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SPRUCH DES JAHRES

Die Zensur ist das lebendige Geständnis der Großen, daß sie nur verdummte Sklaven treten, aber keine freien Völker regieren können.

Johann Nepomuk Nestroy

SPRUCH DER WOCHE

Duldet ein Volk die Untreue von Richtern und Ärzten, so ist es dekadent und steht vor der Auflösung.

 

Plato

 

LUSTIGES

Quelle: Aus dem umgestülpten Papierkorb der Weltpresse (1977)

Rubrik: Das süße Leben

Dallas, Texas - Vor einem Gericht gab Jack Stinney an, er habe seine Frau nur des Spaßes wegen verprügelt. Auf die erstaunte Frage des Staatsanwaltes ergänzte Stinney dann seine Aussage: "Allerdings verprügelte ich meine Frau nur wegen des Spaßes, den sie mit drei anderen Männern gehabt hatte."

Die Lehmänner
Die Lehmänner

Der vierte Mann

Sven Elvestad

 

1-14

 

 

Direktor Joachim Reismann

 

Der Direktor des Tanzlokals »Die blaue Eule« war der erste, der verschwand. Es war am Donnerstag, den 29. November, gewesen, abends 11 Uhr 35, als gerade Generaldirektor Hans Jakob Stenesen den Einsatz verdoppelte. Direktor Reismann war Junggeselle, reich, sah gut aus und saß am dritten Pokertisch rechts, im »Unpolitischen freisinnigen Klub« zusammen mit drei anderen bekannten Spielern der Stadt. Der alte Diener Halvar war mit einem Brief hereingekommen, einem ganz gewöhnlichen Brief, in einem hellblauen, viereckigen Kuvert. Reismann las den Brief, und dann verschwand er.

Der zweite, der von demselben seltsamen Schicksal betroffen wurde, war der berühmte schwedische Maler in futuristischem Stil Karl-Erich von Brakel. Er verschwand in der Nacht zum 2. Dezember, einige Minuten nach ein Uhr, bei dem famosen Mittagessen, das der Dichter Harald Oxford in den Fürstenzimmern des Grand Hotel gab. Gerade als der Wirt im Begriff war, unter den Tisch zu fallen, und die Stimmung demzufolge auf ihrem Höhepunkt war, kam der Oberkellner herein und gab Herrn von Brakel einen Brief. Es war ein ganz gewöhnlicher Brief, in einem hellblauen, viereckigen Kuvert. Und dann verschwand von Brakel.

Der dritte, der verschwand, war der bekannte, sehr beliebte und noch mehr gefürchtete Schriftsteller und Kritiker, Doktor jur. Eivind Oedegaard. Es geschah unter höchst seltsamen Umständen, nach einem Fest im Grand Hotel.

Damit man den Zusammenhang richtig versteht, müssen die Ereignisse der Reihe nach berichtet werden. Das Verschwinden von Direktor Reismann machte außerhalb seines Kreises eigentlich kaum Aufsehen. Seine Bekannten und Freunde waren es gewöhnt, daß der Direktor des Tanzlokals sich allerhand exzentrische Handlungen vornahm, die ihre Erklärung erst später fanden. Schon am selben Abend sprach eines der Mitglieder des Klubs das erlösende Wort: »Frauenzimmergeschichten natürlich!«, womit er eine Lösung gefunden hatte, die allgemein anerkannt wurde.

Als aber der Maler Karl-Erich von Brakel zwei Tage später auf dieselbe rätselhafte Weise nach Empfang eines ganz gewöhnlichen hellblauen Briefes verschwand, bekam die Sache ein anderes Aussehen. Diese und jene Zeitung brachte eine Notiz darüber, und die Freunde der Verschwundenen setzten sich in Bewegung, um eine Erklärung des Mysteriums zu finden. Wie diese Affäre sich teils humoristisch, teils tragisch entwickelte, soll hier berichtet werden. Wie bekannt, glückte es den Freunden erst nach langer Zeit, Licht in die Angelegenheit zu bringen, und erst jetzt ist das ganze Drama vollständig aufgeklärt worden. Dieses Drama enthält, wie bereits gesagt, eine seltsame Mischung von Ernst und Scherz. Anfangs war das Humoristische vorherrschend, aber es dauerte nicht lange, da wurden blutige Fäden in das Gewebe verflochten. Tatsächlich begann die Tragödie bereits, als der schwedische Maler von seinem Schicksal ereilt wurde. Die Fäden dieser Geschichte zu entwirren, ist keine geringere Aufgabe, als ein Stück des stets wunderbaren und unberechenbaren Lebens mit seinem spitzfindigen und launenhaften Spiel mit Menschenschicksalen aufzudecken.

Eine genaue Schilderung der Lage, zu dem Zeitpunkt, als die Geschichte mit dem hellblauen Brief ihren Anfang nahm, ist erforderlich. Es ist abends elf Uhr, am 29. November. Es ist Spielabend im »Freisinnigen Klub«, der einen mehr gesellschaftlichen als politischen Charakter trägt, und der Raum bietet den bekannten Anblick, mit seinen vielen Spiel- und Schachtischen. Um die Tische haben sich neugierige Zuschauer gesammelt. Nur an wenigen Tischen sitzen vereinzelte Gäste, bekannte liberale Politiker, die ihre Zeitungen lesen. Die Stimmung ist behaglich und heimlich, wie es sich in einem Klub gehört, der auf einen guten bürgerlichen Ton Wert legt. Hin und wieder wird die Stille von Gelächter und Lärm unterbrochen, wenn das Spiel eine Sensation bringt.

Die meisten Neugierigen haben sich um den Tisch geschart, der gleich rechts neben der Tür steht; dort hat eine Pokerpartie, die mit sehr hohen Einsätzen spielt, während der letzten Stunden die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Man spielt nicht mit Geld, die Regeln des Klubs lassen das nicht zu, aber die verschiedenfarbigen Spielmarken, die in Stapeln oder Häufchen den Tisch füllen, haben höheren Wert. An diesem Tisch sitzt Joachim Reismann, Direktor des Tanzlokals »Die blaue Eule«. Er spielt gegen Generaldirektor Stenesen. Die anderen drei Herren haben ihre Karten hingelegt. Stenesen hat einen hohen Stapel Spielmarken vor sich hingeschoben, die einen Geldwert von dreitausend Kronen vorstellen, und Reismann hat diesen dreitausend Kronen entsprochen und sie noch um zweitausend erhöht. Da das Spiel durch die nachfolgenden Ereignisse große Bedeutung bekam, ist es wichtig, dies zu erwähnen.

Reismann ist ein noch verhältnismäßig junger Mann, reich, und gehört zur besten Gesellschaft, was erstaunlich klingt, wenn man bedenkt, daß er der Leiter eines Tanzlokals ist. Sein Ansehen hat er sich indessen als Violinspieler und Komponist sehr beliebter Operetten erworben. Ein ererbtes Vermögen hat ihn instand gesetzt, als Kunstsammler zu glänzen, und ein angeborenes Geschäftstalent hat ihm rechtzeitig die gute Idee eingegeben, die weniger einbringende Künstlerlaufbahn aufzugeben und statt dessen in Konzertbureaus, Vergnügungsetablissements und dergleichen zu spekulieren. Seine geschäftlichen Unternehmungen behalten dadurch etwas von dem Nimbus der Kunst. Er gehört unbedingt zu der Gesellschaft, wo man sich amüsiert, und seine angenehme Art und lustigen Einfälle haben ihm viele Bewunderer und Freunde verschafft. Er ist eine gesuchte Persönlichkeit, nicht zum wenigsten weil er gern an einem hohen Spiel teilnimmt. Nicht einmal bei dem wildesten Pokerspiel verliert er sein Phlegma und trägt stets ein überlegenes Lächeln zur Schau, ob er gewinnt oder verliert.

Von seinem Gegenspieler, Generaldirektor Stenesen, braucht man eigentlich nichts weiter zu sagen, als daß sein Spitzname »der Grogkönig« ist; damit bezeichnet man ihn am besten. Er ist eine große schwerfällige Gestalt und sagt oder tut ungern etwas, das sich nicht auf das bezieht, womit er im Augenblick beschäftigt ist – in seinen ledigen Stunden meistens Grog und Kartenspiel. Es wird von ihm erzählt, daß er einst in einer Gesellschaft einen Stuhl in Grund und Boden getrunken hat – er hatte ganz still gesessen und einen Grog nach dem anderen hinter die Binde gegossen, beim achten aber brach der Stuhl unter ihm zusammen und der »Grogkönig« sank mit einem Krach zwischen die Trümmer. Jede Unterbrechung des Kartenspiels ist ihm zuwider, und wenn einer der Spieler es wagt, während des Spiels mit einer Anekdote zu beginnen, fährt er aus der Haut. Voraussichtlich wird er eines Tages den Schlag bekommen, wenn ein hübsches junges Mädchen an den Spieltisch tritt, die Karten zusammenschiebt und sagt: »Kommen Sie, wir wollen lieber tanzen!«

Also: Reismann reizt mit zweitausend. Der Grogkönig setzt mit seinen dicken, roten Fingern und sagt:

»Ich doubliere.«

Jetzt sind fünfzehntausend Kronen gesetzt, und zwischen den Neugierigen, die sich um den Spieltisch drängen, herrscht erwartungsvolles Schweigen. Reismann hat seine fünf Karten gelassen mit der Rückseite nach oben auf den Tisch gelegt. Stenesen hielt seine in der Hand. Er trinkt einen Schluck aus seinem Grogglas und grunzt; das ist der einzige Laut, den man von ihm am Spieltisch hört, daraus kann man keine Schlüsse ziehen.

In diesem Augenblick kommt der Oberkellner des Klubs, Halvar, herein, drängt sich bis zum Spieltisch durch und überreicht Reismann das hellblaue Kuvert.

»Es ist eilig,« sagt er.

Unter anderen Umständen hätte Reismann den Brief sicher erst geöffnet, wenn das Spiel entschieden wäre. Als er aber das blaue Kuvert sieht, fährt er zusammen, erbricht es, zieht eine blaue Karte heraus, etwas größer als eine Visitenkarte, und durchfliegt sie hastig. Darauf steht er, ohne ein Wort zu sagen, auf, verläßt den Spieltisch und geht hinaus. Alle Anwesenden machten die Beobachtung, daß weniger der Inhalt des Briefes als sein Erscheinen überhaupt ihn so aus der Fassung gebracht hatte.

Die Spannung am Spieltisch war ungeheuer, denn der Einsatz war sogar für diese Herren ungewöhnlich hoch. Reismann war an der Reihe, zu verdoppeln, und der Einsatz würde auf dreißigtausend Kronen steigen. Bargen seine fünf Karten, die auf dem Tisch lagen, dieses Vermögen?

Man hatte erwartet, daß Reismann sofort zurückkehren würde. Aber eine Viertelstunde verging, und er war noch nicht da. Der Grogkönig wurde furchtbar ungeduldig und grunzte geradezu drohend. Man rief nach Halvar.

Halvar kam.

»Herr Reismann ist fortgegangen,« sagte er.

Es gab einen Aufstand. Man wollte seinen eigenen Ohren nicht trauen.

»Er hat seinen Pelz angezogen und ist fortgegangen,« sagte Halvar erklärend. »Ich fragte ihn, ob er bald zurückkäme, aber darauf hat er gar nicht geantwortet.«

Nachdem noch eine Viertelstunde vergangen war, ohne daß Reismann etwas von sich hatte hören lassen, wurde der Spielinspektor des Klubs herbeigerufen. Nach kurzer Beratung wurde bestimmt, daß die Karten versiegelt werden sollten. Reismanns Karten, die Karten des Grogkönigs und die übrigen Karten wurden je in ein Kuvert getan und versiegelt, worauf alle drei Kuverts in den Geldschrank des Klubs eingeschlossen wurden.

Die Neugierde über den Ausgang des Spieles wurde an diesem Abend nicht befriedigt. Reismann kam nicht zurück. Nachts um zwei Uhr aber versuchte ein Herr, wie bereits gesagt, das seltsame Ereignis zu erklären.

»Frauenzimmergeschichten natürlich. Diese verfluchten Frauenzimmer!«

 

Der Maler Karl-Erich von Brakel

 

Wir kommen jetzt zu dem Nächsten, der von demselben Schicksal betroffen wurde: der schwedische Maler Karl-Erich von Brakel, dessen Ausstellung im mondänen Ausstellungslokal der Stadt teils heftigen Widerstand, teils tiefe Bewunderung erweckt hatte. Das umstrittenste Bild der Ausstellung war eine Riesenleinwand, die – ja, was stellte sie eigentlich vor? Man behauptete, daß das Bild den japanischen Admiral Togo vorstellte, der in blauem Pyjama zwischen zweitausend Ratten tanzte. Der Künstler hatte den Ratten eine ganz besonders sorgfältige Ausführung zuteil werden lassen und sich nur widerstrebend dazu überreden lassen, das Kunstwerk auszustellen, weil drei der Ratten noch nicht ganz fertig waren. Er war eigentlich mehr Franzose als Skandinavier, dunkel wie ein Provenzale. Ein langjähriger Aufenthalt im fernen Osten hatte seinem Wesen ein einnehmendes Phlegma und einen gewissen asiatischen Zynismus verliehen, während er gleichzeitig ein echter Vertreter des alten schwedischen Adels war, der durch Verfeinerung und Dekadenz die brutale Kraft der Vorfahren zu ersetzen versuchte. In dem einen Augenblick konnte er über ein unanständiges Wort erröten, während er im nächsten selbst eine Erzählung zum besten gab, bei der ein ganzes Coupé von Handelsreisenden in den Boden versank. Es war klar, daß er als Künstler ein Prophet für das Allerneueste in der Kunst werden mußte. Er versuchte, durch die Malerei ähnliche mystische Visionen wiederzugeben, wie ein Poe ihnen in seiner Dichtung Ausdruck gegeben hatte. Er trank viel und häufig, sein vornehmes Aeußere aber blieb von den plebejischen Wirkungen der Trunksucht unberührt. Bei dem obenerwähnten Mittagessen im Grand Hotel, in der Nacht zum 2. Dezember, war er Ehrengast.

Ein Uneingeweihter würde den Kreis von Herren, die um den reichbesetzten Tisch versammelt waren, sicher als eine sehr gemischte Gesellschaft bezeichnet haben. Sie umfaßte auch eine Menge Kontraste, vom Dichter Oxford bis hinunter zum Grogkönig Stenesen. Die Bekanntschaft des letzteren haben wir bereits gemacht. Was den Dichter Oxford betrifft, so war er fast nicht zu beschreiben – ein junger Geck, nordisch blond, so hell und luftig, daß er in der Landschaft fast unsichtbar wurde. Am besten konnte man ihn durch die Gegenstände charakterisieren, die er besaß oder die mit ihm in Verbindung standen. Wenn er in seinem lackglänzenden Auto lautlos dahinglitt, war er ein Pelzkragen und ein goldenes Armband, ein Band Swinburne in der Westentasche, ein Absinth, ein Browningrevolver, ein liebenswürdiges Lächeln, eine Fahrkarte erster Klasse nach Bombay und ein Korb Champagner. Außer ihm und dem schwerfälligen Grogkönig umfaßte die Gesellschaft eine ganze Reihe älterer und jüngerer Herren, Künstler und Kaufleute. Alle waren verschieden, jeder hatte seine Eigenheiten und Lebensanschauungen, und die verschiedenen Seelenstimmungen brachen sich wie die Farben in einem Spektrum. Und dennoch war die Gesellschaft homogen, denn alle Anwesenden gehörten zu der Sorte Menschen, die in einer Welt von Enge und Trübseligkeit dem Leben sorglose Seiten abzugewinnen versuchten.

Das Mittagessen war zu Ende. Der breite, geräumige, festlich geschmückte Tisch war dicht besetzt mit halbgeleerten Champagnerflaschen, braunen Zigarrenkisten, Zigaretten in silbernen Bechern und vielfarbigen Likörflaschen. Die Kellner gossen die letzten Tropfen aus den Kaffeekannen ein, und von Stenesens Platz erklang bereits das hitzige Zischen des ersten Whisky-Grogs. Das ist der vornehmste Augenblick bei einem Liebesmahl. Der Tisch scheint in einem Zwischenakt noch einmal vom Festbrausen widerzuhallen, während bereits neue Gläser und Flaschen eine kräftigere Melodie anstimmen. Die Unterhaltung bekommt durch den Auftakt gesteigerter Festfreude neuen Glanz, während alle unbewußt unter dem Einfluß des sorglosen Dahinlebens froher Stunden stehen. Niemals und nirgends empfindet man Freiheit so intensiv und bezaubernd, als wenn man sich vor der Fortsetzung eines frohen Festes ein wenig gehen läßt, bei der Aussicht auf eine ungestörte, behagliche Nacht, die die langsame Steigerung des Rausches mit sich bringen wird, und Genüsse, deren Eintreffen niemand bezweifelt und die die Menschen liebevoll gegeneinander stimmen.

