig.“ Er wandte sich an Benno. „Herr Dokter, jetzt müssen S’ Ihnen den Umweg gfallen lassen.“

„Macht nichts!“ Benno lachte. „Bei der Modei haben wir ein gutes Einkehren. Pfüet dich, Hies! Mach nur, dass du flink hinunter kommst. Drunten haben sie frisch angezapft.“

Dös is recht! Da leg ich mich eini mit alle zwei Knie!“

Benno und Friedl stiegen weiter bergan. Hies stand noch, und während er den Schuhriemen, der sich gelockert hatte, fester band, hörte er Benno fragen: „Du, Friedl, wer ist denn der Neunnägel?“

Hies lachte vor sich hin. „Da wird er umsonst fragen, der Herr Dokter! Dös möchte ich auch schon lang wissen: Wer der Neunnägel is!“ Nun folgte er dem Pfade bergabwärts und sang im Niedersteigen mit halblauter Stimme:

„Da drunten im Tal,
Wo d’ Isar tut gehen,
Da weiß ich a Häusl,
Im Garten tut’s stehn.

Und drin in dem Häusl,
Mein Eid, es is wahr,
Da haust a jungs Madl
Mit schwarzbraune Haar.

Und d’ Sonn, dö geht unter,
Und d’ Stern, dö gehen auf,
Da klopf ich ans Fensterl:
Liebs Herzl, mach auf!“

 

Kapitel 2

 

„Zu was brauchst denn du dös viele Wasser? He! Punkl! Hörst heut schon wieder nix?“, rief auf der Grottenalm die Modei durch das kleine Hüttenfenster einer alten Sennerin zu, die am Brunnen stand und Wasser schöpfte. Mit der Schulter lehnte das junge Mädel am Fensterrahmen, während es sich mit der blauen, groben Leinenschürze die Hände trocknete. Es war eine schlanke, schmuck gewachsene Gestalt in ärmlicher, aber sauber gehaltener Kleidung; der dunkelbraune Rock reichte kaum handbreit über das Knie und ließ noch die grünen Wadenstrümpfe sehen; ein schwarzes Tuchleibchen umspannte die Brust; das Hemd von ungebleichter Leinwand reichte hoch an den Hals und ließ nur die Arme nackt. Das Gesicht hatte wenig Farbe; wie Schwermut lag es in den großen, dunklen Augen, und ein schmerzlicher Zug war um den Mund geschnitten; die Stirne war hoch, und darüber lagen, schwer und schwarz, drei durcheinander gewundene dicke Flechten.

„Punkl! Punkl!“, rief Modei wieder. „Hörst denn heut gar nix?“

„Ah, Modei, du bist’s!“, klang es von draußen mit einer heißeren Altstimme. „Machst schon bald Feierabend?“

„Ja! Geh, kehr a bissl zu, eh nach deiner Hütten auffisteigst!“

Ein tiefer, mehr drollig als schmerzhaft klingender Seufzer. „Heut hab ich wieder an schiechen Tag. Alls tut mir weh, der Kopf und der Buckl und d’ Füß und alls. Aber was ich sagen will –“ Die Stimme kam näher, „weißt es schon? Der alte Veri, mit dem ich vor a zwanzg a dreißg Jahr schiergar a kleins Liebschaftl angfangt hätt, der is jetzt in der Monika ihrer Hütten droben als hüter eingstanden. So viel hat er mir zugsetzt! Vor a zwanzg a dreißg Jahr. So viel zugsetzt. Aber ent an einzigs Ruckerl hat mei’ Unschuld gmacht. Fest bin ich blieben. Fest wie an Eisenstangerl. Und jetzt komt er als Hüter da auffi. Sag mir nur grad, was sagst jetzt zu so einer Neuigkeit? Ja, ja, schau, so kommt man halt wieder zamm.“ Die Alte trat an das offene Fenster heran und reichte Modei die Hand.

Ein müdes Lächeln kräuselte die Lippen des Mädels. „No, da wirst dich aber gwiss recht freuen drüber! Ob man früher oder spater zammkommt – wann nur überhaupt amal –“

„Was?“ Punkl hob die hohle Hand hinter das linke Ohr. „Was hast gsagt?“

„Dass dich freuen wirst!“

„Heuen? Ah na, drunten sind s’ schon lang fertig mit’m Heun.“ Die Alte verschwand vom Fenster und erschien auf der Türschwelle, eine kleine, komisch unförmliche Gestalt, weiblich nur in der oberen Hälfte, in der tieferen Halbscheid ein sonderbares Mannsbild. Die Röcke waren wulstig in die blauzwilchene Arbeitshose hineingestopft, so dass die Punkl um die Mitte herum aussah wie ein nach abwärts gerutschter Riesenkropf. Nach unten hin wurde sie in den trichterförmigen Hosenschäften immer mägerer. Fromm bekreuzigte sie das braune, von wunderlichen Fältchen durchschnittene Spitzmausgesicht. „Lieber, gnädiger Vater im Himmel droben, segne meinen Eingang!“

„Du? Punkl?“, sagte Modei, seltsam erregt. „Tut’s dich net reuen?“

„Wie? Wo? Wer?“, fragte die Alte flink, mit dem misstrauischen Blick der Schwerhörigen.

„Ob’s dich net reuen tut?“, schrie ihr Modei ins Ohr.

„Reuen? Was?“

„Dass fest blieben bist? Vor a zwanzg a dreißg Jahr.“

Nachdenklich studierte die Alte und fing zu nicken an. „Ja ja, a bissl tut’s mich schon reuen, ja! Aber ’s Frieren hab ich halt net derlitten. Dös Luder, dös damische, is allweil bei der Nachtwachterei zu mir ans Fenster kommen, im Winter, weißt, wann’s a söllene Kälten ghabt hat, dass man scheppern hat müssen im Hemmed. Ah na, ah na! Da is mir ’s warme Bett allweil lieber gwesen. No ja, und spaternaus, wie’s a bissl gwarmelet hat, da hat sich gar kei’ Glegenheit nimmer geben.“ Ein meckerndes Lachen. „Jetzt daucht mir, ’s alte Sprüchl kunnt wahr sein: Nimmt er ihm nix, der Mensch, so hat er nix.“ Gähnend guckte die Alte in der Sennstube herum.

Modei war zum Herd getreten. Verloren sagte sie vor sich hin: „Und nimmst dir ebbes, so wird’s a Gwicht und du musst tragen dran, bis d’ müd bist an Leib und Seel.“ Sie begann mit einer Sandbürste die hölzernen Milchgeschirre zu säubern, umfunkelt von der roten Abendsonne, die einen Strahl hereinwarf durch das kleine Fenster.

Die Stirn in Falten ziehend, guckte Punkl um sich her, als hätte sie ein geheimnisvolles Rätsel dieser Stube zu lösen. „Ich weiß net, wie dös kummt: Bei dir in der Stuben schaut’s allweil nett und freundlich aus. Und bei mir droben in der Hütten is allweil a Saustall, dass eim grausen kunnt. Oft muss ich selber sagen: Pfui Teufel!“

Das schien die junge Sennerin nicht gehört zu haben. Zerstreut und müde redete sie bei rastloser Arbeit: „Heut is er hart gwesen, der Tag. Die Blässin, unser beste Kuh, is a bissl marod. Ich hab schon Botschaft abisagen lassen, dass der Doktermartl auffikommt. Und unser Geißbock, der Muckerl, muss sich verstiegen haben. Der Lenzl sucht ihn schon den dritten Tag. Allweil hat man a Sorg auf der Seel, bald mit eim Menschen und bald mit’m Vieh. ’s Leben is hart.“

Wieder gähnte die Alte und trommelte mit der Hand auf ihren kreisrund geöffneten Schnabel. „Jetzt hab ich gmeint, bei dir gibt’s an Unterhaltung. Derzeit wurstelst du am Herd umanand und redst kein Wörtl!“

„Was?“ Modei musste lachten, trat auf Punkl zu und rief ihr ins Ohr: „Ich hab ja die ganze Zeit allweil gredt!“

Verwundert sah die Alte drein. „Ah geh! Kein Wörtl net hab ich ghört. Es ist mir bloß allweil so gwesen, wie wann a Brünndl rauscht.“

„Heut hast wieder an schlechten Tag mit die Ohrwascheln.“

Draußen ein schwerer Schritt. Friedl trat in die Stube. „Grüß Gott beinand! Is verlaubt, dass man zukehrt?“

„Nur eini, nur eini!“, kicherte Punkl. „Wo Weiberleut schnaufen, is a Jager a lieber Gast. Und gar a söllener, wie du einer bist.“ Sie hatte Friedl am Arm gefasst und ihn mitten in die Stube gezogen; nun hob sie sich auf die Fußspitzen, um den kleinen Strauß frisch gepflückter Almrosen betrachten zu können, den Friedl auf dem Hut stecken hatte. „Du! Den Buschen, den auf deim Hütl hast, den musst der Sennerin schenken! Dös is Brauch auf der Alm.“

„Gern auch noch!“ Friedl nahm den Strauß vom Hut. „Da hast ihn, Modei!“

Die Alte schnitt ein langes Gesicht und brummte missmutig: „No also! Alt sein heißt allweil: Hint dran sein.“

Modei, ohne die Blumen zu nehmen, wandte sich zum Herd. „Ich dank dir schön für den guten Willen. Aber da heroben in der Einöd kunnt ich mit deim Sträußl kein’ Staat machen.“

„Wie? Was? Nimmst es ebba gar net?“, zeterte Punkl. „O du Schlauche du! Gelt, ja? An eim Buschen, den a Jager tragt, is allweil a bissl a Wildblut dran. Und ’s Blut hat a sintipadetische Kraft. ’s Blut, sagen s’, hat Einwirkung auf d’ Herzmuschkelatur. Gelt, tust Angst haben vor der Eimwirkung?“

„Ah na!“, sagte Modei ruhig. „Vor so was fürcht ich mich net. Da is ebbes gut dafür. Gib her!“ Sie nahm die roten Blumen aus Friedls Hand und steckte sie an die Brust.

Mit schwermütigem Blick hing Friedl an der Gestalt des Mädels. Dann ging er schweigend zur Tür, wo er das Gewehr an einen Holznagel hängte und den Bergstock in die Ecke stellte. „Was is denn“, sprach er die Alte an, als er zum Herd zurückkehrte, „warum bist denn auf amal so stad? Was hat dir denn d’ Red verschlagen?“

„Was hast gsagt? Wen hab ich gschlagen?“

Friedl, ein Lachen erzwingend, ließ sich auf eine Bank nieder. „Hörst heut schon wieder nix? Mit dir is a Kreuz.“

„Kein Wunder, wann eim’s Kreuz weh tut. A Sennerin hat a schlechte Liegerstatt. Dös schlagt sich aufs Kreuz. Jaaa! Aber allweil kann man von Glück sagen, solang man noch eins hat, a Kreuz. Sunst müsst der Mensch sei’ Schattenseiten in der Schling tragen.“

Wieder lachte Friedl und streckte die Beine. „Heut tut mir ’s Rasten gut!“

„Hast schon an weiten Weg gmacht?“, fragte Modei.

„Ah nah, grad a paar Stund bin ich auf die Füß.“

„Dank schön“, fiel Punkl ein, „mit meine Füß geht’s gottlob noch allweil gut!“

„Aber mit’m Ghör“, schrie Friedl, „gelt, da lasst’s a bissl aus!“

„Ah bewahr! Hören tu ich ganz gut, aber halt bloß auf einer Seit. Auf der anderen muss mir ebbes zugwachsen sein!“

„Da bist net amal schlecht dran! Wann man dir zu eim Ohr ebbes einischreit, kann’s zum andern nimmer aussi.“

Modei war hinter der niederen Kammertür verschwunden; nun kam sie mit einer Schüssel voll Milch und reichte sie dem Jäger. „Musst halt verliebnehmen mit dem, was ich hab!“

Mit bitterem Lächeln hob er das Gesicht zu ihr. „Ich bin keiner von die Ungnügsamen.“ Er sah in ihre Augen und erschrak. „Madl?“, fragte er in Sorge. „A bissl blasselen tust. Was hast denn?“

„Ich? Nix.“ Modei ging zum Herd und nahm die Arbeit wieder auf.

