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SPRUCH DES JAHRES

Die Zensur ist das lebendige Geständnis der Großen, daß sie nur verdummte Sklaven treten, aber keine freien Völker regieren können.

Johann Nepomuk Nestroy

SPRUCH DER WOCHE

Duldet ein Volk die Untreue von Richtern und Ärzten, so ist es dekadent und steht vor der Auflösung.

 

Plato

 

LUSTIGES

Quelle: Aus dem umgestülpten Papierkorb der Weltpresse (1977)

Rubrik: Das süße Leben

Dallas, Texas - Vor einem Gericht gab Jack Stinney an, er habe seine Frau nur des Spaßes wegen verprügelt. Auf die erstaunte Frage des Staatsanwaltes ergänzte Stinney dann seine Aussage: "Allerdings verprügelte ich meine Frau nur wegen des Spaßes, den sie mit drei anderen Männern gehabt hatte."

Die Lehmänner
Die Lehmänner

Das peinliche Gericht

Alexander Benzion

 

Werther in England

Kammerassessor Zahn

Der Mord im Kapplertale

 

Werther in England

 

Deutschland ahmte mich nach, und Frankreich mochte mich lesen.
England, freundlich empfingst du den zerrütteten Gast ...

Goethe über den »Werther«

 

In einem Handschuhladen in London lernte Lord Sandwich die damals dreizehnjährige Verkäuferin Margaret Reay kennen. Er, der sich schon auf dem Kongreß zu Aachen im Jahre 1748 ausgezeichnet hatte, war jetzt Staatssekretär und erster Lord der Admiralität; sie entstammte den unteren Volksschichten: ihr Vater war Logenschließer in Conventgarden. Ihr hübsches Gesicht, die Anmut ihrer Bewegungen, ihr munterer Witz machten solchen Eindruck auf Lord Sandwich, daß er ihr Gönner wurde. Er ließ ihr eine vorzügliche Erziehung zuteil werden und sorgte für die Ausbildung ihrer gesellschaftlichen Talente. Vermählen konnte er sich nicht mit ihr; aber auf dem Landgut, das sie gemeinsam bewohnten, stand sie als Herrin in hohem Ansehen.

Eine lange Reihe von Jahren war so vergangen; Margaret hatte Lord Sandwich mehrere Kinder geschenkt. Während er mählich dem Alter sich näherte, war ihre Schönheit zur vollen Reife gekommen.

Es traf sich, daß ein junger Offizier durch einen dienstlichen Auftrag in die Gegend geführt und in der Folge öfters vom Gutsherrn eingeladen wurde. James Hackman war der Sohn eines Kaufmanns, sein lebhaftes Blut hatte es ihm zur Unmöglichkeit gemacht in das väterliche Geschäft einzutreten; so kauften ihm seine Eltern eine Offiziersstelle.

Wie in dem Herzen des jungen Hackman die Neigung zu der schönen Frau aufkeimte; wann er zuerst wagte, ihr von seinen Gefühlen zu sprechen; wie lange es dauerte, bis Margaret Reay ihm eingestand, daß sie seine Empfindungen erwiderte: von alledem wird uns nichts gesagt. Aber daß diese Liebe über das Schicksal der beiden entschied, das wissen wir – vor allem aus uns erhaltenen Briefen.

Von diesen folgen hier die wichtigsten; völlig die Geschichte der Liebenden zu erhellen, vermögen sie freilich nicht.

An sie.

Huntingdon, den 6. Dez. 1775.

O, geliebte Margaret, nein, ich will nicht länger im Vorteil stehen, ich will nicht mehr beschämt sein, daß du, süßestes großmütigstes Wesen, in Hangen und Bangen, wie gestern, dich mir anvertraust. Wenn mein Glück meine Margaret nicht glücklich macht, dann, Glückseligkeit, hinweg mit dir!

Und doch könnte ich Einwände machen. Angenommen, er hat dich erzogen – angenommen, du fühlst dich ihm verschuldet wegen der zahllosen Vollkommenheiten, die sein Geist in dir erweckt hätte – bist du denn darum sein Eigentum? Ist es denn wie ein Pferd, das sein Herr erzogen hat, und es darf nicht mehr gegen Sporn und Zügel sich sträuben? Angenommen endlich, du wärest sein Eigentum: hat denn die Treue so langer, langer Jahre gar keine Wucht, um von den vielen Stufen der Dankbarkeit einige wenigstens abzubrechen?

Angenommen, du hättest noch nicht tausendmal deine Schuldigkeit getan, gibt es denn keine Ablösungen, die durch die unnatürliche Ungleichheit der Jahre von selbst eingetreten sind? – Kann die Natur einem gebieten, daß er bei fünfundfünfzig immer stehen bleibe, und von einer anderen fordern, daß sie bei fünfundzwanzig schneller eilen solle? Manche Frauen stehen ja in demselben Verhältnis zu ihren Vätern. Ja, sie sind ihren Vätern mehr Dank schuldig, sie danken ja ihr alles der Existenz ihrer Eltern. Müssen sie sich aber darum allein an ihre Väter lehnen? Muß der Jasmin überall seine zarten Arme um die sterbende Ulme schlingen?

Mein geringes Vermögen kennst du ja. Willst du mit mir teilen? Und offen und ehrlich sag Sr. Gnaden, dem Lord, daß du ihm Dank schuldig warst, solange es deine Pflicht war, bis dir die Liebe sagte, daß du nun gegenüber einem anderen eine Pflicht hast, nämlich gegen H – .

Guter Himmel! und du konntest doch noch schwanken!

Ich will ja gar keinen Vorteil für mich. Gewiß nicht. Nur an deine Kinder will ich dich erinnern. O mein Gott, und zweifelst du daran, wie ich ihnen ein treuer, herzlicher Vater werden will!

Wäge die Schalen ab – Dankbarkeit oder Liebe. –

Sinkt jene, dann schwöre ich bei meiner Liebe, morgen gehe ich zu meinem Regiment.

Wenn die Liebe aber siegt, rufe den Sieg aus und fordere den Preis. Ich will ja keinen Vorteil.

Denke doch darüber nach. Ich will dich ja nicht überraschen. Überschlafe es, ehe du antwortest. Und – wolle es der gnädige Himmel! – daß du diese Nacht allein schläfst;

Warum sangest du gestern das süße Lied, obgleich ich dich doch so inständig bat? Die Worte mit deiner Stimme waren zu viel.

Wie sollen Worte sagen, was ich denke!

 

An ihn.

Huntingdon, den 7. Dez. 1775.

Mein teurer Hackman! – Das ist eine traurige Geschichte seit gestern. Aber fürchte dich nicht ...

Ich wäge streng und ernst, rechts und links; auf Seiner Gnaden Seite stimmt der Kopf, auf deiner das Herz. Dies letztere führt an: wenn ich den Vasalleneid der Dankbarkeit zu einer Zeit abgelegt, wo ich, der Himmel weiß es, nichts von Liebe wußte, so sei er nicht gültig, und ich sei in voller Freiheit, nun beides, Leib und Seele, zu opfern, denn – Doch still! Morgen beim Mittagessen will ich das Endurteil sprechen. Nur noch das – Liebe sendet dir die zärtlichsten Wünsche, und ich – weiß dir nicht genug zu danken für deinen schönen, lieben, edeln Brief gestern.

Nun aber, mein H– nichts mehr von so häßlichen Schrullen! Du darfst nicht zum Advokaten wider mich werden. Ich will dir ja keine Mühe machen. 's ist ja unmöglich.

Also morgen kommst du. Und gewiß wird Omiah die Liebe nicht morden. Dennoch glaube ich, daß er gestern unsere Augensprache bemerkte. Das Auge spricht eine Sprache, die jeder verstehen kann. – – –

Was würde Rousseau dazu sagen, mein Hackman? – Deine Meinung zu morgen. Ich schreibe auch kein Wort mehr, denn das Gewissen, das über meine linke Schulter lauscht, könnte mir die Feder fort- und vom Papier die Worte reißen: zu morgen!

 

An sie.

Huntingdon, den 7. Dez. 1775.

O du meine teuerste Seele. Vom Himmel erhoffe ich, daß Trim dich heute noch vor Abend erreicht. Nicht ich, nein mein ganzes künftiges Leben soll dir danken für das eine teure Blatt, das du mir eben geschickt hast. Segen und Segen! Aber sprechen, mich ausdrücken, geloben und bitten kann ich dann erst, wenn die glückliche Stunde kommt.

Nun höre mich, Margaret. Wenn ich deine Liebe verdient habe, dann will ich sie ganz verdienen. Ein Beweis – doch ich habe ja nichts von dir erbeten, das dein Gewissen verwirft ... Unsere Liebe, der unerbittliche Tyrann unserer Herzen, fordert dieses Opfer, aber er bittet uns, die geweihten Mauern des edlen Lord nicht zu entehren. Wie liebevoll lud er mich im Oktober nach Huntingdon ein, und ich war ihm ein ganz unbekannter Offizier! Wie höflich empfing er mich gleich in seinem Hause! Wenn ich daran denke, wie erfüllt es mich mit Scham!

 

An ihn.

Huntingdon, den 10. Dez. 1775.

Deine Briefe von vorgestern und das, was du mir gestern in meiner Wohnstube sagtest, haben mich wie wahnsinnig gemacht. Du willst etwas verkaufen, was du hast, und dann einen andern Schritt tun, um Geld zu verschaffen für uns beide! Das ist nicht hübsch. Mich heiraten zu wollen, daran mußt du nie denken. Wie, ein Mann, den ich so hoch ehre, der will einem Lord für eine Anstellung oder so etwas sich verkaufen! Was soll die Welt denken! O es empört mich. Meine ganze Seele sträubt sich dagegen. Überdies, Master Hackman, ich fühle mich nur so weit schuldig oder entschuldbar, weil ich einer jugendlichen Leidenschaft mich hingab. An anderes denke ich nicht. Wenn du mich näher, inniger kennen gelernt hast, etwa in einer Woche, oder in zehn Tagen, dann wird auch deine Meinung sich sehr geändert haben. Und dennoch wirst du mich ebenso aufrichtig lieben, wie ich – – o still davon!

Ich will das aber lieber in einem Liede sagen, welches ich dir noch nicht vorgesungen, und es ist doch mein Liebling. Es sind Verse aus einer alten schottischen Ballade. Seit wir beide uns gegenseitig vollständig kennen gelernt haben, mochte ich sie dir nicht wieder vorsingen, weil es auf unsere Lage zu passend ist – Ich weinte wie ein Kind, als ich es heut morgen summte:

Ich geh wie ein Geist um; meine Spindel schwirrt um.
Ich denk nur an Jamie, – und Sünde wär's drum!
Ich wünscht' ihm die beste Frau, die es nur tut,
Denn alt Robin Grey, er verdient es so gut!

Meine Augen tun mir zu weh, als daß ich es weiter schreiben könnte. Laß mich morgen wieder meinen Jamie sehn. Dein Name ist ja auch Jamie.

 

An sie.

Huntingdon, den 28. Dez. 1775.

Wie du zu großmütig gestern wegen meiner grundlosen Eifersucht mich beschwichtigt hast. Ich hatte es nicht verdient. Aber ich sage es dir ja, meine Leidenschaften sind alle Schießpulver. Doch, Gott sei Dank, ich bin doch noch kein Othello.

Nicht Leid zu Eifersucht; doch trifft sie mich,
Dann schmettert sie zum Boden – –

Und Gott weiß, wie ich dich liebe, verehre, vergöttere!

Und wie konnte ich neben dir noch an ein Geschöpf, wie – denken! Du sagtest gestern, du wolltest es mir vergeben, und ich hoffe, du hast vergeben. Aber ich möchte es gern morgen noch einmal von deinen Lippen hören. Alles soll bereit stehn, – auch die Gitarre, nach der ich schrieb, ist gekommen, und ich bringe das Lied mit, und du sollst es singen und spielen dabei, und ich will dich bitten, mir zu verzeihen, und du sollst mir verzeihen und – noch viele fünfhundertmal außerdem.

Eifersüchtig ich! – Ja, ich bin's, ich wäre eifersüchtig auf dieses Blatt Papier, wenn du es mit zu großer Inbrunst küssen solltest.

Welch ein Narr ich bin? – Nein, Margaret, sage lieber – welch ein Liebhaber!

Tausend Dank für dein Bild. Es ist ähnlich.

 

An sie.

Huntingdon, den 1. Jan. 1776.

Dies ist ein neues Jahr. Möge jeder Tag für meine Margaret ein glückseliger werden! Aber gibt es noch einen Wunsch oder etwas, was Segen ist, was ich dir nicht schon gewünscht habe?

Ein neues Jahr – ich liebe dies Wort nicht. Man könnt' auch denken an neue Liebe, – ich kann das nicht leiden. M. kann niemals ihren H. vertauschen. Ich will's beschwören, sie kann ihn nie mit einem neuen, wahrhaftigeren Geliebten vertauschen.

Ein neues Jahr – 76. Wo werden wir 77 sein? Wo 78? Wo 1779? Wo denn 1780? –

In Jammer oder in Glückseligkeit, im Leben oder im Tode, im Himmel oder in der Hölle – wo du bist, da muß ich sein!

Der Soldat, für den du ein Wort eingelegt hast, stattet seiner unbekannten Wohltäterin seinen Dank ab. Disziplin ist bei uns unerläßlich, aber ich bin überzeugt, du glaubst mir auch, daß ich kein allzu großer Freund davon bin.

 

An ihn.

Huntingdon, den 23. Febr. 1776.

Wo warst du diesen Morgen, mein Leben? Ich zitterte und bebte vor Kälte und wäre beinahe erfroren, wenn ich nicht auf dich gewartet hätte. Ich bin unwohl, recht unwohl. Was konnte dich abhalten?

Warum nicht schreiben, wenn du nicht kommen konntest? – Und dann hatte ich einen Traum in letzter Nacht, einen traurigen Traum, mein H.:

»Befürchtung ist's um dich, Geliebte,
Denn Geisterträume schreckten mich heut nacht.«

Ich kann mir nicht helfen. Ich bin ein schwaches Weib, und nicht Soldat. Ich sah, du hattest ein Duell mit einer Person, von der, nach unserer Verabredung, nicht gesprochen werden darf. Ihr ermordetet einer den andern. Ich sah nicht nur seinen Degen, sondern ich hörte auch den scharfen Stahl, wie er durch meines H – s Brust sauste. Ich sah euch beide sterben, und mit euch starb beider Liebe und Dankbarkeit.

Nenne mich albern; aber ich bin unwohl, bin in kläglichem Zustand! Wahrhaftig, so ist es. Um Gottes willen, laß mich von dir hören!

 

An sie.

Kanonen-Wirtshaus, den 17. März 1776.

Kaum daß du mein letztes Geschmiere wohl verarbeitet hast, erhältst du wieder ein neues. Habe mein Mittagessen eben bestellt, aber ich kann weder schreiben noch sonst was tun. »Toll!« Ich weiß es nicht, vielleicht. Gewiß weiß ich, ich bin unglücklich.

Um Gottes willen, um meines Lebens und meiner Seele wegen, wenn du mich liebst, schreibe mir hierher, oder wenigstens heut nacht in meine Wohnung, und sage mir, was das für ein unüberwindlicher Grund ist, mit dem du dich jetzt quälst. »Auch die Folter soll mich nicht zwingen, dich zu heiraten.« – Hast du das gesagt? Dann hassest du mich.

Angenommen, du hättest nicht mehr den »süßen Trieb« mich zu lieben, ( wenn du mich liebst! O! blase das wenn fort), drängt dich nicht wenigstens ein Bedürfnis, dich und mich loszumachen aus den Banden, in die wir uns verstrickt? Meine Seele kann sich in diese Gemeinheit nicht mehr denken. Zur Hintertür eindringen, stehlen, betrügen, immer lügen: Verdammnis! Der Gedanke macht mich vor mir selbst verächtlich.