Als von Brakel seine Berufung erhielt, war dies Ereignis durch nichts vorbereitet. Es herrschte allgemein ungetrübte Heiterkeit, an der von Brakel eifriger Teilnehmer war. Der Wirt, Herr Oxford, schwirrte in gehobener Champagnerstimmung herum. Ueber dieses Fest hatte er seit Tagen nachgedacht. Besonders hatte ein in Likör gebratener Fasan ihm Kopfzerbrechen gemacht. Als er aber sah, daß sich alles gut abgewickelt hatte, fühlte er sich erleichtert wie nach einer schwierigen Arbeit. Wenn er auf einem der glatten Lederstühle Platz nahm, glitt er immer so merkwürdig wieder herunter. Wenn er sich aber auf den Tisch setzte und gegen eine Jardiniere lehnte, die auf dem Tischtuch stand, fiel es kaum auf, denn er war so klein und zierlich, daß man ihn für einen Teil der Tischdekoration hielt.

An dem Tischende, wo der Grogkönig den stummen und unerschütterlichen Mittelpunkt bildete, wurde von dem Ereignis im »Freisinnigen Klub« vor zwei Tagen gesprochen. Die Partie, der hohe Einsatz, die versiegelten Karten bildeten den Brennpunkt des allgemeinen Interesses. Und das war bezeichnend dafür, wie wenig Aufsehen die Hauptsache, das Verschwinden von Direktor Reismann, eigentlich gemacht hatte. Man hatte ihn nicht wiedergesehen und kaum jemand hatte nach ihm gefragt. Man war an seine Extravaganzen gewöhnt. Er hätte eigentlich an dem Liebesmahl teilnehmen sollen, und mancher von den Gästen meinte, er würde wohl noch kommen.

Der Schriftsteller Eivind Oedegaard, der gern diskutierte und logische Vergleiche anstellte, sagte:

» Wenn die Sache einem anderen passiert wäre – meine Herren, wir alle kennen ja Reismann – wenn die Sache aber einem anderen passiert wäre, einem weniger extravaganten Menschen, dann könnte man sich folgendes vorstellen –«

Trotz der Vorbehaltenheit, die Oedegaard plötzlich an den Tag legte, wollte man seine Meinung gern hören, denn das kleinste Detail dieser geheimnisvollen Pokerpartie interessierte jeden einzelnen der Gesellschaft.

»Also,« fuhr Oedegaard schließlich fort und gestikulierte mit seinen langen Händen, »Reismann versucht zu bluffen, denn eigentlich hat er gar keine guten Karten. Er steigert den Einsatz auf fünftausend Kronen, in der Hoffnung, daß Stenesen seine Karten hinlegt oder Teilung vorschlägt. Stenesen aber verdoppelt das Spiel bis zu zehntausend. Sie müssen zugeben, meine Herren, daß das sogar heutzutage ein hoher Einsatz ist. Da, in dem spannendsten Augenblick kommt der Brief. Reismann legt seine Karten hin und verläßt das Spiel. Vielleicht hat er bei sich gedacht: Es ist eine günstige Gelegenheit, mich zu drücken und meine Zehntausend zu sparen; nachher behaupte ich, daß das Spiel nicht reell zu Ende geführt worden ist.«

Diese Worte riefen allgemeinen Protest heraus.

»Es ist ja nichts weiter als ein Gedankenexperiment von mir,« wandte Oedegaard ein. » Wenn –«

»Das ist Unsinn!« rief man ihm entgegen. »Es war ein ganz korrektes Spiel, das volle Gültigkeit hat. Die Karten sind versiegelt und werden im Klub verwahrt. Außerdem, wer sagt, daß Reismann nicht das Spiel in der Hand hatte?«

»Zugegeben. Vielleicht hat Stenesen geblufft. Welche Karten hattest du, Stenesen?«

Stenesen grunzte, nahm einen tiefen Schluck aus seinem Grogglas und lächelte.

»Das werde ich dir nur für dreißigtausend Kronen verraten,« sagte er.

Da geschah es, daß der Portier des Hotels ins Zimmer trat, sich über von Brakel beugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte.

»Ein Chauffeur,« murmelte er erstaunt. »Bringen Sie ihn her.«

»Er will Sie allein sprechen, Herr von Brakel,« sagte der Portier.

Von Brakel erhob sich, aufs äußerste verwundert, und verließ die Gesellschaft.

»Ihr sollt sehen, es ist Reismann,« bemerkte einer.

»Reismann? Weshalb sollte er nicht selbst hereinkommen?« wurde ihm erwidert.

Und damit wurde die lärmende Unterhaltung wieder aufgenommen.

Erst als von Brakel nach wenigen Minuten zur Gesellschaft zurückkehrte, zog er die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf sich.

Er stand plötzlich in der Tür, im Ulster, den Hut in der Hand.

Er war blaß und verwirrt.

»Meine Herren,« sagte er, »ich muß die Gesellschaft verlassen.«

Was war das? Es wurde ganz still um den Tisch herum. Das verstörte Aussehen des Malers machte einen starken Eindruck auf seine Freunde.

»Bist du krank?« fragte einer.

»Nein,« antwortete von Brakel stammelnd, »nein, ich –«

Er tastete mit der einen Hand nach seiner Rocktasche, als ob er seinen Freunden etwas zeigen wollte. Bedachte sich dann aber eines Besseren. Ganz geistesabwesend, als ob er schon weit fort sei, nickte er seinen Freunden zu und ging schnell seines Weges.

Sein Benehmen war so seltsam gewesen, daß die Freunde eine ganze Weile ratlos sitzenblieben.

Dann aber sprang einer auf und rief:

»Teufel noch eins, das müssen wir näher untersuchen.«

Er eilte hinaus. Von Brakel war schon fort.

Als er in die Halle kam, hörte er das Schnaufen eines Autos, das in Gang gesetzt wurde und davonfuhr.

»Die hatten's eilig,« sagte der Portier. »Sehen Sie, die Tür schwingt noch, eben ist er erst durchgegangen.«

»Was war denn eigentlich los?« fragte der Freund.

»Tja, was war los?« wiederholte der Portier. »Wissen Sie, was er sagte, als er durch die Tür eilte: ›Ich bin ein unglücklicher Mensch,‹ sagte er. Er sah ganz verstört aus. Ich möchte wissen, was in dem Brief gestanden hat.«

»Hat er einen Brief bekommen?« fragte der Freund.

»Ja,« antwortete der Portier, »er bekam einen Brief. Dort auf dem Teppich liegt noch das Kuvert.«

Es war ein hellblaues Kuvert.

 

Gespräch zwischen zwei Herren

 

Als der Freund zur Gesellschaft zurückkehrte, wurde er von einem Sturzbad von Fragen überschüttet: Was fehlte ihm? Kommt er nicht zurück? War es eine Frauenzimmergeschichte? War er krank?

Der Freund, dessen Name Doktor Ovesen war, einer der bekanntesten Aerzte der Stadt, wehrte alle Fragen mit einer kurzen Handbewegung ab.

»Von Brakel wird sicher im Laufe der Nacht zurückkehren,« sagte er.

»Daß der Ehrengast sich auf solche Weise absentiert?« bemerkte einer.

»Es schien eine sehr wichtige Angelegenheit zu sein,« meinte der Schriftsteller Oedegaard, »der Mensch sah ganz verstört aus. Er war blaß.«

»Ich glaube, er sagte etwas von einem wichtigen Telegramm aus Stockholm,« berichtete Doktor Ovesen. »Aber er drückte sich nicht klar aus, er hatte es so eilig.«

»Hast du ihn noch gesprochen?« fragte Oedegaard quer über den Tisch.

»Nur ganz kurz,« antwortete Doktor Ovesen. »Ich sollte ihn bei sämtlichen anwesenden Herren entschuldigen, er wollte so bald wie möglich zurückkommen.«

»Hat er sonst noch etwas gesagt?«

»Nein.«

»Der Ehrengast ist ein Rindvieh!« sagte Oedegaard mit Ueberzeugung.

Oedegaard scheint betrunken zu sein, dachte Doktor Ovesen und fixierte ihn scharf.

Indessen ließ man den Ehrengast Ehrengast sein und setzte die Unterhaltung fort. Die Mißstimmung war bald vorüber, nach einer halben Stunde fragte keiner mehr nach von Brakel.

Das hatte Doktor Ovesen vorausgesehen. Bereits in der Halle hatte er den Entschluß gefaßt, eine Erklärung über von Brakels Verschwinden zu geben, die niemand aus der Gesellschaft beunruhigen sollte. Vor allem wollte er den seltsamen Umstand mit dem hellblauen Kuvert geheimhalten, der ja direkt auf Reismanns Verschwinden vor zwei Tagen hinwies. Doktor Ovesen legte auch dem Portier unbedingtes Schweigen auf.

Doktor Ovesen war indessen das ganze Fest verdorben. Er konnte seine Gedanken nicht von Karl-Erich von Brakel losreißen. Er hatte das hellblaue Kuvert zu sich gesteckt und benutzte die erste Gelegenheit, um es näher zu betrachten. Es war ein viereckiges, hellblaues Kuvert von gewöhnlicher Größe. Die Aufschrift lautete: Herr von Brakel. Weiter nichts. Keine Adresse. Doktor Ovesen meinte, daß die Tinte mindestens zwei Stunden alt sein müsse. Die Schriftzüge waren steil und hart, ungewöhnlich hart, fand Doktor Ovesen. Die Buchstaben standen so steil und gezwungen, daß sie den Eindruck einer verstellten Handschrift machten.

Als die Uhr gegen drei geworden war, bemerkte Doktor Ovesen, daß einer der Gäste Miene machte, sich in aller Stille zurückzuziehen. Es war ein Herr in den Dreißigern, von energischem Aussehen, mit einem wettergebräunten und sympathischen Gesicht, ein Kapitän z. S. mit Namen Färden. Ovesen folgte ihm.

»Wollen Sie schon gehen, Herr Kapitän?«

Kapitän Färden hatte seinen Pelz über die eine Schulter gelegt. Er nickte. »Ich wohne hier im Hotel,« sagte er. »Ich brauche nur eine Treppe zu steigen. Es ist mir übrigens aufgefallen, daß Sie während der letzten Stunden so still gewesen sind. Ich bin auch etwas müde. Ein Schlummerpunsch oben auf meinem Zimmer würde uns vielleicht gut tun.«

»Ausgezeichnet!« sagte Doktor Ovesen. »Ich wollte Ihnen gerade etwas Aehnliches vorschlagen. Denn ich habe etwas Wichtiges mit Ihnen zu bereden.«

Kapitän Färden sah ihn erstaunt an.

»Mit mir?«

»Mißverstehen Sie mich nicht. Es betrifft nicht Sie persönlich, sondern einen unserer gemeinsamen Freunde. Es ist nur ein Zufall, daß ich mich vertrauensvoll an Sie und nicht an einen anderen wende. Ich kann es nicht verantworten, länger über die Sache zu schweigen. Ich glaube bestimmt, daß etwas sehr Ernstes geschehen ist.«

So leicht ließ Kapitän Färden sich nicht schrecken. Er öffnete eine neue Zigarrenkiste und bot Doktor Ovesen eine leichte delikate Holländer an, die er von seiner letzten Reise mitgebracht hatte. Während er die Whisky-Grogs mischte, sagte er:

»Sie rechnen Herrn von Brakel zu meinen Freunden?«

»Ja, und auch Reismann. Um diese beiden handelt es sich. Beide sind auf vollkommen rätselhafte Weise verschwunden, und es ist die Pflicht ihrer Freunde, ihnen zu Hilfe zu kommen, wenn sie in Gefahr sind.«

»Ich begreife, daß es etwas sehr Ernstes sein muß,« antwortete Kapitän Färden, indem er Doktor Ovesen gegenüber am Tisch Platz nahm, »denn Sie achten nicht einmal auf die Güte der Zigarre, was doch sonst Ihre Spezialität ist. Was war es übrigens mit von Brakel? Ein Telegramm aus Stockholm, nicht wahr?«

»Nein, ich habe ihn gar nicht mehr gesprochen. Es war eine Notlüge, die ich mir ausgedacht hatte, weil ich die Gesellschaft nicht stören wollte. Von Brakel ist fortgegangen, ohne einen Bescheid zu hinterlassen. Der Portier aber hat ihn sagen hören, daß er ein unglücklicher Mensch sei – oder etwas Aehnliches. Er hatte einen Brief bekommen.«

Bei diesen Worten zog Doktor Ovesen das hellblaue Kuvert aus der Tasche. Beim Anblick desselben sprang der Kapitän auf.

»Er auch?« rief er. »Die Herren hier in Christiania scheinen mir etwas exzentrisch zu sein! Das Kuvert ist leer. Was hat in dem Brief gestanden?«

»Ja, wer wüßte, was in diesen verfluchten Briefen steht. Ich habe nur das leere Kuvert gefunden, das von Brakel auf der Treppe verloren hat.«

»Hatte Direktor Reismann einen ebensolchen Brief bekommen?«

»Genau ebensolchen. Ich war im Freisinnigen Klub zugegen, als er ihn bekam. Und ich will Ihnen gestehen, mein lieber Kapitän, daß ich bereits seit gestern vormittag wegen Reismann in großer Sorge bin.«

»Haben Sie besondere Ursache dazu?«

Doktor Ovesen lehnte sich in den Stuhl zurück und legte umständlich seine Handflächen gegeneinander, wie es seine Gewohnheit war, wenn er ein medizinisches Gutachten abgab.

»Ich bin nicht nur Direktor Reismanns Arzt,« begann er, »ich bin auch, wie Sie wissen, sein langjähriger Freund, und außerdem stehe ich in Geschäftsverbindung mit ihm. So bin ich z.B. in der Direktion des Etablissements »Die blaue Eule«. Reismann ist ja in mancher Beziehung eine Künstlernatur. Er hat Boheme-Blut in sich und extravagiert hin und wieder gern etwas. Nichtsdestoweniger aber wurzelt er doch im Bürgerlichen, besonders in geschäftlichen Dingen pflegt er auf dem Posten zu sein. Es ist schon früher vorgekommen, daß er einen sogenannten ›Streifzug‹ unternommen hat, aber nicht ohne Sorge zu tragen, daß er mit seinem Bureau in Verbindung blieb. Diesmal aber hat er nichts Derartiges vorgesehen, und ich muß sagen, daß seine Geschäfte unter seiner Abwesenheit gelitten haben. Ich habe getan, was ich konnte, aber meine Zeit ist knapp, und natürlich konnte ich ihn nicht ersetzen. Was mich besonders beunruhigt, ist, daß die große Wohltätigkeitsvorstellung, bei der er der Hauptmacher ist, ins Wasser zu fallen droht. Sie haben wohl in den Zeitungen gelesen, daß »Die blaue Eule« in einigen Tagen eine Weihnachtsvorstellung geben wird. Reismann hat sich außerordentlich dafür interessiert, und ich weiß, daß er seine Ehre darein setzt, sie so erfolgreich wie möglich zu gestalten. Jetzt droht seine plötzliche Abwesenheit das Ganze über den Haufen zu werfen. Jeder Tag, ja, jede Stunde ist kostbar. Ich bin überzeugt, daß Reismann alles daran setzt, um zu seiner Tätigkeit zurückzukehren. Wenn er nicht kommt, bedeutet es nicht mehr und nicht weniger, als daß jemand ihn daran hindert. Jemand, der stärker ist als er.«

»Frauenzimmergeschichten?« fiel Kapitän Färden ein, indem er sich der Bemerkung des Freundes von neulich abend erinnerte.

»Unsinn!« rief Doktor Ovesen. »Reismann ist kein Jüngling mehr. Nein, ich glaube, daß er sich in einer schwierigen Lage befindet, daß er außerstande ist, sich mit seinen Freunden in Verbindung zu setzen. Keiner von ihnen hat eine Mitteilung von ihm bekommen, ebensowenig sein Geschäft und seine Privatwohnung. Vielleicht ruft er in diesem Augenblick um Hilfe. Wir können uns nicht länger passiv verhalten.«

Der Kapitän überlegte. Augenscheinlich war jetzt auch er von dem Ernst dieses besorgniserregenden Ereignisses überzeugt.

»Warum aber hat er die Gesellschaft verlassen?« fragte er. »Das begreife ich nicht. Warum?«

Doktor Ovesen schlug mit der Faust auf das blaue Kuvert.

»Wenn man wüßte, was in dem Brief gestanden hat,« sagte er.

Der Kapitän schüttelte ratlos den Kopf.

»Mein Verstand steht still,« sagte er. »Wir befinden uns doch glücklicherweise nicht zwischen Verschwörern und heimlichen Verbindungen. Wir sind nicht in dem unterirdischen Rußland oder zwischen irländischen Revolutionären. Sind sonst noch hier in der Stadt ähnliche lichtscheue und geheimnisvolle Dinge vorgekommen?«

»Nicht, daß ich wüßte. Außerdem gehören ja beide Herren einer bürgerlichen, wenn auch ein wenig bohemegefärbten Klasse an, deren Interessen und Leben für einen jeden offen daliegen. Beachten Sie den Fall von Brakel. Den ganzen Abend ist er die Sorglosigkeit in Person. Plötzlich bekommt er diesen Brief und ist im selben Augenblick wie verwandelt, stürzt Hals über Kopf davon, ohne seinen besten Freunden eine Erklärung zu geben.«

Der Doktor sah auf seine Uhr.

»Die Uhr ist vier,« sagte er, »mit jeder Stunde, die vergeht, werde ich besorgter. Von Brakel wohnt im Hotel Savoy, Zimmer Nr. 17. Vielleicht können wir dort eine Spur finden. Kommen Sie mit?«

»Ich komme mit,« sagte der Kapitän.