Lachend puffte Punkl den Jäger mit dem Ellbogen an die Schulter. „Wärst bei mir einkehrt, da hättst an Schmarren kriegt. Schwimmen hätt er müssen im Schmalz.“

„Daherinn gefallt’s mir auch bei der magern Milli.“ Friedl zog seinen Blechlöffel aus der Tasche und begann zu essen. „So a Hüttl! So ebbes Liebs und Saubers!“ Lachend sah er auf. „Is schon wahr, in dö alte Hütten bin ich ganz verliebt.“

Über das Gesicht der Alten hsuchte das Grinsen einer holden Freude. Verschämt begann sie mit der Schürze zu spielen. „Geh weiter! Jesses! Freilich ja, dreißg Jahrln wann ich jünger wär!“ Sie guckte an sich hinunter. „Und ausschauen tu ich, o mein, o mein!“ In dem Bestreben, etwas weiblicher zu erscheinen, streifte sie flink die blaue Zwilchhose hinunter und schüttelte die Röcke. „Ja, a fünfazwang, bloß a zwanzg Jahrln jünger! Und a gute Glegenheit! Da kunnt ich net einstehn dafür, ob ich festbleiben tät. Freilich, ’s Unschuldskranzerl is ebbes wert. Aber du gfallst mir! An Burschen, wie du einer bist, gibt’s kein’ zweiten nimmer. So viel gute Eigenschäften hast, dass ich vierazwanzg Finger haben müsst zum Aufzählen.“

Ein kurzes Lachen klang vom Herd herüber. „Geh, lob ihn net gar a so! Andere Buben sind auch noch ebbes wert!“

„Waaaas hast gsagt?“, fuhr die Alte wütend auf. „Ah na, so ebbes därfst fein von mir net glauben! A bissl alt bin ich freilich. Aber sittenbestrebsam bin ich leider Gottes noch allweil gwesen.“

„Drah dich um, Punkl!“, rief Friedl lachend. „Dösmal hast auf der falschen Seiten ghört!“

„Was hast gsagt? Ah na! So ebbes lass ich mir net gfallen!“

Friedl zog sie am Arm zu sich herunter und schrie ihr ins Ohr: „D’ Modei hat ’s Allerbeste gredt von dir. An Ausbund von aller Tugend hat s’ dich gheißen. Is schon wahr! Dir hat’s der Landrichter zuprotokolliert, dass d’ amal von sechs weiße Jungfern tragen wirst, wann d’ auffifluderst ins Himmelreich.“

Die Alte wurde dunkelrot vor Ärger. „So? So?“, schrie sie auf die junge Sennerin ein. „Freilich, wann du amal stirbst, da musst dich z’erst für dein Kind um an Vatern umschauen. Damit ein’ hast, der dir’s letzte Hemmed zahlt!“ Sie fuhr zur Tür hinaus, und eine Weile noch klang ihre scheltende Stimme herein in die Stube.

Bleich, an allen Gliedern zitternd, lehnte Modei an der Herdwand. Und als das Schelten und Krieschen da draußen verhallte, schlug sie den Arm vor die Augen, und ein krampfhaftes Schluchzen erschütterte ihre Brust.

Auch aus Friedls Gesicht wich alle Farbe, als er die Folgen seines harmlos gemeinten Spaßes erkannte. „Himmel Herrgott –“ knirschte er vor sich hin. Ratlos stellte er die Milchschüssel fort, ging auf Modei zu und versuchte ihr den Arm vom Gesicht zu ziehen.“Geh, tu dich net kränken, weil die narrische Nocken im Zorn ebbes Unguts daherplauscht hat! Schau, in eim Viertelstündl weiß dö alte Hex ja nimmer, was ihr übers Radl glaufen is.“

Ruhig befreite Modei ihren Arm. Dann sagte sie, schon wieder bei der Arbeit: „Was hast aber auch mit so einer unsinnigen Red daherkommen müssen!“

„Ich hab mir nix Unrechts denkt dabei.“ Friedl setzte sich wieder auf die Bank, hob die Milchschüssel auf die Knie, zog ein Stück Brot aus der Joppentasche und brach es in kleine Stücke, die er in die Milch warf und mit dem Löffel herausaß. Es schien ihm nicht zu schmecken. Und das Essen musste für ihn eine harte Arbeit sein. Ein ums andere Mal fuhr er sich mit dem Ärmel über die Stirn. Dabei spähte er immer zu Modei hinüber, die zwischen Herd und Kammer hin und her ging, um die gespülten Milchgeschirre zu verwahren. Und plötzlich fragte er: „Wie geht’s denn deim Büberl?“

„Ich dank schön, gut!“

„Is a liebs Kindl! Wie ich ’s letzt Mal draußen war in Lenggries, hab ich’s gsehen. Gsund und rund wie an Apfel. Und ’s ganze Köpfl voll braune Schneckerln. Wie alt wird’s denn schon sein?“

„Auf d’ Fasnacht wird’s zwei Jahr.“

Friedl nickte. „D’ Almkinder kommen allweil um d’ Fasnacht rum auf d’ Welt. ’s Fruhjahr auf der Alm hat halt so ebbes. Da muss der Mensch nachgeben.“ Eine Weile schwieg er. „’s Büb erl wird wohl gut aufghoben sein bei dö Leut, die’s in Pfleg haben?“

„Da muss ich glauben dran.“ Das war ein schwerer Seufzer. „Viel zahlen kann ich net. Vater und Mutter hab ich nimmer. Heimat hab ich auch keine. Bei der Arbeit auf der Alm kann ich ’s Kind net haben. Was will ich denn machen?“ Müder Kummer sprach aus ihren Augen, als sie nun schweigend stand und zum Fenster hinausblickte.

Friedl erhob sich. „Madl! Schau, mei’ Mutter hat drunt in Fall ihr kleins Häusl, in dem s’ allein umanandwurstelt. Viel Plag macht ihr dös bissl Hauswesen ent. Und da hat s’ allweil Zeitlang. Wie wär’s, Modei, wann ihr dein Büberl in Pfleg geben tätst? D’ Mutter hätt a damische Freud damit.“

Schwer atmend ließ Modei die Hände fallen und stand unbeweglich.

Mit zerdrückter Stimme sagte Friedl: „Was die Kösten anbelangt – mein, was braucht denn so a Schnaberl, so a kleins? D’ Mutter tät’s wegen der Freud. A Kindl is allweil ’s Liebste, was man haben kann. – Modei? Was meinst?“

Langsam hatte Modei das Gesicht gewandt und sah dem Jäger lang in die Augen. Ein leichtes Rot stieg ihr in die Wangen. Dann schüttelte sie den Kopf mit dem leisen Wort: „Ich dank dir schön!“

Er bettelte: „Geh, Modei, gib ihr’s!“

„Na, Friedl! Dös geht net.“

„Schau, gar so kurz sollst mich net anlassen! Dass ich dir’s gut mein’, dös weißt doch net erst seit gestern. Denk zruck an die alten Zeiten: Wie ich zu dir als a kleiner Bub schon allweil –“

„Sei stad!“, fuhr Modei auf. „Es kommt wer!“ Bleich werdend, lauschte sie auf den Schritt, der sich der Hüttentür näherte.

„Dös is bloß der Herr Dokter, weißt, der junge Herr, der ’s letzt Mal dagwesen is mit mir. Ich hab ihm gsagt, er soll sich vom Almspitz d’ Aussicht anschaun. Hab denkt, er verhalt sich länger. Schad drum, dass er schon kommt!“

„Oder besser – wer weiß!“, flüsterte Modei.

Benno trat ein. Mit herzlichem Gruß drückte er Modeis Hand und floss über vom Lob der schönen Fernsicht, die er genossen hatte. Als er sich setzen wollte, mahnte Friedl zum Aufbruch, weil die Dunkelheit käme, ehe sie die Jagdhütte erreichen könnten. Enno hatte keine Lust zum Weiterwandern; es gefiel ihm in der Hütte. Er stellte Gewehr und Bergstock in die Ecke, warf den Rucksack ab, zog die Joppe aus und machte sich’s am Herd bequem.

„Wissen S’ was, Herr Dokter“, sagte Friedl, „bleiben S’ da über Nacht! Morgen in der Fruh hol ich Ihnen nacher ab. Wir haben von da aus a leichters Steigen zum Gamsberg auffi, und der Weg zur Jagdhütten und zruck is Ihnen verspart.“

Benno war einverstanden. „Modei? Willst du mich behalten?“

„Ja, schon, warum net? Zum Heustadl müssen S’ halt auffisteigen! Da haben S’ a ganz a guts Liegen droben. Herin in der Hütten können S’ net bleiben. Im Kreister is grad Platz für mich und mein’ Brudern.“ Sie deutete nach einer Brettertruhe, die in Mannshöhe vom Boden die ganze Breite der hinteren Stubenwand einnahm und quer durch die Mitte von einem bis an die Decke reichenden Verschlag abgeteilt war; die eine Hälfte, mit getrocknetem Berggras angefüllt, diente als Schlafstätte für Modeis Bruder; in der für die Sennerin bestimmten Hälfte war über das aufgeschüttete Heu ein grobes Leintuch gebreitet, und darüber lag noch ein bauschiges, blau überzogenes Kissen und eine wollene Decke. Unter dem Kreister, den drei plumpe, in den Lehmboden eingerammte Pfähle stützen, lag dürres Scheitholz aufgebeugt; die vorstehenden Scheite wurden beim Aufsteigen zum Bett als Trittsprossen benützt.

Benno betrachtete den Kreister; diese Brettertruhe kam ihm vor wie ein an die Wand genagelter Sarg, den der Herr der Gräber seinem Zwillingsbruder, dem Schlaf, zur Benutzung überlassen hatte. Nein! Lieber ins Heu!

An den Kohlen, die auf dem Herde glühten, steckte er einen Holzspan in Brand und zündete sich eine Zigarre an. Dann trat er hinaus ins Freie.

„Soll ich dem Herrn noch ebbes kochen?“, wandte sich Modei an Friedl.

„Ah na! Für’n Abend hat er schon selber ebbes im Rucksack. Aber morgen in der Fruh kunnt ihm ebbes Warms net schaden.“

Frield hatte noch nicht ausgesprochen, da schie im Freien draußen eine zerbrochene Stimme: „Modei, Modei, ich hab ihn gfunden!“ Hastig schlorpende Tritte näherten sich der Hütte, und in der Tür erschien ein weißhaariger Mensch: Lenzl, der Bruder Modeis. Ein zerrissener Strohhut, dicht besteckt mit Alpenblumen, bedeckte den Kopf und überschattete das von einem struppigen Weißbart umrahmte Gesicht. Eine verwetzte Lederhose umhüllte die mageren Beine bis zu den Knöcheln, um Brust und Arme hing in Falten ein grobes Hemd, und darüber trug der Alte eine kurze Jacke, die weder Knöpfe noch Ärmel hatte. Keuchend lallte er auf der Schwelle: „Ich hab ihn gfunden!“ Dann presste er die Fäuste auf die arbeitende Brust.

„Is wahr?“, rief Modei in Freude.

„Ja! Ja!“

„Wen hast gfunden?“, fragte der Jäger.

Lenzl blickte auf. „Jeh, du bist da!“ Er legte die Hände auf Friedls Schultern. „Ich freu mich jeds Mal, sooft als kommst. Bist a guter Mensch, und ich hab dich gern.“

Friedl zog den Alten an sich. „Und mir geht’s grad so mit dir! Hab allweil mei’ Freud, wann ich a Stündl plauschen kann mit dir.“

„Ich weiß schon, ja!“, murmelte Lenzl und sah mit irrendem Blick an Friedl vorüber. „Völlig anders bist als wie die anderen, die allweil spötteln und ihren Narren haben mit mir. Aber wart nur – “ Der Alte schien sich in ein anderes Geschöpf zu verwandeln. Das Gesicht erstarrte, die Augen erweiterten sich, und seine Stimme, die tief geklungen hatte, bekam einen hohen, fast knabenhaften Klang. „Es gibt an Zahltag, wie’s an Gott im Himmel gibt. Der hockt da droben und passt, bis ’s richtige Stündl schlagt! Nacher – nacher –“ In wortlosem Brüten sank ihm der Kopf auf die Brust. Dann sah er verwundert auf, strich langsam mit dem Daumen über die Augenbrauen, war der gleiche wie früher, hatte wieder die tief klingende Stimme und rief seiner Schwester lachend zu: „Weißt, wo ich ihn gfunden hab?“

„Wen denn?“, fragte der Jäger.

„Den Muckerl, unsern Geißbock! Zwei Tag is er uns abgangen, und d’ Modei hat sich schier d’ Augen ausgweint. Drum bin ich heut den ganzen Tag umanandgstiegen. A Stündl kann’s her sein, dass ich ihn gfunden hab, droben im Luderergwänd, auf eim Steinspitzl, wo er sich nimmer rühren hat können, der arme Teufel!“

Modei war näher getreten und sah nun erst, dass Lenzls Ärmel zerrissen und die Hose an Hüfte und Schenkel zerschunden war. „Jesus, wie schaust denn aus!“

„Wie ich den Muckerl aussitragen hab, da hat’s a kleine Schlittenfahrt geben. Macht nix, macht nix! Ich stirb net im Gwänd.“ Wieder verwandelte sich sein Gesicht, seine Stimme. „Für mich gibt’s kein Sterben. Ich muss warten bis zum Jüngsten Tag. Wann nacher mein Lisei aufsteht aus’m Grab, nacher wird Hochzet gmacht, juhu!“ Lenzl schnalzte mit den Fingern und bewegte die Arme wie zum Tanz. Dann hatte er die Augen eines Erwachenden, warf den blumenbesteckten Hut auf die Bank, und während er zum Herd ging, strich er mit zitternden Händen die langen, weißen Haare glatt, die ihm bis auf die Schultern hingen.

Modei setzte sich an seine Seite, und während sie ihn liebkoste gleich einem Kind, fragte sie in Sorge: „Tut dir auch gewiss nix weh? Hast dich net aufgrissen an eim Felsen oder an die Latschen?“

„Na, Modei, gwiss net! So a kleins Rutscherl is lustig. Dös tut eim nix.“ Er schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Brust der Schwester. Still war’s in der Hütte. In Lenzls tiefe, wohlige Atemzüge mischte sich nur das leise Knistern der auf dem Herde glimmenden Kohlen, und von draußen klang das Läuten der Schellen und das Gemurmel des Brunnens.