Deine Kinder! – Lord S – (wären wir nicht selbst über unsere Aufführung beschämt, wenn wir nicht unser Gewissen immerfort getäuscht, unsere Stimmen überlullt hätten: »er« und »sie« und »der alte Robin Gray.« O, Margaret, wie sind wir herabgesunken!) Lord Sandwich – ich nenne ihn dreist – kann deine vier lieben Knaben pflegen und erziehen. Was das süße kleine Mädchen betrifft, der will ich so gut ein Vater sein, als ich für dich ein Gatte werde. Jeden Heller, den ich habe, verwende ich für euch beide. Guter Gott, was wollte ich nicht tun!

Schreibe, schreibe, ich sage, schreibe! Beim lebendigen Gott, ich muß den unüberwindlichen Grund von dir wissen, oder ich glaube nicht mehr an deine Liebe.

 

An ihn.

A., den 17. März 1776.

Und dachte, mein Hackman, daß es noch eines solchen Briefes bedürfte, um meine Betrübnis voll zu machen? O, geliebter Jamie, du weißt nicht, wie du mich betrübt hast!

Und denkst du, ich hätte mich freiwillig zu den Schlichen entschlossen, zu denen ich doch nur, um dir zu helfen, griff? ...

Aber das Schicksal steht vor uns beiden. Wir sind verdammt, unglücklich zu werden. Und, so oder so, ich denke immer, es wird eine schreckliche Katastrophe über uns hereinbrechen.

»Ein schreckenvoll Geschick hängt an den Wolken« wie es im »Jephta« heißt.

O, daß wir uns wenigstens in einer anderen Welt wiederfänden, einer Welt, in der Gold und Silber unbekannt sind! – Von deiner Hand könnte ich mit Vergnügen sterben. Gewiß, ich weiß es.

» Unüberwindlicher Grund.« Ja, mein H– der ist da, und du zwingst mich, ihn auszusprechen. Indessen, besser es dir zu sagen, als dich an meiner Liebe zweifeln zu lassen. Denn Liebe ist mir jetzt Religion. Habe ich doch kaum einen andern Gott als dich. Ich möchte immer beten eben so zu dir, als für dich.

Wisse denn: wenn du mich heiraten würdest, so heiratetest du mit mir einige hundert Pfund Sterling Schulden. Und das sollst du niemals.

Und erinnerst du dich eines feierlichen Eides, den du in einem deiner Briefe, als ich in H. war, niederlegtest? Und späterhin wiederholtest du noch: du müßtest gehorchen, weil du den Eid so feierlich geschworen?

Mit denselben feierlichen und furchtbaren Worten schwöre ich, daß ich dich niemals heiraten will. Da haben wir wieder Jephtas Gebot.

Was du über meine armen Kinder sprichst, macht mich weinen; aber es ändert meinen Entschluß nicht.

Es ist noch ein anderer Grund. »Wenn du mich nicht heiratest, glaube ich nicht mehr an deine Liebe.« – O, Macht der Liebe! Hat mein H. das wirklich gesagt? Nein: dich nicht heiraten, ist der stärkste Beweis, den ich von meiner Liebe gegeben. Und der Himmel hat, glaube es mir, mein Gelübde gehört.

Während du dann in Irland bist –

Ja, mein Liebster, in Irland. Ich werde alles dafür tun. Du sollst augenblicklich dein Regiment dort aufsuchen. Es ist ja deine Schuldigkeit. Inzwischen kann ja manches sich zutragen. Der Himmel wird zwei Herzen, die so treu sich lieben, wie du und ich, nicht ohne Hilfe lassen. Es werden noch frohe Tage für uns kommen. Und liegt nicht ein Stück von Glückseligkeit in uns? Darauf bau ich. Und während du in Irland bist, will ich dir an jedem Posttage schreiben, ja zweimal an jedem Posttage, und ich will an dich denken, und will von dir träumen, und will dein Medaillon küssen, und will meine Augen wischen, und will es wieder küssen, und will dann wieder weinen. Und –

Kann ich dir einen besseren Beweis meiner Rücksicht für dich geben, als indem ich dich bitte, meine einzige Freude mir fortzunehmen? Ich will nicht schwören, daß ich es nicht einmal anders bedenke. Aber ich bitte dich: geh!

Törin, die ich bin – ich lass' entschlüpfen, was ich selbst gefangen hatte! Ach Gott, da ist jedes Wort auf dem Papier von meinen Tränen feucht geworden. Haben meine Vorstellungen dann eine Wirkung auf dich! Und doch hoffe ich.

Sei ein Mann, sage ich – du bist ja ein Engel. Gehe zum Regiment; und so wahr ich dich liebe, werde ich dich von der Verbannung (für dich und für mich!) im ersten Augenblick zurückrufen, in dem ich mit Ehren – dich heiraten kann.

Doch jetzt muß ich aufhören. Adieu.

»Es ruft der Ruhm dich und der Liebe Macht,
Um deshalb ruft dich Jephta in die Schlacht.«

 

An sie.

Kanonen-Wirtshaus, den 17. März 1776.

Und ich will Jephtas Rufe gehorchen, und will in die Schlacht ziehen. Wenigstens will ich alle Nächte daran denken, denn ich bin gewiß, ich werde nicht schlafen können. Ich will dich an der bekannten Stelle im Park erwarten, wo ich dich an der angelehnten Tür sah. Sollte es regnen, werde ich schreiben. – Meine Absicht war's, eben auf gut Glück dich zu suchen; nachher änderte ich meinen Willen und schreibe drum. Und ich bin herzlich zufrieden. Wir sind nicht in der Lage, uns beide ins Auge zu sehen. – Grausame Schulden! höchst grausames Gelübde! – Hättest du mir nur ein bißchen Zeit gelassen, es wäre mir doch ein Plan gekommen, wie wir mit deinen Schulden fertig würden.

Du runzelst die Stirn, und ich muß stillhalten. Warum sollte das Schicksal gerade nicht auf meine beiden Lotterielose gnädig lächeln? Auf die Rückseite des einen schrieb ich für den Fall meines plötzlichen Todes: »Dies gehört als Eigentum Miß – – .« Auf das andere – das gehört deiner Tochter.

Ich bin jetzt ruhig.

 

An ihn.

Am 19. März 1776.

Warum, warum schreibst du mir so oft? Warum suchst du mich öfter?

Du sagtest mir, wenn ich dich bäte, dann wolltest du gehen. Ich bat dich ja, ich habe dich gebeten, zu gehen. Ich bitte dich noch jetzt – zu gehen. – Ja, ich beschwöre dich jetzt – geh! Nur keinen Abschied mehr. Das letzte war zu viel – zu, zu viel. Ich konnte mich den ganzen Tag nicht erholen. – Und deine Herzlichkeit mit meinem kleinen lieben Flachskopf. – Er machte mich heut morgen heftig weinen, als er von »dem guten Herrn« zu reden anfing und die Geschenke mir vorhielt.

Auf meinen Knien – fußfällig auf meinen Knien flehe ich dich an, mein Hackman, mein teuerster Hackman – geh!

 

An sie.

Irland, den 26. März 1776.

Irland – England – guter Himmel, wie ist es möglich, daß Margaret in einem Teil der Welt lebt, und ihr Hackman in einem anderen! ...

Ja, ich will dir ferner gehorchen. Ich will auch meine Feder zügeln, so weit ich kann. Ich will das Wort »Liebe« aus meinem Wörterbuch auskratzen. Ich will vergessen – Pfui Lüge! – ich kann nie, ich will dich nie vergessen, noch irgendwas, was dir gehört. Aber du rätst mir gut, ja sehr gütig und weise, du verlangst nur, ich soll womöglich über andere Gegenstände sprechen. Was dich nur interessieren könnte, will ich aufzugreifen suchen. Nur Verzeihung, heut morgen bin ich unfähig, Lumpereien zu denken; ich bitte Miß Margaret um Verzeihung, ich muß noch über Liebe sprechen.

Und wenn ich dazu fähig bin, so erlaube mir ein oder zwei Worte über mich selbst zu sagen. Heut indes will ich dich nicht unglücklich machen, wenn ich dir erzähle, wie ich wirklich bin.

Die Wirklichkeit oder Wahrheit ist – mein Herz ist voll. Und doch, wenn ich beim Ergreifen der Feder meine, ich könnte einen Bogen Papier damit füllen, dann habe ich kaum ein Wort! Ja, wenn ich an deiner Seite säße (o Seligkeit, das zu denken!) dann könnte ich meine Wangen auf deine Schulter legen und dein Taschentuch mit meinen Tränen feuchten!

Um mein Leben (versteht sich: meines, nicht deines) kümmere ich mich wenig mehr. Die Überfahrt war stürmisch genug, aber nicht gefährlich. Mistreß F... (von der ich neulich schrieb) gab uns einen so lustigen Bericht über ihre unlustige Situation bei der Fahrt, daß ich in deiner Seele für dich lachte.

Warum schiltst du mich wegen der Schachtel? Hätte ich sie vorher geöffnet und gewußt, daß alle die Dinge für mich waren, so hätte ich sie nicht mitgenommen. War das freundlich von meiner Margaret, daß sie mir für jeden Tag ein Andenken mitgab, während ich doch so entfernt von ihr war? Ach ja, es war doch und sehr freundlich von dir! Und auch das, und dich, und alle die tausend und zehntausend Freundlichkeiten, will ich niemals vergessen. Die Börse soll in jeder Stunde mein Begleiter sein, die Hemden will ich des Nachts tragen; eines der Taschentücher will ich mir aufheben, um immer die Augen zu trocknen, wenn ich die Schachtel anfasse.

Gott – Gott segne dich in dieser Welt – das heißt, er gebe dich deinem Hackman – und gönne dir eine leichte Überfahrt zu den ewigen Segnungen einer besseren Welt.

Wenn du von mir gehst, so möge der Schlag so plötzlich dich treffen, daß du nicht mehr Zeit hast, nur noch einen zaudernden Blick zu werfen auf

Hackman.

 

An sie.

Irland, den 8. Mai 1776.

Wie hätte mich dein Brief vom 1. April ergötzt, wenn ich dir einige Meilen näher gewohnt hätte! Wieviel Witz und Humor! Ich sage dir herzlich dafür Dank, doppelt herzlich, da ich weiß, wie dir in der gegenwärtigen Zeit Witz und Humor haben schwerfallen müssen. Du zwingst dich, um mich zu erheitern. Aber mit welchem melancholischen Zartgefühl du schließest! Da sprach dein Herz.

Als du schriebst, war wohl deine Lage etwas verwandt der einer Schauspielerin, welche am Abende eine Rolle im Lustspiel geben muß, während am Tage ihr etwas so Schreckliches oder Erschütterndes begegnet ist, daß sie besser in einer Tragödie agieren würde.

Ich bitte dich, siegle deine Briefe sehr vorsichtig. Der Siegellack raubt mir oft fünf bis sechs Worte. Laß immer ein Plätzchen für das Petschaft. Bei der abgerissenen Stelle nehme ich immer an, du hättest von deiner dauernden Liebe gesprochen. Wenn der Siegellack drüber hängt, seh ich es nicht ...

Die berühmte Gastfreundlichkeit des Hauses hier hat mich nicht enttäuscht. In ihrer Sprache haben sie einen recht bezeichnenden Ausdruck: »Möge das Gras vor deiner Tür wachsen.« Die Frauen sind anmutig und hübsch. Aber ich bin taub, dumpf und blind; sie sind alle nichts, du bist allein. Wenn ich heute nicht mehr schreibe, so ist es nur, weil du es so willst.

Warum sagst du nichts von den lieben Kindern! Ich bleibe dabei, du mußt meinem kleinen Freund einen Brummkreisel und zwei Dutzend Murmel kaufen, die schreibe aufs Konto

deines ergebensten Dieners.

 

An sie.

Irland, den 20. April 1776.

Dank für die zwei Briefe in der einen Woche. Sie preßten mir Tränen aus dem Auge.

Du urteilst zu parteiisch über meine Poesie. O, um Gottes willen denke nicht ans Druckenlassen! Ich will das nicht. Wenige können wie du über Poesie urteilen, und die wenigen sind selten gerecht ...

 

An sie.

Irland, den 3. Mai 1776.

Mein letzter Brief wird dich doch nicht beleidigt haben? Die Banknote mußte ich zurückschicken, obgleich ich dir dafür danke, mehr als Worte dir sagen können.

Soll ich, den du nicht heiraten willst, weil du deine Schulden mir nicht aufladen magst, soll ich noch deine Schulden vermehren! Nähme ich's, so wäre ich deiner Liebe nicht würdig. Aber nochmals, nimm mir nicht übel, daß ich's zurückgebe.

Mach' dir keine Sorgen. Und sprich kein Wort über das Postgeld, das ich für deine lieben Briefe zu zahlen habe. Soll dein Hackman nicht glücklich werden! Und kann ich eine Seligkeit zu teuer bezahlen?

Aber ich! – Ich bin ja reich – reich wie ein Jude, und ohne daß ich im Fazit meiner Schätze deine Liebe mit berechnet habe. Du erinnerst dich, was ich meinem Verwandten, dem armen Menschen, zuwende. Das verzehrt noch nicht meine Erbschaft und was meine Äcker in Gosport tragen. Dann ist meine Gage, und vieles andere. Ruhig, Seele – ich sage dir, ich bin reich. Behalte daher ruhig den Mammon.

Reich! – Bin ich's nicht! Könnte ich nicht zum Theater gehn? Ich sah vorigen Abend die Catley, es war in deiner Hauptrolle. Da fällt mir eine Geschichte von ihr ein, damals als sie in England war.

Miß Catley und ihre Direktoren waren uneinig geworden, es galt das Engagement für die nächste Saison. Einer von ihnen besuchte sie in ihrer kleinen Wohnung in Drurylane, um die Sache abzumachen. Das Mädchen ging die Treppe hinauf, um dem Herrn die Tür zu öffnen und ihn ihrer Dame zu melden. »Nein, nein«, rief die Schauspielerin, die gerade in der Küche war und die Stimme des Direktors gehört hatte. »In der Stube kann ich den Herrn nicht sehen! Ich bin hier beschäftigt,« rief sie ihm durch die offene Tür zu, »Apfelklöße für meine Bälger einzurühren. Sie wissen ja selbst, ob Sie mir das Geld geben wollen, das ich fordere, oder nicht. Ich bin nicht eine Ihrer feinen Damen, die bald einen Schnupfen haben, bald Zahnschmerzen, und nicht singen können. Ist Ihre Absicht, mir mein Geld zu zahlen, gut; wenn nicht, so soll mein Mund auch um keinen Pfennig weniger noch einen Ton geben. So, guten Morgen, Herr – und halten Sie mir mein Mädchen nicht auf, denn sie muß jetzt die Klöße in den Topf tun, und ich mein Kind nähren.« – Fabricius' Rüben verdienen wohl mit Nanny Catleys Apfelklößen auf einem Tisch zu stehen!

Siehst du, von anderen zu sprechen und Schnurren zu erzählen, macht mich nicht unglücklich. Es macht mich wirklich nichts unglücklich; nur wenn ich eine Änderung in deinen Gesinnungen bemerkte. – Beim allmächtigen Gott im Himmel, ich glaube, ich könnte es nicht überleben.

Wenn du mich lieb hast, so verschmähe nicht das Stück irisches Seidenzeug, das ich dir nächste Woche schicke. Es kostet mich nichts. Was mir gegeben ist, kann ich dir wieder geben.

 

An ihn.

Am 25. Juni 1776.

Daß du so liebe und angenehme Freunde in fremden Landen gefunden hast, erfreut mich ebenfalls. Was du mir über den Herrn und die Dame gesagt hast, entzückt mich sogar, besonders das über die letztere. Ich bin übrigens auch nicht ohne Freunde. Eine Dame war gegen mich besonders freundlich. Sie ist Irländerin. Ihr angenehmer Ehemann macht durch seine Schönheit und Bildung deinem Lande Ehre. Er ist auch bemerkenswert wegen seiner zarten Gefühle.