 

Ein dritter Herr

 

Als die Herren in die Halle kamen, hörten sie, wie im ersten Stockwerk, wo das Fest stattfand, gelärmt wurde. Es war offenbar noch immer im vollen Gange. Um keine unnötigen Erklärungen abgeben zu müssen, beschlossen die Herren, daß sie sich unbemerkt aus dem Hotel schleichen wollten. Unten beim Portier aber stießen sie auf den Schriftsteller Oedegaard, der gerade im Begriff war, fortzugehen.

Sie kamen überein, daß sie ihn zu Rate ziehen wollten. Der Schriftsteller Oedegaard war ein praktischer und gerissener Mensch, der gerade in solchen Dingen von großem Nutzen sein konnte. Außerdem war er Romantiker genug, um das Seltsame und Mystische dieser Sache richtig aufzufassen.

Während die Herren sich für einige Augenblicke auf den weichen Sesseln des Lesezimmers niederließen, wurde Oedegaard in die Affäre eingeweiht. Oedegaard nahm die Sache noch ernster, als Doktor Ovesen erwartet hatte.

»Was Direktor Reismann betrifft,« sagte er, »so wäre es denkbar, daß er Feinde hat, die ihm schaden wollen. Reismann ist ja geschäftlich ein Draufgänger und nicht immer sehr rücksichtsvoll in der Wahl seiner Mittel. Wer aber dem liebenswürdigen und vornehmen Künstler von Brakel Uebles will, das begreife ich nicht. Ich bin fast täglich mit ihm zusammen gewesen, seit er seiner Ausstellung wegen hier ist, und soweit ich weiß, hat er sich nur Freunde erworben. Ich bin überzeugt, daß es keinen Menschen in ganz Christiania gibt, der ihm etwas Böses antun will. Im übrigen ist er die ganze Zeit die Sorglosigkeit in Person gewesen und hat nur an sein Vergnügen gedacht. Wie das mit seiner Bemerkung: Ich bin ein unglücklicher Mensch! zusammenhängt, das begreife ich wahrlich nicht. Das muß ganz plötzlich gekommen sein.«

»Sehr richtig,« bemerkte Doktor Ovesen. »Es muß in dem Augenblick gekommen sein, als er sich vom Tisch erhob, oder noch näher bezeichnet, in dem Augenblick, als er den Brief las. Dasselbe Schreiben, das Reismanns Verschwinden veranlaßte, hat auch von Brakel die Furcht vor einem Unglück eingegeben.«

Oedegaard schlug mit der Faust auf die gepolsterte Armlehne.

»Zum Donnerwetter!« rief er. »Was hat in diesen verfluchten Briefen gestanden? Tja, Sie lächeln ganz ratlos, Doktor Ovesen, Sie müssen aber doch zugeben, daß wir hier in unserer kleinen friedlichen Hauptstadt nicht auf derartige sensationelle und mystische Ereignisse eingestellt sind. Besonders auffallend ist, daß weder Reismann, noch von Brakel ihren Freunden den Inhalt der Briefe mitgeteilt haben. Was auch in den blauen Billetten gestanden haben mag, so haben die Adressaten sich jedenfalls gezwungen gesehen, dem Ruf unverzüglich Folge zu leisten. Mit anderen Worten, wenn die Mitteilung unerwartet gekommen ist, so war sie jedenfalls nicht unbegreiflich. Das kann man jetzt schon feststellen. Beide Briefempfänger sind sich sofort darüber klar gewesen, daß es sich um etwas ungewöhnlich Ernstes handelte. Darum haben auch wir, meine Herren, allen Grund, die Sache aufs ernsteste zu betrachten, und wenn wir der Ansicht sind, daß unsere Freunde der Hilfe bedürfen, können wir keinen Augenblick länger zögern.«

Derselben Ansicht waren auch Doktor Ovesen und Kapitän Färden – und Doktor Ovesen erhob sich bereits ungeduldig.

»Lassen Sie uns sogleich aufbrechen,« sagte er.

»Wohin?« fragte Oedegaard.

»Wir wollen uns zu von Brakels Hotel begeben, Savoy, bei der Tordenskjoldsgade. Vielleicht können wir dort etwas erfahren.«

»Er hat Zimmer Nr. 17,« sagte Oedegaard, »mit Telephon. Wollen wir nicht erst anrufen? Es wäre doch immerhin möglich, daß er schon zurückgekehrt ist.«

Oedegaard trat an einen großen Mahagonitisch, wo die Apparate standen, und nahm den Hörer. Als er Verbindung mit dem Nachtportier des Savoy-Hotels bekommen hatte, hörten die beiden Herren ihn sagen:

»Ist von Brakel zu Hause? ... Nicht ... Wann? ... Vor zwei Stunden ... Also ungefähr um zwei Uhr ... Er kam in einem Auto und fuhr mit demselben Auto weiter? ... Hat er nichts hinterlassen? ... Nichts ... Er hatte es sehr eilig? ... Wir kommen gleich ins Hotel, in einer sehr wichtigen Angelegenheit.«

»Er ist im Hotel gewesen,« erklärte Oedegaard. »Er war zwei oder drei Minuten oben auf seinem Zimmer und eilte dann wieder fort. Ich bin im Hotel bekannt, und Sie ja übrigens auch, Doktor Ovesen. Der Nachtportier wird uns ohne Schwierigkeiten einlassen. Vielleicht finden wir etwas, das uns Aufklärung bringt ... Uebrigens, hallo, Jonassen!« rief er. »Jonassen!«

Der Portier kam aus seiner Loge.

»Sie sprachen ja den Chauffeur, der den Brief für Herrn von Brakel brachte?«

»Ja, ich holte Herrn von Brakel heraus.«

»Kannten Sie den Chauffeur?«

»Nein, ich hatte ihn noch nie gesehen. Erinnere mich seiner jedenfalls nicht.«

»War es ein Privatchauffeur oder ein Taxameterchauffeur?«

»Offenbar ein Taxameterchauffeur.«

»Haben Sie auf die Nummer des Autos geachtet?«

»Nein, ich war gar nicht auf der Straße. Herr von Brakel hatte solch große Eile. Ist etwas geschehen?«

»Nichts Besonderes,« sagte Oedegaard und fügte hinzu, indem er zu den Festräumen hinaufzeigte, »wenn einer von den Gästen dort oben fragen sollte, dann haben Sie nichts gesehen und gehört, verstehen Sie, Jonassen?«

»Ich verstehe.«

Der Weg vom Grand-Hotel zum Savoy-Hotel war nicht weiter, als daß die Herren ihn bequem in wenigen Minuten zurücklegen konnten. Im Hotel stießen sie auf keine Schwierigkeiten, sondern wurden ohne weiteres auf von Brakels Zimmer geführt.

Als sie ins Zimmer traten, bot sich ihnen ein Anblick, bei dem sie wie versteinert stehenblieben. Der Nachtportier, der sie hinaufbegleitet hatte, rief erstaunt:

»Mein Gott, hier sieht es ja aus, als ob eingebrochen worden wäre!«

»Das müßten Sie doch wissen,« sagte Oedegaard, »sind in von Brakels Abwesenheit Fremde hier gewesen?«

Der alte Nachtportier schüttelte bestimmt seinen grauen Kopf.

»Nein,« sagte er, »das ist unmöglich. Niemand kann an meiner Loge vorbeigehen, ohne daß ich ihn sehe, und ich bin die ganze Zeit wach gewesen. Da das Zimmer im dritten Stock liegt, kann auch niemand durchs Fenster gekommen sein. Nein, dies muß Herr von Brakel selbst angestellt haben.«

»Er selbst?«

»Ich will Ihnen nämlich sagen, meine Herren, ich stelle ihm jeden Abend eine Flasche Apollinaris aufs Zimmer, bevor er nach Hause kommt. Da ich nun wußte, daß er heute spät nach Hause kommen würde, ging ich erst gegen halb zwei mit der Flasche hinauf, und da war das Zimmer in schönster Ordnung. Später aber ist Herr von Brakel hier gewesen, und sehen Sie nur, wie es jetzt hier aussieht! Das ist ja entsetzlich!«

Der ordnungsliebende Nachtportier wolle gleich Ordnung in die Verwirrung bringen, Oedegaard aber hielt ihn zurück.

»Rühren Sie noch nichts an.«

Das Zimmer sah zum Erschrecken aus.

Von Brakels Koffer standen offen und ihr Inhalt: Anzüge, Toilettesachen, Kragen, Schlipse, Bücher, lagen auf Tisch, Teppich, Sofa wild durcheinander. Ein Stuhl war umgeworfen. Die Wasserkaraffe lag zerbrochen auf dem Fußboden. Das Tintenfaß auf dem Schreibtisch war umgeworfen und die übrigen Schreibsachen lagen auf der Erde. Schubfächer standen offen, Papierfetzen lagen umher, und in der offenstehenden Ofentür sah man halbverkohlte Briefreste.

Der Zustand des Zimmers schien besonders auf Doktor Ovesen einen beunruhigenden Eindruck zu machen. »Hier muß ein Kampf stattgefunden haben,« sagte er ernst.

»Oder,« fügte Oedegaard hinzu, »jemand scheint eine Hausuntersuchung gefürchtet zu haben und hat in fliegender Eile kompromittierende Dokumente in Sicherheit bringen wollen. Wenn von Brakel diesen Zustand selbst verschuldet hat, muß er etwas gefürchtet und große Eile gehabt haben. Ohne Zweifel, es war von Brakel selbst. Was in aller Welt aber kann er gefürchtet haben?«

Oedegaard sah nach seiner Uhr.

»Noch ist es Zeit,« sagte er. »Mein lieber Nachtportier, Sie müssen mir einen Gefallen tun. Erst aber telephonieren Sie nach einem Auto, wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Oedegaard setzte sich an den Schreibtisch und warf hastig einige Zeilen auf ein Stück Papier.

 

Der Dritte

 

»Die Zeitung wird diese Notiz noch aufnehmen können,« sagte er. »Die Redaktion ist allerdings geschlossen, aber ich werde es selbst in die Druckerei bringen.«

Er las vor, was er geschrieben hatte:

 

» Große Belohnung!
In der Nacht zum 29. November, um ein Uhr, wurde ein Herr im Freisinnigen Klub von einem Automobil abgeholt, nachdem der Chauffeur einen Brief in einem hellblauen Kuvert abgegeben hatte. In der Nacht zum 3. Dezember wurde ein Herr auf ähnliche Weise von einer festlichen Zusammenkunft im Grand Hotel fortgeholt, nachdem der Chauffeur auch ihm ein hellblaues Kuvert ausgehändigt hatte. Der fragliche Chauffeur bekommt eine große Belohnung, wenn er sich bei der Redaktion der Zeitung meldet.«

 

»Morgen liest alle Welt diese Notiz in der Zeitung,« fuhr Oedegaard fort, »daß sie an auffälliger Stelle zu stehen kommt, dafür werde ich sorgen. Es wird eine Sensation geben. Alle Zeitungen werden die Sache aufnehmen, alle Menschen werden sich dafür interessieren, und es müßte seltsam zugehen, wenn in einer Stadt mit so durchsichtigen Verhältnissen das Rätsel nicht bald seine Lösung findet.«

Doktor Ovesen hatte indessen Bedenken.

»Ist es nicht gewagt, die Sache an die Oeffentlichkeit zu bringen?« meinte er. »Damit müßte man vielleicht noch warten.«

»Das kommt auf die Auffassung an,« sagte Oedegaard. »Meinen wir, daß unsere Freunde in Gefahr sind, dann ist es unsere Pflicht, nicht eine Sekunde länger zu zögern, sondern alles in Bewegung zu setzen, um ihnen zu Hilfe zu kommen. Sind wir dieser Meinung?«

Doktor Ovesen schwankte.

»Ich bin Arzt,« sagte er, »und Sensation und Zeitungsklatsch sind mir zuwider. Andererseits muß ich zugeben, daß die Sache ernst ist. Lassen Sie also die Notiz einrücken.«

»Schön,« rief Oedegaard, »in einer halben Stunde bin ich wieder hier. Ich höre das Auto unten. Ich bitte die Herren, solange auf mich zu warten.«

»Brauchen Sie eine halbe Stunde?« fiel Kapitän Färden ein. »Die Zeitungsdruckerei liegt ja nur einige Minuten von hier.«

»Ich muß auch noch irgendwoanders hin,« sagte Oedegaard – er stand bereits in der Tür – »zum Donnerwetter, ich muß doch Hilfe herbeischaffen.«

»Hilfe? Bei wem?«

»Vielleicht auf der Polizei?« fragte Färden.

»Hu, die Polizei!« rief Ovesen. »Die Sache fängt an, unheimlich zu werden.«

»Ich bin der Ansicht, daß wir die Polizei vorläufig nicht benachrichtigen wollen,« meinte Oedegaard, »aber ich kenne einen Mann, der uns in dieser mystischen Sache von großem Nutzen sein kann. Ihn will ich holen. Auf Wiedersehen in einer halben Stunde, meine Herren.«

In Oedegaards Abwesenheit ergingen die beiden Herren sich in Vermutungen über den Zusammenhang dieser merkwürdigen Affäre. Der Zustand in von Brakels Zimmer hatte Doktor Ovesens Gemütszustand noch verschlimmert, und Oedegaards Eifer hatte ihn stark beunruhigt. Auf Oedegaards dringendes Anraten hütete er sich wohl, etwas an dem Aussehen des Zimmers zu ändern. Mit einem flüchtigen Blick konnte er sich überzeugen, daß von Brakel kein Gepäck mit sich genommen hatte. Das stimmte auch mit der Aussage des Nachtportiers überein. Was aber konnte die Veranlassung zu von Brakels überstürztem Besuch in dem Zimmer sein? Wollte er nur Papiere vernichten? Aber aus welchem Grunde?

Plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihm so komisch erschien, daß er laut lachen mußte.

»Wenn wir nicht in dem unschuldigen und ereignisarmen Christiania wären,« sagte er, »wenn wir uns zum Beispiel in Rußland befänden, dann könnte ich mir eine glaubwürdige Lösung des Rätsels denken.«

Färden sah ihn fragend an.

Doktor Ovesen fuhr fort: »Diese plötzliche nächtliche Mitteilung, dieses hastige Verschwinden, diese zerrissenen Papiere, sieht das nicht wie die Verhaftung eines Revolutionärs aus?«

Kapitän Färden sah seinen Freund verwundert an.

»Ich muß sagen, lieber Doktor, daß Ihr Scharfsinn in kriminalistischen Dingen mir nicht imponiert. Glauben Sie, daß man einem Arrestanten Zeit nach der Verhaftung läßt, seine kompromittierenden Papiere beiseitezuschaffen?«

Der Kapitän zeigte auf die zerrissenen und halbverkohlten Papiere.

»Und außerdem verhaftet man Leute nicht mit solchen romantischen blauen Briefen. Warum auch sollten unsere Freunde verhaftet werden? Man verhaftet doch keinen Maler, weil er futuristische Bilder malt? Leider, möchte ich sagen. Nein, lieber Doktor, Sie müssen sich etwas anderes ausdenken.«

Ovesen ließ sich ärgerlich ins Sofa fallen und faßte sich an den Kopf. »Ich kann keine andere Erklärung finden,« sagte er, »die Sache bringt mich zur Verzweiflung. Wo bleibt nur Oedegaard? Die halbe Stunde muß doch um sein! Ah, da ist er endlich!«

Ein fast unmerkliches Beben des Zimmers deutete an, daß der Fahrstuhl im Gange war. Er machte ganz richtig im dritten Stockwerk halt. Als die Tür des Liftes rasselnd geöffnet und geschlossen worden war, hörten sie eine Stimme sagen:

»Welche Zimmernummer?«

»Nummer 17. Diesen Weg, mein Herr,« sagte der Nachtportier.

»Das ist nicht Oedegaard,« sagte Doktor Ovesen erstaunt. »Diese Stimme kenne ich nicht.«

Beide Freunde blickten in gespannter Erwartung zur Tür.

Der Eintretende war ihnen vollkommen unbekannt.

Sie erhoben sich und verbeugten sich kühl. Das Erscheinen des unerwarteten Fremden verwirrte sie.

Der Eintretende war ungefähr vierzig Jahre alt, groß und mager, mit einem markanten, glattrasierten Gesicht. Als er seinen Hut abnahm, entblößte er eine Glatze, das Haar an den Schläfen war leicht ergraut. Er entledigte sich seines Ueberziehers und legte ihn mit dem Hut auf einen Stuhl neben der Tür. Er trug einen dunklen Jackettanzug, ein gestreiftes Hemd mit weichen Manschetten und einen Schlips, der von einer dünnen Goldnadel zusammengehalten wurde. Seine ganze Erscheinung hatte etwas Elegantes und Sportsmäßiges. Er trat auf die beiden Herren zu und redete sie mit einer gewissen freimütigen Freundlichkeit an.

»Herr Doktor Ovesen,« sagte er. »Sie kenne ich von Ansehen. Aber Sie, mein Herr, sind mir unbekannt. Mein Name ist Asbjörn Krag.«

Man stellte sich vor, die beiden Freunde aber blieben schweigsam, hauptsächlich, weil sie sich das plötzliche und unerwartete Erscheinen des bekannten Detektivs nicht erklären konnten.

»Es scheint, daß man mich nicht erwartet hat,« sagte Krag, »und dennoch erwarten die Herren offenbar jemanden.«

»Wir warten auf unseren Freund, den Schriftsteller Oedegaard,« erklärte Ovesen.

