Sven Elvestad
29-42
Aino stieß einen Schrei aus und stützte sich erschrocken gegen die Filztür, die langsam zuglitt.
»Gott sei Dank,« dachte Krag bei sich, »dann kann der nebenan uns nicht hören.«
Fräulein Erko war so verblüfft über die Anwesenheit eines Fremden, daß sie ihn ganz zu fragen vergaß. Darum bekam Krag Zeit, sie näher zu betrachten.
Sie trug wie gewöhnlich einen einfachen Kostümrock, aber die Bluse war auf der Brust mit einer Brillantnadel zusammengehalten, und ihre Frisur, die ihr übrigens vorzüglich stand, ließ ahnen, daß sie in den Händen einer dieser unvergleichlichen Kopenhagener Haarkünstlerinnen gewesen war, die ihre elegante Kunst in den berühmten Straßen in der Nähe der Opera-Avenue erlernt hatten.
»Sie ist sehr nervös,« dachte Krag, »wenn sie nur nicht zu ihrem Chef hineinläuft.«
War es aber möglich, daß ihr Gemütszustand allein mit dem Umstand zusammenhing, daß sie einen fremden Herrn antraf? Sie war wirklich sehr erregt. Ihr Gesicht und besonders ihre verstörten Augen verrieten Verzweiflung. Gott weiß, ob sie nicht auch geweint hatte.
»Ich möchte Herrn Christensen sprechen,« sagte Krag schnell, »darf ich Ihnen meine Visitenkarte geben.«
Er zog seine Brieftasche und suchte darin nach einer Visitenkarte. Er wollte ihr Zeit lassen, sich zu fassen.
»Sind Sie Däne?« fragte sie.
»Nein,« antwortete er, »ich bin Franzose, das heißt, ich bin aus Lothringen, aber ich lebe seit einigen Jahren in Kopenhagen. Leider habe ich meine Visitenkarte vergessen. Mein Name ist Marx, Fräulein, darf ich Sie bitten, mich anzumelden. Fabrikant Marx aus Straßburg.«
»Warum stehen Sie dort?« fragte sie und zeigte auf die Stelle, wo er stand. Sie machte eine Miene, als wollte sie ihn in einer äußerst wichtigen Sache zur Rechenschaft ziehen. Sie stützte sich mit dem Rücken gegen die Paneeltür, ihre rechte Hand ruhte auf dem Drücker. Krag sah mehr und mehr ein, daß es nicht seine unerwartete Anwesenheit allein war, die sie so aus der Fassung gebracht hatte. Er hielt es für richtig, jetzt selbst etwas konsterniert zu sein. Indem er einen gekränkten Ton anschlug, sagte er mit dem Akzent eines Ausländers:
»Ich habe hier bereits mehrere Minuten gewartet, mein Fräulein. Als niemand kam, habe ich mir erlaubt, die Bilder an den Wänden zu betrachten. Warum ich gerade hier stehe, kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Ich nehme an, mein Fräulein, daß ich Herrn Christensens Privatsekretärin vor mir habe. Ich möchte Ihren Chef in einer Geschäftsangelegenheit sprechen und werde ihn nicht lange aufhalten.«
Aino löste sich von der Tür und ging auf den Schreibtisch zu. Offenbar hatte Krags freundliches und bescheidenes Wesen sie beruhigt. Sie versuchte einen Ton kalter Höflichkeit anzuschlagen, doch merkte Krag, wie schwer es ihr fiel.
»Dort drinnen ist etwas passiert,« dachte er bei sich und erinnerte sich des heftigen Ausrufs, den er gehört hatte: Nie, nie, nie!
»Kennen Sie Herrn Christensen?« fragte sie.
»Wer kennt nicht Herrn Christensen,« sagte er, »ich meine, in der Geschäftswelt, wer kennt nicht den großen Reeder, Herrn Joh. P. Christensen. Ich möchte ihm ein Geschäft vorschlagen.«
»Kennen Sie ihn persönlich?« fragte sie ungeduldig.
»Persönlich nicht, mein Fräulein –«
»Kennt er Sie?«
»Damit wage ich mir nicht zu schmeicheln.«
»Wie kommen Sie denn zu dieser Zeit hier herauf? Hat der Portier Ihnen nicht gesagt, daß Herr Christensen nicht empfängt?«
»Der Portier?« fragte Krag mit kleidsamer Naivität. »Den Portier habe ich gar nicht gesprochen. Ich las Herrn Christensens Namen in der Zeitung, und da ich ihm ein großes Geschäft vorzuschlagen habe –«
Fräulein Aino wurde immer sicherer und abweisender.
»Herr Christensen empfängt niemanden,« sagte sie.
»Schläft er vielleicht?«
»Nein, er hat eine wichtige Konferenz. Er hat mir ausdrücklich gesagt, daß er nicht gestört werden will.«
Krag knöpfte seinen langen Bratenrock auf und ließ sich ohne weiteres in einem Klubsessel nieder, strich sich selbstzufrieden den Bart und sagte:
»Ich habe keine Eile, mein Fräulein, ich kann warten. Grüßen Sie Herrn Christensen und sagen Sie ihm, daß ich mit Vergnügen warte, bis er die Freundlichkeit haben wird, mich zu empfangen. Sind Sie kürzlich im Theater gewesen, mein Fräulein?«
Aino machte eine ungeduldige Bewegung.