Adieu! Das wird dich aufwecken, nicht wahr? ebenso wie, was du mir vertraut hast, mich aufgeweckt hat.

 

An sie.

Irland, den 1. Juli 1776.

Dein kleines Billett vom 25. vorigen Monats war die gerechte Strafe für das, was mein Brief versündigt. Bis ich den Spaß merkte, war ich wirklich unglücklich. Wäre nicht tags darauf der lange und freundliche Brief mit demselben Paketboot gekommen, so wäre ich überaus traurig gewesen. Indessen wünsche ich dich glücklich, sehr glücklich; aber ich allein will dich glücklich gemacht haben, ich dulde es nicht, daß das Glück von anderen kommt, gleichviel von Männern, Frauen oder Kindern!

Ein Freund von mir geht nach England. (O der Glückselige, der im selben Lande mit dir sein kann!) Im Kanonen-Wirtshaus wird er sich bei dir melden. Schicke mir doch das französische Buch, von dem du neulich sprachst, Werther. Wenn du auch, ich werde es nicht vergessen. Unsinn! zu sagen, es würde mich unglücklich machen, oder ich sei nicht in der Verfassung, es zu lesen! Muß ich denn die Pistole laden, weil ein Deutscher mit seinem dicken Blute solch ein Narr gewesen ist, das Beispiel zu geben, oder weil ein deutscher Novellist solch ein Histörchen erfunden hat? Wenn du mir das Buch nicht leihst, so verschaffe ich es mir bald, von einem oder dem anderen. So erbarme dich nur, es mir selbst zu geben.

 

An ihn.

England, den 20. Aug. 1776.

Um Gottes willen, wo bist du? – Was ist das? – Warum schreibst du nicht? – Bist du krank? – Verhüte das Gott. Wenn du es nicht konntest, wenn du verhindert warst, warum schrieb denn nicht sonst jemand statt deiner? Besser, daß alles verraten wird, als daß ich leide, wie ich leide. – Nun schon ein Monat, daß ich nichts von dir gehört! Sonst bekam ich in einem Monat acht bis zehn Briefe. – Was ward denn aus meinen Briefen – einen ganzen Monat durch? – Erhieltest du denn, was ich an deinen Freund schickte? – Gefällt dir die Börse? – Das Buch, von dem du schriebst, ist das einzige Buch, das du niemals lesen dürftest. Auf meinen Knien bitte ich dich nochmals, nochmals, das nicht! – Vielleicht hast du's gelesen – Vielleicht doch! – Ach Gott, ich bin so verwirrt. – – Der Himmel nur weiß am Ende, an wen ich diesen Brief richte – – –

Madame oder Herr! – Sind Sie ein Weib, ich hoffe, Sie sind's – Sind Sie aber ein Mann und wissen Sie, was Liebe heißt, dann haben Sie doch die Barmherzigkeit, um Gottes willen, schreiben Sie nur eine Zeile, wie es steht mit Master Hackman vom -schen Regiment. Adressieren Sie an Mistreß – D. Street, London. Und wenn Sie mir gute Nachricht schicken – der Himmel weiß, ob Sie eine Frau sind, die liebt – Dank Ihnen!

 

An sie.

Irland, den 26. Sept. 1776.

Nun, meine ich, bist du beruhigt. Meine Gesundheit – bei meiner Ehre und meiner Liebe – ist beinahe wieder hergestellt. Wäre ich nicht entschlossen, mich aufs genaueste an die Wahrheit zu halten, so sagte ich: gänzlich. Die vier Briefe, die ich an dich schrieb, nachdem ich deine fliegenden Zettel mit den flatternden Gedanken erhalten, haben alles ausgeglichen und mir gut getan. Wie kann ich dir genug für alle deine Briefe danken; namentlich für den dieser Woche ...

 

An sie.

Irland, den 6. Febr. 1777.

Mein letzter Brief war lustig. Von deinem kann ich's nicht sagen. Verzeihe mir, daß mein Sinn mich im Augenblick gerade lebhaft an anderes denken läßt. Eine Mistreß Dixon hat sich hier bei Inniskillen vor kurzem vergiftet. Von einem Herrn aus Inniskillen hörte ich's eben am Mittagstisch.

Die junge Frau war etwa neunzehn Jahre alt. Zwei Jahre war sie mit ihrem Manne verheiratet gewesen, dem Anschein nach recht glücklich.

An dem verhängnisvollen Tage hatte sie besonders heiter geschienen. Zum Mittagessen war Gesellschaft da, sie hatte die Gäste noch zum Tee gebeten, den sie selbst serviert, am Abend Karten gespielt und sich dann in ihr Schlafzimmer zurückgezogen. Bald darauf hatte sie ihren Arsenikbecher geschlürft!

Auf dem Tische fand man einen Zettel, auf welchem sie mit fester Hand die Gründe angegeben, welche sie zu dem verzweiflungsvollen Schritt genötigt.

So lautet er, buchstäblich:

»Das soll jedermann wissen, der das von mir hört, daß es kein Verbrechen ist, was ich begangen, indem ich mein unzeitig Ende herbeigeführt habe. Sondern Verzweiflung war's, weil ich ganz unglücklich in dieser Welt. Ich weiß wohl, daß es ein sündliches Mittel, und es sehr ungewiß ist, ob man dann noch zur Seligkeit kommt, aber ich hoffe, daß Gott meiner armen Seele verzeihen wird. Der Herr sei mir gnädig. Aber vor allem bitte ich, daß ihr meinen Freunden nicht Vorwürfe macht, und ihr meiner Ehre oder meiner Tugend nicht das geringste nachsagt, obgleich ich dann nicht mehr bin.

Tröstet meine arme Mutter, und meine Brüder und meine Schwestern, und mögen sich alle Mütter vornehmen, daß sie kein Kind zwingen, wie ich gezwungen worden. Aber ich vergebe ihr und hoffe, daß Gott mir vergeben wird, wie ich gewiß glaube, daß sie nur mein Gutes mit meiner Heirat wollte.

O, der unglückliche Tag, wo ich meine Hand hingab, während mein Herz einem anderen gehörte! Aber ich meinte immer, daß die Vernunft endlich den Frieden und die Ruhe des Gemütes wieder zurückbringen würde, und darum wartete ich so lange Zeit. Ach, es schauert mich zu denken, wie lang die Ewigkeit ist; und der Herr bewahre mich vor ewiger Verdammung. Niemand soll meinen Mann verurteilen, denn er hat keine Schuld.

Ich habe ein paar Kleinigkeiten, die ich mehr achte als manches andere, darum, weil ich sie geschenkt bekam (aber der sie geschenkt hat, den nenne ich nicht) – – und ich wünsche recht sehr, daß ich sie einigen hinterlassen darf, die mir lieb sind:

Betty Balfour meine Silberschnallen; Polly Deeryn meinen Diamantring; Betty Mulligan Spitzenkleid, Kappe und Manschetten; Peppy Delap ein neues Handtuch, das noch nicht gesäumt ist, es liegt in meiner Schublade. Ich hoffe, daß alle diese die Kleinigkeit annehmen werden.

Und nun gehe ich in Gottes Namen – obgleich gegen seine Befehle – ohne allen Haß gegen irgendjemand auf unserer Erde. Der Mann, um den ich sterbe, den liebe ich noch jetzt mehr als je und vergebe ihm. Ich flehe zu Gott, daß er zu größerer Zufriedenheit komme, und hoffe, daß er mir den Kummer verzeiht, daß ich so um seinetwillen gestorben bin.

Vor längerer Zeit haben einige Leute schlecht von meinem Ruf gesprochen, sie dachten an einen Herrn in dieser Stadt, aber jetzt wird man mir wohl glauben: wenn ich diesen Herrn jemals oder sonst jemand außer meinem Ehemann näher gekannt habe, so will ich vor Gottes Herrlichkeit vergehen. Ich will auch denen verzeihen, die so gesprochen haben.

Mit Liebe für Einen, Freundschaft für mehrere und meinem herzlichen Wunsch für alle in der Welt sterbe ich, mit den Worten: der Herr sei gnädig meiner Seele. Und ich warne alle Leute: sie sollen ihrer Leidenschaft nicht nachfolgen, sondern ihr widerstehen; sonst geht es ihnen übel, wie mir. Ich bitte Gott, alle meine Freunde und Bekannte zu segnen, und bitte sie, daß sie meiner armen Mutter beistehen sollen, die sehr unglücklich ist, daß sie solches Kind hat, wie mich, das voll Scham und Schande sich unterzeichnen muß als ein unwürdiges und verstoßenes Mitglied der Kirche von Schottland.

Jane Watson, sonst Dixon

Was soll ich darüber noch schreiben; ein langer Gedankenstrich ist genug. Wir beide, gewiß, wir haben viel darüber nachzudenken. Auch sie hatte ihren Robin Gray.

 

An sie.

Irland, den 20. April 1777.

... Und du hast oft mit Phantasien zu tun. Krank warst du, wahrhaft krank, und warum in deinem Briefe kein eingehendes Wort? Pflegen sie dich zärtlicher auf deinem Lager, wie ich es täte? – Wie halten sich deine Ärzte?

Du mein Herzenswesen, warum hast du deine Krankheit mir so lange verborgen gehalten? Und nun teilst du es mir zu spät mit. Verhüte es Gott – wenn ich mehr so schreibe, werde ich verrückt. Wenn, wie ich vermute, Lord S seinen Einfluß geltend machte, damit ich den erbetenen Urlaub nicht erhielte, so will ich schon anderweitig selbst für meine Freiheit sorgen. Auf jeden Fall bin ich in ein paar Tagen bei dir. Wenn ich mein Offizierspatent verkauft habe, sei nicht zu bös darüber. Dich bös zu finden und krank auch, das wäre für den armen Hackman zu viel! – Wie kann ich nur wissen, daß du wirklich krank bist und sollte nicht hinstürzen, nicht dich sehen! Aber denken, schreiben, kann ich nicht mehr.

 

An sie.

Kanonen-Wirtshaus. Charing Croß, den 4. Mai 1777.

Erhieltest du meine gekritzelten Zeilen von gestern und vorgestern? Deine habe ich eben mit Tränen eröffnet. Deine schwachen Worte zeigen dich viel mehr krank, als du einräumen willst. Gott im Himmel, bin ich darum hergekommen, nur um dich nicht sehen zu dürfen! Besser doch, ich wäre in Irland geblieben! Ja, Liebste, dein letztes Billet allein hat dich davor geschützt, sonst hätte ich, auf alle Gefahr hin, mich eingeschlichen und wäre an deinem Bette erschienen. Umsonst spähe ich von außen forschend nach deinen Fenstern, um aus der Richtung der Laden, Gardinen, aus der Helle oder Dunkelheit zu schließen, wie es mit deiner Krankheit steht. Um Gott und Himmels willen schicke mir eine Antwort noch heute.

 

An ihn.

Am 4. Mai 1777, um 3 Uhr.

Meine teure Seele! Ich schreibe dies, um dir zu sagen, daß der Himmel mein Leben auf deine Gebete hin gespart hat. Das unvollendete Billett, welches rasch mein Mädchen – Ich kann nicht mehr –

(Margarets Mädchen setzt den Brief fort:)

Sir – meine teure Herrin bittet mich, Ihnen zu sagen, daß in dieser Stunde nach einer Krisis ihre Ärzte sie außer aller Gefahr erklärt haben. Ich bitte Sie gar sehr um Verzeihung, gnädigster Herr, daß ich Ihnen wohl noch Schrecken geben kann. Aber in Wirklichkeit, mein hochgeehrtester Herr, fürchtete ich einmal, es wäre mit meiner armen guten Herrin ganz vorüber. Und damals, kann ich sagen, hätt' es mir mein Herz gebrochen. Denn wahrhaftig, kein Dienstmädchen hat eine bessere oder gütigere Herrin. Gnädiger Herr, ich denke Euer Gnaden morgen früh zu empfangen. Meine Dame ward beinahe ohnmächtig, als sie dies anfing, aber jetzt ist sie besser.

Um 6 Uhr.

 

An sie.

Kanonen-Wirtshaus, den 27. Juni 1777, 5 Uhr.

... Fragst du mich, was mir heut alle Heiterkeit, alle Frische des Geistes geraubt hat? – Ich will's dir sagen. – Zürne mir nicht, aber ich war auch zugegen, ich sah die letzten Augenblicke des wegen Unterschlagung und ähnlicher Dinge verurteilten armen Dodd. Ja, armen Dodd, obwohl sein Leben nach den Gesetzen dieses Landes verwirkt war. Es war ein erschütternder Auftritt – das erstemal, daß ich so etwas als Augenzeuge gesehen habe; und gewiß, es soll auch das letzte sein. Wäre ich in England gewesen, als Peter Toloso wohlverdienterweise im Februar hingerichtet ward, – weil er die junge Französin Duarzey ermordete, – da, glaube ich, hätte ich die letzten Augenblicke eines Mannes mit Ruhe und Festigkeit verfolgt, eines Mannes, der seine Geliebte töten konnte. Zur Ehre meines Vaterlandes war dieser Mann (wenn er den Namen Mann verdient) ein Spanier.

Ein paar kleine Umstände will ich dir mitteilen.

Während der traurigen Prozession zur Richtstätte hatte sich zufällig eine Sau gerade in die Nähe des unglücklichen Opfers verirrt. Es war nicht mehr möglich, sie wieder hervorzuziehen, und nicht mehr möglich, den feierlichen Ernst des Volks in feierliche Stille zu wandeln. Da schrie man, schnalzte, juchheite, hurrate, und wie alle ihr Auge auf das geängstete Tier warfen, schien es bald, als sei der Zweck der traurigen Zeremonie kein anderer, als eine Sauhatz in Tyburn.

Als der Zug endlich angekommen war, mußte wieder ein höchst komischer Zufall die traurigen Vorbereitungen unterbrechen. Die Feinstempfindenden mußten, wie feierlich und traurig ihnen auch zumute war, dennoch unwiderstehlich etwas anderes fühlen. Als man dem armen Mann die Perücke abgezogen und die Nachtmütze aufsetzen wollte, war die einzige mitgebrachte Nachtmütze zu klein. Wie man auch drängte und preßte, sie wollte nicht ausreichen. Du weißt es ja: Kammerdiener sind die größten Feinde der großen Männer. Wie hätte ich in dem Augenblicke jede Guinee aus meiner Börse geopfert, um die Nachtmütze ein bißchen weiter zu machen!

Endlich kam der Augenblick des Todes. Als der Karren unter dem Verurteilten fortrasselte, entstand ein allgemeines Geschrei, das Ohr und Sinne verwundete; ein deutlicher Beweis, wie sehr die Zuschauer mit dem Dulder fühlten. Es war etwas Herzzerreißendes, als wenn jedem die Zähne klapperten. Soweit ich mir Rechenschaft geben kann, so verfolgte und begleitete ich unwillkürlich mit meinem Körper alle Bewegungen, Dehnungen, Renkungen des Leidenden.

Alle Versuche des guten Master Hawes, den vom Galgen abgenommenen Körper wieder ins Leben zu bringen, waren umsonst. Es dauerte aber lange, bis der Pöbel zuließ, daß man den Leichenwagen fortführte.

So endete Doktor Dodds Leben. – Es ist ein schauerlich Gefühl, daß ein Mann, mit dem wir gegessen und getrunken haben, aus der Welt in solcher Art und Weise scheiden soll! Einer Art und Weise, sage ich, die fast alltäglich geworden, die kaum mehr jemand sehr verletzt. Wie viele Männer, wie viele Frauen, wie viele junge Frauen, die sich sogar einbilden, von feiner, zarter Empfindung zu sein, hören die Töne, die mich diesen Augenblick auf der Gasse stören, mit solcher Gleichgültigkeit, als wenn alte Weiber ihr: »Feuer, Schwamm und Schwefelhölzer!« schreien. Diese gräßlichen Pasquille, die ausgerufen werden: »Letzte Todesrede und Bekenntnis, Geburt und Erziehung des –«, – fast sind sie uns schon ein tägliches Ereignis, wir sind geneigt, es humoristisch aufzunehmen. Wir haben vergessen, daß es den Tod (und welchen Tod!) eines Mitgeschöpfes ankündigt.