Friedl saß auf der Bank. Er hatte die Pfeife angezündet und blies den Rauch vor sich hin. Die blauen Fäden schlangen sich in den roten Sonnenglanz, der durch Tür und Fenster hereinfiel in das Halbdunkel der Hütte. Da sagte Lenzl mit der hohen Knabenstimme: „Grad so, wie d’ Schwester, hat mein Lisei allweil schmeicheln können.“ Ein schrilles Lachen. „Wie, Jager? Kann’s ebba dein Schatz auch so gut?“

„Schatz? Ich hab kein’!“, sagte Friedl ruhig und griff nach Lenzls Hut, um die aufgesteckten Blumen zu betrachten.

„Gelt! Schöne Blümeln!“, kicherte Lenzl und richtete sich auf. „So a Blümel is ebbes Liebs! Und a jeds verzählt, wie viel der Herrgott kann! Dö saubern Farben, dö s’ haben! So rot und so frisch wie ’s Almröserl, so rot und so frisch war mein Lisei sein Göscherl! Und Äugerln hat s’ ghabt, so samtbraun wie’s Gamsrogerl. Und so fein und so schlingig wie d’ Fäden von der Steinrauten sind ihre Haar gwesen. Aber auf der Welt, da gibt’s kein Blüml, dös so falsch sein kunnt, als wie mein Lisei war!“ Mit zitternden Händen zerknüllte Lenzl den Hut, riss die Blumen aus dem Band, zerrupfte die Blüten, warf sie zur Erde und trat sie mit Füßen. „Weißt, Jager, da is amal a Sonntag gwesen. Und beim Wirt, da haben s’ a Musi ghabt. Und ich kein’ lucketen Kreuzer im Sack. Drum is meim Lisei mit’m Grubertoni tanzen gangen. Und gsungen haben s’ und gjuchezt. Und tanzt haben s’ allweil –“ Lenzl klatschte in die Hände und stampfte im Tanztakt mit den Füßen. „Grad zittert hat alles. Und auf amal, da kracht’s Und der ganze Tanzboden bricht ein. Und sechs junge Leut hat’s derschlagen. Und den Grubertoni!“ Ein gellendes Lachen. Weiß traten dem Alten die Augen aus den Höhlen. „Alle hat’s derschlagen – den Grubertoni – und ’s Lisei –“ Das Lachen verstummte. Nun ein leises, klagendes Weinen.

Da klang von ferne der lang gezogene Juhschrei einer Sennerin. Lenzl fuhr lauschend auf. „’s Lisei kommt!“ Er sprang zur Tür und taumelte ins Freie. „Lisei! Lisei!“, hörte man ihn schreien. Dann wieder sein Wimmern: „A Narr – ich bin a Narr, a verruckter – alle hat’s derschlagen –“

Schweigend saß Modei auf dem Herd, das Gesicht in die Hände gedrückt. Friedl nagte stumm an der kalt gewordenen Pfeife, bis ein Geräusch ihn aufblicken machte. Benno stand bei der Tür und winkte ihm. Der Jäger stand auf. Als er vor die Tür trat, fasste ihn Benno am Arm und zog ihn zu einem Grashang, von dem man hinuntersah nach Fall und in das weite, von den Schatten des Abends umflossene Tal.

Durch das Fenster hatte Benno das Gebaren des Alten mit angesehen und wollte wissen, was die Worte des Irrsinnigen zu bedeuten hätten.

Friedl seufzte. „Man kann net sagen, dass er verruckt wär. Und kann net sagen, dass bei ihm unterm Hirnkastl alles in Ordnung is. Die meiste Zeit is er ganz beinand, und da redt er gscheider als mancher andre. Aber diemal kommt’s halt so über ihn. Verargen kann man’s ihm net, dem armen Teufel! Was der schon durchgmacht hat im Leben! Über die zwanzg Jahr mag’s her sein – d’ Modei war selbigs Mal noch a Kindl und der Lenzl a Bursch in die besten Jahr –“

„Ist das möglich?“, unterbrach ihn Benno. „Ich hätte den Alten auf Siebzig und darüber geschätzt.“

„So schaut er aus. Und is noch net amal in die Fufzg. Und selbigs Mal is dem Lenzl sein Haus niederbrennt. ’s ganze Anwesen und ’s Vieh, alles ar hin. Und Vater und Mutter sind ihm verbronnen. ’s kleine Modei hat a Bauer in Pfleg gnommen, der keine Kinder ghabt hat. Dös wär a guts Platzl gwesen, wann net der Bauer a bissl gar z’fruh gstorben wär. Wie d’ Verwandten den Hof übernommen haben, war’s für d’ Modei aus mit der guten Zeit. Kaum fufzehn Jahr war s’ alt und hat sich als Hütermadl verdingen müssen. Herr, dös is a sauers Brot. No, wenigstens hat s’ nacher keine Schläg und schiechen Reden mehr leiden müssen. Und den Bruder hat s’ bei ihr haben können und hat den Burgermeister net allweil jammern hören, was der Lenzl der Gmeind für Unkösten macht. Wissen S’, der Lenzl der Gmeind für Unkösten macht. Wissen S’, der Lenzl is selbigs Mal nach der Brandnacht in a schwere Krankheit verfallen. Ich weiß net, wie s’ der Dokter gheißen hat. Lang hat’s dauert. Z’erst is der Lenzl bei meim Vater im Haus glegen. Aber wie’s allweil ärger worden is, hat er nach Tölz ins Krankenhaus müssen. Wie er aufgstanden is, hat er ganz weiße Haar ghabt. Und alls, was früher gwesen is, war ihm aussigfallen aus’m Köpfl. Erst nach und nach is ihm diemal wieder ebbes eingfallen.“

Friedl klopfte an einem Stein die erloschene Pfeife aus und steckte sie in die Joppentasche.

„In die ersten Jahr hat’s mit’m Lenzl so ausgschaut, als ob’s aus und gar wär mit seim bissl Verstand. Und wie ihm ’s Köpfl hab wieder licht war, is dös ander Elend kommen. Sie wissen ja, wie d’ Leut oft sind – schlechter als schlecht oder dümmer als dumm. Die Burschen und Madln haben allweil ihren unguten Gspaß mit’m Lenzl trieben und haben ihn zum Narren ghalten. Am ärgsten hat’s dem Rudhammer sein Madl mit ihm gmacht. Dö hat Lisei gheißen und war der Schatz vom Grubertoni. ’s Madl is sauber gwesen, aber boshäftig wie drei Katzen. Sooft d’ Lisei den Lenzl gsehen hat, hat s’ ihre Dummheiten mit ihm trieben und hat ihm fürplauscht, wie arg er ihr gfallen tät. Und schön hat s’ ihm tan, wie wann er richtig ihr Gspusi wär. Dass dem Lenzl dös gfallen hat, können S’ Ihnen denken! So ebbes glaubt man leicht.“

Die ernsten Augen des Jägers glitten hinüber zu Modeis Hütte.

„Alls hat der Lenzl für Ernst gnommen und hat von der Lisei gredt und träumt bei Tag und Nacht. Die andern haben ihn aufzogen und gspöttelt. Und d’ Lisei selber am allerärgsten. Unser Herrgott hat s’ aber auch gstraft dafür. Amal, wie Kirta war und Musi beim Wirt, da is d’ Lisei mit’m Grubertoni zum Tanz gangen. Dös hat er gmerkt, der Lenzl. Auf der Straßen vor’m Wirtshaus hat er s’ gstellt. Da hat ihn d’ Lisei an Narren gheißen, an verruckten Deppen, und hat ihm ins Gsicht gspieben. Und der Grubertoni hat ihn packt und hat den krankhaften Menschen so verdroschen, dass der Lenzl schier liegen blieben is am Platz. Wie für die andern zwei dö Lustbarkeit ausgfallen is, dös haben S’ ja grad vom Lenzl selber ghört. Wort für Wort is alles wahr!“

„Armer Kerl! Schau, da drüben steht er!“, flüsterte Benno und deutete nach einer Felsplatte, die frei hinausragte über den waldigen Hang. Regungslos stand der Alte da drüben. Im ziehenden Bergwind flatterten seine langen weißen Haare und die Fetzen des zerrissenen Ärmels.

Friedl blickte sinnend hinunter ins dunkel gewordene Tal und sagte langsam: „A bissl hart zum verstehn is so a Herrgottsstraf. A Menschenunsinn, dümmer als boshaft! Und deswegen gleich auf’m Tanzboden sechs junge Leut derschlagen und vier Unschuldige mit einireißen? Wann einer weiß, wie gut unser Herrgott is, möchte man gar net glauben, wie grob als er sein kann.“

„Der Herrgott?“ Benno lächelte. „Ob man das nicht dem Maurer und Zimmermeister auf die Rechnung schreiben muss? Hoffentlich ist das Dach, unter dem ich jetzt schlafen will, besser gebaut als der gottssträfliche Tanzboden von Lenggries.“

 

Kapitel 3

 

Als Friedl vom Heustadl zurückkehrte, in dem er Benno untergebracht hatte, und wieder zu Modei in die Hütte trat, war’s in der niederen Stube schon dunkel geworden. Das Mädel hatte die Bank aus Fenster gezogen, durch das die letzte Helle des Abends hereinfiel, und war damit beschäftigt, in einem Holzgeschirr die kleinen Flanelltücher zu waschen, die zum Läutern der frisch gemolkenen Milch dienen.

„Bist noch allweil bei der Arbeit?“, fragte Friedl. „Siehst ja nix mehr.“

„Grad tut’s es noch.“

„Wann amal gstorben bist, ich glaub, da muss man deine fleißigen Händ extra totschlagen, damit s’ endlich amal zur Ruh kommen.“

„Es is net so arg.“

„Dein Almbauer hat’s neulich selber gsagt: Wie er seim Herrgott net gnug danken kunnt, dass er dich zur Sennerin hat. Schaffen und arbeiten tätst für zwei.“

„Wird wohl so sein müssen, weil daheroben auch zwei vom Bauern seim Sach essen. Und wann auf der Alm net die richtig Freud zur Arbeit hast von Fruh bis auf d’ Nacht, nacher bringt dich d’ Langweil um.“

„Zeitweis spricht doch a Bauer oder an Almer zu. Oder a Bursch?“

Modei schüttelte den Kopf. „Ich kann schon gar nimmer denken, dass wer heroben gwesen is. Du halt! Und der Hies.“

In scheinbarer Ruhe guckte Friedl zum Fenster hinaus. „Grad heut, hätt ich gmeint, wär einer dagwesen. Drunt am Steig hab ich frische Trittspuren gmerkt. Hab mir halt denkt, es war dein Bauer.“

„Ah na! Bei mir is kei’ Menschenseel net gwesen. Und ich will dir’s frei raus sagen: Froh bin ich, wann niemand auffikommt zu mir. Wann eins so dran is wie ich, muss man allweil ebbes hören, was eim weh tut.“

„So a schiechs Wörtl muss man halt abischlucken und nachher fest zu halten, dass ’s nimmer in d’ Höh kann.“

Modei seufzte. „Du tust dir bei so was leichter, weil kei’ stille Arbeit net hast, wo allweil sinnieren musst, und wo so a harts Wörtl Zeit hat zum Drucken und Nachwurmen. Du steigst umanand im Wald, allbot siehst ebbes anders, und allweil ebbes Schöns, dös gar kein’ schwarzen Gedanken aufkommen lasst. Ich sag’s, a Jager hat a nobels Leben!“

„Ah ja – wann d’ Lumpen net wären!“ Ein harter Zug senkte sich in die Stirn des Jägers. „Kei’ Stündl bist sicher, dass dir net einer a Kügerl auffibrennt auf’n Buckel, so a Spitzbub, so a verfluchter!“

„Schimpfst halt, weil a Jager bist! A jeds Gschäft hat sein’ neidischen Unverstand. Der Schmied schimpft auf’n Schlosser und der Pfarr auf die Luthrischen. Deswegen kann a Wildschütz a ganz an ehrenhafter Bursch sein, der halt ’s Jagern net lassen kann, weil er d’ Leidenschäftlichkeit im Blut hat. Und weil’s ihm in die Finger juckt, wann er an Wald sieht und an Berg anschaut.“

Langsam hatte Friedl den Kopf gehoben und blickte forschend in Modeis erregtes Gesicht. „Du? Was für ein’ meinst denn du?“

Jähe Röte flog über die Wangen des Mädels. „Kein’ Bsondern. Ich hab mir’s halt grad so denkt.“

„So? Aber ich sag dir: Net wahr is, dass ’s an söllenen Burschen gibt. So einer möchte weidgrecht jagern und net niederschießen, was Haar am Leib hat. Freilich, ich weiß, wie d’ Leut of reden. Daheim hab ich a Büchl, so a dumms. Da stehen söllene Gschichten drinn von die heiligen Wilderer. Und allweil is a schlechter Jager dabei, so einer, wie s’ der Teufel braucht ins unterste Schubladl. Der miserablige Kerl von eim Jager schießt von hinterrucks den heiligen Wildschützen abi über d’ Wand. Hunderttausend Fuß fallt er über d’ Felsen in die grausige Tief und bleibt am Leben, bis ihn sein treus Daxhundl findt und auffitragt im Maul, gradhin vor d’ Sennhütten von seim gottsfürchtigen Madl. Dö pflegt ihn nacher. Und wann er gsund is, macht ihn der König zum Förstner und gibt ihm a Gnadenzulag. Den Jager holt der Teufel. Ja, ja! So steht’s drin. Derlebt hab ich’s noch nie. D’ Wahrheit is anders. Einer, der’s im Blut hat, findt allweil sein’ richtigen Posten als Jager. Aber da heißt’s, eiserne Knochen haben. Wer kein Richtiger is, der plagt sich net gern. Und jede Wochen amal a Gamsgeiß stehlen, dös is allweil noch leichter, als sechs Tag lang in der Werkstatt schwitzen. Und gar so a nixnutziger Bauernbursch! Der wildert am Werktag, dass er am Sonntag mehr Geld hat zum Verspielen und Versaufen. Und gewildert, meint er, is allweil nobliger als gradweg gstohlen. So a Tropf, so an eiskalter!“

Modei war au feinen Stuhl gestiegen, um die Milchtücher zum Trocknen über die Herdstangen zu hängen. Eben wollte sie die Arme heben, ließ sie aber wieder sinken und wandte das Gesicht: „Du? Wen meinst denn du jetzt?“

„Ein’, den ich öfters spüren muss, als mir lieb is. Den wann ich amal derwisch, dem gnad unser Herrgott! So an Haderlumpen gibt’s kein’ zweiten nimmer. Ich und der ander Jagdgehilf, wir heißen ihn allweil den Neunnägel.“

Die Milchtücher hingen über die Stangen, und Modei trat vom Stuhl herunter. „A gspassiger Nam!“

„Der kommt von seiner Fährten. Jeder von seine Schuh is in der Mitten mit neun Nägel bschlagen. Wo dö Fährten hinführt, möchte’s eim grausen! Alles bringt er um, jahrige Gamskitzeln, Rehgeißen, Hirschkälber. Und an neumodischen Hinterlader hat er, dass er sich beim Stehlen leichter tut. Fünf abgschossene Patronen hab ich schon gfunden.“

„Gelt, mit so eim Hinterlader schießt man gschwinder?“, fragte Modei, während sie mit der abgebundenen Schürze die Wasserflecken von der Bank wischte.