»Ihr Name,« sagte sie, »ich werde Sie melden. Aber ich wiederhole, Herr Christensen wird Sie nicht empfangen. Ich werde ihm übrigens sagen, daß Sie sehr aufdringlich sind.«
Krag verbeugte sich.
»Marx,« sagte er, »das ist leicht zu behalten. Es ist ein berühmter Name. Leider gehöre ich nicht zu der berühmten Familie.«
Aber in dem Augenblick, als Aino hinausgehen wollte, um ihn zu melden, hörten sie ein leises Poltern hinter der Filztür. Aino blieb unbeweglich am Schreibtisch stehen. Krag, der sie die ganze Zeit genau beobachtet hatte, dachte im stillen, wer wohl am neugierigsten sei: sie oder er.
Gleich tritt Jos herein, sagte Krag sich selbst. Ob er ihn wohl trotz der Maskierung erkennen würde?
Die grüne Filztür ging auf und ein Herr trat raschen Schrittes ins Zimmer. Er entdeckte Krag sofort und blieb wie festgenagelt stehen, während die Tür lautlos hinter ihm ins Schloß fiel. Beim Anblick des Eintretenden sprang Krag auf. Der Detektiv war so erstaunt, gerade diesen Mann hier zu sehen, daß er nicht aus Höflichkeit aufgestanden war, sondern um instinktiv eine Verteidigungsstellung einzunehmen. Der Eintretende war nicht Jos.
Es war Suron.
Suron war in großer Gala. Der Abendmantel hing ihm lose um die Schultern, der Zylinder war nachlässig in den Nacken geschoben. Unter dem Arm trug er einen geckenhaften Spazierstock. Er sah wirklich fabelhaft aus, wie ein Kabarettsänger. Krags Gruß beantwortete er kaum, sondern sah Aino streng fragend an.
»Dieser Herr will Herrn Christensen absolut sprechen,« erklärte sie. »Er ist Ausländer, heißt Marx und ist aus Straßburg.«
»Haben Sie ihm nicht gesagt, daß Herr Christensen beschäftigt ist?« fragte Suron.
»Ja, aber er hat gesagt, daß er warten will.«
»Mein Herr,« sagte Krag, »warum nehmen Sie nicht Ihren Hut ab, wenn Sie mit einer Dame sprechen?«
»Sind Sie verrückt?« fragte Suron und schwang seinen Spazierstock durch die Luft. »Wie in aller Welt ist der Mensch hereingekommen?« wandte er sich an Aino.
»Er stand dort am Telephon,« erklärte Aino.
Suron ging hastig zum Schreibtisch und las den Brief auf der Schreibmaschine.
»Es steht nichts weiter drin,« sagte er halblaut.
Darauf trat er wieder an Krag heran.
»Was wollen Sie hier?« fragte er kurz.
»Herrn Christensen sprechen. Ich habe ihm einen glänzenden Vorschlag zu machen.«
»Sie hören doch, daß Herr Christensen nicht zu sprechen ist, er empfängt niemanden. Hier kommen viele Leute mit dummen Ideen und Vorschlägen. Herr Christensen hat an ganz andere Sachen zu denken.«
»Dumme Ideen,« wiederholte Krag erbittert. »Meine Idee ist eine Erleuchtung, mein Herr. Herr Christensen und ich könnten viel Geld damit verdienen. Millionen! Verstehen Sie, mein Herr? Milli–onen!«
Suron stützte sich auf seinen Stock und betrachtete den anderen forschend. Er machte eine Bewegung mit dem Kopf zum Telephon.
»Was hatten Sie dort zu schaffen?« fragte er.
Krag sprach mit moralischer Entrüstung:
»Glauben Sie, daß ich neugierig bin, mein Herr?«
Suron fragte:
»Wollen Sie jetzt gehen, oder soll ich die Bedienung herbeirufen und Sie hinauswerfen lassen?«
Krag schlug sich theatralisch auf die Brust und schrie:
»Ich lasse mich nicht beleidigen. Uebrigens kann eine Person, die im Zimmer einer Dame den Hut auf dem Kopf behält, mich auch gar nicht beleidigen. Treffe ich Sie anderswo, mein Herr, dann werde ich Ihnen einen Denkzettel auf Ihre weiße Hemdenbrust versetzen.«
Suron wollte sich auf ihn stürzen.
Im selben Augenblick aber warf sich Aino dazwischen, klammerte sich an Surons Arm und bat eindringlich:
»Anders, laß ihn gehen!«
Das wollte Krag hören.
Es war unverkennbar, daß Suron sich nur mit äußerster Anstrengung beherrschte. Und merkwürdigerweise schien es fast, als ob Asbjörn Krag ihn mit Absicht reizte.