»Ah, ja, ja. Er rief vor einer halben Stunde bei mir an. Er wollte noch eine Notiz über zwei verschwundene Herren in die Redaktion der Zeitung bringen.«

»Also sind Sie es, der uns helfen soll?«

»Es sieht fast so aus,« sagte Asbjörn Krag lächelnd.

Er blickte sich in dem verwüsteten Zimmer um.

»Nummer 17,« fügte er hinzu. »Ich sah unten im Vorbeigeben auf der Fremdentafel, daß dieses Zimmer von dem Maler von Brakel bewohnt wird. Er ist also der Verschwundene?«

»Ja, von Brakel ist der eine.«

»Wer ist denn der dritte?«

»Der dritte!« rief Doktor Ovesen. »Glücklicherweise sind es nicht mehr als zwei. Außer von Brakel ist nur noch der Direktor der ›Blauen Eule‹, Herr Reismann, verschwunden.«

»Aha! Ja, den kenne ich auch.«

»Sie sprachen von einem dritten,« sagte Doktor Ovesen. »Sie haben mir einen ordentlichen Schreck eingejagt.«

»Ja,« sagte Asbjörn Krag, »es ist wirklich ein dritter auf dieselbe Weise verschwunden.«

»Wer? Wer?« riefen beide Herren wie aus einem Munde.

»Der Schriftsteller Oedegaard ist vor zwanzig Minuten verschwunden,« antwortete Krag, »nachdem er einen Brief in einem hellblauen Kuvert empfangen hatte. Es war in meinem Hause. Und auf Ehre, meine Herren, ich weiß nicht, wo er sich befindet.«

 

Der Schriftsteller Eivind Oedegaard

 

Asbjörn Krag machte einen etwas theatralischen Eindruck, als er nach diesen Worten mit der Hand ausschlug, als ob er einen Unglücksfall bedauerte. Doktor Ovesen starrte ihn wie verhext an. Kapitän Färden hatte sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten, abwartend und neugierig; jetzt aber sah man seiner gespannten Miene an, daß er auf »hartes Wetter« gefaßt war. Doktor Ovesen kreuzte die Arme, und lächelnd, als ob er einen guten Witz genösse, sagte er zu Krag:

»Sprechen Sie von dem Verfasser Eivind Oedegaard, der sich vor einer Stunde hier aufhielt? Hier, in diesem Zimmer. Hier

Er zeigte demonstrativ mit seinem langen Zeigefinger auf den Fußboden.

»Derselbe,« antwortete Krag. »Ich spreche von dem Schriftsteller Oedegaard. Soviel ich weiß, gibt es nur einen dieses Namens.«

»Ha! Ha! Ha!«

Doktor Ovesen lachte laut und nervös. Dann wurde er plötzlich still und sank in einen Sessel. Legte darauf die Handflächen gegeneinander, wie er bei wichtigen Konsultationen zu tun pflegte, und sagte kalt und abweisend:

»Tja, er wird wohl bald wieder hier sein.«

Krag nahm Doktor Ovesen gegenüber Platz, beugte sich vor und fragte:

»Wen meinen Sie?«

»Ich spreche von unserem Freund, dem Schriftsteller Oedegaard. Wir erwarten ihn.«

»Und ich spreche auch von ihm,« antwortete Krag. »Seien Sie überzeugt, daß er nicht kommt. Er ist verschwunden. Er ist genau auf dieselbe Weise wie die anderen verschwunden.«

Doktor Ovesen erhob sich, rot und erbittert.

»Mein Herr,« rief er mit bebender Stimme, »wissen Sie, wieviel die Uhr ist? Es ist sechs Uhr und noch zu früh am Morgen, um schlechte Witze zu verdauen. Außerdem bin ich Arzt und liebe solche Scherze nicht.«

Krag warf einen bittenden Blick auf Kapitän Färden, wie um seine Hilfe anzurufen, und Färden schritt auch gleich ein, um seinen aufgeregten Freund zu beruhigen.

»Ich finde, wir sollten Herrn Krag Gelegenheit geben, sich näher zu erklären,« sagte er. »Hier sind ja bereits so seltsame Dinge vorgefallen, daß ein mysteriöser Fall mehr oder weniger uns nicht in Erstaunen zu setzen braucht.«

Doktor Ovesen ließ sich von Färdens Worten beruhigen, drückte indessen durch seine Haltung aus, daß er dieser ganz unnötigen und wertlosen Zeitverschwendung nur mit äußerster Ungeduld begegnete.

»Als Herr Oedegaard uns verließ,« erklärte Doktor Ovesen, »wollte er sich zuerst zu seiner Zeitung begeben, um eine Notiz über die verschwundenen Herren aufzugeben. Darauf wollte er sich an einen Freund wenden, von dem er annahm, daß er uns in dieser mystischen Angelegenheit von großem Nutzen sein könnte. Darf ich davon ausgehen, daß Sie dieser hilfreiche Freund sind?«

»Es kann kein anderer sein,« antwortete Krag ernst.

»Ha, ha! Entschuldigen Sie, daß ich lache. Oedegaard sucht Sie auf, damit Sie uns beim Suchen nach unseren verschwundenen Freunden helfen. Und das erste, was Sie tun, ist, Oedegaard auch verschwinden zu lassen. Ich habe viel Vorteilhaftes von Ihnen gehört, mein Herr, aber Sie werden es mir nicht verübeln, daß diese Einführung mich etwas mißtrauisch macht. Außerdem erwähnten Sie einen hellblauen Brief. Sie scheinen die Sache also zu kennen. Woher wissen Sie das Geheimnis von den hellblauen Kuverts? Ich gebe zu, daß ich auf Oedegaards Ernsthaftigkeit nicht allzu fest baue, Schriftsteller und Dichter sind ja unberechenbar; wenn Sie sich die ganze Sache aber als einen prächtigen Witz ausgedacht haben, dann möchte ich ...

Asbjörn Krag hatte sich während Doktor Ovesens beleidigter Rede vorgebeugt und einen Papierfetzen nach dem anderen vom Fußboden aufgesucht. Jetzt unterbrach er plötzlich den Sprechenden.

»Wir wollen die Zeit nicht unnütz vergeuden,« sagte er. »Durch ein Telephongespräch wurde ich in die Hauptpunkte der Sache eingeweiht. Um Sie zu beruhigen, will ich nun berichten, wie es mit Oedegaards Verschwinden zusammenhängt. Anstatt Ihrem Abscheu über Scherze Ausdruck zu geben, sollten Sie lieber bedenken, daß es sich hier um das Wohlergehen mehrerer guter Freunde handelt.«

Kapitän Färden unterstützte Krag durch eine Bemerkung. Doktor Ovesen schwieg und zündete sich eine Zigarette an, um sich zu beruhigen.

Krag fuhr fort:

»Vor einer Stunde wurde ich durch den telephonischen Anruf von Oedegaard geweckt. Da es um die Stunde war, wo ich aufzustehen pflege, war ich gleich wach. Oedegaard befand sich in der Druckerei der Zeitung und hatte gerade durchgesetzt, daß die Notiz, die die Herren sicher kennen, in der Morgennummer stehen sollte. Er las mir die Notiz vor, und als ich erfuhr, daß sie an hervorragender Stelle in der redaktionellen Abteilung seiner eigenen Zeitung stehen sollte, wurde ich sehr interessiert, denn ich begriff, daß es sich um etwas Ernstes handeln mußte.«

»Kurz und gut, meine Herren,« fuhr der Detektiv fort, »ich bat ihn um nähere Aufklärung, und er teilte mir durchs Telephon die Hauptpunkte mit. Direktor Reismanns Verschwinden war mir bereits bekannt. Ich bin selbst Mitglied des Freisinnigen Klubs und als ich dort gestern zu Mittag aß, erfuhr ich von dem Ereignis. Doch legte man der Sache kein sonderliches Gewicht bei. Erst nach von Brakels und mehr noch nach Oedegaards Verschwinden bekommt dieses Ereignis ein ernstes Gesicht. Oedegaard erzählte mir durchs Telephon von den hellblauen Briefen. Solche romantische Nebenumstände pflegen auf mich keinen Eindruck zu machen. Ich weiß aus Erfahrung, daß eine Sache allein dadurch mystisch werden kann, daß Leute, die die näheren Umstände nicht kennen, sich an besondere Phänomene halten, ohne sie im Zusammenhang mit dem übrigen zu sehen. Wenn es uns geglückt ist, diese Sache aufzuklären, wird es sich zeigen, daß es auch mit diesen hellblauen Briefen nichts weiter auf sich gehabt hat. Ich war anfangs geneigt, Oedegaard zu raten, daß er die ganze Sache auf sich beruhen lassen sollte. Als ich aber hörte, daß man dieses Zimmer von oben nach unten gekehrt hatte, bekam ich eine Ahnung, daß hinter dem scheinbar Burlesken sich vielleicht doch etwas Ernstes, vielleicht sogar eine Tragödie verbarg. Darum sagte ich Oedegaard, er solle mich gleich abholen, ich würde mich in der Zwischenzeit ankleiden. Als ich fertig war, öffnete ich die Haustür. Ich wohne im vierten Stockwerk, kann aber die Haustür vermittels einer elektrischen Leitung öffnen.

Da hörte ich ein Auto kommen. Ich öffnete das Fenster und sah hinaus. Es war noch ganz dunkel, im Schein des weißen Schnees aber konnte ich sehen, daß nicht ein, sondern zwei Autos vor meinem Hause hielten. Ein großer Herr im Ueberzieher, in dem ich Oedegaard zu erkennen meinte, verhandelte mit einem der Chauffeure. Ich rief hinunter:

›Bist du es, Oedegaard?‹

Der Mann blickte nach oben und antwortete:

›Ja, ich komme gleich. Wirf den Schlüssel herunter.‹

Ich erkannte ihn. Es war Oedegaard. Ich rief zurück:

›Die Tür ist offen. Ich werde die Treppenbeleuchtung andrehen.‹

Damit ging ich ins Treppenhaus und zündete das elektrische Licht an. Ich hörte ihn durch die Haustür gehen und sah auch den Schatten seiner langen Gestalt zwischen dem Treppengeländer. Ich rief wieder zu ihm hinunter:

›Nimm den Fahrstuhl! Ich warte hier.‹

›Ja,‹ antwortete er eifrig.

Ich erkannte seine Stimme.

Dann begann der Fahrstuhl nach oben zu steigen, ich konnte seinem Gang durch die roten Lichter folgen, die sich auf der Tafel zeigten. Was aber geschieht, meine Herren? Zwischen dem zweiten und dritten Stockwerk macht der Fahrstuhl plötzlich halt. Oedegaard hat auf den Knopf gedrückt. Darauf fährt er wieder nach unten und bleibt beim zweiten Stockwerk stehen. Ich höre, daß die Fahrstuhltür geöffnet wird und daß er den Fahrstuhl verläßt. Ich kann seinen Schatten zwischen dem Treppengeländer sehen.«

 

Von Brakels Wäscherechnung

 

Der Detektiv fährt fort:

»Ich rufe ihm wieder zu: ›Zum Teufel noch eins, wo gehst du hin? Ich wohne doch nicht unten, sondern in der vierten Etage.‹ Er antwortete nur: ›Ich komme gleich.‹

Ich wartete vielleicht eine Minute.

Da wird es mir klar, meine Herren, daß er nicht allein ist, er spricht mit jemandem vor der Fahrstuhltür. Ich höre ein flüsterndes Gespräch. Darauf fällt die Fahrstuhltür rasselnd zu und der Fahrstuhl setzt sich von neuem in Bewegung. Ich bin natürlich aufs äußerste erstaunt, als ich an den roten Signallichtern sehe, daß der Fahrstuhl nicht steigt, sondern sich nach unten bewegt und im Erdgeschoß haltmacht. Ich konnte nichts unternehmen, mußte warten. Unten wurde die Fahrstuhltür wieder geöffnet. Gleich darauf höre ich, daß jemand über die Marmorfliesen des Vestibüls geht, und daß die Haustür geöffnet und geschlossen wird. Gleichzeitig höre ich, daß der Fahrstuhl langsam durch alle Wohnungen in die Höhe steigt. Jetzt kommt er, dachte ich, und glaubte, daß er unten wohl etwas vergessen hatte.

Der Fahrstuhl stieg bis zum vierten Stock, wo ich stand, aber die Tür wurde nicht geöffnet. Ich mußte sie selbst öffnen, meine Herren – im Fahrstuhl aber befand sich keine lebende Seele. Er war leer!

Selbst der kaltblütigste Mensch gerät bei solchem unerklärlichen Fall aus der Fassung. Nach kurzer Ueberlegung kam ich zu der Erkenntnis, daß etwas geschehen sein müsse, und daß dieses »Etwas« Oedegaard veranlaßt hatte, noch einmal nach unten zu fahren, als er sich auf dem Wege nach aufwärts befunden hatte. Ohne weiter zu überlegen, stieg ich in den Fahrstuhl und fuhr hinunter, indem ich bei den Stockwerken, an denen ich vorbeifuhr, genau Ausguck hielt; Doch konnte ich nichts Ungewöhnliches sehen. Die Treppenbeleuchtung brannte noch immer.

Als ich auf die Straße trat, sah ich, daß das eine Auto weggefahren war. Ich konnte es noch hinter der nächsten Ecke pusten hören. Oedegaards Auto aber hielt vor der Tür, und der Chauffeur saß auf seinem Platz.

Ich fragte ihn nach seinem Passagier.

»Ich weiß nicht, was es bedeuten soll,« sagte der Chauffeur. »Der Herr ist mit dem anderen Auto fortgefahren.«

»Hat er denn keinen Bescheid hinterlassen?«

»Nicht ein Wort. Er bestieg nur in größter Eile das andere Auto, das mit furchtbarer Geschwindigkeit davonfuhr.«

»Wer fuhr es?«

»Ein Chauffeur, der aus diesem Hause kam. Herr Oedegaard ging allein hinein, aber er kam mit dem Chauffeur wieder heraus.«

Nach diesem Bescheid konnte ich mir sagen, daß Oedegaard den Chauffeur getroffen haben mußte, als er den Fahrstuhl beim zweiten Stockwerk halten ließ. Der fremde Chauffeur hatte ihm dort natürlich aufgelauert und ihm Zeichen zugemacht, daß er halten sollte.

Ich bat Oedegaards Chauffeur, daß er warten sollte, und stieg die Treppe wieder hinauf. Auf den Stufen waren Spuren von nassem Schnee. Der fremde Chauffeur war also die Treppe hinaufgestiegen und hatte die Schneespuren hinterlassen. Sie gingen nur bis zum zweiten Stockwerk. Ich fand dort aber auch noch etwas anderes, meine Herren. Hatten die beiden Herren, die bisher verschwunden sind, nicht jeder einen Brief in einem hellblauen Kuvert erhalten?«

»Ja,« antwortete Doktor Ovesen.

»Oedegaard erwähnte es, als er mir über die Sache telephonierte. Wenn ich ihn recht verstanden habe, meine Herren, dann sind Sie im Besitz eines dieser Kuverts.«

»Ja, hier ist es,« sagte Doktor Ovesen und reichte dem Detektiv das Kuvert, das er auf dem Teppich in der Halle des Grand Hotel gefunden hatte.

Krag glättete es und betrachtete es genau.

»Es stimmt,« murmelte er, »es ist genau ein ebensolches.«

»Sie wollen doch damit nicht sagen,« rief Doktor Ovesen erschrocken.

»Ja, leider,« antwortete Krag, indem er ein Kuvert aus der Tasche zog. »Dieses Kuvert ist auch hellblau.«

»Dies Kuvert«, fuhr er fort, »fand ich auf der Treppe. Wie Sie sehen, lautete die Aufschrift kurz und gut: ›Herrn Schriftsteller Eivind Oedegaard‹. Weiter nichts. Keine Adresse. Man wußte, wo man ihn treffen würde.«

»Der Unglückliche!« rief Doktor Ovesen und schlug die Hände zusammen. »Jetzt wird's wirklich Zeit, sich an die Polizei zu wenden.«

Darauf antwortete Krag nichts. Lange betrachtete er beide Kuverts. Dann sagte er leise und wie abwesend, als ob er mit sich selbst spräche:

»Gewöhnliche braune Kopiertinte. Ich glaube, die Marke heißt Kalypso. Dieses hier« – er zeigte auf das eine Kuvert – »hat die Tinte schon aufgesaugt, so daß sie eine dunklere Farbe bekommen hat. Diese Adresse ist schon vor mehreren Stunden geschrieben. Das stimmt auch, denn es ist der Brief an von Brakel. Der Brief an Oedegaard aber ist erst vor ganz kurzer Zeit geschrieben. Die Tinte hat noch eine hellere Farbe. Ich möchte mit größter Bestimmtheit behaupten, daß diese Schrift höchstens zwei Stunden alt ist. Und damit haben wir eine Spur.«

»Das scheint mir doch ganz nebensächlich,« sagte Doktor Ovesen. »Es wäre besser, wenn wir wüßten, was in den verfluchten Briefen gestanden hat.«

»Sie irren,« wiederholte der Detektiv. »Wenn wir auch nicht wissen, was in den Briefen steht, so haben wir doch eine Spur. Wir haben den Beweis, daß der geheimnisvolle Absender wußte, daß Oedegaard mir einen Besuch machen wollte. Von wem aber kann er es erfahren haben? Von Ihnen, meine Herren?«

»Wir haben es ja selbst nicht gewußt,« brauste Doktor Ovesen auf, »abgesehen davon, daß Ihre Andeutung eine Insinuation enthält, die ...«

Krag machte eine begütigende Handbewegung.