„No freilich“, lachte Friedl, „weil man halt gschwinder laden kann! Jetzt hab ich mir auch so an Leffoschee kaufen müssen, dass ich als Jager net schlechter dran bin als wie der Lump.“ Er nahm sein Gewehr vom Haken, hielt es dem Mädel hin und zog den Verschlusshebel auf, so dass der Lauf sich öffnete. „Schau, da musst grad so a Druckerl machen. Nacher kannst die verschossene Patron aussizeihen und die ander dafür einischieben.“

Modei war näher getreten und beugte aufmerksam das Gesicht. Als Friedl den Lauf wieder einschnappen ließ, erschrak sie ein bisschen. „Geh, fuchtl net so umanand mit’m Gwehr! Wann ebbes passiert!“

„Ah na! Was ich in der Hand hab, macht kein’ Schaden. Da geht schon ehnder dein Millikübel los, als mir mei’ Büchs!“ Friedl ging zur Tür, um das Gewehr wieder an den Holznagel zu hängen. Da sprang der Lenzl in die Stube und tuschelte aufgeregt der Schwester was ins Ohr.

„Is wahr?“, fuhr Modei auf. „Hast ihn du –“ Sie verstummte, die Augen auf Friedl gerichtet, der neben der Tür stand. Lenzl flüsterte immer weiter. „Sei stad!“, raunte ihm die Schwester zu und umklammerte mit zitternden Händen seinen Arm. Wär’ es nicht so dunkel gewesen in der Hüttenstube, so hätte sie sehen müssen, wie bleich der Jäger geworden war. Ein bitteres Lächeln zuckte um seinen Mund, als er das Gewehr über die Schulter warf. Dann griff er nach dem Bergstock. Seine Stimme klang rau: „Pfüe Gott, Sennerin!“

„Was is denn?“, stammelte Modei. „Warum willst denn auf amal so gschwind davon?“

„Finster wird’s!“, klang Friedls Antwort von der Tür. „Ich hab noch an weiten Weg bis in Pirschhäusl.“

Mühsam rang das Mädel nach einem Wort. „Gelt, gib fein acht – kunntst leicht fehltreten bei der Finstern.“

Mit erzwungenem Lachen sagte der Jäger: „Da brauchst dich net sorgen! Ich schau fest hin auf’n Weg, kein’ Blick nach rechts oder links – verstehst?“ Das war wunderlich betont. „Und somit gut Nacht!“

Modei brachte keinen Gruß heraus. Und plötzlich huschte Lenzl dem Jäger nach, drängte sich an seine Schulter und flüsterte: „Du! Ich kunnt dir an Wildschützen verraten!“

Forschend spähte Friedl in das Gesicht des Alten, der mit lauerndem Blick an seinen Augen hing. „Ich dank dir schön! Dös braucht’s net.“ Er drückte Lenzls Hand und schritt hinaus in die Nacht.

Noch waren Friedls Schritte nicht verklungen, als Modei in Zorn und Sorge auf ihren Bruder zusprang. „Lenzl? Was hast du dem Friedl gsagt?“

Unwillig riss der Alte seinen Arm aus Modeis Händen. Seine Stimme klang gereizt: „Was ich ihm gsagt hab? Dass er mir besser gfallt als der ander!“ Er spähte hinaus in die Nacht. Es war schon zu dunkel, als dass er Friedls Gestalt noch hätte unterscheiden können. Die Tritte des Jägers klangen noch vom Steig herüber, wenn auch kaum vernehmbar. Als sie ganz verhallten, tat Lenzl einen kurzen Pfiff, trat zurück in die Stube und ging zum Herd, an Modei vorüber, die auf der Bank saß, mit den zitternden Händen im Schoss.

Auf dem Herd blies Lenzl die Asche von den Kohlen, legte kurze Späne über die glimmenden Reste und fächelte mit einem Rabenflügel Luft in die Glut. Knisternd züngelte ein Flämmchen auf, an dem der Alte eine Kienfackel entzündete. Als sie brannte, steckte er sie in den eisernen Ring, der neben dem Herd in der Holzwand befestigt war.

 

Kapitel 4

 

Eine Weile war Stille. Draußen ein leises Klirren. Modei sprang auf. In die Stube trat ein hoch gewachsener, bildschöner Bursch und drehte auf er Schwelle lachend das Gesicht über die Schulter, um dem Jäger nachzuspähen. Nun sah er das Mädel an, misstrauisch und dennoch heiter. „Lang hab ich stehn müssen da draußen, in der Finstern und in der Kält.“

„Heut? Und kalt?“, sagte Modei tonlos.

„Schauern tut’s mich wie an Hund, und müd bin ich wie a Mühlesel!“ Er warf den Rucksack in den Winkel, Bergstock und Hut dazu, stieß mit dem Fuß die Tür ins Schloss, und während er zum Fenster ging und den Laden zuzog, lachte er: „Du hast freilich net Zeitlang ghabt. Was hast denn so Wichtigs verhandeln müssen mit dem jagerischen Windbeutel?“

Ein Zug von Zorn und Stolz legte sich über Modeis Stirn. Dennoch klang ihre Stimme ruhig. „Blasi? Meinst net, du hättst mir nach so langer Zeit an anders Grüßgott sagen müssen? Ich hätt mir denkt –“

„Ah, da schau!“, wurde sie von Blasi unterbrochen. „Wie ’s Maderl aufputzt is! Wo hast denn du den Buschen her? Leicht vom Jager? So was verbitt ich mir!“ Er riss ihr die Blumen vom Mieder und schleuderte sie ins Herdfeuer. „So! Jetzt möchte ich ebbes z’essen haben. Und bald!“

„D’ Hauptsach kommt bei dir allweil z’letzt!“, höhnte Lenzl, der mit aufgezogenen Beinen auf dem Herd hockte.

In Modeis Augen hatte etwas aufgeleuchtet wie hoffende Freude. „Blasi? Tust eisern?“ Wo Eifersucht brennt, ist immer noch Liebe.

Er hatte sich auf die Bank gesetzt und machte verdutzte Augen. „Ich? Und eisern? Geh, so ebbes Dumms!“ Das Wort war lachend gesagt und wirkte doch wie ein Messerstoß. Das schien er zu merken, wollte ein Pflaster legen und gab seiner Stimme einen Klang von Zärtlichkeit. „Du bist du. Ich weiß doch, was ich hab an dir. Und wann ebbes mein ghört, bin ich noch allweil sicher gwesen, dass mir kein andrer net drantappt.“

Modei blieb stumm. Ihr Bruder, der mit einem Scheit in die Kohlen stocherte, sah zu ihr hinüber und sagte gallig: „Schwester! A bissl gar viel tust dir gfallen lassen!“

„Du?“ Blasi erhob sich. „Fangst schon wieder zum hetzen an?“

„Sei halt du der Gscheider!“, sagte Modei mit erwürgtem Klang. „Vier Wochen lang hab ich dich nimmer gsehen. Und eini in d’ Hütten, und gleich muss der Unfried wieder da sein!“

„Hätt er net angfangt, der! Und was muss er denn allweil den Jager einizügeln in d’ Hütten?“

„Höi, höi!“, kicherte Lenzl. „Wann net eifern tust, da kann’s dir ja gleich sein, wer einikommt.“

„D’ Hütten kann ich ihm net verbieten“, sagte Modei müd, „er kommt halt, und a Hüttentür is allweil offen.“

„No ja, meintwegen!“, brummte Blasi. „Schau, dass ich ebbes z’essen krieg. Hungern tut mich, dass mir der Magen springt.“

Ein schrilles Lachen im Herdwinkel. „Gschwind, Schwester, tummel dich, der Herr Baron will’s haben. Hungern tut ihn, da muss er essen. Dürsten tut ihn, da muss er trinken. A fuierl mach auf, a warms! Und nacher spring eini ins Bett. So taugt’s ihm. Alle vier Wochen amal!“ Wieder das grelle Lachen. „Schwester! Du bist gnügsam!“

„Himmel Herrgott Sakrament noch amal –“ Wütend sprang Blasi auf den Alten zu.

Modei lief ihm den Weg ab. „Blasi! Um Gotts willen!“

Er wurde ruhig. „Hast recht!“ Und lachte. „Was willst denn von so eim Narren?“

Lenzls Augen funkelten. Er warf das Scheit auf die qualmenden Kohlen. „Narr? So? Narr? Für dich bin ich allweil noch gscheider, als dir lieb is.“

Modei, als sie den Burschen wehrend aus der Nähe des Bruders fortschob, fühlte, dass seine Kleider durchnässt waren wie nach schwerem Regen. Erschrocken sagte sie: „Jesus, Bub, du bist ja tropfnass am ganzen Leib! So zieh doch d’ Joppen aus und d’ Schuh! Und red a Wörtl! Es hat doch net gregnet. Wie kommst denn a so daher?“

Missmutig zerrte Blasi die Joppe herunter und begann auf der Bank die Schuhriemen zu lösen. „No ja – weil mich doch keiner net ausspionieren soll – wann ich auffikomm zu dir.“

„Von mir aus kannst dich anschaun lassen vor jedem.“ Sie stieg auf den Herd, um die nasse Joppe über die Stange zu hängen. „Dös wird nimmer offenbarer, als wie’s eh schon is.“

„Freilich, ja! Bei dir is schon a bissl ebbes an d’ Sonn kommen.“ Blasi lachte über seinen Spaß. „Deswegen muss unsereiner allweil an Aug auf sein’ Leumund haben. Da such ich mir gern an Weg aus, wo mir keiner begegnet. Heut hab ich mir denkt, ich steig durch ’s Grottenbachkamml auffi.“

„A sichers Platzl!“, höhnte der Alte im Herdwinkel. „Da därf kein Senn und kein Holzknecht einisteigen. Weil’s der beste Gamsstand is. Gelt ja?“

Mit rascher Bewegung wandte Modei das blasse Gesicht.

Der Zorn brannte in Blasis Augen. Ohne zu antworten, streifte er die Schuhe von den Füßen. „Hast keine Schlorpen, Madl? Ich kann net barfuss laufen.“

„Da hast die meinigen!“ Lenzl schleuderte die Pantoffel von seinen Füßen. „Du Prinz, du verzartelter!“

Noch immer schweigsam, Kummer und Sorge in den erweiterten Augen, stellte Modei hinter dem auflebenden Feuer die nassen Schuhe des Burschen zum Trocknen an die Wand. Sie wusch die Hände und begann den Teig zu einem Eierschmarren einzurühren.

In den klappernden Pantoffeln trat Blasi zum Herd und drehte sich vor dem Feuer hin und her, um trocken zu werden und sich zu wärmen. „No, und da bin ich halt so durchigstiegen durchs Klamml, wo ’s Wasser vom Grottenbach haushoch abifallt.“ Das erzählte er gemütlich und heiter. „Aber grad, wie ich ums Eck ummi will, da scheppert a Bergstecken. Weißt, der Hies war’s, der ander Jagdghilf. Füß muss er haben wie an Olifant. Auf a halbe Stund weit hörst ihn schon allweil. Bis de ramal an heimlichen Schützen derwischt, da spriungt noch leichter a Floh auf’n Kirchturm auffi.“ Ein munteres Lachen. „Ja, freilich, denk ich mir, du kommst mir lang schon z’spat! Und mach an Satz überm’ Bach und stell mich eini untern Fall, dass ’s Wasser wie a Dach über mich hergschossen is. Da drin is fein schön gwesen. Hinterm Wasser hat d’ Welt ausgschaut wie a buckleter Regenbogen. A gute Stund bin ich so gstanden und hab allweil gschaut. Und bin auf und davon, wie d’ Luft wieder sauber war.“ Er lachte wieder. „Und jetzt bin ich da, hab an damischen Hunger und krieg nix z’essen.“

„Musst halt Geduld haben an Schnaufer lang!“ Modeis Stimme hatte einen fremden Klang. „Oder’s nächste Mal musst an Fürreiter schicken, dass der Schmarren schon fertig auf der Bank steht, wann den Fuß einistellst in d’ Hütten.“

Verwundert sah Blasi auf und musterte das Mädel von oben bis unten, während er die Spitzen seines schwarzen Schnurrbarts drehte. Dass Modei ärgerlich wurde und diesem Ärger in Worten Luft machte, das war für ihn etwas Neues. Es erschien ihm so sonderbar, dass er nicht wusste, was er sagen sollte. Er behalf sich mit einem spöttischen Lächeln und folgte mit den Augen jeder Bewegung Modeis. Sie goss den Schmarrenteig in die eiserne Pfanne, in der das heiße Schmalz mit Gebrodel zischte.