»Sie wollen ein Gentleman sein! Hier komme ich und schlage Herrn Christensen ein feines Geschäft vor und werde so behandelt. Das ist unerhört, unerhört!«
Aino hielt noch immer Surons Arm fest, der sich vergeblich zu befreien versuchte.
»Was haben Sie für Referenzen?« fragte er, etwas ruhiger.
Da aber nahm Krag eine stolze Stellung ein, und indem er sich mit selbstbewußter Miene den Bart strich, rief er:
»Referenzen, mein Herr! Meine Person empfiehlt sich selbst. Außerdem wird es sich durch das feine kleine Geschäftchen, das ich vorzuschlagen habe, zeigen – –«
Krag legte eine geheimnisvolle, lüsterne Betonung auf die Worte: »feines kleines Geschäftchen«, die keinen Zweifel über die Natur des Geschäftes ließ.
»Für solche Geschäfte interessiert Herr Christensen sich ganz und gar nicht,« sagte Suron.
»Warum nicht?« Krag war vor den Kopf gestoßen. »Jedes Geschäft ist gut, wenn man nur Geld dabei verdient. Weil Herr Christensen im Krieg Riesengelder verdient hat, ist er noch lange nicht feiner als ich. Wir sind beide Sünder vor dem Herrn. Hahaha.«
Krag lachte selbstgefällig über seinen guten Witz. Seine Plumpheit aber, die anscheinend ganz unbewußt war, hatte den Becher zum Ueberfließen gebracht. Bevor er wußte, wie ihm geschah, stand er mitten auf dem Korridor, wo er sich nach der heftigen Behandlung, die ihm zuteil geworden war, zu sammeln versuchte. Noch klangen ihm Surons letzte drohende Worte in den Ohren:
»Wenn Sie es wagen, sich noch einmal hier zu zeigen, werfe ich Sie zum Fenster hinaus!«
Als Krag durch die Flurtür ging, bemerkte er, daß einer der Hoteljungen ihm einen forschenden Blick zuwarf. Krag begriff, daß er hier einen von Hansten-Jensens kleinen Spionen vor sich hatte. Und er verstand auch das Signalsystem. Der Junge folgte ihm auf die Straße, um festzustellen, welchen Weg er einschlüge, und gab dann dem Chauffeur, der bei dem Autotelephon Wache hielt, einen Wink. Wenige Minuten später würde sicher Hansten-Jensen oder einer seiner Leute davon unterrichtet sein, daß der fremde Herr mit dem langen, braunen Vollbart das Palasthotel verlassen hatte. In dieser Art Spiondienst war Hansten-Jensen Meister. Er hatte alles aufs minuziöseste angeordnet. Durch Leute, die durch ihre tägliche Arbeit über die ganze Stadt verstreut waren, konnte er jederzeit sich die gewünschten Aufschlüsse verschaffen. Straßenkehrer, Chauffeure, Türsteher und Reklameträger, sie alle waren seine »Augen«; und meistens lieferten sie ein gutes Material. Denn alle hatten jene schnelle Auffassungsgabe, die die Jugend der Großstädte sich im Kampf ums Dasein auf Straßen und Märkten erwirbt.
Krag ging geradeswegs in sein Hotel. Er war offenbar bei bester Laune. Als der alte Abraham ihm ein Telegramm überreichte, sprach er leutselig mit ihm. Man konnte ihm nicht anmerken, daß er soeben erst auf schimpfliche Weise hinausgeworfen worden war.
Das Telegramm war ungewöhnlich lang, es füllte mehrere Formulare. Krag las es aufmerksam und legte es dann in seine Brieftasche. Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, sagte er halblaut zu sich selbst:
»Ich habe also noch reichlich Zeit.«
Er machte sorgfältig Toilette, indem er seine Maskierung Stück für Stück abnahm. Es war merkwürdig, mit wie wenigen Mitteln er sich solch vollständig verändertes Aussehen zu geben verstand. Das aber ist gerade die Meisterschaft in der Maskierungskunst, daß man mit wenigen Mitteln die verblüffendsten Wirkungen erzielt.
Als er beim Waschen war – das einzige Badezimmer des Hotels diente einer deutschen Familie als Wohnraum – kam Hansten-Jensen. Krag drehte seinen von Wasser triefenden Kopf zu ihm um.
»Immer im Radfahranzug,« sagte er, »das geht wirklich nicht an.«
»Was wollen Sie,« sagte der dänische Detektiv, »ich bin ein praktischer Mensch und schone mein Zeug. Wir sind nicht alle norwegische Schiffsreeder.«
»Sie müssen nämlich mit mir bei Nimb soupieren,« sagte Krag. »Wie ich gehört habe, soll Nimb noch einige Flaschen Haut-Brion 99 haben.«
Hansten-Jensen sank in einen Stuhl.
»Das paßt brillant,« sagte er, »denn ich bin wirklich müde. Ich werde immer müde, wenn nichts Ordentliches geschieht. Und diesmal haben Sie mir eine Enttäuschung bereitet, lieber Freund. Sonst pflegt stets mindestens ein Mord in Ihrem Gefolge zu sein.«
»Nur Geduld,« sagte Krag lachend, »wir sind noch nicht am Ende.«
Hansten-Jensen zündete sich eine Zigarette an und streckte sich bequem im Lehnstuhl.