 

Aus den folgenden anderthalb Jahren ist uns kein Brief überliefert. Wir erfahren nur, daß Hackman wirklich sein Offizierspatent verkauft hat; um die Geliebte heiraten zu können, ist er zum geistlichen Stand übergetreten und hat sich um eine Pfarrei beworben.

 

An sie.

Den 1. März 1779.

Obgleich wir uns morgen sehen, muß ich dir doch noch an diesem Abend zwei Worte schicken, um dir zu sagen, daß ich alle Hoffnungen in der Welt habe, in zehn Tagen der äußersten Anstrengung das Geschäft zu Ende zu bringen. Wenn das geschehen ist, ist dein einziger Widerstand, nämlich der wegen der Schulden, beseitigt; und wir können mit Wahrheit sagen, wir sind glücklich, wir können es bald sein. In einem Monat, oder höchstens in sechs Wochen von heute ab, kann ich dich mit Sicherheit die meine nennen. Bedenke nur, daß mein Stand, da ich jetzt einmal ordiniert bin, eine schnelle Verbindung zwischen uns nötig macht ...

 

Das ist der letzte Brief an Margaret. Wie das Folgende nun kam – ob Margaret wirklich schuldig war, wie nach dem folgenden Brief Hackmans Freundin G. behauptet – das ist mit Gewißheit nie festgestellt worden.

 

Hackman an Charles

Den 20. März 1779.

Dein Herkommen in die Stadt, teurer Freund, wird mir nichts helfen. G – hat sich mir als eine solche Freundin erwiesen, daß es unmöglich ist, an ihrer Kunde zu zweifeln. – Welches Interesse hätte sie denn, mir das anzutun? – Gar keines. – Fürchte nichts. Dein Freund wird nichts tun, was ihn entehrt. – Was ich tun werde, weiß ich noch nicht. – Ohne sie kann ich aber nicht existieren. Aber ich will – dessen sei gewiß – ein Mann sein. – Sollte wohl ein Rivale da sein, und sollte er Züchtigung verdienen, dann weiß ich, du bist mein Freund. Aber ich muß alles mit meinen Augen sehen, ehe ich glaube.

Auf immer dein H.

 

An Charles

Den 6. April 1779.

Es bedeutet nichts. Deine Gründe lass' ich nicht gelten. Verzweiflung nagt an mir. Nur der Tod kann mich erlösen. Nach dem, was ich gestern schrieb, muß mein Entschluß gefaßt sein.

Mein teurer Charles, hältst du es denn für möglich, noch an G – s Nachricht zu zweifeln? Du selbst kamst ja in Harnisch, als ich dir den Vorfall im Park mitteilte. Was habe ich denn anderes zu tun – ich, der ich nur lebte, wenn sie mich liebte – als mit dem Leben aufzuhören, da sie aufhört zu lieben? Selbstmord ist Feigheit, ein Verbrechen –

Seit dem Moment, wo G– mir die gräßliche Nachricht brachte, denke ich an Selbstmord, meinst du. Ich habe an nichts gedacht, als daran, diese Welt zu verlassen. Wenn das ein Verbrechen ist – und ich fürchte es nur zu sehr, und daß wir Rechenschaft geben müssen für unsere Leidenschaften – so muß ich dem Gerichte stehen. Aber ich kann mir keine Strafe denken, die furchtbarer wäre, als was ich jetzt leide.

Wenn du mich aus meinem Elende nicht erlösen kannst, kannst du mich erlösen von den Qualen meiner Leidenschaft? Sie sind eine Koppel Bluthunde, die mich augenblicklich in Stücke reißen möchten. Sie haben mich überwältigt, jetzt sind sie von einer Macht, daß ich ihnen nicht mehr entrinnen kann. Zuerst hatte ich gehofft, ich könnte ihrer Herr werden, sie erdrücken, – jetzt lodert die Wut zu fürchterlich. Glaube mir, sie könnte plötzlich losbrechen, um – eine andere Person als mich selbst zu vernichten. – Im Augenblick bin ich noch unschuldig.

 

Hackman an seinen Schwager.

Mein teurer Friedrich, – wenn dieses dich erreicht, bin ich nicht mehr. Ich habe gekämpft, solange es ging, aber es überwältigt mich jetzt. Du weißt, wer das Ziel meiner Leidenschaft war. Weil ich durch eine oder die andere Schuld ihre Liebe verlor, was ich nicht ertragen konnte, trieb's mich zum Wahnsinn. Die Welt wird mich verdammen, aber dein gutes Herz mich bemitleiden. Möge der allmächtige Gott dich und die Deinen erhalten und segnen, und dich zu aller Zeit frei erhalten von den Qualen, unter denen ich verkomme. Möge der Himmel das von mir geliebte Weib beschützen, und diese Tat verzeihen, welche mich allein aus einer Welt zu lange ertragenen Elends erlösen konnte. O, wenn es in deiner Macht ist, ihr Freundschaft zu beweisen, dann denke an deinen treuen Freund

J. Hackman.

 

Hackman sah am Abend des 7. April vor dem Hause der Admiralität Miß Reay, die in die Kutsche stieg. Der Wagen fuhr nach dem Coventgarden-Theater, wo das Stück: »Liebe im Dorfe« gegeben wurde.

Hackman folgte ihr ins Theater. Aber bald darauf ging er wieder nach Hause, steckte zwei geladene Pistolen zu sich und kehrte damit ins Schauspielhaus zurück, wo er ruhig bis zum Ende der Vorstellung blieb.

Im Moment, da Miß Reay den Fuß auf den Kutschenstieg setzen wollte, stand Hackman neben ihr und erschoß sie. Im Augenblick darauf drückte der Mörder die andere Pistole auf sich selbst ab, der Schuß ging aber nicht los. Rasch wandte er die Pistole um, faßte das Rohr am Ende und schlug sich mit dem Kolben heftig gegen die Schläfe. Er verwundete sich aber nur, und Umstehende entrissen ihm die Waffe. Er schrie auf: es möge ihn doch einer umbringen! Ein Master Mac Mahon verband seine Wunde und führte ihn in die Shakespearetaverne, in der Miß Reay, gleich nachdem sie dorthin getragen worden, gestorben war.

Man brachte dann Hackman ins Gefängnis. Von dort aus schrieb er

 

An Charles

Tothilfields, den 8. April 1779.

Ich lebe – und sie ist tot. Ich erschoß sie, und mich nicht. Von ihrem Blut und Hirn klebt noch an meinen Kleidern. Mich verlangt nicht mit dir zu sprechen – ich wünsche auch nicht, daß du mich besuchst, oder komme nur und bringe mir etwas starkes Gift. So stark, daß es genug ist. Auf meinen Knien bitte ich dich, wenn deine Freundschaft ernsthaft war, komm, komm, bringe mir Gift.

 

An denselben.

Tothilfields, den 9. April 1779.

Das kurze Billet von gestern und der zugleich angekommene lange Brief von vorgestern haben meinen Entschluß verändert. Ich erteile dir feierlich das Versprechen, das du wünschest. Ich will keinen Angriff auf mein Leben tun. Hätte ich deinen freundlichen Brief zur rechten Zeit erhalten, dann glaube ich, wäre das nicht vorgekommen.

Verzeihung für das, was ich dir vom Gifte schrieb. Ich bin jetzt nicht recht zurechnungsfähig. Nichts soll mich mehr versuchen. Mein Tod ist alles, was ich als Sühne den Gesetzen meines Vaterlandes darbieten kann. Doktor V – hat mir einen trefflichen Rat gesandt, und Master H– meine falschen Argumente erschüttert und vernichtet. Auch ein Wesen wie ich hat Freunde! –

O, daß mein Gefühl und ihr Gefühl sich wieder verständigt hätten!

 

An denselben.

Newgate, den 14. April 1779.

Meinen besten Dank für alle deine Güte seit einer Woche. O Charles, was ist dies für eine Zeit! Ich kann nicht mehr schreiben.

 

Der Angeklagte stand vor den Geschworenen von Old Bailey. Der Richter Blackstone hatte die Untersuchung geführt.

Hackman, der vor ihm seine Schuld geleugnet, erklärte das nun: Es sei Herkommen, daß, wer von Anfang an sein Verbrechen eingestehe, dadurch zugleich die Gnade des Monarchen anrufe; er aber wolle keine Begnadigung.

Eines aber beteuerte er. »Während ich, mit Scham und Reue, bekenne, daß ich mein Leben selbst zerstören wollte, muß ich doch feierlich erklären, daß mein Wille, die zu töten, welche meinem Leben die allerteuerste war, nur aus einer wahnsinnigen Aufwallung hervorging, die ich jetzt auf das allertiefste bedaure. Der Brief an meinen Schwager wird alle guten Menschen, hoffe ich, davon überzeugen!«

Die Geschworenen sprachen ihr »Schuldig!« aus.

Der Gefangene hörte den Spruch mit völliger Ruhe und Fassung an.

 

Am 17. April erhielt der Verurteilte folgenden Brief:

 

An Mr. Hackman in Newgate.

Den 17. April 1779.

Wenn der Mörder von Miß Reay zu leben wünscht, will der Mann, den er am tiefsten gekränkt hat, seinen Einfluß verwenden, ihm das Leben zu retten.

 

Der Brief kam von Lord Sandwich, dem es bei seiner Stellung nicht schwer gewesen wäre, ihm Begnadigung zu verschaffen.

Hackman antwortete:

 

Zelle der Verurteilten in Newgate. 17. April 1779.

Der Mörder derjenigen, welche er verehrt, mehr als sein Leben verehrt, mutmaßt die Hand, von welcher ein Geschenk ihm geboten wird, welches er weder wünscht, noch verdient. Seine Wünsche gehen nach dem Tode, nicht nach dem Leben. Er hat einen Wunsch. Könnte ihm in dieser Welt von dem Mann Verzeihung gegönnt werden, welchen er am tiefsten gekränkt hat, – o Mylord, wenn ich ihr in einer andern Welt begegnete, wenn es mir möglich wäre, mit ihr zu sprechen (insofern selige Geister irdische Dinge noch wissen und fühlen können), o, daß Sie uns beiden verzeihen könnten, und daß Sie der Vater werden ihrer teuren Kinder!

J. H.

In den folgenden Tagen schrieb er noch mehrmals

 

An Charles

Newgate, Samstag Nacht, den 17. April 1779.

Mein teurer Charles – die Glocke hat eben elf geschlagen. Alles ringsum in diesem traurigen Gebäude ist auf einige Zeit ruhig geworden. Ach, möchte es so in meiner Brust sein.

Die dumpfe Feierlichkeit meiner so geliebten Youngschen Nachtgedanken, die harmonisch jeder Zeit zu meiner Seele stimmen, würde mich diesmal noch weit mehr gehoben haben, wenn ich die Donnerglocke von St. Paul in den Mauern der Verurteilten in dieser stillen Nacht hören könnte. Der Ton ist wahrhaft feierlich – er scheint wie der Ton des Todes.

O, daß es die Glocke des Todes wäre! Wie lechzt mein Ohr ungeduldig auf das Dröhnen der Glocke!

Und doch – noch einen Tag nur. Ruhe, Ruhe, unruhiger Geist, bis dahin.

Und dann – –

Mein Gott, mein Schöpfer, mein erster Vater! Du, der du mich geschaffen hast mit diesen Gefühlen, diesen Leidenschaften, diesem Herzen! Du, der du alle Macht bist und alle Barmherzigkeit! Wohl weißt du, daß ich nicht, wie so viele andere deiner Kreaturen, dem Irrtum lebte, es gebe keinen Gott. O mein Vater, verwirf mich nicht auf immer! Nicht Strafen, nicht Qualen – ich fürchte keine Hölle: was ein Mann ertragen kann, das kann ich. Meine Furcht ist, unwürdig deiner Gegenwart zu sein und verstoßen zu werden aus deinem Licht ...

Und könnte – könnte ich entsagen den Freuden der andern Welt, denen, welche kein Auge sehen, keine Zunge sprechen, kein Traum widerspiegeln kann – könnte ich dafür wohl erlangen ein ewiges Dasein der Liebe und Seligkeit mit ihr, welche –

Wahnwitziger Mörder! Dir die Seligkeit des Paradieses! –

Mein Vater, der du bist im Himmel, ich knie im Staube vor deiner Barmherzigkeit; ich halte den Atem zurück und erwarte den Ort, wo dein Urteil ertönen wird.

 

Ach, wie sah ich die arme Seele ergriffen bei den Worten der Iphis in ihrem beliebten »Jephta«:

»Ihr heil'gen Priester, deren Hand noch nie
Mit Menschenblut befleckt ward –«

Wenn ich nun ihr Priester geworden wäre, ich ihr Mörder! In einem ihrer Briefe schrieb sie mir einmal: sie würde mit Vergnügen von meiner Hand sterben. O, es war Wahrheit. – Arme Seele! Wenig dachte sie –

Es ist dummer Schnack, an das zu denken, aber es ist so – ich weiß bestimmt: dies und die folgende Arie: »Leb' wohl ...« waren die letzten Worte, welche sie je gesungen hat. Da preßt es mich, sie zu ergänzen:

»Leb' wohl du müde Welt, in der allein
Mit Stunden Freude wechseln Jahre Pein.

Und dazu möchte ich noch setzen:

Die Wolken schwinden, oben strahlt der Himmel
Im ew'gen Reich des Friedens und der Liebe.

Liebe! gnädiger Gott, ein solches Wort an solchem Orte, und heute!

O!

 

Newgate, Sonntag, den 18. April 1779, 4 Uhr morgens.

O Charles, Charles! Folter und Qualen! – Hölle und schlimmer als Hölle!

Ich warf meinen übermüdeten Körper auf die Diele meines Kerkers. Der Schlaf kam ungerufen.

Die Welt war versunken, die nächste stand vor mir; aber nach der kam keine andere Welt. Alles war offenbart. Mein ewiger Urteilsspruch, die Verdammung meiner Erbärmlichkeit, meine Verweisung aus der Gegenwart des Vaters – alles schreckenvoller, als die Poesie es zu schildern vermag – alles das war hinter mir, ich unrettbar verloren.

Auch ihr Spruch ward verkündet. – Charles! sie – ja, auch sie wurde verurteilt.

Auch auf ihrem Kleide waren Flecken. Wer konnte sie sehen, da die Allwissenheit selbst Mühe hatte, sie zu erkennen? O Charles, diese Schwächen, im Traum habe ich sie erkannt, und sie mußten gebüßt werden. – Meine Hand sandte sie vor der Zeit in den Himmel – mit allen ihren Schwächen.

Charles, ich sah die Buße. Meine Augen sahen, wie sie die Strafe des Himmels aushielt.

Das verschwand wieder. Sie ward vorgerufen, um die Belohnung für ihre zehntausend Tugenden zu erhalten.

Dann, dann, ja meine Hölle fing an – eine entsetzlichere, als je die Phantasie eines Weibes sie erdenken kann. Charles, ich sah sie – die Eisengitter, die grauen Mauern meines Kerkers sanken, das helle Licht strahlte um mich, klar wie je. Da erschien sie vor mir, selbsteigen – aber himmlischer, heiliger wie je auf Erden – sie war verklärt, ein Engel. Durchsichtig ihr Gesicht, ihre Gestalt, daß ich Geist und Seele zu sehen glaubte. – So war sie vollkommen, sie konnte nicht noch besser werden.

Aber was sah ich sonst? Zwischen uns war ein Abgrund von sausenden Wirbeln und Strudeln, eine Tiefe, die nicht zu ergründen war: ich konnte nicht mehr zu ihr, sie nie mehr zu mir.

Nein! – und sie wünschte es auch nicht. Das war der Fluch.

Charles, sie sah mich, wo ich war, versunken in tiefste Erbärmlichkeit. Sie sah mich, aber ohne eine Träne, ohne einen Seufzer.