Da klang es dünn aus dem Herdwinkel: „Du, Blasi? Hast ebba d’ Joppen um die’ Büxen ummigwickelt? Oder hat ihr ’s Wasser an Schaden bracht?“

Blasi fuhr auf. „Geht’s dich was an, du verruckter Tuifi?“ Er warf einen scheuen Blick auf Modei. „Für was soll ich denn a Büxen bei mir ghabt haben?“ Seine Stimme bekam einen zärtlichen Schmeichelton. „Wann ich zu meim Schatzl auffisteig, da bring ich a warms Herzl mit. Sonst nix.“

„So?“, spottete Lenzl. „Meinst, ich hätt’s net gsehen, wie draußen dein’ Stutzen versteckt hast hinter’m Scheiterhaufen?“

Modei trat auf den Burschen zu und fragte ernst: „Blasi? Is dös wahr?“

„Ah was, woher denn!“ Blasi lachte. „Täuscht hat er sich im Zwielicht. Auf Ehr und Seligkeit.“

„Ja, glaub’s ihm wieder!“, klang es schrill über die Herdflamme. „Glaub’s ihm wieder! Wie d’ ihm allweil glaubt hast!“

„Geh, lass ihn reden, Schatzl!“ Kosend legte Blasi den Arm um das Mädel. „Schau lieber, dass dein Bub a Bröserl zum Schlucken kriegt, dös ihm Kraft macht. Geh, sei gscheid, und tu a bissl Pfeffer in’ Schmarren eini! Pfeffer macht Blut!“

„Na, Blasi!“ Ihre Stimme war schwer. „Mit so ebbes kommst mir heut net aus. Heut musst mir d’ Wahrheit sagen.“

Er rüttelte sie munter und scherzte: „Wie denn? Was denn? Warum denn? Duuuu, Weiberl, willst mir ebba heut a kleine Predigt halten? Mir scheint, an dir is a Kapuziner verloren gangen. Bloß der Bart hätt dir noch wachsen müssen. Jöises, jöises, und dreinschauen tust! Wie der Kaplan beim heiligen Grab! Ui jegerl! Da muss ich schon Reu und Leid machen.“ Er faltete auf kindliche Art die Hände. „Heilige, gütige Jungfrau Maria, bitt für mich!“

„Höi, Schwester“, warnte Lenzl, „heut hat er ebbes Heimlichs auf der Muck! Weil er sich gar so schmalzfreundlich aufspielt. Heut treibt er’s wie der Fuchs, der vor’m Hehndl seine lustigen Unschuldshupferln macht.“

Blasi wollte auffahren, bezwang sich und lachte gemütlich.

Schweigend sah ihn das Mädel an. Dann sagte sie unmutig über die Schulter: „Gib a Ruh, Lenzl! Es is schon wahr: Allweil tust hetzen!“

Im Herdwinkel ein leises Kichern.

Blasi atmete erleichtert auf. „Gelt, Schatzl, wir zwei für uns allein, wir täten soviel gut mitanand auskommen. Aber allweil muss sich der ander zwischeneini schieben. Und da kriegt der gute Hamur allweil wieder an Riss.“ Er ging zur Bank hinüber, gähnte melodisch und lümmelte sich nieder.

Eine Weile blieb Modei bei der Pfanne beschäftigt. Dann trat sie auf den Burschen zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Schau, Blasi“, ihre Stimme hatte warmen und herzlichen Klang, „dass diemal a bissl jagern gehst, dös weiß ich doch. Aber ich hab mir allweil denkt: Wann’s amal sein därf, dass d’ mich heiretst, und wann ich dein Weib bin – da wirst wohl a bissl hören auf mich, wann ich dir so ebbes ausreden muss in Güt –“

„Freilich, ja!“, nickte er belustigt. „Ich folg dir amal, wie ’s Vögerl der Vogelmutter!“

Sie musste lächeln über dieses drollige Wort. „Versprich net z’viel! Ich bin schon zfrieden mit der Halbscheid.“

Ein kurzes Auflachen neben der qualmenden Pfanne. „Schwester! Allweil sagen d’ Leut, dass d’ Welt a runde Kugel is.“

Sie drehte verwundert das Gesicht. „Dös wird schon wahr sein.“

„Na, Schwester!“ Galliger Zorn war in der Stimme des Alten. „D’ Welt is a schiecher, ecketer Kasten. Aber für deine Augen wird ’s Eckete allweil kugelrund.“

Unwillig schalt sie zum Bruder hinüber: „Geh, fang net schon wieder an! Wie soll denn a Fried sein!“ Sie schien nach einem Wort zu suchen und fand es nicht, ging seufzend auf das Herdfeuer zu und warf mit dem eisernen Löffel die dampfende Speise in der Pfanne durcheinander. Lächelnd und mit klein gemachten Augen sah Blasi dem Mädel zu. Und Lenzl im Herdwinkel heilt die Knie mit den Armen umklammert, guckte in die züngelnden Flammen und fpiff mit leisem Gezwitscher einen Ländler vor sich hin. Die Nagelschuhe, die zum Trocknen and er Herdmauer standen, begannen in der Hitze fein zu rauchen. Da sagte Modei: „Ich hätt kein Wörtl net gredt. ’s Predigen magst net, dös weiß ich. Aber der Jager hat mir heut soviel Angst gmacht.“

Blasi wurde neugierig. „Was für einer?“

„Der Friedl.“

„Der? Ui jesses! Den fürcht ich bei der Nacht net, viel weniger am Tag. Bei dem wiegt ’s Herz an Zentner und der Verstand a Quentl. So a Millisuppen von eim Mannsbild!“

„Gib acht, du“, spottete Lenzl, „dass dir d’ Millisuppen net amal über d’ Nasen tröpfelt!“

Das überhörte Blasi. Lustig fragte er: „No, was hat er denn gsagt, der Jager?“

„Gredt hat er von eim. Aber so einer, wie der is, kannst doch du net sein! Dös kunnt ich net glauben.“ Sie ging auf den Verdutzten zu und strich ihm mit der Hand übers Haar. „Gelt, es macht dir halt a Freud, dass dir diemal a Spielhahnfederl oder a Gamsbartl abiholst?“

„No ja, freilich, weiter is nix dran.“

„Aber schau, kunnst ja doch amal mit’m Jager überzwerch graten. Jesus, Jesus, ich kann mir gar net denken, was ich anfanget, wann’s da an Unglück gäb.“

Immer heiterer wurde Blasi. „Ah was! Um mich brauchst kei’ Sorg net haben. Da käm’s halt drauf an, wer den flinkern Finger hat. Den gschwindern hab ich. Allweil. Und überall.“

„Blasi!“, stammelte Modei erbleichend. Mar’ und Joseph!“

Schnuppernd hob er die Nase und sagte sorgenvoll: „Du, mir scheint, der Schmarren brennt an.“

Wortlos nahm sie einen Teller aus der Schüsselrahme und ging zum Herd.

Lenzl kicherte und rief zu dem Burschen hinüber: „Du! Lass dir ’s kostspielige Leder net verbrennen! Deine Schuh fangen zum dämpfen an.“ Er griff nach einem der beiden Schuhe, die dunstend an der Mauer standen. „Aaaah! So ebbes von Schuhwerk! Wie a Fürst! Eiserne Greifer um und um! Dass er nur ja net ausrutscht! Und z’mittelst in der Sohlen hat er auch noch an Haufen Nägel drin!“ Immer kichernd, zählte er mit tippendem Finger: „Eins, zwei, drei, viere, fünfe, sechse, siebne, achte, neune!“ Die letzte Ziffer klang wie ein lustiger Schrei. Nun ein boshaftes Lachen. „Schwester? Merkst es bald, wie ecket die’ runde Welt is?“

Zu Tod erschrocken, riss Modei dem Bruder den Schuh aus der Hand, betrachtete ihn, griff nach dem andern, verglich die Sohlen, drehte das aschfarbene Gesicht gegen den Burschen hin und ließ die Schuhe zu Boden fallen.

Blasi war so verblüfft wie ein Kind vor dem ersten Gewitter. „Was hast denn auf amal?“ Langsam erhob er sich.

Die Hände der Sennerin zitterten, während sie die rauchende Speise aus der Pfanne auf den Teller schöpfte. „Blasi?“ Ihre Stimme war tonlos. „Hast schon amal ebbes von eim Wildschützen ghört, den d’ Jager den Neunnägel heißen?

Er guckte missmutig drein. Dann lachte er. „Ah, geh, was redst denn jetzt da!“ Hastig griff er nach seinem Schuhwerk, ging zur Bank und schleuderte die Pantoffel von den Füßen. „Soll’s am End gar ich sein? Weil zufällig meine Sohlen mit neun Nägle bschlagen sind?“ Er schlüpfte flink in die Schuhe. „Dös macht der Schuster oft a so!“

„Ja, freilich, so a Schuster macht’s allweil wieder, wie er’s gwöhnt is.“ Modei stellte den Teller mit dem Schmarren auf die Bank. „Recht gut wird er heut net graten sein.“

„Macht nix!“ Blasi lachte. „Im Hunger schmeckt eim bald ebbes.“

„Schwester!“, schrillte die Stimme des Alten. „Hörst was er sagt? Da musst a bissl drüber nachdenken!“

Zerbrochen an allen Gliedern, fiel Modei auf die Herdmauer hin. „Wie mir jetzt ums Herz is, kann ich net sagen.“

„Und herzeigen tut er sich wie der Beste!“, höhnte Lenzl. „Einer, der gfallen muss! Was Weibsleut heißt, alle kann er haben.“

„Alle?“ Unter gierigem Schlingen lachte Blasi. „Ah na!“ Er zwinkerte zu dem Mädel hinüber. „Du bist mir die einzig. Du bist mein Glück und mei’ Freud!“

„Und den ganzen Sommer bist drei Mal dagwesen. Warum? Jetzt weiß ich’s, Blasi! Weil dir mei’ Hütten bei deine heimlichen Weg kommod zum Rasten is. Und ’s ander geht drein. Zum Zeitvertreib. Und weil dir im Hunger bald ebbes schmeckt. Gelt, ja?“

„Is ja net wahr!“ Er warf einen Bissen im Mund herum. „Sakra, a bissl gar schiech is er anbrennt. Da muss man ’s Maul zruckziehn von die Zähn. Sonst kunnt’s rußige Busserln geben.“ Hurtig löffelte er weiter.

Immer ins Feuer starrend, redete sie eintönig vor sich hin: „Wann ich mir denk: Wie gwesen bist! Amal! Vor ich mich rumplauschen hab lassen. Und wann ich mir fürsag: Wie d’ jetzt bist!“ Ein wehes Lachen.

„Allweil kann man net schmeicheln!“, tröstete er mit vollem Mund. „Sie zfrieden, bist mein lieber Schatz! Und der Tuifi soll mich holen, wenn ich’s net ehrlich mein’ –“

„Anlügen tut er dich!“, fuhr es schrillend aus dem Herdwinkel heraus. „Anlügen, dass blau wirst! Falsch is er bis in d’ Seel eini!“ Das Gesicht des Weißhaarigen erstarrte, und seine Augen wurden glasig. „Gradso wie der, so hat der Grubertoni allweil dreingschaut!“ Jäh sich aufstreckend, hob er die zuckenden Hände mit den krallig gespreizten Fingern gegen die berußte Decke hinauf. „Höia! Tanzboden? Wo bleibst denn? Rührst dich noch allweil net?“

„Du! Stadt bist!“ Blasi stieß den Teller fort. „Oder ich spring amal um mit dir, dass drandenkst deiner Lebtag!“

„Zu! Nur zu!“ Immer höher gellte die Stimme des Alten, den die Herdflamme mit roten Feuerlinien umzeichnete. „Für dich gibt’s auch noch an Tanzboden, der dich derschlagt! Wie’s den andern derschlagen hat. Allweil macht unser Herrgott sauber. Der Erdboden schamt sich deintwegen eh schon fünfazwanzg Jahr lang.“

„Sakerment und –“ Den Fluch zwischen den Zähnen zerknirschend, sprang Blasi au den Kreischenden zu. Der Alte machte einen Sprung gegen die Mitte der Stube. Da drückten ihn die Fäuste des Burschen zu Boden. „Blasi!“, schrie Modei. „Den Bruder lass aus!“ Ein wilder Wehschrei, und unter Fäusten weg sprang Lenzl zur Türe, riss sie auf und huschte kichernd hinaus in die Nacht.