»Keine Uebereilung, meine Herren! Ich muß mit den vorliegenden Umständen rechnen. Im übrigen sprach ich mehr zu mir selbst, ich denke nämlich besser auf diese Weise. Ich gehe also davon aus, daß der Betreffende es in dem Augenblick erfahren hat, als Oedegaard in der Redaktion seiner Zeitung telephonierte. Der geheimnisvolle Absender muß eine Verbindung mit der Zeitung oder mit dem Telephonamt gehabt haben. Sofern nicht ... Sofern nicht ...«

Krag wurde plötzlich sehr nachdenklich und schloß seinen Monolog. Nach einer Weile begann er wieder, indem er sich sozusagen innerlich einen Ruck gab.

»Wahrscheinlich hat der Chauffeur einen falschen Schlüssel zu meiner Haustür oder die Tür ist unverschlossen gewesen. Das kommt bisweilen vor. Als Oedegaard kam, ist der Chauffeur bis ins zweite Stockwerk gestiegen und hat ihn dort erwartet. Vielleicht hat er sich auch von dem Licht schrecken lassen, das ich im Treppenhaus andrehte.«

»Wenn Oedegaard den Fahrstuhl anhielt, muß er den Mann gekannt haben,« bemerkte Doktor Ovesen.

»Nicht nötig,« antwortete Krag. »Vielleicht hat der Kerl ihm von der Treppe aus mit dem hellblauen Kuvert gewinkt – das mag genügt haben, um Oedegaard zum Anhalten zu bewegen. Es klang etwas Gespanntes und Erwartungsvolles durch seine Stimme, als er mir heraufrief, daß er gleich kommen würde. Das Unfaßbare, das Seltsame aber ist, daß er, ebenso wie die beiden anderen Herren, Hals über Kopf forteilte, nachdem er den Inhalt des Briefes gelesen hatte.«

Während er sprach, hatte er unausgesetzt die verstreuten Papierfetzen vom Boden aufgesucht.

Einer dieser Fetzen schien plötzlich sein Interesse zu fangen. Er zeigte ihn Doktor Ovesen.

»Es ist eine Rechnung,« sagte er, »ein Stück von einer ganz gewöhnlichen Wäscherechnung. Sehen Sie nur.«

Doktor Ovesen betrachtete das Stück Papier genau.

»Ja, es ist ein Stück von einer Wäscherechnung,« bestätigte er.

Krag las vor: »Hemden, Kragen, Manschetten, Taschentücher – wirklich höchst interessant.«

»Finden Sie?« fragte Doktor Ovesen ironisch.

»Eine ganz gewöhnliche Wäscherechnung,« wiederholte Krag, und jetzt konnte man seiner Stimme anhören, daß seine Gedanken weit fort waren.

 

Rechtsanwalt Davidsen

 

»Was ist dem in die Krone gefahren?«

»Ja, was ist dem wohl in die Krone gefahren?«

Dieser etwas einförmige Dialog wurde am 5. Dezember abends halb sieben Uhr zwischen zwei Hoteljungen des Hotels Continental gewechselt. Sie waren an der Eingangstür des Hotels postiert und hatten achtzugeben, daß der Schnee nicht hineinfegte, wenn die Tür geöffnet wurde. Sie standen auf ihre Besen gestützt. Draußen raste ein heftiger Schneesturm. Die Gäste wurden mit aller Gewalt gegen die Tür geschleudert und taumelten ins Vestibül, wo die beiden Hoteljungen sich sofort ihrer bemächtigten und den Schnee von ihnen abbürsteten, so daß der enge Raum wie mit Nebel erfüllt war. Der Herr, der zuletzt hereingekommen war, aber hatte die Jungen brutal beiseitegeschoben und war die Treppe hinaufgestürmt, von Schnee triefend. Es war Rechtsanwalt Davidsen. Ihm hatte die verwunderte Frage der Knaben gegolten. Während Davidsen durch das Lokal eilte, wurden noch von verschiedenen Seiten ähnliche Fragen geäußert. Denn sein Benehmen war höchst sonderbar.

Als er in die Garderobe des Eßsaales im zweiten Stock kam, trat ihm der galonierte Paulsen, das unübertreffliche Faktotum aller Gäste, mit allen Zeichen des Entsetzens entgegen, weil man ihm unten im Vestibül den Schnee nicht abgebürstet hatte. Aber sogar Paulsen wurde von der gewaltigen behandschuhten und schneenassen Hand des Rechtsanwalts beiseitegefegt. Darauf riß Davidsen mit einem Ruck die Tür zum Eßsaal auf und eilte hinein. Seine Riesengestalt strömte feuchte Kälte aus, er starrte geradeaus, halb geblendet von dem Nebel, der seine goldeingefaßten Brillengläser überzogen hatte. Die Persianermütze erhob sich wie ein schneebedeckter Berggipfel auf seinem Kopf, der Pelz stand offen und seine flatternden Enden streiften drohend die gedeckten Tische, so daß die Gäste ängstlich nach ihren schwankenden Flaschen griffen.

»Zum Donnerwetter, was stellt das vor?« hörte man Paulsen in der Tür zur Garderobe sagen.

»Was ist denn los?« flüsterte man erschreckt an den Tischen.

Rechtsanwalt Davidsen aber schritt unberührt weiter. Es war, als ob der König des Unwetters in eigener Person von draußen hereingekommen sei, weiß von Schnee, während Kälte seinem Pelz entströmte.

Die Kellner eilten hinter ihm her.

»Hören Sie mal, Sie da, in Ihrem Pelz! So können Sie hier nicht hereinkommen. Das geht wirklich nicht.«

Den ungehobelten Protest der Kellner noch in den Ohren, hatte Rechtsanwalt Davidsen den Eßsaal passiert, riß die Tür zum Korridor auf, wo die Einzelzimmer lagen, und stürzte, ohne anzuklopfen, in Nummer 4 hinein. Kellner, die ihm gefolgt waren, machten vor einer drohenden Bewegung seines Riesenarmes halt und zogen sich knurrend in die Dunkelheit des Korridors zurück.

Rechtsanwalt Davidsen schlug die Tür so heftig hinter sich zu, daß die Fensterscheiben klirrten. Erst jetzt zog er seinen Pelz aus und ließ ihn in seinem weißen Schaum auf die Erde gleiten. Darauf warf er die Persianermütze auf einen Tisch, wo Kaffeetassen standen. Sank darauf fassungslos in einen Sessel und sagte, indem er seinen Kopf in den Händen barg:

»Ich glaube, ich werde verrückt!«

Am Tische saßen Doktor Ovesen und Asbjörn Krag.

Der kleine nervöse Doktor Ovesen hätte nicht erschreckter dreinblicken können, wenn ein Bär ins Zimmer gekommen wäre. Er sah mit Abscheu auf den See, den der schmelzende Schnee des Pelzes auf dem Teppich bildete, und sagte mit einer Stimme, die mit seinen Manschettenknöpfen um die Wette bebte:

»Wahrhaftig, du mußt total verrückt sein.«

Krag aber legte seine Hand beruhigend auf die Schulter des nervösen Arztes.

»Nur ruhig Blut,« sagte er, »Rechtsanwalt Davidsen scheint uns eine wichtige Nachricht zu bringen. Mischen wir ihm einen Whisky.«

*

Wie unsere Leser bereits gemerkt haben, ist Rechtsanwalt Davidsen eine neue Figur in dieser einfachen Erzählung von rätselhaften Ereignissen, die sich Anfang Dezember in Christiania zutrugen. Zu seiner Charakterisierung braucht kaum mehr gesagt zu werden, als sein explosivartiges Auftreten im Hotel Continental bereits andeutet. Rechtsanwalt Davidsen hatte mehr Erfolg in der Sportswelt als in juristischen Kreisen. Seit seinen Studententagen war er eine leitende Kraft bei sportlichen Unternehmungen der Stadt gewesen und hatte dort mehr Lorbeeren geerntet als vor den Schranken des Gerichts.

Wenn er im Gericht plädierte, führte er seine Kraft in die Schranken. Die Fenster klirrten bei der Gewalt seiner Stimme und der Tisch bog sich unter der Wucht seiner Faust. Bei spitzfindigen, rein juristischen Duellen konnte er sich keine rechte Geltung verschaffen, galt es aber ein volkstümliches und einfach denkendes Schöffengericht zu überzeugen, dann konnte seine leichtfaßliche, robuste Logik oft entscheidend wirken. Was ihm an Eleganz und Scharfsinn fehlte, ersetzte er durch Glaubwürdigkeit und ehrliche Ueberzeugung. Seine kluge und freundliche Denkweise hatte ihm viele Freunde verschafft, und sein ererbtes, solides Vermögen hatte ihm Vertrauen und eine einbringende Praxis gebracht. Er war auf du und du mit seinem ganzen Umgangskreis, sogar mit dem sonst so zurückhaltenden und abgemessenen Doktor Ovesen.

Durch einen reinen Zufall war er in die aufsehenerregende Affäre mit den hellblauen Briefen verwickelt worden, und zwar hatte Direktor Reismann endlich ein Lebenszeichen von sich gegeben, und keinem anderen als seinem alten Freund, Rechtsanwalt Davidsen.

Es war der 5. Dezember, als Rechtsanwalt Davidsen um halb sieben Uhr, auf die soeben geschilderte, aufsehenerregende Weise, im Hotel Continental erschien. Seit Direktor Reismanns Verschwinden war eine ganze Woche vergangen, und anderthalb Tage, seit Asbjörn Krag in von Brakels Zimmer im Hotel Savoy den beiden Freunden, Doktor Ovesen und Kapitän Färden, die sensationelle Mitteilung gemacht hatte, daß Oedegaard von demselben Schicksal betroffen worden sei.

Weder an jenem Morgen noch später hatte Krag seine Meinung über diese seltsame Affäre geäußert. Er hatte an dem Morgen nur gesagt: »Gehen Sie nach Hause, meine Herren, und schlafen Sie sich aus. Ich bin ausgeruht und kann arbeiten.«

Tags darauf, am 4. Dezember, hatten sie sich, wie verabredet, um zwei Uhr getroffen. Krag sprach hauptsächlich von gleichgültigen Dingen, aus seiner Unterhaltung aber war doch hervorgegangen, daß er sich besonders für von Brakels Wäscherechnung interessierte. Er hatte die Fetzen sorgfältig vom Fußboden aufgesammelt und zu einem Ganzen zusammengesetzt.

Im übrigen standen dieser Tag und der folgende unter dem Zeichen des kolossalen Aufsehens, den die Sache beim Publikum machte. Handelte es sich doch um einige der bekanntesten Persönlichkeiten der Stadt, und die geheimnisvollen Umstände beim Verschwinden dieser drei Herren setzten die Phantasie der Leute in Bewegung. Die Zeitungen schwelgten in Einzelheiten, um aber die Angehörigen der Verschwundenen nicht unnötig zu beunruhigen, vermieden sie es, Vergleiche mit ähnlichen Fällen im Ausland anzustellen, bei denen friedliche Menschen auf rätselhafte Weise verschwunden waren und wo die Sache schließlich als unheimliche Tragödie geendet hatte. Heutzutage konnte man ja leider überall in Europa auf das Schlimmste gefaßt sein.

Am Morgen des 4. Dezember hatte Oedegaards Notiz in der Zeitung gestanden, trotz der großen Belohnung aber hatte sich kein Chauffeur gemeldet. Am Morgen des 5. Dezember, als die Sache bereits allgemeines Tagesgespräch war, annoncierte ein Freund der Verschwundenen, der Schiffsreeder Johannes P. Christensen – populär »Jos« genannt –, daß er zweitausend Kronen Belohnung für denjenigen aussetzte, der Auskunft über den Chauffeur geben könne. Und trotz alledem meldete sich niemand.

Am Nachmittag desselben Tages aber, um zwei Uhr, erhielt Rechtsanwalt Davidsen, der Reismann besonders nahestand, einen Eilbrief in seinem Bureau. Der Brief enthielt eine Mitteilung von dem verschwundenen Direktor. Davidsen wußte, daß Asbjörn Krag im Verein mit Doktor Ovesen die Nachforschungen nach den Verschwundenen leitete. Darum setzte er sich unverzüglich mit diesen beiden Herren in Verbindung. Es zeigte sich, daß dieser Brief von Reismann, außer für Davidsen, auch wichtige Mitteilungen für Joh. P. Christensen enthielt.

Infolgedessen hatte Davidsen eine Konferenz mit »Jos« in dessen Kontor, und es wurde verabredet, daß beide Herren sich mit Krag und Doktor Ovesen in einem Einzelzimmer des Hotel Continental treffen sollten, um über weitere Maßnahmen zu beraten.

Man hatte sich auf halb sieben Uhr verabredet.

Und Punkt halb sieben Uhr hatte Davidsen sein merkwürdiges Auftreten im Hotel Continental.

 

*

 

Nachdem er ein Glas Whisky bekommen und sich mit zwei tüchtigen Schlucken gestärkt hatte, fragte Doktor Ovesen ungeduldig:

»Wo ist Jos?«

»Jos,« sagte Davidsen. »Jos ist auch verschwunden.«

Da war es, daß Doktor Ovesen sich erhob und mit vor Zorn bebender Stimme ausrief:

»Meine Herren, jetzt ziehe auch ich es vor, zu verschwinden.«

Um dem Leser aber diese neue und überraschende Wendung begreiflich zu machen, ist es erforderlich, Näheres über den Brief von Reismann zu berichten.

 

»Jos«

 

Der Brief von Reismann lautete:

 

»Lieber Freund!
Ueber meinen Aufenthaltsort kann ich nichts verraten. Aber es geht mir gut. Es ist von äußerster Wichtigkeit, daß umgehend zwanzigtausend Kronen nach Kopenhagen gesandt werden, poste restante, unter Chiffre ›Radix‹. Kaufe eine Bankanweisung. Hast du selbst nicht genügend Geld flüssig, dann gehe zu Jos. Es muß unverzüglich geschehen. Mehr kann ich nicht sagen. Sucht nicht nach mir.
Dein Reismann.«

 

Dieser Brief hatte Rechtsanwalt Davidsen teils beruhigt, teils in Aufregung versetzt. Er hatte ihn beruhigt, weil er Beweis dafür war, daß Reismann noch lebte. Denn zu den unheimlichen Gerüchten, die in Umlauf waren, gehörte auch eines von einem internationalen Mordkomplott. Der Brief war von Reismann, denn seine charakteristische Handschrift war nicht zu verkennen. Außerdem war er auf einer von den lithographierten Korrespondenzkarten geschrieben, die Reismann immer bei sich trug.

Der Inhalt des Briefes aber beunruhigte Rechtsanwalt Davidsen. Nämlich die zwanzigtausend Kronen, die nach Kopenhagen gesandt werden sollten. Es gehörte nicht viel Scharfsinn dazu, um eine Gelderpressung dahinter zu vermuten. Außerdem war Reismanns Brief so merkwürdig kühl. Darum beschloß Davidsen, nichts zu unternehmen, bevor er mit Reismanns Freunden gesprochen hatte.

Als Doktor Ovesen den Brief gelesen hatte, war auch er keinen Augenblick im Zweifel, daß es sich um einen – wie er sich ausdrückte – plumpen Gelderpressungsversuch handelte. »Wir müssen darauf gefaßt sein, daß alle unsere verschwundenen Freunde uns nacheinander ähnliche Briefe schreiben werden,« meinte er.

Asbjörn Krag aber war anderer Meinung. Zwei entscheidende Punkte sprachen gegen die Auffassung, daß man es hier mit einem gewöhnlichen Erpresserbrief zu tun hatte.

Erstens stand in dem Brief kein Wort davon, daß der Absender in Gefahr sei und daß die Gefahr sich vergrößern würde, wenn das Geld nicht sofort abgesandt würde.

Zweitens war da der Umstand, daß das Geld postlagernd Kopenhagen, »Radix«, abgesandt werden sollte. Wenn eine Gelderpressung vorlag, konnte der Verbrecher sich sagen, daß nichts leichter sein würde, als die Kopenhagener Polizei zu benachrichtigen, so daß derjenige, der das Geld abholte, geradenwegs dem Hüter des Gesetzes in die Arme lief.

»Sie sind wohl gar der Meinung, daß wir das Geld ohne weiteres schicken sollen?« fragte Doktor Ovesen spöttisch.

»Wenn ich das Geld zur Verfügung hätte,« antwortete Krag, »und wenn ich wie Sie, meine Herren, mit Direktor Reismann in intimer Geschäftsverbindung stünde, würde ich es unbedingt schicken. Vielleicht handelt es sich um ein wichtiges Geschäft.«

»Wichtige Geschäfte werden nicht auf so unrationelle Weise abgeschlossen.«

»Ich würde«, fuhr Krag unangefochten fort, »meine Order geben, nur mit dem Vorbehalt, daß mein Vertreter in Kopenhagen mit äußerster Vorsicht auftreten soll.«

Man beschloß indessen, die Entscheidung Jos zu überlassen, und nachdem Rechtsanwalt Davidsen mit Jos telephoniert hatte, wurde vereinbart, daß alle vier Herren sich im Einzelzimmer Nummer 4 des Hotel Continental treffen sollten. Davidsen wollte Jos in seinem Kontor abholen.