»Diesmal glaube ich nicht daran,« sagte er. »Jetzt haben auch die beiden Menschen, wie heißen sie doch noch, Suron und Aino Erko ihre Reise aufgeschoben.«
»Ja, die Fahrkarten sind im Reisebureau abbestellt worden.«
»Aha, Sie scheinen auf eigene Faust zu arbeiten.«
»Sie haben wohl durch das Automobil-Telephon auf dem Rathausplatz erfahren, daß ich wieder hier bin?« fragte Krag.
»Wenn man das System kennt, ist es nicht schwer zu erraten,« brummte Hansten-Jensen ärgerlich. »Es kann nicht schaden, ein Auge auch auf Sie zu haben. Was steht übrigens in dem Telegramm, das Sie vor einer Stunde erhielten?«
»Das müßten Sie doch wissen,« antwortete Krag.
»Es war mir zu lang.«
Krag warf ihm das Telegramm zu.
»Unglaublich! Das handelt ja von nichts anderem als von einem Auto. Einem ›Excelsior‹-Auto, das sich in Christiania herumtreibt. Man telegraphiert, wo es sich von Minute zu Minute aufgehalten hat. Es scheint wirklich sehr wichtig zu sein. Handelt es sich vielleicht um eine Wettfahrt?«
»Auf gewisse Weise,« antwortete Krag. »Es ist die Frage, wer zuerst kommt: Das Auto oder ich.«
Hansten-Jensen beugte sich vor und gab ihm das Telegramm zurück.
»Eine wunderliche Wettfahrt, das muß ich sagen; Sie in Kopenhagen und das Auto in Christiania!«
»Von ihr hängt es ab, ob Sie Ihren Wunsch erfüllt bekommen oder nicht.«
»Welchen Wunsch?«
»Daß auch diesmal ein Mord in meinem Gefolge sein möchte.«
Hansten-Jensen richtete sich auf.
»Sie sind gut gelaunt,« sagte er. »Ihnen ist etwas passiert. Haben Sie mit Jos gesprochen?«
»Nein.«
»Zu diesem Zweck gingen Sie doch ins Hotel?«
»Statt seiner traf ich Suron.«
»In Jos Christensens Zimmer?«
»Ja. Christensen weigerte sich, mich zu empfangen.«
»Es stimmt also nicht, daß Suron Christensen ausweicht.«
»Nein, es stimmt ganz und gar nicht.«
»Sie arbeiten vielleicht sogar Hand in Hand?«
»Warum aber glückte es Ihnen nicht, Herrn Christensen zu sprechen?«
»Wahrscheinlich, weil ich zu unverschämt auftrat.«
Krag erzählte ihm, was sich ereignet hatte. Als er zu dem Punkt kam, wo er gesagt hatte, daß er und Christensen gleich große Sünder vor dem Herrn seien, rief Hansten-Jensen:
»Wenn Sie so auftraten, mußten Sie sich doch klar darüber sein, daß man Sie hinauswerfen würde.«
»Ja.«
»Aber Sie wollten doch mit Herrn Christensen sprechen?«
»Sehr richtig.«
»Es geschah also etwas, das Sie veranlaßte, Ihre Taktik zu ändern?«
»Ja.«
»War dieses Etwas vielleicht Surons unerwartetes Erscheinen? Denn seine Anwesenheit dort war wohl eine Ueberraschung für Sie?«
»Unbedingt.«
»Wollten Sie nicht, daß Suron Ihr Gespräch mit Christensen anhören sollte?«
»Nein, das wäre sehr fatal gewesen.«
Der dänische Detektiv sah Krag zweifelnd an.
»Es muß noch etwas anderes sein,« sagte er. »Sie sind in solch übermütiger Stimmung.«
Krag stand vorm Spiegel und band seinen Schlips.
»Ich will Ihnen sagen, was geschehen ist. Bis vor kurzem habe ich in dieser verfluchten Sache im Dunkeln getappt. Alles war vergeblich. Nichts stimmte. Die Glieder der Kette wollten nicht ineinander passen. Ich war tatsächlich verzweifelt, denn ich sah ein, daß ich das Ganze unter einem falschen Gesichtswinkel sah. Doch hoffte ich, daß die Erklärung plötzlich wie ein Blitz kommen würde, in dessen Schein man alles in blendender Klarheit sehen würde. Dieser Blitz ist jetzt gekommen. Alles stimmt. Wir wollen einen lustigen Abend verleben. Vielleicht geht Ihr Wunsch noch in Erfüllung. Können Sie in einer Stunde fertig sein?«
»Abgemacht. Ich radele nur noch zur Paßkontrolle, um mir die Leutchen anzusehen, die nach Malmö hinüberfahren. Dann stehe ich zur Verfügung.«
»Und ich habe nur einige Telegramme nach Christiania aufzugeben. Dann treffen wir uns bei Nimb.«
»Haben Sie Geld?« fügte Krag noch hinzu.