Blasi stierte seine Hand an, von der Blut auf den Boden tröpfelte. „Da schau her! Bissen hat er mich.“

„Wart, ich hol dir a Tüchl!“

„Ah was! Dös braucht’s net. Bleib da! Weil der ander draußen is, muss ich ebbes reden mit dir.“ Er leckte mit der Zunge über die Wunde und wischte seien Hand an der Hose sauber. „So a Verruckter is wie a Kind. Dös beißt eini, wo’s ebbes derwischt.“

„So? Meinst?“ Modei ließ sich auf die Herdmauer hinfallen. „Hat dich unser Kindl schon amal bissen?“

Mit großen Augen sah er sie an. Was sie da gesagt hatte, ging ihm über den Verstand. „Wie? Was?“ Er lachte dumm. „Hat dich ebba der Lenzl schon angsteckt mit der Narretei?“

„No also, red! Verzähl a bissl ebbes – vom Kindl!“

„Was soll ich denn da verzählen?“ In Unbehagen rührte er die Schultern und leckte wieder an der roten Hand. „A Wochen a drei oder viere hab ich’s nimmer gsehen. Der Zufall hat’s halt amal so bracht.“

Modei hob den Kopf und suchte seine Augen. „Zufall? So? Und bist mit ihm beinander im gleichen Ort!“

„Aber geh, du Narrenhaserl!“ Blasi rückte an Modeis Seite und legte den Arm um ihre Schultern. „Jetzt lass amal gscheid mit dir reden!“

„Alles will ich mir sagen lassen. Aber dös –“

„No schau, wann ich allweil nach’m Kindl umfragen tät, da müssten doch d’ Leut amal draufkommen, dass ich an Grund hab dazu.“ Er fand einen Ton voll biederer Herzlichkeit. „Wie gern ich dich hab, dös weißt doch, gelt?“

Sie sagte zögernd: „Allweil muss ich dir wieder glauben.“

„So, schau“, meinte er mit vergnügtem Lachen, „nacher is doch eh alles gut.“

„Lang hast braucht, am Anfang, bis mir den Glauben eingredt hast. Aber nacher is er wie Eisen gwesen in mir.“

„Du bist halt eine! Söllene gibt’s net viel.“

„Und wie ich mit’m Kindl gangen bin, und du hast mir fürgredt, was für an Verdruss mit deim Vatern kriegen tätst –“

Er verdrehte die Augen. „Ui jöises! Der raucht kein’ guten.“

„Schau, da hab ich dir auch wieder glaubt. Und hab kein’ Vater angeben und hab gschwiegen bis zur heutigen Stund. Und wie unser Büberl da war, und wie mir gsagt hast, du kannst mir nix geben fürs Kindl, weil dein Vater jeden Kreuzer weiß, den d’ hast –“

„Du, dös is einer! D’ Hosensäck untersucht er mir alle Täg.“

„Da hab ich mich plagt und gschunden und hab verdient für uns alle.“

„Wahr is!“ Er nickte anerkennend. „Da kann man nix sagen. Die Beste bist! Von alle! Und dös wirst derleben, dass ich mich dankbar aufweisen tu – amal.“

Dank? Für was denn an Dank? Aber schau, was d’ jetzt wieder sagst –“ Nach kurzem Schweigen fragte sie in Qual: „Blasi? Tust denn dein Kindl gar net a bissl mögen?“

„No freilich, Schatzl!“ Er wurde zärtlicher als je. „Aber schau, du hast halt für söllene Sachen den richtigen Verstand net. Wie leicht kunnt ich mich da verraten. Was da für a Suppen aussikäm! Derschlagen tät mich der Vater. Schau, da heißt’s halt abwarten in Geduld, bis unser Zeit kommt. Stadt sein! Mäuserlstad! Und allweil a bisserl schlau! Wie schlaucher, so besser.“ Hurtig zog er seine Joppe von der Herdstange herunter. „Drum hab ich mir denkt, du kunntst a bissl mithelfen und kunntst mir ebbes z’lieb tun. Magst?“

„Gern, Blasi!“, sagte sie in Freude. „Fürs Kindl tu ich alles.“

„Gelt ja! Fürs Kindl!“ Er lachte. „Und a bissl für mich – dass ich mich net allweil vor’m Vater fürchten muss.“ Aus der Brusttasche seiner Joppe zog er einen Bleistift hervor und ein zusammengefaltetes Blatt Papier. „Da hab ich ebbes Schriftlichs mitbracht – jesses, jetzt is dös Luderspapierl auch ganz nass worden!“ Er schlug das Blatt auseinander und strich es auf seinen Knien glatt. „Macht nix, lesen kann man’s schon noch! Und gelt, Schatzl, dös tust mir z’lieb und tust dich da unterschreiben. Ich hab dir an gspitzten Bleistift mitbracht.“

„Ja, komm, dös haben wir gleich.“ Modei nahm das Blatt und begann zu lesen: „Erklärung. Ich Endesunterzeichente –“

Er lachte: „Geh weiter, dös brauchst dir gar net anschaun, bloß unterschreiben musst.“ Dazu ein Kuss auf Modeis Wange.

Sie wehrte ihn lächelnd von sich ab. „Na, na, der Mensch muss allweil wissen, was er unterschreibt.“ Sie las mit halblauter Stimme: „Ich Endesunterzeichnete erkläre, dass der Bauerssohn Blasius Huisen mit meinem Kind, genannt Franzerl, gar nix zum schaffen hat, indem er der Vater nicht ist und auch nix zum zahlen hat.“ Die Hände, die das Blatt hielten, fielen ihr wie gelähmt in den Schoß. Stumm, mit ratlosen Augen sah sie ins Leere. Dann nickte sie vor sich hin. Wieder hob sie das Blatt vor die Augen. Beim Flackerschein des Kienlichtes tanzten die Buchstaben durch ihre Tränen. „Der Vater nicht ist – und auch nix zum zahlen hat.“

„Weißt, Herzerl, dös letzte, vom Zahlen, dös steht bloß a so da. Zum bedeuten hat dös nix. Drum geh, sei gscheid und tu mir den Gfallen!“ Blasi schob ihr sanft den Bleistift zwischen die Finger. „Schau, ich tu dir alles z’lieb, was d’ willst. Aber gelt, dös Papierl unterschreibst mir! Ja?“ Er atmete schwül und fuhr sich mit den Händen durch die schwarzkrausen Haare. So erwartungsvoll hing sein Blick an dem Gesicht des Mädels, dass er übersah, wie der Fensterladen sich um einen handbreiten Spalt öffnete, durch den ein funkelndes Aug in die Stube spähte.

Modei hob das entstellte Gesicht. „Blasi? Du willst heireten? Gelt? An andre!“

„Kreuz Teufel –“ Das Blut schoss ihm in die Stirn, und wütend trommelte er mit den Fingern auf die Knie. „No ja, meintwegen – amal muss ich’s allweil sagen!“ Er schlüpfte in seine Joppe. „A bissl nässelen tut s’ noch allweil. In Gottsnamen, muss ich’s halt derleiden.“

Modei stand auf und wischte mit der Schürze über das Blatt, als wären Tränen draufgefallen. Sie wollte zur Bank hinüber. Von einer Schwäche befallen, klammerte sie sich an eine Kreistersäule.

„Was is denn?“, fragte Blasi verdutzt.

„Nix! – An mein Kind hab ich denkt.“

„Allweil kommst mit söllene Wörtln, die gar net herpassen.“ Blasi trat auf sie zu und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Jetzt sei a bissl gscheid und nimm’s net gar a so schiech!“ Modei, zusammenschauernd, zog die Schulter von seiner Hand weg. „Es muss amal sein“, sprach Blasi weiter, „mein Vater hat’s ausgmacht. Ich kann net anders. Fürs Kind sorg ich schon. Auf Ehr und Seligkeit! Wann mir der Vater amal übergeben hat, bin ich der Herr. Da kann der Alte sagen, was er mag. Aber jetzt hat er halt den Leitstrang noch allweil in der Hand. Und ich muss ducken. Dös kannst doch net verlangen, dass ich mich mit Vater und Mutter verfeind.“

„Da hast recht, dös wär z’viel verlangt.“ Sie ging zum Herd und stieß ein paar Scheite ins Feuer. Die Flamme prasselte und wuchs.

„No also, schau! Da kannst mir jetzt grad amal dei’ Lieb beweisen. Gelt, bist gscheid und unterschreibst? Und tust mir noch den letzten Gfallen.“

„Den letzten, ja!“ Das sagte sie ruhig. Dann legte sie das Blatt auf die Randsteine des Herdes, netzte an den Lippen die Bleistiftspitze an und setzte zum Schreiben an.

„Schwester! Tu’s net!“, klang durch das Fenster die Stimme ihres Bruders.

Wütend ballte Blasi die Fäuste. „Allweil der wieder!“

Modei wandte das Gesicht zum Fenster, strich mit dem Arm das Haar aus der Stirne, senkte den Kopf und schrieb mit fester Hand unter die letzte Zeile ihren Namen: Maria Meier. Tief atmend, richtete sie sich auf und reichte dem Burschen das Blatt und den Bleistift. „Da! Nimm!“

Hastig griff Blasi zu. Die Freude glänzte in seinen Augen, als er das Blatt sorgsam zusammenfaltete und in die Joppentasche steckte. „Vergelts Gott, Schatzl! Du bist halt die Richtige! Dub ist die einzig, die mir gfallt. Und wann ich jetzt auch die ander haben muss –“ Lachend umschlang er sie. „Zwischen uns zwei kann’s allweil so bleiben, wie’s war!“

Da stieß ihn Modei mit den Fäusten vor die Brust, dass er taumelte. „Pfui Teufel!“ Aller Zorn und Ekel, den sie fühlte, war im Klang dieser beiden Worte. Dann konnte sie ruhig sagen: „Zwei lange Jahr hast braucht, bis ich dich mögen hab. Und mit zwei kurze Wort hast es fertig bracht, dass d’ mir zwider bist bis in d’ Seel einie!“ Ihre Stimme wurde hart. „Schau, dass d’ aussikommst! Mir graust!“

Blasi lachte. „so, so? No, mir kann’s recht sein! Da brauch ich mir grad kein’ Fürwurf machen.“ Er setzt eden Hut auf, griff nach Bergstock und Rucksack, und als er auf der Schwelle stand, rief er spöttisch über die Schulter. „Pfüe Gott, du! An andersmal!“ Pfeifend ging er davon.

Und Lenzl erschien in der Tür. „Schwester? Hörst es? Pfüe Gott sagt er.“

Unbeweglich stand Modei am Herd und sah in die Flamme. „Gott? – Gott? – Allweil sagen s’: Gott! ’s erste und ’s letzte Wörtl: Grüß Gott! Und: Pfüe Gott! Und zwischendrei und hintnach is alles a Grausen.“ Sie lachte leise. „Ob unser Herrgott weiß, was für schauderhafte Sachen sein heiliger Nam bei die Menschenleut einrahmen muss?“ Auf die Herdmauer hinfallend, griff sie nach einem Scheit, mit dem sie die glühenden Kohlen aus der Asche schob und gegen die klein gewordene Flamme hinhäufelte.

Von der Schwelle schrie Lenzl in die Nacht hinaus: „Gelt, du! Vergiss dein’ versteckten Hinterlader net!“

Unbeweglich antwortete Blasis Stimme: „Wart, du Täpp! Wir zwei wachsen noch zamm.“

„Du und ich? Ah na! Wann der Tuifi dich amal beim Gnack derwischt, hat er kei’ Zeit mehr für an andern. Da hat er Arbeit gnug mit dir allein!“

Draußen ein fideler Juhschrei und ein vergnügtes Gedudel, das sich entfernte.

In der Hütte begann das niedergebrannte Kienlicht müd zu flackern.

Lenzl ging auf die Schwester zu, beugte sich zu ihr hinunter und sagte mit einem plumpen Versuch, zu scherzen: „Um so ein’ musst dich net kränken. Den schlechten Nusskern speit einer aus und sucht sich an süßen. Sei froh, dass d’ a Witib bist! Jetzt nimmst dir an andern.“

Sie schob ihn mit dem Ellbogen von sich. „Geh schlafen! Jeds Wörtl is mir wie a Nadel im Ohr.“

Lenzl schlurfte zum Kreister hinüber. Auf halbem Wege blieb er stehen. „Hab gmeint, ich müsst a bissl Spaßetteln machen. Jetzt merk ich: Dös war ebbes Gscheids. Is einer gwöhnt ans Zwieschichtige, so derleidt er’s in der Einschicht nimmer. Da kunntst ebba durften müssen an Seel und Blut. Wann ’s Viecherl Hunger hat, muss ’s Viecherl Futter kriegen. Bloß ich kann ’s Hungerleiden. Ich muss warten, allweil warten –“

In der Nachtferne ein dumpfes Rollen und Gerassel.

Das Gesicht des Weißhaarigen erstarrte. „Hörst es?“ Seine Stimme war schrill und knabenhaft dünn. „Du? Hörst es?“

Ohne aufzublicken, sagte Modei. „Steiner sind gangen in der Wand.“

„Hörst es? Der Tanzboden rumpelt. Der lauft ihm nach. Dem kommt er net aus.“ Ein grelles Lachen. „Hörst es? Alle hat’s derschlagen. Den Grubertoni! Und ’s Lisei – mein Lisei –“ Mit einem Kichern, das sich wie ein Kinderweinen anhörte, kletterte Lenzl über die Scheiterbeige zum Kreister hinauf und wühlte sich ins Heu.

Die Kienfackel erlosch.

Modei hob den Kopf, sah verloren in den rötlichen Zwieschein der Sennstube, ließ das Holzscheit fallen und presste das Gesicht in die Hände.