Einen Seufzer mir, dachte ich, und darüber hätte ich alle meine Leiden ertragen.

Ein Seufzer, eine Träne! – Sie lächelte über alle meine Leiden. Ja, sie, sie freute sich über die Folter meiner Seele. Sie forderte die anderen Engel auf, sich mit ihr zu freuen.

Flamme und Schwefel – körperliches Leiden – das wäre Paradieseslust im Vergleich zu solcher ewigen seelischen Hölle!

Ach! wie ich jauchzte, schluchzte vor Freude und weinte vor Seligkeit, als ich erwachte und erkannte, daß es nur ein Traum, und ich so glücklich war – ich war ja nur in der Zelle der Verdammten in Newgate.

 

Noch immer Sonntag, 7 Uhr nachmittags.

Wenn diese losen, unzusammenhängenden Papiere nach meinem Tode in deine Hand gekommen sind, wird es dir einigen Trost gewähren, die letzten Zustände meines Gemüts kennen zu lernen.

Charles! Je näher der furchtbare Augenblick kommt, je gefaßter, ruhiger finde ich mich.

Du weißt, es war immer meine Meinung, daß ein Mann eine schwere Last von Kümmernissen leichter ertragen könne, als eine leichte. So dachte ich sonst, jetzt weiß ich es. Vor acht Tagen war ich toll, vollkommen toll. Heute nachmittag bin ich die Sanftmut selbst.

Dieser Tag vor acht Tagen! – Dahin blicken ist Tod – ist Hölle! – Rückwärts blicken ist wahrhaft schrecklicher als – vorwärts schauen.

Aber nun kann ich nicht mehr vor mir selber fliehen. In wenigen kurzen Stunden wird die Hand, welche noch jetzt an dich schreibt, die Hand, welche –

Ich will nicht mehr betrüben, weder dich noch mich. Mein Leben gehört den Gesetzen meines Landes, und ich will die Schuld bezahlen. Wie ich für den armen Dodd fühlte! – Wohl – ihr sollt hören, daß ich wie ein Mann und Christ starb.

 

Dann noch einige mit Bleistift gekritzelte, nicht völlig leserliche Zeilen:

Tyburn.

Mein teurer Charles – Lebewohl auf immer für diese Welt! Ich sterbe als ein aufrichtiger Christ und sündiger Büßer. Könnte doch mein Beispiel – – – die böse Wirkung – – – die Welt sollte wissen, wie ich meine früheren Gedanken über den Selbstmord, mein Verbrechen verabscheue – – – – – er ist der beste Richter. Unter ihrem Ruf – – – sorge mit voller Liebe – – – – – Dein sterbender H.

 

Am 19. April 1779 ward James Hackman hingerichtet. Während des ganzen Zugs nach Tyburn schien er sehr erschüttert, sprach aber wenig. Von störenden Unfällen, wie bei Dodds Exekution, erfährt man nichts. Er schied rasch von der Welt.

 

 

Kammerassessor von Zahn

 

Von den Offizieren des in Dreil liegenden hannoverschen Infanterieregiments war wohl der Oberleutnant Friedrich von Kennau der beliebtesten einer. Tüchtig im Dienste, stand er bei Vorgesetzten und Kameraden in gleich hohem Ansehen; die Gesellschaft schätzte den vierundzwanzigjährigen stattlichen Soldaten als einen feinen Menschen von taktvoller Geradheit.

Besonders gern schien Herr von Kennau in dem Hause des Regierungsrates von Oller zu verkehren; daß ihn eine besondere Sympathie mit Marie, der achtzehnjährigen Tochter des verwitweten Rates verband, blieb nicht unbemerkt. Der Vater sah es mit Freuden, daß der auch ihm liebgewordene und überdies reiche Offizier um sein Kind warb. Er willigte gern in die Verlobung, die vorderhand noch geheim gehalten werden sollte.

So standen die Dinge, als man am 24. Mai 1830 in einem Gehölze unweit von Dreil den Oberleutnant von Kennau tot auffand; die Pistole lag neben der pulvergeschwärzten Hand. Als die Kunde davon in Dreil sich verbreitete, wollte erst keiner, der den Toten kannte, es glauben, daß der lebensfrohe, von allen Gaben des Glücks überschüttete Offizier Hand an sich gelegt habe; aber der vom Gericht zur Untersuchung bestellte Arzt fand die Kugel, welche den Körper durchbohrt hatte, auf der Rückseite desselben zwischen Weste und Hemd: er stellte fest, daß der Tod, wie ja auch die Lage bestätigte, in welcher man den Leichnam gefunden, durch Selbstmord erfolgt sei.

Das Gericht ordnete eine Untersuchung an, um aufzuklären, was den Unglücklichen in den Tod getrieben habe. Zuerst wurde der Posamentier Friderici, bei dem von Kennau seit zwei Jahren gewohnt hatte, vernommen.

Er sagte aus:

Am 22. Mai, früh um vier Uhr, hörte ich Herrn von Kennau in seinem Zimmer auf und ab gehen. Da ich glaubte, es fehle ihm etwas, so stand ich auf und erkundigte mich, ob ich ihm mit irgendwas dienen könne? Er dankte mir aber mit gewohnter Freundlichkeit. Als ich die Tür seines Zimmers öffnete, sah ich, daß er eben seine Pistole in die innere Tasche des Mantels steckte, den er übergeworfen hatte. Bald darauf ging er die Treppe herunter und zum Hause hinaus. Beim Weggehen öffnete er meine Stubentür und sprach: wenn sein Bursche komme, möchte ich ihm sagen, er solle gleich nach Felswind zu dem Verwalter seines Landguts gehen und ihm melden, daß mittags sechs Personen dort speisen würden. Dieses Auftrags habe ich mich auch erledigt und bis gestern geglaubt, der Herr Oberleutnant sei in Felswind.

Friderici stellte es als durchaus unwahrscheinlich hin, daß sein Mieter, dessen sonnige Lebensauffassung ihm gut bekannt gewesen sei, freiwillig sein Leben geendet habe; wie und durch wen aber der Tod von Kennaus erfolgt sein könne, darüber vermochte er keine Angabe zu machen.

Man verhörte jetzt den Burschen des Oberleutnants. Dieser sagte aus, nach Felswind habe sein Herr wahrscheinlich die Hauptleute Amberg und Keller, den Oberleutnant Stopfel und die Leutnants von Minzing und Triebel eingeladen, mit denen er am häufigsten verkehrte; es sei aber keiner dieser Offiziere auf das Landgut gekommen. Der Untersuchungsrichter fragte den Diener, ob, soviel er wisse, sein Herr Feinde gehabt habe? – Der Bursche konnte keine Auskunft geben.

Auch Regierungsrat von Oller und seine von Schmerz aufs tiefste erschütterte Tochter wurden vernommen, ohne daß sie etwas von Wichtigkeit bezeugen konnten.

 

So wenig bedeutungsvoll alle Angaben, die man ihm gemacht, waren, so erschien es dem Richter doch auch unwahrscheinlich, daß ein Selbstmord vorliege. Er ordnete eine neue, sorgfältige Untersuchung des Toten an. Da stellte sich nun heraus, daß die Kugel, die man bei der Leiche gefunden, wohl zu der Wunde, nicht aber in die Pistole paßte, welche neben Kennaus Hand gelegen, und die man als die seinige festgestellt hatte. Somit war erwiesen, daß Kennau nicht durch eigene Hand gefallen sei.

Wer aber hatte ihn getötet, in welcher Weise war die Tat vollbracht worden? – Der Untersuchungsrichter vernahm die sechs Offiziere, welche der Bursche als Freunde seines Herrn bezeichnet hatte. Sie wurden einzeln verhört, sagten aber alle gleichmäßig aus: Kennau hätte ihnen am 21. Mai wirklich mitgeteilt, er plane für den folgenden Tag eine Landpartie nach seinem Gut Felswind und werde sich die Ehre geben, sie einzuladen. Da sie nichts weiteres von der Sache hörten, auch Kennau nicht mehr sahen, hätten sie geglaubt, der Ausflug unterbliebe. Wie der Tod ihres Kameraden erfolgt sei, wüßten sie nicht.

 

Während dies Verhör stattfand, war eine Gerichtsdeputation zur Haussuchung bei Kennau geschritten. Folgende wichtige Papiere wurden beschlagnahmt:

1. Ein Brief vom 20. Mai 1830, mit den Buchstaben: A. St. unterzeichnet; er enthielt folgende auffallende Stelle:

Ich habe mit dem K.-A. v. Z. gesprochen und ihm deine Erklärungen und Wünsche auf eine deiner Ehre nicht nachteilige Weise bekannt gemacht. Er entfernte sich, um sie dem Baron von L. mitzuteilen. Soeben kommt von Z. wieder und sagt: er könne die Sache in Güte nicht beilegen; es müsse also bei der Verabredung bleiben; er werde mit Kl. sprechen und dir sekundieren. Ich kann es nicht; du kennst meine Gründe. Gott erhalte dich!

2. Ein Billet vom 21. Mai 1830, unterzeichnet »von Z.,« in dem es hieß:

»Ich habe alles besorgt; man erwartet Sie morgen früh viereinhalb Uhr auf dem besprochenen Platze.«

3. Ein Schreiben von Kennaus selbst an Marie von Oller:

Endlich, teuerste Marie! bin ich mit meinen Anordnungen zustande! – mit welchen Anordnungen? höre ich Sie fragen. – Nun, der Mensch kann nicht wissen, was die Zukunft in ihrem Schoße birgt. Man hat mich auf morgen früh zu einem Zweikampf gefordert, zu dem ich, wie Sie sich bei meinen Grundsätzen und meiner innigen Liebe zu Ihnen ohnehin überzeugt halten werden, keine Veranlassung gegeben habe. Ich werde zwar nochmals alles aufbieten, einen Ausweg zu suchen, wenn es ohne Nachteil für meine Ehre nur irgend möglich ist; allein da ich den Erfolg meiner Ausgleichungsvorschläge ebensowenig berechnen kann, als den Ausgang des Duells, so muß ich Ihnen diese Zeilen schreiben, weil ich es für meine unerläßliche Pflicht erachte, Sie für den schlimmsten Fall von meinem Geschick zu unterrichten und Ihnen noch einen kleinen Beweis meiner unbegrenzten Liebe und meiner Erkenntlichkeit zu geben. In dieser Absicht empfangen Sie, teuerste Marie! in der Anlage ein Dokument über 1200 Friedrichsd'or, welche der Rittergutsbesitzer Kliem in Radefeld mir schuldet. Betrachten Sie diese kleine Summe als Ihr wohlerlangtes Eigentum; es ist die einzige, über die ich ohne Zustimmung meiner Lehnsvettern verfügen kann. – Leben Sie glücklich! – Der Gedanke, Sie einst wiederzusehen, wird, wenn ich ja falle, meinen Abschied vom Leben erleichtern! – Danken Sie Ihrem guten Vater für das Wohlwollen, dessen er mich würdigte! – Ich bin zu beklommen, um weiter schreiben zu können! – Bis zum Grab

Ihr Friedrich von Kennau.

Dreil, 21. Mai 1830, nachts 11 Uhr.

Diesem Schreiben lag die in demselben erwähnte Abtretungsurkunde bei, von den Offizieren Amberg und Stopfel als Zeugen unterzeichnet.

Des letzteren Vorname war Anton; der erste Brief war von ihm geschrieben. Der in demselben erwähnte K.-A. v. Z., das war aber, wie der Untersuchungsrichter unschwer erriet, der in Dreil wohnhafte Kammerassessor von Zahn. Hatte doch ein schon vorher als Zeuge vernommener Unteroffizier beiläufig erzählt, er habe am Vormittag des 20. Mai Stopfel und von Zahn in dem Kasernenhofe auf und ab gehen sehen, die, nach ihren Mienen zu schließen, über einen wichtigen Gegenstand sich besprachen. Aber wer die beiden in dem Stopfelschen Briefe gleichfalls erwähnten Personen Kl. und Baron von L. sein könnten, dafür hatte der Untersuchungsrichter keinen Anhaltspunkt. Jedenfalls schienen Hauptmann Amberg, Oberleutnant Stopfel und Assessor von Zahn an der Sache beteiligt; er ließ sie verhaften, was in der Stadt, da alle drei wohl bekannt waren und sich des besten Rufes erfreuten, großes Aufsehen hervorrief.

 

Schon am folgenden Tage, am 31. Mai, sollte dem Gericht Aufklärung werden, wer der geheimnisvolle Baron von L. sei. Es meldete sich nämlich der Wirt des Gasthofs »Zum Kaiser«, der mitteilte, daß ein Baron von Linsmar seit zwei Monaten bei ihm wohne; es sei ihm aufgefallen, daß der Herr Baron, als er von der Verhaftung des Assessors von Zahn hörte, mit dem er verkehrt hatte, plötzlich voller Unruhe erklärte, am selben Tage noch abreisen zu müssen.

Das Gericht zog schleunigst Erkundigungen über diesen Baron von Linsmar ein. Man erfuhr, daß er aus dem Preußischen stammte, in Frankreich erzogen worden war, dann Staatsrecht studiert hatte und in der Hoffnung in Dreil weilte, bei dem Kammerkollegium daselbst eine Anstellung zu finden. Da er von altem Adel und der Sohn reicher Eltern war, hatte er in Dreil in der besten Gesellschaft, und so auch im Hause des Regierungsrates von Oller verkehrt.

Der Untersuchungsrichter begab sich in den »Kaiser«. Kaum hatte er sich dem Baron von Linsmar als Gerichtsperson zu erkennen gegeben, da brach dieser in die Worte aus: »Ich kann mir's schon denken!«

Auf die Frage, was er sich denn denken könne, wurde er immer verwirrter; den Mahnungen des Richters, zu erzählen, was er wisse, konnte er nicht lange widerstehen. Mit bebender Stimme rief er:

»Ja, es ist wahr, ich habe den Oberleutnant von Kennau im Duell erschossen! Aber ich bin zu dem Zweikampf verleitet worden!«

Nachdem er sich etwas gesammelt, berichtete er, wie es zu der Tat gekommen:

Linsmar war, ebenso wie von Kennau und der Assessor von Zahn, beinahe täglicher Gast in dem Hause des Regierungsrates von Oller gewesen. Einmal hatte Kennau zufällig gefehlt. Als der Rat und seine Tochter für einen Augenblick abberufen wurden, benützte der Assessor das Alleinsein mit Linsmar, um diesen vor dem boshaften und hämischen Oberleutnant zu warnen: erst am Tage vorher habe Kennau vor Marie von Oller in unverkennbar spöttischem Tone davon gesprochen, daß Linsmar es zu einer Anstellung in Dreil wohl nicht bringen werde.

Bei dem regen Ehrgefühl des Barons mußten diese Worte in ihm eine Erbitterung gegen Kennau hervorrufen, auf den er ohnehin, da Marie von Oller ihn offensichtlich bevorzugte, ein wenig eifersüchtig war.

Er verließ gleich das Haus des Rats und bat am folgenden Morgen den Leutnant Kleefeld, mit Kennau Rücksprache zu nehmen und sich zu vergewissern, ob er die fragliche Äußerung mit spöttischer Absicht vorgebracht; gäbe der Oberleutnant das zu, so solle ihn Kleefeld in seinem – Linsmars – Namen auf Pistolen fordern. Für den Fall, daß Kennau erklären sollte, es sei ihm fern gelegen, Linsmar beleidigen zu wollen, ließ der letztere ihn bitten, diese Worte auch vor Fräulein von Oller zu wiederholen.

Kleefeld entledigte sich seines Auftrages bei von Kennau. Dieser hörte ihn freundlich an und sagte: Er erinnere sich zwar nicht mehr, in welchen Worten er über den Baron geredet, aber daß ihm jede verletzende Absicht fern gelegen, könne er mit gutem Gewissen beteuern, und da dem so sei, wäre er auch gern bereit, diese seine Äußerung vor Herrn und vor Fräulein von Oller zu wiederholen.