Der Detektiv zog überrascht seine Brieftasche.
»Ich meine: verfügen Sie über ein kleines Vermögen, etwas Erspartes?«
»Eine Kleinigkeit.«
»Dann spekulieren Sie. Ich telegraphiere noch heute abend nach Christiania, um mir hier ein Bankkonto eröffnen zu lassen. Ich werde morgen spekulieren. Kaufen Sie. Warum soll man nicht auch mit dabei sein?«
»Was wollen Sie kaufen?« fragte Hansten-Jensen neugierig.
»D. O. G. (Dänische Orient-Gesellschaft),« antwortete Krag.
»Die Orientaktien sind heute um fünfundzwanzig Kronen gestiegen,« sagte Hansten-Jensen nachdenklich. »Glauben Sie, daß sie noch weiter steigen?«
»Sie werden morgen enorm steigen,« antwortete Krag.
Es war ein vortreffliches Souper, wie nur das alte renommierte Restaurant es zu liefern verstand. Krag hatte einen Platz gewählt, von wo aus er das ganze Lokal übersehen und selbst ungestört sitzen konnte. Während der ersten Stunde schien er sich nur für die Speisen und Weine zu interessieren, und Hansten-Jensen, der sich mit gewohnter Pünktlichkeit eingefunden hatte, versuchte vergeblich das Gespräch auf etwas anderes zu bringen. Nicht einmal als der dänische Detektiv ihn darauf aufmerksam machte, daß Suron sich im Lokal befand, schien diese Mitteilung Eindruck auf Krag zu machen. Er nickte nur und sagte:
»Habe ihn schon gesehen. Was wünschen Sie zu dieser leckeren Vorspeise. Ziehen Sie Cocktail oder Schnaps vor. Ich möchte Schnaps empfehlen. Man bekommt hier einen dreißigjährigen Aquavit, leicht gekühlt. Aquavit darf ebenso wie feiner Kognak nicht zu kalt sein. Gut, nehmen wir also den Schnaps.«
Der Schnaps und die kalten Vorgerichte, geschmackvoll auf einer silbernen Schüssel, wurden serviert. Nach der Suppe kam Hummer american, der Krag zu weitläufigen Auseinandersetzungen über die Zubereitung von Hummern hinriß. Hansten-Jensen starrte seinen Kollegen, der mit Behagen eine Paul Roger brut 1906 kostete, verwundert an. Er hatte noch nie gemerkt, daß Krag den Freuden der Tafel dermaßen verfallen war. Und er meinte zu verstehen, daß Krag mit diesen lehrreichen Erklärungen bei jedem neuen Gericht einen bestimmten Zweck verband. Die Aufsicht beim Servieren führte ein alter Oberkellner von englischem Typ, der bei Krags Ausführungen überlegen und zugleich verständnisvoll lächelte. Hansten-Jensen folgte diesem Oberkellner mit den Augen und stellte fest, daß er auch den Tisch beaufsichtigte, an dem Suron in einem Kreis von fröhlichen Freunden und Freundinnen saß. Da begann er zu verstehen ...
Erst beim Schinken in Burgunder mit dem Haut-Brion von 1899 schien Krag auch für andere Dinge als die Freuden der Tafel Interesse zu bekommen.
»Kennen Sie die Gesellschaft dort drüben?« fragte er, als der Oberkellner sich zurückgezogen hatte.
»Außer Suron sitzt dort der norwegisch-russische Kaufmann Güssow, der kleine Mann, der wie ein englischer Jockei aussieht. Man behauptet, daß er seine Zimmer mit Geldscheinen tapeziere. Ferner ist da der dänische Rechtsanwalt und Börsenspekulant Henriksen. Von dem wird behauptet, daß er in den Boden seines Tanzsalons mechanische Musikinstrumente hat einlegen lassen, so daß die Apparate auf melodiöse Weise den Bewegungen der Tanzenden folgen, anstatt umgekehrt. Dann kommt der schwedische Baron Grip, der in vierzehn Tagen vier Millionen verdient haben soll. Ferner der reiche Rubensohn, dessen letzte Extravaganz ein Auto zum Transport für sein Rennpferd ›Endymion‹ ist, in dem das Pferd von und zur Rennbahn gefahren wird. Er ist erst neunzehn Jahre alt. Neben ihm sitzt seine Freundin, Fräulein –«
»Um Gottes willen, hören Sie auf,« unterbrach Krag ihn. »Da – Suron hebt sein Glas und grüßt zu uns herüber.«
Krag beantwortete den Gruß mit übertriebener Freundlichkeit und mit einer Miene, als ob er ihn jetzt erkenne.
»Jetzt erzählt er den anderen, wer ich bin,« sagte Krag. »Er beugt sich vor und teilt es ihnen leise mit, und sie sehen hierher. Wie gefällt Ihnen Suron, lieber Freund?«
»Er sieht wie ein Boxer aus,« meinte Hansten-Jensen.