 

Kapitel 5

 

Das Grau der ersten Dämmerung lag noch über den Bergen, als Benno am anderen Morgen von Friedl geweckt wurde. Rasch war er auf den Beinen und schüttelte das Heu von sich. Am Brunnen wusch er Gesicht und Hände.

Friedl war ihm vorausgegangen und fand an Modeis Hüttenstube die Tür schon offen. Als er mit freundlichem Gruß in den Kaser trat, sah er Lenzl und seine Schwester am Herd sitzen, auf dem schon ein Feuer flackerte.

„Was is denn, Modei? Hast du’s mit der Arbeit so nötig, dass du schon vor’m Tag auf die Füß bist?“

In Lenzls Augen hatte es wie Freude geblitzt, als er den Jäger eintreten sah. Er wollte aufspringen. Ein Blick der Schwester hielt ihn am Herde fest. Sie ging auf Friedl zu und reichte ihm die Hand. „Ich bin net schlafen gangen. Seit ein paar Tag is a Stückl Vieh net gut. Heut in der Nacht war’s schlecht mit ihm. Drum hab ich mich heut net niederlegen können.“

Friedl erschrak. Modei hatte nie viel Farbe gehabt; jetzt schien auch der letzte Tropfen Blut aus ihren Wangen verschwunden zu sein. Dazu lag die Müdigkeit einer in Schmerzen durchwachten Nacht in ihren bleichen Zügen. Einen Blick nur brauchte Friedl auf ihr abgehärmtes Gesicht zu werfen, um zu wissen, dass Modei, wenn auch keine Lüge, doch auch die Wahrheit nicht gesagt hatte. Was war geschehen? Es legte sich ihm bei dieser Frage wie eine eiserne Klammer um das Herz. Wusste er doch allzu gut, wer gestern noch gekommen war!

Modei hatte keine Ahnung, dass der Jäger ihr gehütetes Geheimnis kannte. Was Friedl nicht durch eigene Beobachtung erkundet hatte, erfuhr er aus dem für ihn immer mitteilsamen Mund des Alen, der ihn bei allen Sorgen um die Schwester zum Vertrauten gewählt hatte, gerade ihn, der am allerwenigsten dazu passte. Wie hatten Zorn und Eifersucht im Herzen des Jägers oft getobt bei allem, was er da hören musste! Seine tiefe, treue Neigung hatte immer wieder die Oberhand gewonnen über jedes erbitterte Gefühl.

Dieses Treue und Heiße lag auch jetzt in seinem Blick. Es war gut, dass Benno in die Hüttenstube trat. Sonst hätte Friedl wohl kaum die Frage zurückgehalten, die sich aus seinem gepressten Herzen herausdrängte.

Während Benno sich auf die Bank setzte, nahm Friedl seinen Platz auf dem Herdrand neben Lenzl. Modei ging ab und zu, um zu holen, was sie für Benno brauchte. Während sie still am Herd stand, um das Sieden des Wassers abzuwarten, plauderten Friedl und Lenzl von allerlei Dingen. Ob wohl am Tage, der schön zu werden versprach, das gute Wetter anhalten würde – dass ein baldiger Regen Not täte, weil das Quellwasser zu versiegen begänne – und von anderem mehr.

Dann trank Benno seinen Kaffee, lobte ihn redlich und machte Modei um ihrer Kochkunst willen Komplimente; schließlich bat er noch um ein Glas Wasser. Kaum war Modei zur Türe draußen, als Friedl schon einen stummen, bang fragenden Blick auf Lenzl warf. Der Alte flüsterte in Friedls Ohr: „Am Abend wart ich beim Heustadl auf dich.“

Ein paar Minuten später machte Benno sich mit dem Jäger auf den Weg. Als Friedl der Sennerin die Hand reichte, klang seine Stimme so warm und herzlich, dass das Mädel betroffen zu ihm aufsah.

Eine gute Stunde hatten die beiden Jäger zu steigen, bis sie den Grat des Berges erreichten. Droben machten sie Rast, um der aufgehenden Sonne zuzuschauen, wie sie erst mit zarten Farben die lang gezogenen Wolken säumte und dann mit leuchtendem Rot die felsigen Höhen übergoss. Dort unten auf weiter Alm lagen Punkls und Modeis Hütten, und in ferner Tiefe das kleine Tal von Fall, über dem noch die Nebel und Schatten des frühen Morgens schwebten.

Friedl nahm sein Fernrohr aus dem Rucksack und richtete das Glas auf eine der Hütten da drunten. Er sah die Sennerin – sie saß auf der Steinbank vor der Tür, hielt die Hände hinter dem Nacken verschlungen und lehnte den Kopf an die Hüttenwand, regungslos aufblickend zum lichten Morgenhimmel.

Benno musste zum Aufbruch mahnen. Der Jagdeifer zuckte ihm in allen Gliedern.

Während die beiden über den Grat hinaufstiegen, der die Landesgrenze zwischen Bayern und Tirol bildet, war Friedl wortkarg und zerstreut. Sonst, wenn Benno mit ihm ausgezogen, hatte Friedl ihn auf alles Sehenswerte aufmerksam gemacht, hatte ihm jede Wildfährte, jeden Wechsel und jeden Steig gezeigt. Heute war er schweigsam. Freilich verlor sich seine Zerstreutheit ein wenig, als sie in Wildnähe kamen; gesprächiger wurde er nicht, eher noch stiller; aber das war jetzt jene vorsichtige Stille des Jägers, die das Geräusch eines rollenden Kiesels scheut, das Knarren der Schuhe und das Klirren des Bergstockes.

Mühsam waren sie den steilen Pfad zur Höhe des Stierjoches empor geklettert. Von hier aus bis hinüber zum Torjoch zieht sich das Luderergewänd, dessen zerrissener Gurt gegen Fall in nackten steilen Felsen abfällt. Diese Wände sind im heißen Sommer ein Lieblingsaufenthalt der Gämsen, die vor der brennenden Sonnenhitze Kühlung finden auf den Schneeresten in den schattigen Klüften.

Langsam pirschten die beiden den Grat entlang, lautlos auf- und niedersteigend über seine Buckeln und Risse. Manchmal legten sie sich an gedeckten Stellen nieder auf die Erde und spähten über die Wände hinunter in die Gräben und Felslöcher. Da sahen sie bald ein größeres Rudel, bald wieder einzelne Gämsen auf den Sandreisen und Latschenhängen äsen. Wenn Friedl einen Bock erkannte, lagen sie auf langer Pass, ob sich das Wild nicht den Wänden und auf Schussweite nähern würde. Diese Hoffnung wurde immer getäuscht; es war noch früh am Tag, die Sonne brannte nicht allzu heiß, und so ästen die Gämsen zwischen den Latschen oder taten sich auf freiem Gehäng zur Ruhe nieder.

Benno begann verdrießlich zu werden, aber Friedl vertröstete ihn auf den heißeren Mittag.

Stunde um Stunde hatten sie mit Passen und Pirschen verbracht, als Friedl, der über eine Felswand hinuntergeblickt hatte, hastig zurückfuhr, sich auf die Erde warf und Benno zuwinkte, ein gleiches zu tun. Vorsichtig schoben sie den Kopf bis zu den Augen über die Felskante hinaus. „Sehen S’ ihn, Herr Doktor?“, flüsterte Friedl. Benno nickte; gleich auf den ersten Blick hatte er den Gamsbock erspäht, der am Fuß der Wand auf einem schmutzigen Schneefleck ruhte. Hastig griff Benno nach seiner Büchse; Friedl flüsterte: „Nur langsam! Lassen S’ Ihnen Zeit und verschnaufen S’ z’erst a bissl!“ Bennos Gesicht glühte vor Erregung, als er an seiner Büchsflinte den Hahn des Kugellaufes spannte. „Schauen S’ ihn nur recht schön sauber zamm“, mahnte Friedl, „am Platz muss er liegen bleiben. Wir haben kein’ Hund net bei uns.“

Da krachte der Schuss. Das Wild sprang auf, und in wilder Flucht ging’s dahin, ein Stück die Wand entlang, dann hinunter über Geröll und Latschen.

„Auweh, Herr Dokter! Den haben S’ aber sauber gfehlt!“, brummte Friedl.

Benno schüttelte den Kopf. „Das ist nicht möglich! Der Bock ist getroffen, gut getroffen!“

„Wann Sie’s glauben! Steigen wir halt abi zum Schussplatz, damit S’ Ihnen überzeugen können.“

Wäre Friedl allein gewesen, er wäre gleich an Ort und Stelle hinunter gestiegen; Bennos Mut und Gewandtheit wollte er ohne Zwang nicht auf die Probe stellen. Sie schritten den Grat entlang einer Stelle zu, wo der Abstieg weniger mühsam und gefährlich war.

Als sie den Schneefleck erreichten, auf dem der Bock gelegen, untersuchte Friedl auf das genaueste die Lagerstatt und die Fährte, konnte aber weder ein abgeschossenes Haar entdecken noch eine Spur von Schweiß. „Schauen S’ selber, Herr Dokter! Nix is!“, brummte er. „Jetzt schamen S’ Ihnen aber! Der is daglegen – mit’m Hut hätt man ihn umwerfen können!“

Benno wollte nicht glauben, dass er einen so schlechten Schuss getan. Ärgerlich glitt sein Blick über Schnee und Geröll, und langsam stieg er am Fuß der Felswand den Weg entlang, den der Bock auf seiner Flucht genommen hatte. Plötzlich neigte er sich gegen einen vorspringenden Felsen und stieß einen Juhschrei aus. „Friedl! Da ist Schweiß! Ein Tropfen! Ganz frisch!“

Flink sprang der Jäger herbei und sah in halber Mannshöhe vom Boden einen roten Tropfen am Felsen hängen. „Was dös für a Schuss is, dös kann ich bei Gott net begreifen! Wann’s a Streifschuss auf der Seiten wär, hätten wir am Schnee ebbes finden müssen. Also müssen S’ ihn am Kreuz troffen haben. Sonst kunnt auch der Schweißtropfen net so weit in der Höh sein. Aber nacher wär der Bock am Platz blieben, oder ich hätt sehen müssen, dass ihm ebbes fehlt. Freilich, so a Bock hat oft a Leben, zaacher als a Katz. Sakra, sakra! Wie sollen wir jetzt den Bock finden?“

Da klang eine lachende Stimme über die Felswand herunter: „Friedl, was machst denn da?“ Ein braunes, bärtiges Gesicht neigte sich über den Absturz heraus.

„Jeh, Anderl! Grüß dich Gott! Wie kommst denn du daher?“, rief Friedl hinauf.

„Den Schuss hab ich ghört und bin drauf zugangen. Es kunnt ja sein, dass wer andrer gschossen hätt.“

„Wer ist das?“, fragte Benno.

„A Jagdgehilf von der Hinterriß, der Anderl!“, erwiderte Friedl. Dann rief er in die Höhe: „Hast dein’ Hund bei dir?“

„Ja!“

„Dös is gscheid! Da kannst uns an Gamsbock suchen helfen. A paar hundert Schritt weiter vorn is a guter Abstieg.“

„Ah was!“, klang es von droben. „Ich steig gleich da übers Wandl abi! Komm her, Bürschl!“ Das braune Gesicht dort oben verschwand. Dann kam die ganze Gestalt des Jägers an einem Felseinschnitt des Grates zum Vorschein. Erst warf er seinen Bergstock herab, der unten mit der Spitze tief in den Sand fuhr. Nun betrat er selbst den steilen Weg. Die Büchse über dem Rücken, und Brust und Wange eng angedrückt an die Felswand, so klomm er langsam herunter, mit den Füßen immer vorsichtig voranstastend nach einer Steinecke oder einer Wandschrunde; aus seinem Rucksack guckte dabei der weiß und schwarz gesprenkelte Kopf seines Hundes heraus, der den Hals reckte und unruhig in die Tiefe blinzelte.

Als Anderl unten anlangte, schüttelte er Bennos und Friedls Hand und zog den Bergstock aus dem Sande. „Geh, sei so gut und nimm mir den Bürschl aus’m Rucksack!“ Friedl fasste den Hund an der Nackenhaut und zog ihn lachend an die Luft. „Is dir a bissl grausig z’mut worden, Bürscherl?“ Er setzte den Hund auf die Erde und klopfte ihm schmeichelnd den Rücken; es war ein schönes, zierliches Tier; freudig winselnd, sprang es an Friedl hinauf und schmiegte den Kopf an seinen Schenkel; man sah es dem Hunde an, wie wohl ihm die Liebkosung tat. „Du, dein Bürschl hat’s aber gern, wann einer gut mit ihm is! Mir scheint, der kriegt bei dir mehr Schläg als z’essen!“

„Da kannst recht haben! Mit Jagdhund und Weiberleut is auf d’ Läng kein Auskommen, wann s’ einer net durchhaut alle Täg.“

„Geh, mich dauert er, der arme Kerl! Schau, da hätt er an mir an bessern Herrn!“

„Kannst ihn gleich haben, wann d’ ihn magst! Vierzg Markln, und der Handle is fertig.“

„Gilt schon!“, rief Friedl und streckte dem Jäger die Hand hin.