Doktor Ovesen und Krag speisten zusammen, und während des Essens entwickelte Ovesen seine Ansicht über die Sache. Doktor Ovesen war wie hypnotisiert von der Affäre. Er pflegte sonst ein regelmäßiges und bürgerliches Leben zu führen und kannte keine anderen Zerstreuungen, als hin und wieder eine Pokerpartie oder ein gutes Mittagessen. Er hatte den Ruf eines kaltblütigen und überlegenen Mannes. Und bisher hatte auch nichts ihn in dem ruhigen, anspruchslosen Dasein gestört, das er bis an sein Ende so fortzuführen gedachte. Wie ein stiller Wanderer auf einem friedlichen Spaziergang plötzlich von einem Unwetter überfallen werden kann, so war er in diese rätselhafte Affäre hineingewirbelt worden, und die Ereignisse, die Schlag auf Schlag gefolgt waren, hatten seine Nerven wie Peitschenhiebe getroffen. Seine Vernunft bäumte sich dagegen auf, daß diese Tatsachen wahr sein sollten, und weil er das Geschehene nicht fassen konnte, benahm er sich wie ein Mensch, der über anscheinend übernatürliche Taschenspielerkunststücke gereizt wird. Trotzdem aber war er unrettbar in das Netz verstrickt, das Geheimnisvolle hatte ihn wie ein Fieber ergriffen. Am liebsten hätte er sich wieder in sein gewohntes, ruhiges Leben zurückgezogen, aber es war ihm nicht mehr möglich. Unterdrückte Erbitterung über das Unfaßbare prägten seinen Gemütszustand. Besonders Krags Gelassenheit reizte ihn. Seine eigene Ungeduld konnte das heitere Gleichgewicht des Detektivs kaum ertragen. Es ärgerte ihn, daß der Detektiv sich am meisten mit den anscheinend unwesentlichen Dingen beschäftigte. So zum Beispiel mit von Brakels Wäscherechnung, von der Krag mindestens einmal am Tage sprach.

Während des Mittagessens im Hotel Continental bekam seine Gereiztheit neue Nahrung.

»Ich kann Ihr Interesse für solche Nebensächlichkeiten nicht verstehen,« sagte er. »Ich habe gehört, daß Sie im Bureau des Tanzlokals waren. Was wollten Sie da? Die Portokasse und das Bestellbuch über Zeitungsanzeigen durchsehen! Nehmen Sie es mir nicht übel, aber so etwas ist mir denn doch noch nicht vorgekommen.«

Asbjörn Krag lächelte nur und sagte, daß man mit Unwesentlichem rechnen müsse, wenn man auf das Wesentliche nicht stoßen könne.

In diesem Augenblick hatte Rechtsanwalt Davidsen sein sonderbares Auftreten, mit dem er das ganze Hotel in Schrecken versetzte.

Vor Anstrengung stöhnend, ganz erstarrt über das soeben Erlebte, legte er einen Bericht ab, der im wesentlichen folgenden Wortlaut hatte:

Jos war nicht abgeneigt gewesen, das Geld zu schicken. Er wußte, daß Direktor Reismann an vielen Spekulationsgeschäften beteiligt war, und es schien ihm nicht unwahrscheinlich, daß es sich hier um ein solches handelte. Erst aber wollte er mit Asbjörn Krag über die Sicherheitsmaßnahmen beraten, die unter allen Umständen getroffen werden sollten.

Während Jos und Davidsen noch darüber sprachen, bekam Jos den Brief.

Die jüngste weibliche Angestellte des Bureaus brachte ihn, zusammen mit einigen anderen Briefen und Telegrammen. Beim elektrischen Licht mochte ihr die Farbe des Briefes nicht aufgefallen sein, denn sie lieferte ihn ab, ohne ihr Erstaunen darüber zu äußern.

Der Schiffsreeder las zuerst die Telegramme und gab durch das Haustelephon darüber Bescheid. Dann nahm er das Papiermesser, um die Briefe zu öffnen.

Als Davidsen den Brief sah, der zu oberst lag, sagte er leichthin – er ahnte ja nicht, daß er den Nagel damit auf den Kopf traf:

»Sieh, sieh, da ist ja auch ein hellblauer Brief. Vielleicht ein ebensolcher, wie unsere Freunde sie bekommen haben.«

Jos lachte nur und antwortete:

»Hellblaues Briefpapier scheint modern geworden zu sein.«

Als er aber den Brief geöffnet hatte – erzählte Davidsen dramatisch –, spiegelten seine Gesichtszüge den Ausdruck höchster Verwunderung. Nachdem er das Schreiben fast eine Minute angestarrt hatte, ballte er seine Faust und ließ sie mit solcher Wucht auf den Schreibtisch fallen, daß das Tintenfaß in die Höhe sprang. Er fluchte fürchterlich und rief:

»So etwas ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen!«

Darauf legte er die Hand auf den Telephonhörer, als ob er jemanden herbeirufen wollte, besann sich aber und verließ mit dem Brief in der Hand schnell das Zimmer.

 

Der Geschäftsführer

 

Als Rechtsanwalt Davidsen in seinem Bericht bis hierher gekommen war, machte er eine unfreiwillige Pause. Er bedurfte einer Stärkung und mischte sich einen neuen Grog. Das Ereignis hatte seine Nerven sehr angegriffen, er fühlte sich dieser geheimnisvollen Affäre gegenüber gänzlich machtlos. Auch Doktor Ovesens Gesicht spiegelte den heißen Kampf, der in seinem Inneren vorging: Sollte er es glauben, oder sollte er es nicht glauben? Was er an menschlicher Vernunft besaß, drängte zu Zweifeln, die tatsächlichen Ereignisse aber zwangen ihn, sich mit der phantastischen Wirklichkeit abzufinden.

Nach kurzer Ueberlegung fragte Asbjörn Krag:

»Hat auch er das Kuvert verloren?«

»Was meinen Sie damit?«

»Die anderen Herren, die diese Briefe bekamen, hatten die Kuverts zu Boden fallen lassen, ob es nun aus Schreck oder aus einem anderen Grunde geschah. Ich möchte gern das Kuvert sehen, das Jos bekommen hat.«

»Nein,« sagte Davidsen, »Jos zerknitterte sowohl Brief wie Kuvert und steckte beides in die Tasche, bevor er das Zimmer verließ.«

»Folgten Sie ihm?«

»Nein.«

»Das war klug und wohlüberlegt,« murmelte Doktor Ovesen und lächelte ironisch.

Davidsen entschuldigte sich damit, daß alles so unerwartet gekommen sei. Er hatte ein oder zwei Minuten gewartet, war dann in den großen allgemeinen Kontorraum geeilt und hatte nach dem Chef gefragt. Man hatte ihm geantwortet, daß der Chef fortgegangen sei. Einer der Angestellten hatte die Beobachtung gemacht, daß der Chef ziemlich verstört ausgesehen habe. Während er im Vorraum Mantel und Gummischuhe anzog, hatte der Angestellte ihn ärgerlich vor sich hinfluchen hören. Der Angestellte hatte ihn gefragt, ob er bald zurückkäme, worauf der Chef kurz geantwortet hatte: »Kümmern Sie sich um Ihre eigene Arbeit!«

»Sie haben sich aber doch erkundigt, wie der Brief ins Bureau gekommen ist?«

»Natürlich, und hier fängt die Sache an, mystisch zu werden. Anfangs antwortete man mir, daß alle Briefe durch die Post kämen.«

»Anfangs! Was meinen Sie damit?«

»Ich glaubte mich zu erinnern, daß der hellblaue Brief keinen Poststempel trug. Darum sagte ich, es sei immerhin möglich, daß dieser oder jener Brief auch auf andere Weise abgeliefert werden könnte. Ich bemerkte, daß man meine Fragen im Bureau wie eine Art lästiger Neugierde aufnahm. Daß eine Verbindung zwischen dem Fortgehen des Chefs und dem sensationellen hellblauen Brief bestand, war noch niemandem eingefallen. Ein Beweis, wie unglaublich das Ganze ist, und daß auch ich mich davon überrumpeln lassen konnte. Als ich erfahren hatte, daß Briefe in der Box des Hauptpostamtes abgeholt zu werden pflegten, fragte ich nach demjenigen, der die Post geholt hatte. Es war einer der Boten. Er machte eine äußerst interessante Mitteilung. Er hatte den blauen Brief von einem Mann bekommen, der vor der Post wartete. ›Bist du bei Joh. P. Christensen angestellt?‹ hatte der Mann ihn gefragt. ›Ja.‹ ›Dann nimm diesen Brief mit.‹ Der Junge hatte nicht darauf geachtet, was es für eine Art Brief war, sondern hatte ihn zu den übrigen gelegt. Und ohne weiter darauf zu achten, hatte auch das Fräulein alle Briefe zum Chef hineingebracht.

Natürlich fragte ich den Jungen, wie der Mann, der ihm den Brief gegeben hat, aussah. Er mochte zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alt sein und war einfach gekleidet. ›War es ein Chauffeur?‹ fragte ich den Botenjungen. ›Das mag sein,‹ meinte der Junge, aber er hatte nicht bemerkt, daß ein Auto in der Nähe stand.«

»Das beweist,« schob Krag ein, »daß der Mann, der den Brief ablieferte, keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Die Sache hat schon zu viel Aufsehen gemacht. Er wagt es nicht mehr, den Brief selbst abzuliefern. Aber dieselbe Wirkung wie die vorigen scheint er gehabt zu haben, da auch Jos verschwunden ist.«

Doktor Ovesen erhob sich, vor Wut bebend.

»Es ist doch mehr als merkwürdig,« rief er, »daß man nicht erfahren kann, was in den Briefen steht. Ist es nicht unglaublich, daß der kaltblütige, überlegene Jos bei solcher Gelegenheit den Kopf so ganz verliert, daß er Davidsen nicht eine Andeutung über den Inhalt des Briefes macht!«

»Sie haben doch gehört, was Davidsen sagte,« wandte Krag ein. »War er nicht drauf und dran, Ihnen etwas aus dem Brief mitzuteilen und besann er sich dann nicht eines anderen, steckte den Brief in die Tasche und eilte hinaus?«

Davidsen nickte eifrig.

»Ja, ja, so war es,« bestätigte er.

Krag fuhr fort:

»Ich glaube nicht, daß wir etwas über den Inhalt der Briefe erfahren, bevor wir selbst einen bekommen.«

Doktor Ovesen lachte laut auf.

»Glauben Sie,« fragte er, »daß auch ich mit solchem Brief beehrt werden könnte?«

»Warum nicht?«

»Und daß ich gleich nach Empfang entsetzt meines Weges rennen würde, ohne meinen Freunden eine Mitteilung zu machen?«

»Man kann nie wissen. Der Inhalt der Briefe scheint ja größte Eile zu erfordern und dem Empfänger Beine zu machen.«

Doktor Ovesen ließ seine Faust schwer und entschieden auf den Tisch fallen.

»Nie im Leben«, rief er, »könnte ein Brief auf mich solchen Eindruck machen. Was könnte darin stehen?«

Asbjörn Krag lehnte sich in seinen Stuhl zurück und blickte sinnend vor sich hin.

»Wir wollen mal ein Gedankenexperiment machen,« sagte er. »Die meisten, oder vielleicht alle Menschen haben irgendein Geheimnis, von dem sie annehmen, daß kein anderer Mensch es kennt. Dieses Geheimnis kann mehr oder weniger ernsthafter Art sein. Es ist fast unmöglich, daß ein Mensch, der zwanzig, dreißig, vierzig Jahre auf dieser Welt gelebt hat, nicht ein solches Geheimnis mit sich herumträgt. Es braucht nicht einmal ihn selbst zu betreffen, es kann auch das eines anderen sein. Dann bekommt er eines Tages einen Brief, worin dieses Geheimnis von einem anderen, von einem Unbekannten erwähnt wird ... könnte man nicht auf diesem Wege eine Erklärung finden?«

»Solche Geheimnisse habe ich nicht,« sagte Doktor Ovesen mürrisch.

»Das ist ja möglich, nur darum haben Sie auch keinen Brief bekommen. Schade übrigens. Wenn Sie ein Geheimnis hätten, dann würden Sie vielleicht auch solchen Brief, und wir eine Erklärung bekommen. Denn Sie würden uns das Geheimnis doch gleich enthüllen, nicht wahr?«

Krag lächelte ironisch.

»Ihre Theorie ist nicht stichhaltig,« sagte Doktor Ovesen widerstrebend, »denn sie setzt bei dem Absender Allwissenheit voraus.«

»Bevor ich Jos' Kontor verließ,« fuhr Davidson fort, »kam der Geschäftsführer, Harald Billington, den Sie ja auch kennen. Als er hörte, daß ich mit dem Personal über einen hellblauen Brief verhandelte, zog er mich hastig ins Privatkontor. Meine Herren, Herr Billington verriet alle Anzeichen einer nervösen Unruhe. Er gab sich alle Mühe, Jos' Verschwinden als ein ganz alltägliches Ereignis darzustellen, und bemerkte etwas von einer Konferenz auswärts. Als ich ihm die seltsame Episode von dem hellblauen Brief erzählen wollte, unterbrach er mich, als ob er die ganze Geschichte schon kenne, zog seine Uhr und murmelte das eine Wort: ›Schon‹ vor sich hin. Ueberhaupt hatte ich den Eindruck, als ob Billington mehr wußte, als er zeigen wollte.«

»Er war nicht zugegen, als der Chef fortging?« fragte Krag.

»Nein,« antwortete Davidsen, »er kam erst, als ich das Personal ausfragte.«

»Dann ist es ja möglich, daß er in der Zwischenzeit den Verschwundenen gesprochen hat.«

»Es ist sogar sehr wahrscheinlich,« antwortete Davidsen, »denn Billington bestritt aufs entschiedenste, daß das Verschwinden seines Chefs mit den sensationellen Ereignissen in Verbindung stehe. Er sagte ausdrücklich und mit scharfer Betonung: ›Jedes derartige Gerücht wird aufs bestimmteste dementiert werden.‹«

»Ich schlage vor,« sagte Doktor Ovesen, »daß wir Billington sofort herbitten. Er scheint etwas zu wissen.«

Im selben Augenblick wurde laut an die Tür geklopft. Doktor Ovesen zuckte zusammen.

»Sie werden blaß, Doktor Ovesen,« sagte Krag lächelnd. »Vielleicht ist es der Brief für Sie.«

 

Der letzte Brief

 

Das Faktotum Paulsen mir seinem unerschütterlichen Ernst und seiner tadellosen Livree zeigte sich in der Tür. Sein Blick schweifte forschend durch den Raum, wo der hellblaue, duftende Zigarettenrauch sich durch den Luftzug der offenen Tür in transparenten Spiralen über dem Tisch bewegte.

»Ich wußte ja, daß er nicht da sei,« sagte Paulsen. »Hier ist ein Brief für ihn.«

»Für wen?«

»Für Schiffsreeder Christensen.«

Doktor Ovesen eilte auf ihn zu.

»Ein Brief,« rief er. »Lassen Sie mal sehen.«

Paulsen zeigte ihn. Es war ein Brief in einem dicken Kuvert, wie Banken ihn bei Geldsendungen zu verwenden pflegen. Doktor Ovesen fühlte sich offenbar erleichtert, als er die Farbe des Briefes sah.

»Gott sei Dank!« murmelte er, indem er zu seinem Platz zurückkehrte. »Ich fürchtete schon, es sei ein neuer Scherz.«

»Sie vergessen,« sagte Krag, »daß Jos seine Mitteilung schon bekommen hat.«

Der Detektiv streckte die Hand nach dem Brief aus.

»Geben Sie ihn mir,« sagte er, »wir erwarten Herrn Christensen jeden Augenblick.«

Paulsen reichte ihm zögernd den Brief.

»Aber es wird auf Antwort gewartet,« sagte er.

»Antwort? Wer wartet auf Antwort?«

»Ich weiß nicht. Einer, der draußen in einem Auto hält.«

»Gut! Sagen Sie ihm, daß die Antwort sogleich kommen wird.«

»Wenn Herr Christensen aber jeden Augenblick kommen kann, wäre es doch wohl das beste, ich gäbe ihm den Brief selbst.«

»Herr Christensen ist hier im Hotel,« antwortete Krag, »er ist in einem der Zimmer zu einer Konferenz und kommt dann direkt zu uns.«

»Gut. Dann will ich dem Mann im Auto Bescheid sagen.« Damit ging Paulsen hinaus.

Krag drehte den Brief hin und her. Er trug folgende Adresse:

 

»Herrn Schiffsreeder
Joh. P. Christensen,
Hotel Continental,
Zimmer Nr. 4.
Sofortige Antwort erbeten.«

 

»Mich dünkt, daß Sie eine ziemlich kühne Behauptung aufstellten, als Sie sagten, daß Jos sich hier im Hotel aufhielte,« sagte Doktor Ovesen.

»Mein lieber Doktor,« antwortete Krag, »das war gar keine Behauptung, das war eine regelrechte Lüge.«

»Wozu aber diese unnötige Lüge?« fragte Doktor Ovesen spitz.