»Das ist er auch. Er ist ein regelrechter Athlet. Hat sicher in Amerika als Kohlentrimmer oder draußen auf den Prärien gearbeitet. Man kann es an seinen Händen sehn, die er vergeblich zu verbergen sucht. Wenn Sie ihm aber jemals begegnen sollten, dann geben Sie auf seine Augen acht. Ich habe selten jemanden getroffen, dessen Physiognomie so viel Willensstärke und Kraft ausdrückt.«
»Er hat ein Gesicht, das Frauen gefällt,« sagte Hansten-Jensen, »er betört sie und macht sie unglücklich. Ich begreife, daß sie weint.«
»Sie meinen Aino. Weinte sie wirklich?«
»Ja.«
»Heute abend?«
»Ich hätte es Ihnen schon früher erzählt, aber Sie waren ja nicht von den herrlichen Weinen und Speisen abzubringen. Im übrigen verstehe ich Ihr Benehmen jetzt. Wenn der englische Oberkellner oder ein anderer neugieriger Gast gefragt worden wäre, wovon wir uns unterhielten, was sollte er dann antworten?«
»Was er wahrscheinlich geantwortet hat, daß wir uns ausschließlich vom Essen unterhalten. Warum aber weinte Aino?«
»Sie versuchte heute abend zu fliehen,« berichtete Hansten-Jensen. »Vor wem, weiß ich nicht. Vielleicht hat Jos sie erschreckt. Vielleicht Suron. Die Wahl ist ja auch nicht leicht. Auf der einen Seite die große Energie, auf der anderen die vielen Millionen. Ich traf sie vor einer Stunde bei der Paßkontrolle. Stellen Sie sich mein Erstaunen vor, als ich zwischen der Schar der Reisenden Fräulein Erko entdeckte, in einem schwarzen Reisepelz, mit einer Tasche von Krokodilleder in der Hand. Ich stellte mich neben den Paßkontrolleur, und in dem Augenblick, als sie ihren Paß zeigte, griff ich ein. ›Ihr Paß ist nicht in Ordnung, mein Fräulein,‹ sagte ich, ›wir können Sie nicht passieren lassen.‹ Ich weiß nicht, wer in diesem Augenblick erstaunter war, sie oder der Paßbeamte, der Paß war nämlich ganz in Ordnung. ›Sie sehen wohl,‹ sagte ich streng zum Beamten, ›daß der Stempel der Staatspolizei fehlt.‹ Das war etwas, das ich im selben Augenblick erfand. Petersen aber war nicht dumm, er stellte mit Bedauern die Unzulänglichkeit ihres Passes fest. Sie versuchte es mit Bitten, aber es half ihr nichts. Da griff sie zum Taschentuch, aber auch das nützte nichts. Es tat mir wirklich leid, so unerbittlich zu sein. Jetzt sitzt sie in ihrem Zimmer im Palasthotel und weint. Ich begleitete sie nämlich dorthin und versprach ihr, den Paß bis morgen in Ordnung zu bringen.«
»Ich fürchte, daß ›der Stempel der Staatspolizei‹ nicht so schnell zu beschaffen sein wird. Welchen Grund zur Flucht kann sie gehabt haben?«
»Vielleicht wollte sie der Wahl entfliehen,« meinte Hansten-Jensen.
»Nein, es bedeutet, daß wir uns der Katastrophe mit Riesenschritten nähern. Sie weiß, was geschehen soll, und versucht im letzten Augenblick zu entkommen.«
Von einem neuen Gedanken ergriffen, fragte der Detektiv:
»Sahen Sie ihre Fahrkarte?«
»Ja, sie hatte eine Fahrkarte nach Christiania. Noch dazu ohne Schlafwagen. Sie hatte offenbar größte Eile.«
Asbjörn Krag war sehr nachdenklich geworden.
»Nach Christiania,« murmelte er. »Die Kleine hat Mut. Sie wollte dorthin zurück –«
»Vielleicht wollte sie nach Christiania, um mit dem ›Excelsior‹-Auto zu fahren,« bemerkte Hansten-Jensen scherzend.
Krag nickte zustimmend. Er sah seinen Kollegen sehr ernst an.
»Lieber Freund,« sagte er, »Sie halten es für Scherz und wissen nicht, wie ernst es ist. Eben deshalb wollte sie nach Christiania!«
Hansten-Jensen trank Krag zu und lachte herzlich.
»Ich sehe ein,« sagte er, »daß Sie heute abend alles ins Lächerliche ziehen, mit Ihnen ist nicht zu reden. Wir wollen uns darum wie alle anderen amüsieren. Sehen Sie, jetzt beginnt der Tanz zwischen den Tischen. Ihr Freund Suron hat den Ball eröffnet.«
»Und morgen steigen die Orientaktien,« sagte Krag. »Mich soll es nicht wundern, wenn sie um ganze hundert Kronen in die Höhe gehen.«
Krags Prophezeiung war richtig. Die Orientaktien stiegen am nächsten Tage riesig. Anfänglich stiegen sie auf vierhundertundsiebzig. Eine Stunde später auf fünfhundert. Kurz vor Schluß der Börse riß man sich darum für fünfhundertfünfunddreißig bis fünfhundertvierzig. Solche Steigerung war sogar in diesen Zeiten ungewöhnlich.