Leutnant Kleefeld kehrte zu Baron von Linsmar zurück, der seinen Bericht mit großer Befriedigung entgegennahm. Noch aber hatte Kleefeld sich nicht verabschiedet, da öffnete sich die Tür, und Assessor von Zahn trat ein.

Als er hörte, wie die Dinge standen, lachte er auf: »Ei, da seht mir doch die kourageusen Herren! Donna Marie läßt den lieben Baron abblitzen, weil Kennau ihm was am Zeuge geflickt, und der liebe Baron – weiß sich vor Rührung ob dem Edelmut seines Rivalen nicht zu fassen!«

Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht.

In schnell aufflammendem Zorn sandte jetzt sogleich Baron Linsmar den Leutnant Kleefeld wieder zu Kennau und ließ ihn, ohne eine weitere Erklärung abzugeben oder zu verlangen, auf Pistolen fordern; zum Kampfplatz sollte das Wäldchen in der Nähe von Dreil gewählt werden.

Aber ebenso rasch, wie sie gekommen, legte sich die Wut des Barons wieder. Er überlegte, daß Kennau, über den er sich im persönlichen Verkehr nie zu beklagen gehabt, in dem ganzen Streitfall durchaus korrekt gehandelt habe.

Kleefeld kam zurück und teilte mit, daß von Kennau die Forderung angenommen und den Oberleutnant Stopfel, den er wohl zum Sekundanten wählen wolle, zu sich berufen habe. Als Linsmar das hörte, bat er seinen Freund, den Assessor von Zahn, sich sogleich zu Stopfel zu begeben und durch dessen Vermittlung die Forderung rückgängig zu machen. Zahn ging, kehrte aber bald mit der Meldung zurück: Stopfel könne Kennau nicht einmal wieder dazu bewegen, daß er sein früheres Versprechen, vor Fräulein von Oller eine Erklärung abzugeben, erfülle. – In Wahrheit aber (was Linsmar nicht wissen konnte, wie aber später aus der Aussage Stopfels hervorging) hatte Zahn ganz anders gehandelt, als es sein Auftraggeber gewünscht: er war mit der Anfrage zu Stopfel gekommen, ob Kennau sich wirklich schlagen wolle? Linsmar traue ihm keine Kourage zu! Stopfel ersuchte voll Entrüstung den Assessor, dem Baron jeden Zweifel an dem Mute Kennaus zu benehmen; zugleich aber bat er ihn, auf Linsmar einzuwirken, damit dieser seine Forderung zurückziehe: es sei doch frevelhaft, wenn zwei blühende junge Menschen um nichtiger Ursache willen ihr Leben aufs Spiel setzten. Zahn erklärte sich zu dem Versuche, den Baron zu beschwichtigen, bereit; in Wirklichkeit aber machte er durch das, was er Linsmar hinterbrachte, den Zweikampf zur unausweichlichen Notwendigkeit.

 

Der Baron hatte noch Bedenken wegen der gesetzlichen Strafe, die den Duellanten treffe; Zahn beruhigte den Leichtgläubigen: die Behörde pflege die Augen zuzudrücken, es sei nichts zu fürchten. Aber nun weigerte Stopfel sich, bei dem unsinnigen Duell Kennau als Sekundant zu dienen. Da erbot sich Zahn, wiewohl er doch Linsmars Freund war, dem Oberleutnant zu sekundieren, und nun stand dem Zweikampf nichts mehr im Wege.

So kam der 22. Mai heran. Linsmar, sein Sekundant Kleefeld und Zahn waren vor Kennau auf dem Kampfplatz. Der letztere schritt bei seinem Erscheinen rasch auf Linsmar zu und sprach: »Um Ihnen Genugtuung zu geben, Herr Baron, bin ich hergekommen, obgleich ich mir bewußt bin, Sie wissentlich nie beleidigt zu haben.«

Der Baron hätte seinem Gegner gern die Hand zur Versöhnung gereicht, da aber trat Zahn zwischen beide und sagte in gleichgültig-nonchalantem Ton: »Meine Herren, ich habe mehr zu tun, als solche Exklamationen anzuhören: halten Sie sich nicht lange bei der Vorrede auf und wechseln Sie Ihre Kugeln!«

Nun gab es kein Zurücktreten mehr. Eine Distanz von zehn Schritten – Zahn hatte fünf gewünscht – wurde bestimmt, ein dreimaliger Kugelwechsel ausgemacht. Kennau, als der Beleidiger, stellte sich zuerst seinem Gegner. Linsmars Schuß fehlte ihn. Nun hob der Oberleutnant die Pistole; festen Auges und fester Hand zielte er, drückte ab und schoß – wie selbst dem Gegner schien – absichtlich viel zu hoch.

Nun war auch Kleefeld der Ansicht, der Ehre sei genug geschehen, und bat um Abbruch des Duells. Da trat Zahn unter einem Vorwand auf Linsmar zu und sagte flüsternd: »Besser schießen, sicherer treffen, mitten auf den Mann zu halten, da sich ein Baron eine solche Behandlung en bagatelle nicht gefallen lassen kann!« –

Die Gegner standen sich wieder gegenüber. Linsmar zielte sorgsam; wie er selbst dem Untersuchungsrichter sagte: in der festen Absicht zu treffen.

Diesmal sank Kennau zu Boden.

Blut quoll aus dem Körper des Getroffenen. »Laßt mich liegen,« sprach er mit schwacher Stimme, »ich sterbe – rettet euch! – Ich verzeihe Ihnen, Baron – Sie waren Zahns Werkzeug, der –« Die Stimme versagte ihm. Die letzten Worte des Sterbenden, welche der verzweifelte Linsmar noch vernahm, lauteten: »Unglückliche Marie – ich sehe dich wieder!«

Dann noch einige krampfhafte Bewegungen, ein letztes Sich-recken, und der Tod trat ein.

Gleich als der Unglückliche gefallen war, rief Leutnant Kleefeld den Arzt, der, wie Zahn vor Beginn des Duells versichert hatte, in einer in der Nähe gelegenen Waldhütte wartete. Kein Mensch war in der Hütte. Kleefeld machte Zahn die heftigsten Vorwürfe; dieser entgegnete ruhig: »Was hätte es denn auch geholfen, wenn ich einen Arzt herbestellt hätte?«

Nun machte der Assessor den beiden anderen den Vorschlag, um allen mißlichen Weiterungen aus dem Wege zu gehen, einen Selbstmord Kennaus vorzutäuschen. Er legte den Toten, der sich im letzten Zucken auf die Seite gewälzt hatte, auf den Rücken, ließ von Kleefeld des Oberleutnants noch geladene Pistole abfeuern und neben dessen rechter Hand niederlegen; die Finger derselben schwärzte er mit dem Pulver auf der Pfanne von Linsmars Pistole. Endlich verwischten die drei alle Fußspuren im Sand bis auf die des Gefallenen und traten dann den Rückweg an.

Sie verpflichteten sich gegenseitig zur Geheimhaltung der Sache, und Zahn bemerkte: selbst wenn die beiden anderen so schofel wären, zu gestehen, so würde er doch nichts bekennen; eher wollte er sich auf die Folter spannen lassen, eher ein Hundsfott sein, als daß er etwas aussagte! – So trennten sie sich.

Gleich darauf hatte Zahn den Baron wieder aufgesucht und ihm geraten, auf das schnellste nach Italien zu reisen, um vor jeder Gefahr gesichert zu sein. Linsmar schrieb denn auch geängstet seinen Eltern und bat sie um Geld für eine Erholungsreise. Er erhielt die erforderliche Summe am 30. Mai und hätte am folgenden Tage, als er von Zahns Verhaftung hörte, Deutschland verlassen, wäre nicht das Gericht ihm zuvorgekommen.

Der Untersuchungsrichter gewann aus den reumütigen Worten Linsmars den Eindruck, es mit einem im Grunde gutmütigen und harmlosen Menschen zu tun zu haben; der Hauptschuldige war offenbar der Kammerassessor von Zahn. Aber was diesen zu seinem hinterlistigen Spiele veranlaßt hatte, das konnte Baron Linsmar nicht aufhellen. Der Richter ließ ihn ins Gefängnis bringen und vernahm dann den Hauptmann Amberg und den Oberleutnant Stopfel. Der letztere gab zu, von dem Duell gewußt zu haben, er habe sich aber Zahn gegenüber verpflichtet, nichts zu verraten. Amberg stellte nach wie vor jede Mitwissenschaft in Abrede, jenes Schenkungsdokument, das Kennau am Tage vor seinem Tod aufgesetzt, habe er wohl mit unterzeichnet, aber ohne zu ahnen, daß es sich dabei um etwas anderes als um ein gewöhnliches Geschenk handle. Die beiden Offiziere wurden entlassen; dafür aber Leutnant Kleefeld in Haft genommen, dessen Erklärungen denen von Baron Linsmar entsprachen.

 

Dem Untersuchungsrichter kam es nun vor allem darauf an, die Motive, welche Zahn bei seinem Handeln geleitet hatten, kennen zu lernen.

Er befragte zuerst Herrn von Oller und dessen Tochter. Diese wußten nichts anzugeben, als daß ihnen das ganze Wesen Zahns niemals recht gefallen habe. Aber sie konnten den Inhalt einer Unterhaltung mitteilen, die Zahn, nach dem, was der Richter bereits wußte, offenbar dazu benutzt hatte, um das Duell herbeizuführen:

Eines Tages anfangs Mai hatten sich Kennau und Zahn in der Ollerschen Wohnung getroffen; das anfangs gleichgültige Gespräch wandte sich, durch Zahn geleitet, auf Linsmar, dem der Assessor im Laufe der Unterhaltung das Prognostikon stellte: er werde in das Kapitel der alten Kandidaten kommen. – Kennau, ehrenhaft wie immer, verteidigte den Abwesenden, äußerte, daß er ihn für einen sehr gebildeten jungen Mann halte, der längst verdient hätte, eine seinen Fähigkeiten wie seiner Bildung entsprechende Anstellung im Staatsdienste zu erhalten; er schloß mit der an den Regierungsrat gestellten Bitte: derselbe möge doch nicht unterlassen, für Linsmar an geeignetem Orte ein gewichtiges Wort zu sprechen.

Einige Abende später trafen sich der Oberleutnant und der Assessor wieder bei von Ollers; nochmals brachte Zahn die Rede auf den abwesenden Linsmar. Kennau, wie der Regierungsrat und dessen Tochter wohl bemerkten, versuchte an diesem Tage immer wieder, das Gespräch von dem Baron abzulenken. Einigemal auf Umwegen, zuletzt geradezu begann Zahn: Kennau möge ihm doch seine Ansicht über die geistigen Fähigkeiten des Barons und dessen Aussichten im Staatsdienst mitteilen. Kennau schwieg, Zahn aber ward immer hartnäckiger. Um nicht den Schein der Unhöflichkeit zu erwecken, bemerkte endlich der Oberleutnant, daß er wegen der Kürze der Bekanntschaft mit Linsmar sich zu einem Urteil nicht berufen erachten könne.

Übrigens tue es ihm sehr leid, daß die von ihm vor einigen Tagen in der besten Absicht für Linsmar gesprochenen Worte diesem entstellt und verdreht zugetragen worden seien, sodaß er selbst Unannehmlichkeiten deswegen gehabt habe.

Herr von Oller und seine Tochter begriffen sofort, daß Kennau auf Zahn anspielte; sie äußerten sich nun auch höchst mißbilligend über die Weiterverbreitung von in intimem Kreis geführten Gesprächen; ja, der Regierungsrat versicherte, er werde dem ihm recht sympathischen Baron von Linsmar bei nächster Gelegenheit mitteilen, was im Ollerschen Hause wirklich über ihn gesprochen worden sei.

Was dadurch bewirkt wurde, war offenbar, daß Zahn jetzt die Katastrophe beschleunigte, um zu verhindern, daß Linsmar von seinem zweideutigen Verhalten erführe.

 

Der Untersuchungsrichter bezweifelte, auf indirektem Wege etwas über die Ursachen, aus denen Zahns Handeln hervorging, zu erfahren; es blieb ihm nichts übrig, als den Verhafteten selbst zu befragen. Ehe er aber zu dem Verhöre des sichtlich überaus geschmeidigen und gewandten Assessors schritt, zog er noch bei dessen Vorgesetzten, dem Kammerdirektor, Erkundigungen über Zahns Charakter und Wesen ein. Dieser sagte, er halte ihn für einen sehr fähigen und fleißigen Arbeiter, aber im persönlichen Verkehre habe er den Assessor wenig geschätzt: es sei ein boshafter, eitler und zanksüchtiger Mensch.

Von der Bosheit und Streitsucht Zahns hatte der Untersuchungsrichter Beweise; verletzte Eitelkeit konnte den Assessor bei seinen dunklen Plänen geleitet haben. Er ließ sich den Gefangenen vorführen, vorerst nur, um ihn zu beobachten: er teilte ihm nichts von dem mit, was er bereits durch Linsmar wußte, und fragte Zahn nur mit gelassenen Worten, ob er keine Aussage zu machen habe. Der Assessor erklärte in hochfahrendem Tone, er wüßte nicht, was man von ihm wolle; er werde sich gegen die Richter, welche seine Verhaftung veranlaßt, sowie gegen das Gericht, welches sie verfügte, schon Genugtuung zu verschaffen wissen! – Er trug eine solch eherne, undurchdringliche Miene zur Schau, daß der Richter – der sich erinnerte, mit welcher Entschiedenheit Zahn dem Baron und Kleefeld erklärt hatte: er würde nie etwas gestehen – es für klüger hielt, das Verhör abzubrechen und sich erst bis ins einzelne genau zu überlegen, wie der Assessor zum Bekenntnis zu bringen sei.

Ein an sich unbedeutendes Ereignis sollte ihm überaus zustatten kommen. Die Haushälterin Zahns erzählte, als sie vernommen wurde: ihr Herr sei am Morgen des 22. Mai – also am Tage des Duells – früh ausgewesen; nach seiner Rückkehr erzählte er ihr, er hätte einen Spaziergang mit dem Baron von Linsmar gemacht und dabei seinen Siegelring verloren. Als die Haushälterin fragte, wo das denn geschehen sei, erwiderte ihr Herr: das Suchen helfe ja doch nichts, da der Ring an einem Markttag wie heute, wo so viele Landleute zur Stadt kämen, sicher schon längst von irgend jemand eingesteckt worden sei.

Der Richter mutmaßte, wenn Zahn den Ring wirklich an jenem Tage verloren habe, so sei dies wahrscheinlich auf dem Kampfplatz geschehen: er verfügte sofort die genaueste Nachsuchung in dem Hölzchen bei Dreil und setzte eine Belohnung für den Finder aus. Eine arme Taglöhnerin entdeckte denn auch in dem Geäst einer Kiefer einen Handschuh, in dem ein Ring steckte.

Es war offenbar der des Assessors: er trug das Zahnsche Wappen, und die Haushälterin erkannte ihn.

Es lag dem Richter daran, Zahn gleichfalls zur Anerkennung des Ringes zu bringen. Er ermittelte, daß Zahn der Haushälterin am Abend des 21. Mai jenes dem Gericht bereits bekannte Briefchen zur Bestellung an den Leutnant von Kennau gegeben; ferner, daß sie fast in derselben Stunde im Auftrage des Assessors Akten zu dem Kammerpräsidenten habe tragen müssen, denen gleichfalls ein Brief ihres Herrn beigelegt war. Auch diesen Brief verschaffte sich der Untersuchungsrichter; das Schreiben war vom 21. Mai datiert; das Siegel, mit dem es verschlossen gewesen, trug den Abdruck des Wappens im Zahnschen Ringe.