Krag antwortete:

»Weil ich den Mann im Auto veranlassen wollte zu warten.«

»Da kann er lange warten,« fiel hier Davidsen ein. »Ich bin überzeugt, daß Jos nicht kommt. Eher glaube ich, daß Oedegaard oder Karl-Erich von Brakel plötzlich durch die Tür treten.«

Krag betastete den Brief prüfend, wie ein Bankmann, der einen verdächtigen Schein untersucht.

»Ein seltsamer Brief,« sagte er. »Wirklich, ein seltsamer Brief. Es ist sehr kalt draußen, nicht wahr?«

»Kalt! Was meinen Sie damit?«

»Ich meine, wir sollten nicht unmenschlich sein. Wir können den Mann draußen im Auto nicht so lange warten lassen.«

Damit nahm Krag schnell sein Messer aus der Tasche und schnitt den Brief auf.

Doktor Ovesen fuhr in die Höhe.

»Anderer Leute Briefe öffnen!« rief er. »Das geht doch wirklich nicht an. Das ist eine strafbare Handlung.«

Krag guckte in das Kuvert hinein und lächelte.

»Dachte ich es doch,« murmelte er, »ich habe es von außen gefühlt. Es ist ein merkwürdiges Kuvert, meine Herren, ein zweiter Brief liegt drin.«

Er zog mit den Fingern einen Brief heraus. Es war ein hellblaues Kuvert – genau wie diejenigen, die das Verschwinden der drei Freunde, Reismann, von Brakel und Oedegaard, veranlaßt hatten.

»Das reine Taschenspielerkunststück,« sagte er, »immer ein Brief in dem anderen. Der Absender liest die Zeitungen, meine Herren, er ist sehr vorsichtig geworden. Er weiß, welches Aufsehen die Sache geweckt hat. Würde er einen hellblauen Brief abgeben, riskierte er gleich, verhaftet zu werden, und darum steckt er ihn in dieses unauffällige, graue Bankkuvert. Es sieht aus, wie eine jener kleinen Geldsendungen, die Herrschaften bisweilen in den Einzelzimmern des Hotels empfangen, wenn ihnen beim Poker die Moneten ausgegangen sind. Betrachten wir die Aufschrift. Richtig, genau dieselbe Handschrift wie auf den anderen Briefen.«

Krag warf den hellblauen Brief auf den Tisch.

»Wir haben Glück gehabt,« sagte er. »Irre ich mich nicht, sind wir in der Lage, das Rätsel zu lösen. Dort liegt ein hellblauer Brief, den wir allen Grund haben zu öffnen.«

Die anderen Herren starrten den Brief an wie etwas, das man nicht anzurühren wagt. Besonders Rechtsanwalt Davidsen sah urkomisch aus, als er sich mit einer Miene über den Tisch beugte, als stehe er vor einem Aquarium und betrachte ein kleines tückisches Ungeheuer aus der Tiefe des Meeres. An der Adresse war übrigens nichts Ungewöhnliches. Da stand nur:

 

» An Jos! Eilt

 

»Die Verbrecher erlauben sich einen merkwürdig vertraulichen Ton,« sagte Krag. »›An Jos‹ – das klingt ja ganz freundschaftlich. Nun fragt es sich, ob wir hier bis in alle Ewigkeit sitzen und uns gegenseitig ansehen, oder ob wir zur Veränderung mal einen Blick auf den famosen Brief werfen wollen. Ich schlage vor, daß wir uns unverzüglich ins Heiligtum begeben. Meine Herren, ich übernehme die Verantwortung,« sagte Krag und ergriff den Brief.

Doktor Ovesen war nervös geworden und versuchte eine Einwendung.

»Wenn nun aber Ihre Theorie von einem Geheimnis richtig ist, wenn der Brief wirklich ein Geheimnis von Jos enthüllt, das zu erfahren wir keine Berechtigung haben? Auf alle Fälle ist es juristisch eine sehr ernste Sache, den Brief eines anderen zu öffnen. Darauf möchte ich die Herren doch aufmerksam machen.«

»Auch juristisch übernehme ich jede Verantwortung,« sagte Krag und schnitt das Kuvert auf – irritierend langsam und vorsichtig, schien es Davidsen, als ob er ein kostbares Buch aufschnitte. »Und was die moralische Seite anbelangt,« fuhr Krag fort, »so kann man unsere Handlung unmöglich ein Unrecht nennen. Wir tun es doch einzig und allein, um unseren Freunden in der Not zu Hilfe zu kommen. Nun ist es geschehen, meine Herren, hier ist der Brief.«

Krag entfaltete den Brief. Es war ein halber, hellblauer, unliniierter Bogen.

Krag sagte:

»Wenn der Brief ein persönliches Geheimnis von Jos enthält, stecke ich ihn wieder ins Kuvert, und keiner von Ihnen, meine Herren, soll je erfahren, was er enthielt. Wie ich sehe, scheint er aber kein Geheimnis zu enthalten, das nicht auch Sie erfahren können. Hören Sie, was hier steht.«

Krag las vor:

 

» Komm sofort. Wir brauchen einen vierten Mann

 

Der Detektiv reichte den Brief über den Tisch. Davidsen griff zuerst danach.

»Bei allen Teufeln!« rief er. »Wahrhaftig, es steht nichts weiter darin.«

Auch Doktor Ovesen las es und sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse von Unwillen und Mißbehagen.

»Wir scheinen es hier mit einem Spottvogel zu tun zu haben,« sagte er.

Auch Rechtsanwalt Davidsen fiel ein, indem er seine gewaltigen Fäuste auf dem Tisch ballte:

»Mit dem Scherzvogel werde ich mich mal unterhalten, wenn ich ihn treffe.«

Krag sagte:

»Gewiß, manches deutet darauf, daß man uns hier einen Schabernack spielen will. Aber ich bin dafür, daß wir auf den Scherz eingehen. Wir riskieren zu viel, wenn wir es unterlassen. Es hat aber auch den Anschein, als ob unsere geheimnisvollen Gegner sich in einen unerwarteten Widerspruch verwickelt hätten. Dies ist der zweite Brief an Jos. Der Absender hat nichts davon gewußt, daß Jos bereits einen hellblauen Brief bekommen hatte, der ihn fortrief. Es ist eine falsche Masche in das Gewebe geraten. Wo ist nun die falsche? In diesem oder in dem ersten Brief? Nehmen wir an, daß die Fälschung ein Scherz war, obgleich ein Scherz oft die Möglichkeit eines tragischen Endes in sich trägt. Das, was mich beunruhigt, ist das ständige, unnatürliche Schweigen unserer verschwundenen Freunde. Es ist unsere Pflicht, jede Gelegenheit, die uns Aufklärung bringen kann, zu ergreifen. Der Mann draußen im Auto wartet. Von diesem Augenblick an bin ich ›Jos‹. Und habe die Absicht, ihm zu folgen.«

 

In die Dunkelheit hinein

 

»Allein?« fragte Doktor Ovesen.

»Ganz allein,« antwortete Krag, »nur auf diese Weise kann unser Vorhaben glücken.«

Doktor Ovesen lachte plötzlich nervös auf.

»Mir fällt eben ein,« sagte er erklärend, »daß die Situation eigentlich urkomisch ist.«

»Ja, einen Zug von Komik hat sie,« sagte Krag, »aber warum entdecken Sie das jetzt erst?«

»Weil ich anfange, die Erfindungskunst der Herren Absender der blauen Briefe zu bewundern.«

Rechtsanwalt Davidsen brauste auf.

»Nennen Sie diesen Brief erfinderisch?« rief er ärgerlich. »›Komm sofort! Wir brauchen einen vierten Mann.‹ Als ob sie einen Vierten zum Bridge einladen wollten. Ich weiß nicht, was Jos getan hätte, wenn ihm dieser Brief ausgehändigt worden wäre, aber ich kann mir nicht denken, daß er dem Wink gefolgt und augenblicklich auf und davongegangen wäre. Ich hätte es jedenfalls nicht getan. Wenn die Briefe, die von Brakel und Oedegaard so erschreckt haben, von derselben Art waren, dann muß ich sagen, daß die Herren sehr schreckhaft sind.«

»Es ist nicht gesagt, daß die Worte an und für sich etwas besagen,« wandte Krag ein, »vielleicht haben sie eine heimliche Bedeutung für denjenigen, an den sie gerichtet sind. Aber ich verstehe Doktor Ovesen. Sie meinen, daß es eine Falle sein soll. Gesetzt, diese Menschen wollen mich in ein Netz locken, so ist die Sache recht hübsch arrangiert. Meinten Sie nicht so, Herr Doktor?«

»So ungefähr,« antwortete Doktor Ovesen. »Sie müssen zugeben, wenn Sie nun auch verschwinden, nachdem Sie einen hellblauen Brief bekommen haben, dann ist unsere Lage mehr als komisch.«

»Kommen Sie mit,« schlug Krag vor.

»Meinetwegen gern. Aber glauben Sie, daß der Mann, der draußen im Auto wartet, damit einverstanden ist?«

»Kaum. Aber Sie brauchen ja auch nicht sein Auto zu benutzen. Wir bestellen einen anderen Wagen. Ich fahre mit meinem Unbekannten davon, und Sie können in passender Entfernung folgen.«

Dieser Vorschlag sagte Rechtsanwalt Davidsen sehr zu, und nach einiger Ueberlegung ging auch Doktor Ovesen darauf ein. Das Abenteuerliche daran gefiel ihm nicht, aber er fand schnell einen Grund für seine Beteiligung.

»Vielleicht ist ein Arzt nötig,« sagte er.

»Müssen wir Waffen bei uns haben?« fügte Ovesen ganz streitlustig hinzu.

Krag zuckte die Achseln.

Da aber erhob Rechtsanwalt Davidsen sich in seiner ganzen Länge und Kraft. Er schien fast den ganzen Raum auszufüllen. Und indem er seine Muskeln reckte, sagte er:

»Ich bin gewappnet.«

Krag verließ zuerst das Restaurant. In angemessener Entfernung folgten ihm Ovesen und der Rechtsanwalt. Letzterer erregte jetzt viel weniger Aufsehen im Speisesaal als vorhin.

Draußen im Schnee warteten mehrere Autos. Einige Chauffeure trabten vor ihren Wagen auf und ab, um sich warm zu halten. Krag musterte die Reihe der Autos genau. Nur ein einziges Privatauto schien darunter zu sein. Der Chauffeur saß am Steuer, der Motor war in Gang und arbeitete leise.

»Das scheint es zu sein,« dachte Krag.

Der Schneesturm kam um die Ecke geheult, die Laternen brannten verschwommen im Schneegestöber. Die wenigen Menschen, die auf der Straße gingen, wurden förmlich vorwärts getrieben.

Krag schlug den Kragen seines Ulsters hoch, so daß nur noch seine Augen zu sehen waren. Er wartete einen Augenblick, und als er seine Freunde die Treppe des Hotels herunterkommen sah, rief er:

»Jos Christensens Auto!«

»Hier!« Der Chauffeur des Privatautos antwortete, und gleichzeitig streckte er die Hand aus und öffnete die Wagentür. Krag stieg ein und der Chauffeur schlug die Tür mit einem Knall zu. Er wartete keinen Bescheid ab, wohin er fahren sollte.

Krag hatte nur einen Schimmer von seinem Gesicht zu sehen bekommen. Ein Mann in den Dreißigern, blond, mit rötlichem Vollbart, eigentlich ganz vertrauenerweckend, kein Gesicht, das man mit verbrecherischen Manövern in Verbindung bringen würde.

Krag hielt seine warme Hand gegen die gefrorene Fensterscheibe. Nach einer Weile konnte er Ladenfenster, Laternen und Schilder erkennen und mit Hilfe dieser schwachen Merkmale sich orientieren. Anfangs sah es aus, als ob der Bestimmungsort im Westen läge. Plötzlich aber bog das Auto in die Frederiksgade ein und nahm östliche Richtung. Wegen der Schneehaufen, die sich überall auf den Straßen gebildet hatten, war es schwer, vorwärts zu kommen, das Auto fuhr aber doch recht schnell.

Als sie sich dem Ankerplatz näherten, fuhr das Auto langsamer. Krag wunderte sich. Sollte es möglich sein, daß man die Verschwundenen mitten im Zentrum der Stadt in Verwahrung gebracht hatte? Es sah wirklich so aus. Denn jetzt bog das Auto in einen offenen Torweg ein und hielt auf dem Hof. Der Chauffeur stieg aus. Rasch öffnete Krag die Tür und sprang heraus. Der Hof war dunkel und schwarz, auf allen Seiten von hohen Brandmauern umgeben. Die Autolaternen warfen ihren Schein in eine Ecke des Hofes, wo eine Menge Fässer und Tonnen aufgestapelt lagen.

Krag stand abwartend. Er hielt seine Hände in den Taschen des Ulsters, wo sein Revolver lag, den Kragen hatte er noch immer bis über die Ohren geschlagen. Er folgte den Bewegungen des Chauffeurs mit gespannter Aufmerksamkeit.

Der Chauffeur schloß das große Tor, durch das sie gekommen waren, und schob den Riegel vor. Darauf trat er auf Krag zu und sagte:

»Steigen Sie ein, jetzt können wir weiterfahren.«

Krag konnte sein Erstaunen kaum verbergen. Indessen hatte er Geistesgegenwart genug, mit den Füßen aufzustampfen, als ob er der Kälte wegen ausgestiegen sei, um sich Bewegung zu machen. Er stieg wieder ein.

»Weiterfahren!« dachte er. »Wo in aller Welt sollen wir in dieser Pechdunkelheit und auf diesem engen Hof hinfahren?«

Der Chauffeur schloß dienstwillig die Tür hinter ihm, indem er sagte:

»Das haben wir fein gemacht. Ich glaube, man war hinter uns her.«

Krag dachte an Ovesen und Rechtsanwalt Davidsen in dem anderen Auto. Und wirklich! Jetzt hörte er, daß ein Auto draußen hielt und daß sich Menschen dem Tor näherten. Sie mußten es sein.

Der Chauffeur setzte sich schleunigst auf seinen Platz und fuhr langsam über den Hof. Plötzlich lenkte er das Auto nach rechts und ließ es vorsichtig durch einen engen Gang gleiten. Sie waren offenbar in einem Häuserkomplex, an dessen Ende ein anderes Tor war, das offen stand und in eine andere Straße führte.

»Aha,« dachte Krag, »der bekannte Kniff! Jetzt donnern unsere Verfolger gegen das verschlossene Tor, während wir ruhig auf diesem Wege verschwinden.«

Der Chauffeur machte draußen auf der Straße halt, um auch dieses Tor zu schließen. Bevor er damit fertig war, hörte man von der anderen Seite ein furchtbares Krachen.

Der Chauffeur kam etwas erschrocken zurück und sagte:

»Ich glaube fast, daß sie das Tor gesprengt haben.«

Krag mußte an die Riesenkräfte von Davidsen denken. War er in Tätigkeit?

Der große Hof hallte von dem furchtbaren Krach wider, der von den hohen Mauern vielfach zurückgeworfen wurde.

Krag rief durch das offene Fenster des Autos:

»Los! Fahren Sie zu!«

Der Chauffeur beugte sich ganz ängstlich zu ihm herab.

»Sie sorgen wohl dafür, Herr, daß ich keine Unannehmlichkeiten bekomme. Ich glaube, die Polizei ist hinter uns her.«

»Ich übernehme jede Verantwortung,« sagte Krag. »Fahren Sie nur zu.«

Gleich darauf eilte das Auto wieder durch die schneebedeckten Straßen. Durch das Guckloch, das Krag sich auf dem vereisten Fenster gehaucht hatte, konnte er die Richtung der Fahrt verfolgen. Es dauerte nicht lange, da hatten sie die Stadt hinter sich und befanden sich auf der Landstraße. Der Schnee lag hoch und das Auto glitt beschwerlich weiter. Schließlich bogen sie in einen Wald ein. Verschneite Bäume standen am Wege, und alles wurde dunkel. Das Unwetter ging über den Wald wie über ein Dach hin. Unten auf dem Grunde war es still, nur das Arbeiten des Motors war zu hören. Krag lehnte sich in den Wagen zurück, gleichgültig abwartend wie ein Mensch, der nicht weiß, wohin die Fahrt geht.

 

Das alte Wirtshaus

 

Krag hatte Zeit, über die neuesten seltsamen Geschehnisse nachzudenken. Nichts störte ihn. In der Dunkelheit konnte er weder etwas sehen noch hören.

»Wo geht die Fahrt hin?« fragte Krag sich selbst. Er dachte daran, daß der Brief, den Rechtsanwalt Davidsen wegen des Geldes bekommen hatte, aus Moß abgesandt gewesen war. Dies war der Weg nach Moß, vielleicht war das das Ziel.

Asbjörn Krag waren seit der Abfahrt vom Hotel Continental zwei Umstände aufgefallen, die ihn in Erstaunen setzten.