Das Seltsamste war, daß keiner recht wußte, warum diese plötzliche Hausse eingetreten war. Man wußte nur, daß von allen Ecken und Enden gekauft wurde. Das Geheimnisvolle füllte die Luft mit den mannigfachsten Gerüchten und erhöhte die goldenen Möglichkeiten. Es hieß, daß die Orient-Gesellschaft im Begriff sei, ihre großen chinesischen Plantagen zu verkaufen. Andererseits hieß es, daß die Aktiengesellschaft sich zu einem riesigen Trust mit ähnlichen internationalen Unternehmungen zusammentun wollte. Andere wiederum wollten gehört haben, daß die Gesellschaft mit einem großen norwegischen Konsortium unterhandelte. Letzteres Gerücht wurde besonders geheimnisvoll behandelt. Der Direktor der Aktiengesellschaft wurde von Journalisten bestürmt, verweigerte aber jegliche Aussage. Was auch die Ursache sein mochte, der Betreffende, der die Fäden in der Hand hielt, hatte es jedenfalls verstanden, die Sache geheimzuhalten.
Die große Hausse in der D. O. G. wirkte übrigens auf die ganze Börse ein. Alle Papiere stiegen, einige mehr, andere weniger. Die Hausser hatten einen großen Tag. Es war einer dieser schönen Tage, die bisweilen kurz vor Weihnachten mit fast frühlingsmäßiger Wärme eintreffen. Die Stadt hob ihre glänzenden Türme zum blauen Himmel hinauf. Es war, als hätte die gute Laune auf der Börse sich über die ganze Stadt verbreitet. Straßen und Läden wimmelten von Menschen, die Weihnachtseinkäufe machten. Durch den lärmenden Verkehr im Zentrum der Stadt, den Lärm der frohen Stimmen und das eifrige Gedränge der Menschenmassen schien etwas von dem munteren Klang des Goldes zu tönen.
Auch Krag schien von der allgemeinen Sorglosigkeit angesteckt zu sein und hatte offenbar ganz vergessen, daß er hergekommen war, um ein bestimmtes Ziel zu verfolgen und eine bestimmte Arbeit zu verrichten. Die Menschen, die er eigentlich im Auge behalten wollte, schienen ihn gar nicht mehr zu interessieren. Das stellte jedenfalls sein dänischer Kollege, der ihm die verschiedenen Berichte seiner Wachtposten mitteilte, mit Bedauern fest. Er gab seiner Enttäuschung Ausdruck, indem er bemerkte:
»Wie steht's denn mit Ihrer Kriminalsache? Gestern habe ich fast daran geglaubt, als ich Aino Erkos Flucht feststellte. Heute aber interessieren Sie sich für nichts anderes als Ihr Spiel an der Börse.«
»Sie spielen ja auch,« antwortete Krag. »Heute vormittag kauften Sie zu vierhundertfünfundsiebzig. Ich auch. Sie sehen also, daß ich mit meiner Prophezeiung recht hatte.«
»Ohne Zweifel. Und ich fange an, den Zusammenhang zu verstehen. Man flüstert an der Börse von merkwürdigen norwegischen Spekulationen. Wenn ich nun diese Spekulationen mit Jos' und Annebyes Konferenzen in Verbindung bringe, dann haben wir eine Erklärung für das Steigen der Orientaktien. Der juristische Konsulent der Orient-Gesellschaft hat erst heute wieder eine Besprechung mit Jos in seinem Hotel gehabt. Das Manöver geht in tiefster Heimlichkeit vor sich, ich glaube aber doch, daß dieser oder jener eine Ahnung hat. Die Gerüchte nehmen nach und nach festere Form an. Uebrigens eine tolle Hausse heute. Die Börse ist wie wild. Und ich bin überzeugt, daß heute abend jeder einzelne Tisch in den großen Restaurants bestellt ist. Die Restaurateure haben bereits ganze Regimenter von Champagnerflaschen mobil gemacht.«
»Sie sind meinem Rat bisher gefolgt,« sagte Krag, »und sollten ihm fernerhin folgen. Noch können die Aktien der Orient-Gesellschaft mit fünfhundertunddreißig verkauft werden.«
»Fünfhundertundvierzig,« sagte Hansten-Jensen.
»Auch gut. Verkaufen Sie auf alle Fälle. Ich habe meine bereits mit fünfhundertunddreißig verkauft. Das ist doch immerhin ein Gewinn von fünfundfünfzig Kronen per Stück in wenigen Stunden.«
Hansten-Jensen sah seinen Freund unschlüssig an.
»Es wäre doch immerhin möglich, daß die Aktien morgen noch auf sechshundert steigen.«
»Vielleicht gehen die Aktien zu Anfang der Börse noch etwas in die Höhe.« Krag schwieg, als ob er rechnete. »Doch glaube ich, daß sie um die Mittagszeit anfangen werden zu fallen. Und dann fallen sie rapide.«
»Und dann?« fragte der dänische Detektiv.