Zahn wurde aufs neue dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Dieser fragte ihn, wo und wie er den 21. Mai zugebracht habe? – Der Assessor entgegnete, er hätte eine sehr wichtige Arbeit zu erledigen gehabt, die ihn den ganzen Tag über in seiner Wohnung zurückgehalten habe. Auf die Frage, worin diese Arbeit bestanden, entgegnete er anfangs, er meine, daß er hier über seine Tätigkeit als Staatsdiener keine Auskunft zu geben brauche, bequemte sich aber gleichwohl, seine Beschäftigung wahrheitsgemäß darzulegen. Die weitere Frage, ob er noch am Abend des 21. Mai die bearbeiteten Akten dem Kammerpräsidenten zugesandt, und ob solches mit oder ohne Begleitschreiben geschehen, beantwortete er lächelnd dahin, daß er allerdings ein Briefchen den Akten beigelegt habe; er setzte spöttisch hinzu: »Wohin mag dies führen?«

Nachdem er den an den Kammerpräsidenten gesandten Brief als von ihm geschrieben anerkannt hatte, legte man ihm auch das mit v. Z. unterzeichnete, in der Wohnung Kennaus vorgefundene Billet vor und fragte, ob er nicht selbst einräumen müsse, daß die Schriftzüge beider Briefe von einer und derselben Hand herrührten?

Der Angeklagte antwortete mit Ruhe: »Es gibt viele Schriften, die sich gleich sind. Das bei Kennau gefundene Billet habe ich nicht geschrieben; mag es meinetwegen geschrieben haben, wer da will!« Und als der Richter ganz obenhin bemerkte, daß diesem Billete, um es zu einem Beweisstücke zu machen, nichts als Umschlag und Siegel fehle, fiel ihm schnell Zahn ins Wort: »Das war es eben! – Schriften sind leichter nachzumachen, als Wappen zu stechen! Ich pflege Billets dieser Art jedesmal so zusammenzubrechen und mit meinem Wappen zu versiegeln, wie das Schreiben an den Herrn Präsidenten!«

Jetzt hatte ihn der Untersuchungsrichter, wo er ihn wollte. Er ging darum bereitwillig auf einen anderen Gegenstand über, von welchem Zahn selbst angefangen hatte.

Nachdem nämlich Zahn nochmals die Versicherung, das Billet an den Kammerpräsidenten am Abend des 21. Mai geschrieben zu haben, ungeduldig mit den Worten: »Nun ja, ich hab's ja schon gesagt!« erteilt hatte, fragte er anscheinend in größter Unbefangenheit nach Linsmar: » A propos! Ist wohl der Baron von Linsmar noch hier? Er wollte mir vor seiner Abreise nach Frankreich das ihm geliehene Geld zurückzahlen. Sollte er noch hier sein, so würde es mir pekuniären Nutzen bringen, wenn Sie mich mit ihm sprechen lassen wollten!«

Der Richter bemerkte ebenfalls ganz gleichgültig, Zahn meine wohl denselben Linsmar, der in dem Gasthause »Zum Kaiser« gewohnt habe; dieser sei nicht mehr dort; er habe sich vielmehr schon vor einigen Wochen Pässe für eine Reise in das Ausland geben lassen.

Zahn vermochte seine Freude über diese Nachricht kaum zu verbergen; er stellte sich jedoch verdrießlich: Durch die Abreise des Barons könne er zu Geldverlust kommen; er habe diesem jungen Manne nie recht getraut!

Jetzt wurde ihm der aufgefundene Ring vorgelegt; er erkannte ihn als den seinen, erklärte aber, ihn vor sechs bis acht Wochen dem Baron von Linsmar geschenkt zu haben. Auf die Frage, wie es dann komme, daß er mit diesem Ringe noch am Abende des 21. Mai einen Brief an den Kammerpräsidenten habe versiegeln können? verstummte er. Endlich wagte er es, sich auf Linsmar zu berufen, der ihm, wenn er hier wäre, bestätigen müsse, daß er ihm den Ring geschenkt; er habe mehrere Siegel zu Hause, und mit einem davon sei der Brief an den Präsidenten verschlossen worden.

Nun schien dem Richter der Augenblick gekommen, um dem zu Todesblässe Erstarrenden Linsmar und Kleefeld gegenüberzustellen. Regungslos vor sich hinblickend hörte er an, wie Linsmar ihn der Lüge bezichtigte und erklärte, weder Geld noch einen Ring empfangen zu haben. Jetzt erst hielt der Untersuchungsrichter dem Assessor das ganze gegen ihn gesammelte Material vor, sagte ihm, was Stopfel, Kleefeld und Linsmar gestanden, was im Ollerschen Hause vorgegangen war, wo der Ring sich gefunden hatte. Er mahnte ihn, ein offenes Geständnis abzulegen, da dem Gericht ja doch alles bekannt sei.

Zahn war nicht imstande, zu antworten. Er bat nur weinend und schluchzend den Richter, ihm Zeit zu lassen, und dieser, wohl erkennend, daß Zahn nicht mehr die Kraft habe, weiter Komödie zu spielen, war human genug, ohne weitere Fragen den Elenden ins Gefängnis zurückbringen zu lassen.

Er ließ ihm Papier und Tinte übergeben, und an den folgenden Tagen schrieb Zahn für den Untersuchungsrichter ein Bekenntnis nieder in dem es heißt:

Ich fühle nur zu tief, daß Sie eine Menge von Gründen haben, mich zu verachten, und dieses Gefühl ist mir in meiner jetzigen Lage das peinigendste. Fand ich noch gestern, ehe Sie mich zerknirschten, darin einen schändlichen Triumph, daß ich der letzte sein würde, welcher Geständnisse ablege, so empfinde ich jetzt die tiefste Reue, daß ich nicht der erste gewesen bin, der die Wahrheit sagte. Aber wenn Sie ermessen, welches Los das Gesetz mir bestimmt, dann werden Sie mir gewiß weniger zürnen ... Ich bin Kennaus Mörder; Linsmar war nur das Mordwerkzeug; damit hat der Sterbende selbst den Verzweifelnden getröstet. Ich liebte Marie von Oller! – Sie wird mir fluchen, daß ich ihr den Bräutigam raubte! Ich schwor den Untergang ihm und Linsmar, der bei Ollers ebenfalls lieber gesehen ward als ich; ich habe beide entzweit, das Duell durch Intrigue zustande gebracht. Möchte – so dachte ich – fallen, welcher wollte; der andere müsse fliehen, und (o, ich Tor!) Marie dann die Meine werden ... Überheben Sie mich der Erzählung aller Intriguen, durch welche ich Kennaus Tod herbeiführte. Es wird dem erkennenden Richter genügen, wenn ich Ihnen frei und unumwunden gestehe, daß ich die wohlgemeinte Äußerung Kennaus über Linsmar diesem entstellt zutrug, daß ich es dahin brachte, daß Linsmar Kennau auf Pistolen fordern ließ; daß ich Linsmars Vertrauen, welches er mir dadurch bewies, daß ich den Sühnestifter machen sollte, mißbrauchte; daß ich mich selbst zu Kennaus Sekundanten erbot, um gewiß zu sein, daß das Duell nicht rückgängig werde; daß ich das Billet, das Sie mir vorzeigten, allerdings an Kennau geschrieben, den Baron von Linsmar am 22. Mai früh zum Duell abgeholt und Kennau wirklich sekundiert habe. Ich will eingestehen, daß ich – um dem Duelle einen blutigen Ausgang zu geben – den Abstand nur auf fünf Schritte bestimmt wissen wollte, daß aber Kleefeld dies nicht zugab, und daß ich, vor dem zweiten Schusse, den Baron Linsmar aufforderte, besser zu schießen und, um sicherer zu treffen, mitten auf den Mann zu halten! – – Ich will gestehen, daß ich keinen Arzt zum Duell bestellt habe, obgleich ich Kennau und Linsmar dies glauben machte; ich war zu sehr von der Idee durchdrungen, daß einer auf dem Platze bleiben müsse! – Ich will gestehen, daß ich nach Kennaus Fall den Rat gab, den Getöteten in den Verdacht des Selbstmords zu bringen, und daß wir alles getan haben, was wir zur Erreichung dieser Absicht für gut hielten. Dies gereichte zu unserer Sicherheit und entsprach meinem abscheulichen Plane: Marie von Oller hätte gewiß den Selbstmörder eher vergessen, als den im Zweikampf Gefallenen! – Ich will gestehen, daß ich meinen Handschuh nebst dem Siegelring, um ihn bei unserm Lügenwerk nicht zu beschmutzen, irgendwohin gelegt, vergessen und nicht den Mut gehabt habe, ihn zu suchen. Ich will endlich gestehen, daß ich zur Erreichung meiner Absicht den Baron Linsmar zur Flucht nach Italien zu bestimmen suchte ...

Dreil, im Arresthause, am 7. Juli 1830.

Karl von Zahn.

 

Durch Erkenntnis des Kriminalobergerichts vom 19. August 1830 wurde »der bisherige Kammerassessor Karl von Zahn – geständig und überführt, daß er böslicherweise und zur Erreichung eigennütziger Zwecke das am 22. Mai d. J. zwischen dem Baron von Linsmar und dem Oberleutnant von Kennau sekundierte und als Kennaus Sekundant den Baron von Linsmar arglistigerweise zum Zorne reizte, dem so Gereizten dann die Stelle bezeichnete, wo er den Gegner treffen solle – auf Grund des Duellmandats vom 2. Januar 1708 zur Todesstrafe verurteilt.« Gleiche Strafe sprach das Gesetz über den Leutnant Kleefeld aus, und beider Körper sollten auf dem Richtplatz beerdigt werden. Baron von Linsmar wurde zu zehnjährigem Festungskerker, Oberleutnant Anton Stopfel zu sechswöchentlichem Arreste verurteilt, weil er von dem Duelle Kenntnis hatte und es durch Anzeige bei der Obrigkeit nicht zu verhindern suchte.

 

Das Urteil kam nicht zur Vollstreckung. Durch landesherrliche Verordnung wurde Assessor von Zahn zu zwanzig, Leutnant Kleefeld zu drei, und Baron Linsmar zu acht Jahren Festung begnadigt, dem Oberleutnant Stopfel aber jede Strafe erlassen.

 

Zahn bezeugte wenig Freude, als man ihm die Milderung des Spruches ankündigte. Das Leben biete ihm nichts mehr, sagte er, und er hätte den Tod vorgezogen.

 

Marie von Oller, die seit Juli 1830 das Krankenlager nicht mehr verlassen hatte, starb aus Kummer, ehe der Todestag ihres Verlobten sich zum ersten Male erneuerte.

 

 

Der Mord im Kapplertale

 

Im Kapplertale im Schwarzwald, unweit von dem alten Städtchen Kappelrodeck, liegt Furschenbach. Das Dorf besteht aus etlichen dreißig auf den Höhen verstreut liegender Anwesen. Der stattlichste der Höfe war in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts der Günzberg. Links von der Landstraße, da, wo diese gegen Ottenhöfen einbiegt, lag er auf einem sanft ansteigenden Hügel. Wie es im Schwarzwald häufig ist, schirmte ein mächtiges Strohdach Haus, Scheuer und Stall; etwas seitwärts war das Leibgedinghäuschen erbaut; nach hinten bildete der Wald die Grenze der Besitzung. Die üppigen Felder, die den breiten Abhang des Hügels bedeckten, gehörten zu ihr, von frischem Bergwasser durchströmte Wiesen, und ein sorgfältig gepflegter Weinberg.

Seit vielen Generationen war der Hof das Eigentum derselben Familie und hatte sich von Sohn zu Sohn fortgeerbt. Niemand aber hatte das Anwesen so in die Höhe gebracht, wie der jetzige Bauer, Johann Knapp. Er zählte zu den angesehensten und reichsten Männern im Tal, und im Gemeinderat galt seine Stimme am meisten, obschon er die Würde des Bürgermeisters abgelehnt hatte. Man achtete in ihm nicht nur den tüchtigen Sproß des alten Geschlechtes, man liebte ihn, weil er ein braver Mann im vollen Sinne des Wortes war.

Verheiratet war er mit Marianne Doll, der Tochter eines wohlhabenden Bauern aus der Umgegend. Die Frau genoß den besten Ruf, sie war früh und spät mit rastlosem Fleiße bei der Arbeit, aber auch unersättlich im Erwerben und von jenem bäuerischen Hochmut erfüllt, der auf alle Unbemittelte mit herzloser Geringschätzung herabschaut. Der Ehe waren zehn Kinder entsprossen, aber von den Söhnen nur noch drei am Leben. Der älteste, Johann, war der Mann der wohlhabenden Löwenwirtin in Kappelrodeck; der zweite, Bernhard, half dem Vater in der Wirtschaft; der dritte, Xaver, ging noch zur Schule.

 

Vom Günzberg führte ein breiter Fahrweg ins Tal hinab; aber auch ein Fußpfad schlängelte sich den Hügel herunter und führte an einem der armseligsten Häuser des Dörfchens vorbei. Es hatte nur zwei Stuben; in der einen wohnte eine Witwe namens Schneider, in der anderen die ledige Tagelöhnerin Monika Schweigle. Die Küche benützten beide gemeinsam.

Im Jahre 1848 war Monika Schweigle neunundzwanzig Jahre alt; aber alle, die sie gekannt haben, schildern sie als eine auch damals noch blühende, kräftige Person vom schönsten Körperbau, mit einem anmutigen, stets fröhlichen Gesichte. Sie war ganz arm, aber fleißig und ehrlich; freilich auch leichtlebig genug: Sie hatte bereits zwei Kinder und ging mit dem dritten schwanger. Aber über die Zukunft machte sie sich darum keine großen Sorgen; die Hebamme erzählt, daß sie im Augenblick ihrer zweiten Niederkunft darüber scherzen konnte, daß sie nicht einen Kreuzer Geld habe.

Sie machte keinen Hehl daraus, ja, sie erzählte nicht ohne Stolz jedem, der es nur hören wollte, daß der Vater des Kindes, das sie unter dem Herzen trage, Bernhard Knapp, der zweite Sohn des Günzberger Hofbauern sei. Und da sie als Tagelöhnerin häufig auf dem Hofe beschäftigt gewesen war, die Knechte und Mägde auch ein vertrauliches Verhältnis zwischen den beiden bemerkt haben wollten, so schien das, was Monika sagte, recht glaublich, wiewohl Bernhard Knapp im August 1848 eine Ehrenkränkungsklage gegen sie erhob. Es blieb den Leuten nicht verborgen, daß die Geschichte bei den Angehörigen Bernhard Knapps, besonders bei seiner Mutter, den höchsten Unwillen hervorrief. Hatte doch die lose Monika öffentlich von der reichen Hofbäuerin als von ihrer »Schwiegermutter« gesprochen! Als drum diese eines Tages auf der Rückkehr vom Kappeler Markt das Mädchen vor ihrer Wohnung getroffen, war sie in wildem Zorn mit Schlägen über sie hergefallen; aber während sie sich bei den Haaren herumrissen, spottete die Monika wiederum: »Und Ihr seid halt doch meine Schwiegermutter!«

 

Am Morgen des 15. August hörte die Witwe Schneider das Kind der Schweigle heftig schreien, sie begab sich in die Stube ihrer Nachbarin und fand das Kind allein, Stube und Haustür waren halb geöffnet, auch das Fenster.

Es war Festtag, auf Arbeit konnte also Monika nicht sein; es mußte drum Verwunderung erregen, daß sie den ganzen Tag ausblieb, und in Ottenhöfen, wohin Furschenbach eingepfarrt war, unterhielt man sich vor der Kirche lebhaft über ihr Verschwinden. Auch die Günzberger Bäuerin hörte davon und äußerte wegwerfend: »An der wird für keinen Groschen Ware verloren!«

Die wenigen Verwandten der Schweigle stellten am nämlichen Tage noch Nachforschungen auf allen Höfen an, aber niemand wollte das Mädchen gesehen haben. Im Auftrage des Bürgermeisters wurde nun Feld und Wald nach allen Richtungen hin durchstreift. Aber erst am Nachmittag des 17. August fand ein Schwager der Verschwundenen ihren Leichnam in dem Walde des Bürgermeisters, ungefähr eine Viertelstunde oberhalb der Wohnung der Unglücklichen. Die Tote war nur mit einem Rock und einem Hemd bekleidet und lag halb entblößten Leibes da. Um ihren Hals war ein dicker Strick geschlungen, der an einer jungen Hagenbuche so befestigt war, daß Hals und Kopf der Schweigle einige Zoll über die Erde gehoben wurden.