„Und ich zahle die vierzig Mark“, fiel Benno ein, „wenn er den Bock findet. Kann er was, der Hund?“

Beleidigt fuhr Anderl auf. „A meiniger Hund? Ob der ebbes kann? Der versteht mehr von der Jagerei als wir alle drei mitanand. Da können S’ an zweiten suchen, Herr! Aber wissen S’, ich bin so a vergrimmts Luder, ich muss mich mit dem Hund schon ärgern, wann er nach einer Fliegen schnappt. Drum is besser, ich gib ihn weg. Ich tät ihn noch amal in der Wut derschlagen. Da wär doch schad drum.“

„Gelt, Bürscherl, wir zwei kennen uns schon!“, schmeichelte Friedl, während er dem Hund die Leine um den Hals legte. Längst hatte Bürschl der Gamsfährte zugewindet, und als ihn Friedl an die Felswand führte, senkte der Hund die Nase, zog die Leine straff und spürte über das Geröll hin. Benno und Anderl stiegen hinter Friedl her, und je weiter sie die Fährte den Berg hinunter verfolgten, um so häufiger und stärker wurden die Schweißspuren, um so hitziger wurde der Hund. Endlich hielten sie vor einem wirr verwachsenen Latschendickicht, das ein weiteres Vordringen der Jäger unmöglich machte. Friedl ordnete an, dass Anderl zur Felswand zurück steigen, Benno aber den bequemeren Weg einschlagen, das Dickicht von unten umgehen und sich dort auf einer Lichtung aufstellen sollte, die er ihm genau bezeichnete. Es dauerte eine geraume Weile, bis Friedl den Pfiff hörte, der ihm Bennos Eintreffen auf seinem Platz anzeigte. Fiebernd und winselnd hatte Bürschl an der Leine gezogen, und als er nun gelöst wurde, sprang er mit langen Sätzen in das Dickicht. Kaum eine Minute war verflossen, als der Hund schon Laut gab; dann polterten Steine, Äste knackten, ein paar Mal sah Friedl den Kopf des Gamsbockes im Sprung über die schwankenden Zweige herauftauchen; dazwischen klang das helle Geläut des Hundes; jetzt krachte drunten, wo Benno stand, ein Schuss, und über die Felswand rollte das Echo her. Nun war alles still. Dann hörte Friedl das Läuten des Hundes weit da drüben, wo unter hohen Fichten die weißen Holzwände der neuen Jagdhütte herüberblickten.

„Zum Teufel noch amal!“ Friedl sprang, die Büchse in der Hand, hinunter zu Benno. „Was is denn, Herr Dokter?“

„Da vorn ist der Bock heraus! Benno deutete mit dem Bergstock die Richtung an. „Gefehlt hab ich ihn nicht, doch muss ich in der Flucht zu kurz geschossen haben.“

Friedl legte die hohle Hand hinter das Ohr und lauschte. „Der Hund gibt Standlaut. Herr Dokter, den Bock kriegen wir! Drunt am Wasser steht er. Da muss er arg krank sein. Flink, Herr Dokter!“

„Aber der Anderl?“

„Der findt uns schon!“ Friedl warf die Büchse über die Schulter und sprang der Richtung zu, aus der von Zeit zu Zeit der Standlaut des Hundes klang. Und Benno folgte.

Als sie die Jagdhütte erreichten, standen sie wieder still und horchten. „Drunt am Steig muss er sein! Dort hör ich den Hund!“, sagte Friedl, und ihm voraus sprang Benno über die Stufen hinunter, die von der Hütte zum Steige führten. Je näher er dem Laut gebenden Hunde kam, umso hastiger rannte er den schmalen Pfad entlang. Nun bog er um eine Felsecke, und da bannte die Überraschung seinen Fuß.

Zu einem dumpfen Winkel zusammenlaufend, stiegen da zwei Feldwände in Stufen und Platten hoch hinauf; überall wucherte ein gelbgrünes Moos, das dickbuschig in allen Winkeln saß, wie ein glatter Teppich die Flächen überzog oder in langen Fäden niederhing über Vorsprünge und Kanten; aus allen Fugen und Rissen quoll ein milchweißes Wasser, tropfte in zahllosen Perlen über Stein und Moos, von Platte zu Platte, und sammelte sich zu kleinen Bächen, die plätschernd und sprühend von Stufe zu Stufe sprangen und sich zu einem kleinen Fall vereinigten, von dem aus ein leichter Nebel wieder aufwärts stäubte gegen die Wände. Dunkle Lastschenbüsche und saftgrüne Almrosensträucher umrahmten dieses Bild, überleuchtet von der Nachmittagssonne, die einen feinen Farbenbogen durch die aufsteigenden Wassernebel spannte und die fallenden Tropfen funkeln, glühen und blitzen machte wie Diamanten. Dazu noch diese seltsame Staffage: Auf einer der untern Stufen Bürschl, am ganzen Leibe nass und glatt wie eine Wassermaus, mit den Vorderfüßen gegen die Wand gestellt, aufbellend zu dem Gamsbock, der hoch über ihm mit eng gestellten Läufen auf einer vorspringenden Felsplatte stand und mit starren Lichtern auf den kläffenden Hund herunteräugte.

Es war ein Bild, das auch den glühendsten Jagdeifer beschwichtigen konnte. Doch als der Bock eine Bewegung machte, wie um einen Fluchtweg auszuspähen, riss Benno flink die Büchse in Anschlag. Da fasste ihn Friedl am Arm: „Net schießen, Herr Dokter, es braucht’s nimmer.“

Noch hatte der Jäger nicht ausgesprochen, als der Bock da droben schwer und müde den Hals neigte; jetzt brachen ihm die Läufe ein, und er stürzte über die Felsplatten herunter, bis vor Bennos Füße.

„Da haben S’ ihn!“, lachte Friedl und rückte den Hut. Dann pfiff er dem Hund, strich ihm mit der Hand das Wasser vom Leib und tätschelte ihm unter schmeichelndem Lob die fiebernden Flanken. Freudig erregt und mit heißem Jägerstolz betrachtete Benno das erbeutete Wild und dachte sich dabei in seiner Studierstube schon die Stelle aus, die er nach seiner Rückkehr in die Stadt mit dem schönen schwarzen Krickl des Bockes schmücken wollte.

Friedl verschränkte dem Bock die Läufe und schwang ihn auf den Rücken. „Feist is er!“ Dann stieg er mit Benno zur Jagdhütte hinauf. Es war das ein aus Baumstämmen erbautes Häuschen, das den Dienst tuenden Jägern bei Nacht und Unwetter Herberge bot; das Innere war in zwei Räume geteilt, von denen der eine als Küche, der andere als Schlafstube diente.

Als die beiden zur Hütte kamen, legten sie Jagdzeug und Joppe ab, und während sich Benno vor der Hütte behaglich auf eine Holzbank streckte, schickte sich Friedl an, den Bock aufzubrechen. Da fand er auch Bennos erste Kugel, die zwischen den Schultern eingedrungen und im Brustknochen stecken geblieben war. Er hatte seine rote Arbeit noch nicht vollendet, als Anderl eintraf, der nun gerechtermaßen den seltsamen Schuss, die „Güte“ des Bockes und seine schönen Krickeln bestaunte. Friedl hängte das ausgeweidete Wild an einen Holznagel der Hüttenwand und schürte in der Herdstube ein Feuer an. Anderl holte Wasser von einer nahen Quelle, und bald schmorte und brodelte es in zwei eisernen Pfannen: Die Leber des erlegten Wildes für die Jäger, die Lunge für den Hund. Während Friedl gewissenhaft das werdende Mahl überwachte, saß Anderl auf einer Herdecke und rauchte aus seiner kurzen Porzellanpfeife einen Tabak von zweifelhaftem Wohlgeruch. Dabei erzählte er von seinen Jagderlebnissen in der Hinterriß, erzählte, dass ein paar Fälle von Wildseuche vorgekommen wären, dass man den Jagdherrn für einige Wochen erwarte, und dass Pater Philippus, der Seelsorger von Hinterriß, einen neuen Kräuterschnaps erfunden hätte, der ganz vorzüglich munde, besonders nüchtern genommen des Morgens, mittags vor und nach dem Essen, und abends beim Schlafengehen. „Und wachst in der Nacht a bissl auf, da schmeckt er am besten. So a Schnapserl! Wer’s net kennt, der weiß net, was dös is! Ich sag dir’s, Friedl, es wär der Müh wert, dass d’ blad amal hinter kämst in d’ Riß, um dir vom Pater Philippus so a Glasl einschenken z’lassen!“

„Ich lauf doch wegen eim Glasl Schnaps net bis in d’ Hinterriß. Da möchte der Förstner a schöns Gsicht machen, wann ich um Urlaub zum Schnapsen einkäm.“

„So such dir an andern Fürwand! Vielleicht gehst deim verehrten Freund und Spezi auf d’ Hochzeit?“

„Hochzeit? Wer macht denn Hochzeit?“

„Weißt denn du nix davon, dass der Huisenblasi in sechs Wochen dem Grenzbauern von Hinterriß sein Madl heiret, die Margaret?“

Friedl erschrak. Er dachte an Modei und an alles Leid, das diese Nachricht ausschütten musste über ihr Leben. Er sah sie wieder, wie sie am Morgen vor ihm gestanden, bleich und stumm. Nun wusste er zu deuten, was am verwichenen Abend in Modeis Hütte geschehen war. Er sprang vom Herd auf. Ihm war, als müsste er hinausstürmen zur Tür, hinüber zu der einsamen Hütte.

Anderl guckte verdutzt an ihm hinauf. „Bub, was hast denn auf amal?“

Schweigend ließ sich Friedl auf die Herdbank nieder und hob den Hund zu sich herauf, der aufmerksam die beiden Töpfe beäugt hatte, aus denen der Dampf sich empor kräuselte zur Hüttendecke. Friedl streichelte dem Hund die glänzende Stirn, und als Bürschl unter dem Behagen dieser Liebkosung sich an ihm hinaufstreckte, drückte der Jäger sein Gesicht an den Kopf des Tieres.

Anderl lachte. „Du wirst den Hund bald verzogen haben! Aber über den Hisenblasi, scheint’s, is net gut reden mit dir? Hast schon recht! Wenn man auch in der letzten Zeit nix mehr ghört hat – lassen hat er ’s Wildern deswegen doch net. Da könnts ös in Fall enk gratalieren zu seiner Hochzeit. D’ Margaretl is a Scharfe. Dö hat Haar auf die Zähn und wird ihm ’s Wildern schon austreiben.“

Friedl nickte, ließ den Hund zu Boden springen und rief Benno zur Mahlzeit in die Hütte.

Während die drei den bescheidenen Jägerschmaus hielten, erging sich Benno in lustigen Vermutungen, ob der bedauernswerte Gamsbock sich am Morgen wohl gedacht hätte, dass er noch vor dem Abend mit Leber und Nieren den Heißhunger seiner Mörder stillen müsste.

Bei Friedl war es freilich nicht weit her mit dem Heißhunger. Dafür ließen es sich Benno und Anderl umso besser schmecken.

Sie kamen dann überein, dass Anderl Benno auf dem Heimweg begleiten und den erlegten Bock nach Fall hinunter tragen sollte, weil Friedl, wie er vorgab, seinen Aufsichtsposten nicht verlassen durfte. Für Anderl machte es keinen Unterschied, ob er über die Berge oder durch das Tal nach Hause wanderte. Er ging umso lieber auf den Vorschlag ein, als dabei ein gutes Trinkgeld für ihn herausschaute und er sich überdies wegen der vierzig Mark für den Hund nicht auf ein späteres Zusammentreffen mit Benno vertrösten musste. Vergnügt lud er den schweren Bock auf seinen Rücken. Friedl sperrte die Hüttentür ab und folgte den beiden. Wo vom talwärts führenden Pfad der Steig zu Modeis Hütte abzweigte, bot er ihnen die Hand zum Abschied. Dann schritten Anderl und Benno weiter. Friedl blieb zurück und lockte mit schmeichelnden Worten den Hund. Bürschl drehte den Kopf, schüttelte die Ohren und surrte, als Anderl an einer Biegung des Weges verschwand, in langen Sätzen den Steig hinunter.

„Bürschl! Bürschl! Da komm her!“, lockte Friedl. Der Hund wollte nicht hören. Anderl scheuchte ihn mit Steinwürfen zurück. Bürschl war nicht zur Umkehr zu bewegen. Auch als ihm Anderl unter einem zornigen Fluch mit dem Bergstock einen derben Hieb versetzte, sprang er winselnd nur ein bisschen auf die Seite und wäre seinem groben Herrn wieder nachgelaufen, wenn ihn Friedl nicht gefangen und an die Leine gelegt hätte, um den Zerrenden mit sich fortzuführen.

„Hundsviecher und Weiberleut, da kehr ich d’ Hand net um.“ So hörte Friedl noch die Stimme Anderls von einer Serpentine des Steiges heraufklingen. „Schmeichelst ihnen und tust ihnen alles z’leib, da haben s’ den Kopf voller Mucken und sind allweil dabei beim Ausgrasen. Dem, der s’ plagt und schlagt, dem hängen s’ an wie Kletten, und grad Arbeit hast, wann so ebbes Unkommods abschütteln willst.“

Beim Klang dieser Worte regte sich in Friedl ein Gefühl der Bitterkeit. „Da muss mannet grad a Weiberleut oder a Hundsviech sein. Was Treu heißt, scheint mir, is allweil ebbes Unkommods für die andern.“ Er beugte sich zu dem winselnden Hund hinunter und streichelte ihm den Rücken, auf dem die gesträubten Haare noch die Stelle des empfangenen Schlages kennzeichneten. Tief atmend richtete er sich auf und stieg, die sinkende Sonne hinter dem Rücken, mit raschen Schritten der Richtung von Modeis Heustadel zu, wo ihn Lenzl schon seit Stunden ungeduldig erwartete. 

 

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© Thomas Lehmann

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