Erstens die Art, wie der Chauffeur sich den beiden Verfolgern Ovesen und Davidsen entzogen hatte. Ohne sich mit seinem Passagier zu beraten, hatte er die hübsche Falle in dem Hof arrangiert. Das bewies, daß er seine ganz bestimmten Befehle hatte, und daß derjenige oder diejenigen, die ihm diese Befehle gegeben hatten, sich über die Gefahr einer Verfolgung klar gewesen waren. Andererseits aber hatte die vertrauliche Art des Chauffeurs gezeigt, daß von einer Entführung oder einem Zwang nicht die Rede sein könne. Im Gegenteil, der Chauffeur hatte ja sogar gegen eventuelles Einschreiten der Polizei Schutz bei ihm gesucht. Waren die anderen Herren auch mit eigenem Wissen und Willen entführt worden, und was bedeuteten in solchem Fall die Briefe? Und der ganze mystische Apparat? Krag konnte nur feststellen, daß der Chauffeur ihn nicht kannte, sondern ihn für Jos hielt. Wem mochte dieses Auto gehören, und auf wessen Befehl fuhr der Chauffeur?

Als die Zeit verstrich und nichts sich ereignete, machte Krag es sich im Auto bequem. Er zündete sich eine Zigarre an. Wie er in seiner Tasche nach Streichhölzern suchte, stieß er gegen seinen Revolver. Er mußte inwendig lachen bei dem Gedanken, wie wenig diese Fahrt einer Entführung glich. Von seinem Platz aus konnte er jederzeit mit dem Revolver den Chauffeur unschädlich machen und seine Stelle am Steuer einnehmen. Nicht der Entführte war machtlos, sondern der Chauffeur. Würde das ganze Abenteuer auf dieselbe friedliche, liebenswürdige Weise verlaufen? Unmöglich! Das Entsetzen der anderen beim Empfang der Briefe war doch zu unbegreiflich ...

Plötzlich aber fiel Krag von Brakels Wäscherechnung ein. Er rechnete sich die einzelnen Posten halblaut vor: Pyjamas zwölf Kronen, Kragen á vierzig Oere ... Welche Verbindung mochte Krag zwischen dieser alltäglichen Wäscherechnung und der geheimnisvollen, nächtlichen Automobilfahrt im düsteren Walde suchen?

Endlich schien etwas zu geschehen. Am Wege tauchte der gelbe, verschwommene Lichtschein einer Laterne auf, die an einem Pfahl am Wege aufgehängt war, und der Chauffeur bog in einen schmalen Seitenweg ein. Er konnte kaum vorwärts kommen wegen der hohen Schneewehen, die hier zusammengefegt waren. Das Auto hielt auf einem offenen Platz, wo die schattenhaften Konturen einiger Hofgebäude sich von dem verschneiten Wald abhoben. Der Chauffeur verließ seinen Platz und öffnete die Tür, indem er sagte:

»Wir sind da. Das war 'ne tolle Fahrt.«

Krag stieg aus und blickte sich um.

Als sein Auge sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, erkannte er den Ort.

Dort, geradevor, lag das Hauptgebäude, und dort der Stall.

Es war das alte Wirtshaus Tyrihöhe, ein bekannter Ort in der Nähe von Christiania, wo man in alten Zeiten ein Stück Volksleben sehen konnte, wenn die Bauern sich mit ihren dampfenden Gläsern niederließen, und der Hof voll von Schlitten und Pferden war. Hin und wieder kamen auch Gäste aus Christiania, verschlossene Wagen mit Paaren, die sich heimlich ins Wirtshaus schlichen, oder offene Wagen mit ausgelassenen Menschen, von einem Fest in der Stadt.

Dies alles aber gehörte verflossenen Zeiten an. Krag wußte allerdings, daß man noch besonders bevorzugte Gäste empfing; daß das alte Wirtshaus aber noch ein Ausflugsziel für Städter war, das war ihm neu. Aus dem Gebäude erklang auch nicht, wie in früheren Zeiten, festlicher Lärm, nur aus einigen Fenstern fiel matter, gelber Lichtschein über den Schnee.

Der Chauffeur fragte:

»Heute nacht soll ich wohl nicht mehr fahren?«

»Ich denke kaum,« antwortete Krag und fügte auf gut Glück hinzu:

»Die vorigen Male sind Sie doch noch später unterwegs gewesen.«

»Da war das Wetter aber auch nicht so schlimm.«

»Hier haben wir also den Sünder,« dachte Krag bei sich. Laut aber sagte er:

»Zeigen Sie mir bitte den Weg.«

Der Chauffeur ging auf das Haus zu. Ein schmaler Pfad war durch den fußhohen Schnee geschaufelt.

»Kann man hier etwas zu essen bekommen?« fragte Krag.

»Ja, gewiß,« antwortete der Chauffeur eifrig. »Ich bin erst heute vormittag in der Stadt gewesen und habe Proviant geholt. Schnaps und Champagner und viele gute Dinge. Die Tür steht offen. Sie werden oben erwartet.«

Er öffnete eine Tür zu einem schmalen Gang, der von einer Lampe unter der Decke spärlich erleuchtet wurde.

Der Chauffeur rief nach oben:

» Halvar! Halvar! Er ist da

Gleich darauf ertönten schwere Schritte über ihnen, und eine breite Gestalt tauchte auf der Treppe auf – ein älterer, vierschrötiger Bauer, dessen Gesicht von grauem Haar und Bart eingerahmt war. Krag meinte in ihm den alten Wirt wiederzuerkennen.

»Willkommen, Herr Christensen,« rief der Bauer hinunter. »Kommen Sie nur herauf. Nehmen Sie Ihren Pelz ab, Herr Christensen, hier oben ist's warm und schön. Sie haben sich sehr verändert, Herr Christensen, aber es ist auch lange her, seit man Sie hier draußen gesehen hat. Bitte hier, Herr Christensen, hier ist ein kleiner Raum zum Abnehmen.«

Er führte Krag in einen Raum, wo bereits mehrere Pelze hingen. Der Detektiv benutzte einen günstigen Augenblick, um seinen Revolver aus der Tasche des Ulsters in die seines Jackettanzuges zu schmuggeln. Vorsicht war geraten. Trotz der außerordentlichen Höflichkeit, die man ihm bewies, hatte dieses große öde Gebäude doch etwas Unheimliches, das ihn beunruhigte.

Er hörte den Wirt durch den langen, schmalen Korridor rufen:

»Herr Christensen ist da.«

Krag wartete auf dem Korridor. Auf jeder Seite lagen vier Zimmer – die Gaststuben des alten Wirtshauses. Am Ende des Korridors führte eine Doppeltür zu einem größeren Zimmer.

Plötzlich wurde diese Tür geöffnet, und ein Herr erschien auf der Schwelle.

Es war Reismann, der verschwundene Direktor des Tanzetablissements »Die blaue Eule«.

Als er Krag sah, blieb er starr und verwundert stehen. Im nächsten Augenblick aber zog er die Tür hinter sich zu, als wollte er verhindern, daß Unbefugte einen Einblick ins Zimmer bekommen sollten.

»Herr Krag,« sagte er, »Sie hier?«

»Es scheint Sie in Erstaunen zu setzen,« sagte der Detektiv. »Offenbar haben Sie mich nicht erwartet?«

»Nein, wahrhaftig nicht. Was wollen Sie hier?«

»Ich wollte der vierte Mann sein, der hier fehlte,« antwortete Krag.

»Wo in aller Welt aber ist Jos?« fragte Reismann.

 

Wo ist »Jos«?

 

Krag beantwortete die Frage nicht. Die beiden Herren standen sich unbeweglich in der trüben, flackernden Beleuchtung des Korridors gegenüber.

Plötzlich lachte Reismann auf, ein helles, ansteckendes Lachen, und seine Augen blitzten belustigt. Er glich einem mutwilligen Knaben, der bei einem Streich auf frischer Tat ertappt wird.

»Der dumme Oedegaard hat schuld,« sagte er. »Er kann seine Phantasie nie zügeln. Ich war wütend, als ich hörte, daß er Sie in die Sache verwickelt hatte. Das heißt doch die Dinge zu weit treiben. Aber er hat, wie gesagt, zu viel Phantasie. Er ist ja auch Verfasser.«

»Er ist nicht der einzige, der übertrieben hat,« bemerkte Krag. »Da ist noch ein anderer, nämlich der junge Karl-Erich von Brakel.«

»Wieso? Was hat der verbrochen?«

»Er hat seine alten Wäscherechnungen zerrissen.«

»Seine alten Wäscherechnungen zerrissen,« murmelte Reismann und sah Krag verblüfft an. »Ich begreife nicht, was Sie meinen.«

»Ich werde es Ihnen später erklären. Als alleinstehendes Phänomen ist es nicht leicht zu verstehen. Wir waren um das Schicksal der Herren besorgt.«

»Das war auch beabsichtigt.«

»Ich fange an zu begreifen. Aber daß Sie Ihre Freunde bis zu dem Grad in Angst versetzen wollten!«

Reismann lachte wieder.

»Haben unsere Freunde sich wirklich so um uns geängstigt?«

»Sogar sehr. Besonders Doktor Ovesen hat beinahe den Verstand verloren.«

»Das ist sehr schmeichelhaft,« sagte Reismann. »Wollen Sie bitte vorläufig hier eintreten, Herr Krag. In unser Hauptquartier kann ich Sie erst führen, wenn ich mich mit den anderen beraten habe. Bitte hier.«

Indem er Krag in eines der kleineren Zimmer führte, fuhr er fort:

»Es ist immer ein Wunsch von mir gewesen, meinen eigenen Nekrolog zu lesen, und in diesen Tagen ist er mir fast erfüllt worden. Was haben die Zeitungen nicht alles von mir geschrieben: ›der junge, sympathische Geschäftsmann‹, ›der begabte Künstler‹ usw. Herrlich, wenn man öffentlich so gelobt wird. Als ob man eine günstige Auskunft über sich selbst bekäme!«

»Haben Sie deshalb die ganze Sache in Szene gesetzt?« fragte Krag.

»Nein, das wäre sie nicht wert gewesen. Ein solcher Selbstbewunderer bin ich denn doch nicht.«

»Glauben Sie nicht, daß diese Komödie Ihrer Stellung und Ihren Geschäften schaden kann?«

»Im Gegenteil. Die Menge wird über die Lösung entzückt sein.«

»Die Menge hat sich sehr mit der Sache beschäftigt.«

»Das sollte sie auch,« antwortete Reismann fast stolz und zeigte auf gewaltige Stöße von Zeitungen, die auf dem Fußboden, auf Stühlen und Tischen lagen. »Es ist fast zuviel des Guten gewesen,« fügte er hinzu.

Krag sah sich in dem kleinen Zimmer um. Es war ein ganz gewöhnliches Hotelzimmer, das außer den notwendigsten Möbeln und den Zeitungen nur einen Pelz und einige Toilettengegenstände enthielt.

»Dies ist mein Schlafzimmer,« erklärte Reismann. »Nebenan wohnt Oedegaard.«

»Er befindet sich wohl?«

»Ganz außerordentlich.«

»Und von Brakel?«

»Nicht weniger. Er ist bei glänzender Laune und arbeitet brillant. Sein Zimmer liegt dort links.«

Krag stutzte.

»Er arbeitet brillant!« rief er. »Er arbeitet – hier? Das verstehe ich nicht.«

»Warten Sie es ab.«

Asbjörn Krag setzte sich auf den einzigen Stuhl, Reismann schwang sich auf den Tisch.

»Sie erwarten noch eine Person?« fragte er. »Oder erwarten Sie noch mehr?«

»Nein, wir erwarten nur noch Jos. Er sollte kommen, nicht Sie. Ich begreife nicht, warum er nicht gekommen ist.«

»Ich hatte erwartet, ihn hier zu treffen,« antwortete Krag. »Er hat Ihr erstes Signal bereits um drei Uhr bekommen.«

»Mein erstes Signal! ...« wiederholte Reismann und sah Krag verwundert an. Plötzlich fragte er:

»Wie haben Sie sich des Autos bemächtigt?«

»Mit Hilfe Ihres Briefes. Ich öffnete den Brief an Jos.«

Reismann drohte ihm scherzhaft mit der geballten Faust.

»Ha, Schurke, jetzt verstehe ich.«

»Es war ein Doppelbrief. Der hellblaue Brief lag in einem großen grauen Umschlag.«

»Das taten wir aus Vorsicht, um nicht den Verdacht der Polizei und der Hotelbedienung zu wecken. Es kam ja darauf an, daß der Brief sicher in das Einzelzimmer des Hotel Continental gelangte. Von welchem Signal aber sprachen Sie? Mein erstes Signal, sagten Sie. Was meinen Sie damit?«

»Einiges an dieser Sache ist mir noch rätselhaft,« antwortete Krag, »etwas aber ist mir klar und ist mir die ganze Zeit klar gewesen, daß die Beteiligten, oder wenn Sie lieber wollen ›die Entführten‹« – Krag lächelte scherzend, und Reismann erwiderte sein Lächeln – »in die ganze Sache eingeweiht waren. Auch Jos war eingeweiht, nicht wahr?«

»Ja, natürlich, sonst hätten wir die Herren ja nicht hier herauslocken können.«

»Gut. Warum ist Jos dann aber nicht gekommen?«

»Weil er den Brief nicht bekommen hat. Den haben Sie ja genommen.«

»Diesen Brief, ja,« sagte Krag und zog den hellblauen Brief aus der Tasche, bei dessen Anblick Reismann zustimmend nickte. »Warum aber ist Jos nicht nach der ersten Aufforderung gekommen?«

Direktor Reismann wurde ungeduldig.

»Sie sprechen von ganz unverständlichen Dingen. Wir haben Jos keinen anderen Brief geschickt als den, den Sie in der Hand halten.«

»Das wäre! Und dennoch hat Jos heute nachmittag um drei Uhr einen Brief von Ihnen erhalten. Er empfing ihn im Kontor, gehorchte unverzüglich dem Befehl und fuhr auf und davon.«

»Diesen Brief«, antwortete Direktor Reismann, »haben wir nicht abgesandt.«

»Wer denn?«

»Ja, das ist mir unbegreiflich.«

Krag überlegte einen Augenblick und sagte darauf:

»Ich weiß nicht, was Sie und Ihre Freunde mit Ihrem Vorhaben beabsichtigen. Ich nehme an, daß es sich nicht nur um einen Scherz handelt, dazu würden Leute in Ihrer Stellung wohl kaum Zeit haben. Jos erwartete seine Berufung und als sie kam, begab er sich unverzüglich auf den Weg. Nun ist diese Berufung nicht von Ihnen ausgegangen, es muß also eine außenstehende Person geben, die auf irgendeine rätselhafte Weise von Ihrem Geheimnis erfahren und es ausgenutzt hat. Jos ist in eine Falle gegangen. Sie müssen zugeben, daß Ihr Scherz eine recht ernsthafte Wendung genommen hat.«

Reismann glitt vom Tisch herunter. Er war plötzlich sehr ernst geworden.

»Außer Jos wußte niemand etwas von dem Geheimnis. Sind Sie sicher, daß er einen hellblauen Brief bekommen hat?«

»Ja. Ist sein Fortbleiben Ihnen nicht Beweis genug dafür? Etwas muß eingetroffen sein, was die Urheber dieser merkwürdigen Komödie nicht vorausgesehen haben.«

Reismann ging ein paarmal durchs Zimmer. Offenbar überlegte er. Dann aber schien er das Ganze von sich zu schieben und rief:

»Unsinn! So etwas kann nicht geschehen.«

»Was kann nicht geschehen?« fragte Krag.

»Hier muß ein Mißverständnis vorliegen,« fuhr Reismann fort. »Die Aufklärung wird wahrscheinlich schneller kommen, als wir glauben ...«

Krag stand auf.

»Gut,« sagte der Detektiv, »da die Herren die Sache so leicht nehmen, brauche ich mir ja auch keine Sorgen darüber zu machen. Es würde mich aber doch interessieren, einen Einblick in das Geheimnis zu bekommen, bevor ich nach Christiania zurückfahre. Mancherlei ist mir noch unverständlich.«

»Ich hatte ebenfalls die Absicht, heute abend nach Christiania zu fahren, um noch vor ein Uhr im Klub zu sein,« sagte Reismann. »Ich möchte nämlich das Pokerspiel fortsetzen. Der Einsatz war fünfzehntausend Kronen. Den Spielregeln zufolge darf der Spielinspektor des Klubs die versiegelten Karten öffnen, wenn ich heute nicht bis ein Uhr da bin, und das Spiel entscheiden. Nun habe ich Lust, noch weitere fünftausend Kronen zu setzen, darum will ich dabei sein. Sie können also mit mir nach Christiania zurückfahren, aber nur unter der Bedingung ...«

»Unter der Bedingung?« fragte Krag.

»Daß Sie mir Ihr Ehrenwort geben, daß Sie nichts von dem verraten, was Sie hier draußen zu sehen bekommen.«

»Mein Ehrenwort gebe ich nicht im voraus,« antwortete Krag, »aber ich erkläre mich von vornherein mit der Entwicklung, die die Sache bisher genommen hat, einverstanden. Der Ernst wird noch zeitig genug kommen.«

»So folgen Sie mir denn,« sagte Reismann. »Und wenn Sie sich später weigern, von dem zu schweigen, was Sie gesehen haben, dann lassen wir Sie nicht wieder fort. Wie sollten Sie das auch anstellen bei diesem Wetter! Hören Sie nur, wie der Schneesturm heult. Und ans Telephon kommen Sie nicht.«

Darauf antwortete Krag nicht. Als sie aber zusammen durch den Korridor gingen, fragte er:

»Riskieren Sie wirklich noch fünftausend Kronen? Sind Sie Ihrer Karten so sicher?«

»Ich habe vier Asse!« antwortete Direktor Reismann.

 

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© Thomas Lehmann

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