 

Die gerichtsärztliche Untersuchung stellte fest, daß der Tod infolge von Strangulation erfolgt war, und daß Monika Schweigle höchstwahrscheinlich durch Selbstmord ihr Leben beendet habe.

Aber in Furschenbach glaubte niemand so recht daran. Was hätte auch das Mädchen mit dem frohen, sorgenlosen Sinn in den Tod getrieben?

»Die Monika ist ermordet worden!« wurde im Tale überall geflüstert, und mit Spannung erwartete man das Ergebnis der eingeleiteten Untersuchung. Vom Günzberg mußte die Tat verübt worden sein, dahin ging die Meinung. Die Obrigkeit mußte die Vermutungen, die sich in der Gegend verbreitet hatten, nachprüfen – um so mehr, als der Hirtenbube vom Günzberg in dem Strick, der den Hals der Monika umschnürte, den seinen erkannte, den er seit mehreren Tagen vermißt hatte.

Aber nach einem eingehenden Zeugenverhör konnte das Gericht keine Veranlassung finden, gegen irgendein Mitglied der Familie Knapp Anklage zu erheben. Bernhard Knapp schien am meisten belastet; aber der Knecht Florenz Hirt, der mit ihm dieselbe Schlafkammer bewohnte, beschwor, Bernhard habe in der Nacht vom 14. auf den 15. August nicht einen Augenblick Stube und Haus verlassen.

Die Untersuchung wurde geschlossen, und Monika sang- und klanglos beerdigt. Aber die Überzeugung, daß sie das Opfer eines Verbrechens geworden, lebte fort. Ja, bald verbreitete sich die Sage, dort, wo man die Tote gefunden, schwebe um Mitternacht der gespenstige Schatten eines Weibes mit einem Kinde im Arm auf und nieder.

 

Der Verkehr der Talbewohner mit dem Günzberg war nie stark gewesen; jetzt hörte er fast gänzlich auf. Höchstens am Sonntag in der Kirche zu Ottenhöfen sah man die Familie Knapp, sie kehrte stets rasch nach Hause zurück, wenn der Gottesdienst beendigt war, und schien gleichsam grollend jeder Gesellschaft auszuweichen, während die Hofleute im Grunde selbst die Gemiedenen waren. Nur als im Jahre 1852 Johann Knapp starb, da war der Günzberg mit Leidtragenden erfüllt, denn niemand hätte gewagt, dem wackeren, freundlichen Manne den Makel des geringsten Verdachtes anzuhängen.

Schon vor seinem Tode hatte man darüber gemunkelt, daß die Lebensweise auf dem Günzberg sich so merkwürdig verändere. Nun wurde es immer seltsamer. Die Witwe hatte den Hof übernommen und bewirtschaftete ihn gemeinsam mit Bernhard. Man erfuhr bald, daß die Frau sich dem Trunke ergebe, oft stark berauscht und heulend und lärmend wie eine Furie im Hause herumziehe, beim Tischgebete, wenn alle Knechte und Mägde versammelt wären, fluchend die Stube verlasse und die Tür zuschlage, daß die Fenster zitterten. Ihr Schimpfen und Toben machte den Dienstleuten das Leben auf dem Hofe zur Hölle.

So ging das vier Jahre. 1856 übergab sie den Hof ihrem Sohn Bernhard, zu dessen Gunsten der Löwenwirt auf sein Erstgeburtsrecht verzichtet hatte. Bald darauf heiratete Bernhard die Tochter des Bürgermeisters von Seebach. Es soll bei der Hochzeit still und trübselig hergegangen sein wie bei einem Leichenmahle.

 

Auch das Betragen des Löwenwirtes wurde immer auffallender. Er hatte eine gute und hübsche Frau, seine Ehe war mit Kindern gesegnet, seine Wirtschaft die besuchteste in Kappelrodeck, alljährlich stieg sein Wohlstand – und doch sah man ihn oft stundenlang, still und melancholisch vor sich hinstarrend, in der Wirtsstube sitzen, bis er zu trinken begann und schließlich schwer berauscht zu Bette gebracht werden mußte. Seine Frau befragte die Ärzte; ihr Mann spreche so ängstlich und habe geäußert, er ertrage das Leben nicht länger. So war denn die Verwunderung nicht allzu groß, als am 5. März 1857 die Kunde durch den Ort lief, der Löwenwirt sei in der Scheuer erhängt gefunden worden.

Aufs neue wurde nun in allen Häusern der geheimnisvolle Tod der armen Monika besprochen. War jetzt das Rätsel gelöst? War der Selbstmord des Löwenwirtes die Sühne für ein Verbrechen? war dies die Last, die ihm das Leben unerträglich machte und die, wie seine Frau dem Gericht erzählte, ihm wenige Augenblicke vor dem Tod die Worte auspreßte: »Ich ertrage es nicht länger, ich muß jetzt beichten!« – Oder aber war er nur Helfer bei der schrecklichen Tat gewesen, und ging der Mörder noch immer freien Fußes durch das Tal?

Immer neue Vermutungen tauchten in der Gegend auf, und endlich sah sich das Gericht veranlaßt, die Untersuchung wieder zu eröffnen. Noch lebten alle Zeugen, die damals vor neun Jahren vernommen worden waren; Florenz Hirt, der Knecht, dessen Aussage die Unschuld Bernhard Knapps erwiesen hatte, war vor kurzem aus Amerika, wohin er ausgewandert, nach Furschenbach zurückgekehrt.

Wichtige Umstände, die man bei der früheren Untersuchung nicht beachtet hatte, wurden jetzt nachträglich festgestellt: so, daß der Kamm, der neben dem Kopfe der Toten gelegen, zerbrochen gewesen war, was auf einen Kampf hindeutete. Eine frühere Magd auf dem Günzberg sagte aus, daß Bernhard Knapp seit Jahren in einen stillen Trübsinn verfallen sei, daß er viel einsam weine und einmal zu ihr selbst gesprochen habe: »Ich habe gefehlt, und die Mutter, und die Monika; wenn das Kind von mir war, so soll ihr Tod auf mich kommen, wenn aber nicht, so soll er auf ihre eigene Seele fallen!«

Aber Bestimmtes wußte man noch immer nicht. Da erschien, weit über seine Jahre gealtert, ein gebrechlicher Greis wieder in der nämlichen Gerichtsstube, in der er vor neun Jahren den Zeugeneid geleistet. Es war Florenz Hirt. Aber der Arm, den er damals in feierlichem Schwur zum Himmel erhoben, hing gekrümmt und schlaff herab; zweimal hatte ihn Hirt in Amerika gebrochen, und Arbeitsunfähigkeit und Not hatten den Auswanderer in die alte Heimat zurückgetrieben. Er glaubte, die Hand Gottes über sich zu spüren. Und als ihn der Richter fragte, ob er die Aussage, die er vor neun Jahren gemacht, wiederholen wolle, stieß er unter einem Strom von Tränen die Worte hervor »Nein, nein! ich habe damals falsch geschworen!« Und nun erzählte er, daß er von Bernhard Knapp am Abend des 14. August 1848 beauftragt worden sei, ihn nachts um ein Uhr zu wecken; Bernhard habe darauf wirklich den Hof um diese Stunde verlassen und sei erst nach einer Stunde rasch und »wie verscheucht« in die Schlafkammer zurückgekehrt, habe sich mit den Kleidern auf das Bett gelegt, aber keine Ruhe gefunden und das Lager wieder verlassen, sobald der Tag graute. Weder Bernhard noch irgendeiner seiner Angehörigen sprach je ein Wort mit ihm über das Ende der Monika; nur drückte ihm Bernhard, als Hirt damals die Ladung des Gerichts erhalten hatte und sich auf den Weg in die Stadt machte, krampfhaft die Hand und flüsterte ihm zu: »Florenz, bei dir ist mein Leben! Du kannst mir hinein-, du kannst mir aber auch heraushelfen!« Dadurch hatte er sich bestimmen lassen, eine falsche Aussage abzugeben. Um den Vorwürfen seines Gewissens zu entgehen, war er über das Meer geflohen, aber das Elend hatte ihn wider Willen in die Heimat zurückgeführt.

Hirt wurde verhaftet, und noch am nämlichen Tage auch Bernhard Knapp und seine Mutter.

 

Bernhard war ein stattlicher Bauer geworden. Dem Ernste seines Gesichtes nach hielt man ihn für weit älter, als er war. Man sagte ihm nichts von den Aussagen des Knechtes. Bei dem Verhör ließ sein Benehmen zwar eine große Aufregung erkennen, aber er stellte doch mit ziemlicher Sicherheit, ja fast mit Hohn jede Mitwisserschaft am Tode der Monika Schweigle in Abrede und verlangte dringend seine Freilassung. Seine Mutter, eine kleine, abgemagerte Frau mit hohlen, vom Trinken geröteten Wangen und kleinen stechenden Augen, erging sich in einer Flut von Schimpfreden, als sie nur den Namen Monika Schweigles hörte. Sie behauptete, von dem Ende dieses Weibes nicht das Geringste zu wissen, brachte aber nicht die leiseste Beschwerde wegen ihrer Verhaftung vor und zeigte überhaupt eine auffallende, fast erschreckende Gleichgültigkeit.

Zwei Tage war Bernhard in Haft gewesen, da ließ er den Untersuchungsrichter um eine Unterredung bitten. Er fühle sich gedrungen, erklärte er, anzuzeigen, daß sein verstorbener Bruder, der Löwenwirt, die Monika erdrosselt habe. Er wisse es von diesem selbst. Bernhard erzählte weitläufig, wie sein Bruder die Monika in jener Augustnacht unter dem Vorwande, er wolle sie wegen des zu erwartenden Kindes abfinden, auf den Günzberg gelockt, ihr dort Geld auf den Tisch gezählt, und, während die Monika es zusammengerafft, ihr den Strick um den Hals geworfen und sie erwürgt habe. Die Leiche sei vom Löwenwirt dann in den Wald geschleppt und an einem Bäumchen aufgeknüpft worden. Der Richter ließ den Gefangenen ruhig reden, unterbrach ihn mit keinem Worte und nahm seine Darstellung ohne irgendeinen Einspruch zu Protokoll; Knapp wurde in das Gefängnis zurückgeführt.

Am folgenden Tage fand seine weitere Vernehmung statt. Bernhard Knapp trat bleich und beinahe zitternd vor den Richter. Der begann mit der Frage: »Hat Euch Euer Bruder, der Löwenwirt, auch mitgeteilt, daß er die Monika Schweigle in jener Nacht schamlos entblößt habe?« Da überzog eine dunkle Röte das Angesicht Knapps, er bedeckte es mit beiden Händen, brach in lautes Weinen aus und legte dann folgendes Geständnis ab:

Als man auf dem Günzberg davon Kenntnis erhalten, daß die Monika von ihm schwanger war, hatten ihn die Seinen, namentlich die Mutter und der verstorbene Löwenwirt, Tag und Nacht mit den bittersten Vorwürfen überhäuft, weil durch die Reden der Schweigle Schande und Spott über den Hof und die ganze Familie gebracht werde. Sie veranlaßten Bernhard, die Ehrenkränkungsklage zu erheben, dann stachelte ihn die Mutter an, dem Mädchen aufzupassen und es durchzuprügeln. Er tat es, weil er hoffte, die Monika dadurch zum Schweigen zu bringen; aber es wurde ihm schwer, denn er hatte das Mädchen lieb. Die Mutter jedoch und der Löwenwirt ließen nicht ab, ihn zu reizen, sie drohten ihm, er müsse vom Hofe und solle nichts vom Vermögen bekommen, und immer deutlicher gaben sie ihm zu verstehen, die Monika müsse aus der Welt. »Schnüre ihr den Hals zu, hänge sie auf, das liederliche Weibsbild, wirf sie in ein Loch, es fragt kein Mensch danach!« so ging das ständige Gewisper seiner Mutter und seines Bruders. Daraufhin war er am Ende in einen Zustand wahrer Verzweiflung gelangt und habe sich entschlossen, entweder sich selbst oder die Monika ums Leben zu bringen.

Schon den ganzen 14. August trug er den Strick in der Tasche. In der Nacht ließ er sich dann von Florenz wecken und ging stracks in die Wohnung der Schweigle. Unterwegs kam ihm der Gedanke, er könne die Monika am besten unterkriegen, wenn sie bei zärtlichem Kosen unter ihm liege; er faßte den Entschluß, sie so zu erdrosseln. Er lockte sie ans Fenster, und unter dem Vorwand, ihr das versprochene Geld zur Abfindung geben zu wollen, aus dem Hause. Sie gingen zusammen den Fußpfad hinan bis zum Walde des Bürgermeisters; er liebkoste sie; an der Stelle, wo man ihren Leichnam gefunden, ließen sie sich nieder und küßten sich. Während er dann mit ihr zusammen auf dem moosbedeckten Boden lag, warf er ihr den vorher schon in eine Schlinge gelegten Strick um den Hals, sprang rasch auf und zog den Strick fest an sich. Das Mädchen griff zu, konnte sich aber nicht losmachen. Das Ende des Stricks schlang er um ein Bäumchen; Monika gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Ihm aber graute, er rannte in vollem Laufe heim nach dem Günzberg.

Niemals, sagte Bernhard, sei der Name der Monika Schweigle wieder auf dem Hofe genannt worden. Niemals richtete jemand von den Seinen eine Frage über ihr Ende an ihn. Aber Mutter und Bruder wußten darum doch, daß er der Mörder war. Und von da an begannen beide zu trinken, um im Rausch den Gewissensbissen zu entgehen. Er selbst, so schloß der gebrochen vor dem Richter Stehende, habe oft daran gedacht, sich ums Leben zu bringen, so sei ihm das Dasein zur Qual geworden. Aber durch sein Geständnis sei ihm jetzt die schwere Last vom Herzen genommen, und dafür danke er Gott. –

 

Der Bernhard Knapp, der nach seinem eigenen Bekenntnis so gehandelt hatte, war, wie die Untersuchung ergab, als Knabe und Jüngling von überaus großer Gutmütigkeit gewesen, ein fleißiger, sittsamer Schüler; nie hatten die Dienstboten ein böses Wort von ihm gehört, nie hatte er je eine Spur von Roheit merken lassen – – –

 

Die Hofbäuerin war hartnäckiger als ihr Sohn. Sie leugnete alles. Erst nach mehreren Verhören, erst als Bernhard Knapp ihr ins Angesicht sein Geständnis wiederholte, als er ihre Vorwürfe, ihre Drohungen ihr ins Gedächtnis zurückrief, erst da bekannte sie und nannte sich selbst die Anstifterin der schauderhaften Tat.

 

Nach wenigen Wochen sprachen die Geschworenen zu Bruchsal ihr »Schuldig!« aus. Der Gerichtshof nahm an, daß nicht auf Todesstrafe erkannt werden dürfe: Im Jahre 1848, in dem die Tat geschehen, war die Todesstrafe im Großherzogtum Baden gesetzlich abgeschafft gewesen, und das Gericht war der Ansicht, daß das spätere, diese Strafe wieder einführende Gesetz keine rückwirkende Kraft habe. Beide Angeklagte wurden darum zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt.

Florenz Hirt erhielt wegen wissentlichen Meineides drei Jahre Zuchthaus.

In der ersten Zeit der Gefangenschaft drehten sich alle Gedanken Bernhard Knapps um den Günzberg. Er trug sich mit der Hoffnung, daß sich vielleicht in Jahren die Tore der Strafanstalt ihm wieder öffnen würden, daß er heimkehren könne zu Weib und Kind. Diese Hoffnung gab er auf, als er vernahm, daß seine Frau ihm untreu geworden sei und ein taubstummes Kind geboren habe.

 

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© Thomas Lehmann

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