»Dann,« wiederholte Krag, » dann beginnt meine Arbeit. Die letzten Tage waren Ruhetage; weil ich mich aber ohne Beschäftigung nie wohl fühle, habe ich ein bißchen an der Börse spekuliert. Der reine Zeitvertreib, lieber Freund.«
»Wie ich annehme, hat dieser Zeitvertreib Ihnen etliche tausend Kronen eingebracht.«
»Stimmt. Und wieviel haben Sie verdient?«
»Zwölftausend, wenn ich jetzt verkaufe. Woher wissen Sie mit solcher Bestimmtheit, daß die Aktien fallen?«
»Ich habe ein Telegramm aus Christiania bekommen,« antwortete Krag.
Hansten-Jensen lachte.
»Ihr seid wirklich allwissend dort oben!«
Krag reichte ihm das Telegramm. Hansten-Jensen las es und lachte laut auf.
Das Telegramm lautete:
»Excelsior fährt.«
Keine Unterschrift.
»Soll das das Auto sein?« fragte Hansten-Jensen und lachte sich halbtot.
Krag aber sah ihn ernst an.
»Anstatt sich totzulachen, sollten Sie lieber an Ihr Geld denken. Verkaufen Sie, wenn Sie Ihren Gewinn behalten wollen.«
Der dänische Detektiv überlegte einen Augenblick. Er war abwechselnd munter und ernst. Schließlich sagte er:
»Ich nehme an, daß das Telegramm ein verabredetes Signal ist?«
»Keineswegs, es ist eine tatsächliche Mitteilung. Eine Auskunft. Der Mann, der es abgesandt hat, ahnt nichts von den Spekulationen in den Aktien der Orient-Gesellschaft.«
»Tja, dann verlasse ich mich auf Ihr Wort und verkaufe,« sagte Hansten-Jensen, »ich bin kein Hasardspieler. Hahaha, ›Excelsior‹ fährt! Wie beängstigend!«
Er trat ans Fenster und sah auf die sonnenbeschienene Straße hinunter, die von frohen, sorglosen Menschen wimmelte.
»Ein seltsamer Tag,« sagte er, »ein recht seltsamer Tag.«
»Und der morgige wird noch merkwürdiger,« bemerkte Krag.
Der dänische Detektiv sah seinen Kollegen erstaunt an.
»Sie allein sind so ernst heute,« sagte er.
Es kam genau, wie Krag vorausgesagt hatte.
Zu Anfang der Börse standen die Aktien in fünfhundertundvierzig. Zuerst war die Nachfrage enorm, und der Kurs sprang von fünfhundertfünfundvierzig – fünfhundertfünfundfünfzig – fünfhundertsechzig. Die Artikel der Morgenzeitungen über die Orient-Gesellschaft hatten das Interesse für dieses Papier noch gesteigert. Alle Börsenhabitués waren sich einig, daß etwas Besonderes gärte, und einige hatten sogar eine Ahnung, daß es sich um eine große norwegische Spekulation handelte. Es wurde offen angedeutet, daß die Gesellschaft im Begriff sei, ihre Plantagen zu verkaufen. Eine besonders skrupellose Zeitung hatte sogar gewagt, die Kaufsumme zu nennen – fünfunddreißig Millionen Kronen! Etwas, das die Spannung noch in hohem Maße steigerte, war der Umstand, daß die Direktion der Orient-Gesellschaft unverbrüchliches Schweigen beobachtete. Sie leugnete weder, noch bestätigte die Gerüchte. Die schlauen Spione der Börse aber hatten doch ermittelt, daß sich unter den Käufern der Aktien Personen befanden, die der Direktion erstaunlich nahestanden, und bald sickerte das Gerücht durch, daß die Direktion selbst kaufte.
Sogar der Umstand, daß die Zeitungen verschiedene und widersprechende Mitteilungen brachten, verstärkte die Hausse. Das war ja ein Beweis dafür, daß niemand etwas Bestimmtes wußte und etwas Ungewöhnliches im Gange sei.
Während der ersten Stunden hatte die Börse einen ganz amerikanischen Eindruck gemacht. Der nervöse Eifer und Lärm verpflanzten sich bis zu der spekulationslustigen Menge, die sich draußen drängte, um etwas zu erfahren, und weiter bis zu den Kontoren der inneren Stadt. Während der ersten Stunden wurde von nichts anderem gesprochen, geschrien, telephoniert und telegraphiert als von den D. O. G. Die Börse hatte wieder einmal einen ihrer großen Tage, was bedeutete, daß ein Haufe sonst ganz vernünftiger Menschen während einiger Stunden wie von einer Hypnose oder Tollheit besessen war.
Obgleich niemand etwas Bestimmtes wußte, beteiligten sich alle an der Hausse. Nicht der geringste Zweifel stieg in aller Köpfen auf, die von dem einen Gedanken beherrscht waren: »Kaufen, nur kaufen!« Ein beruhigendes oder warnendes Wort würde in diesem wilden Hexentanz nicht die geringste Beachtung gefunden haben. Die Aktien wurden willig zu sechshundert gekauft, als um zwei Uhr herum eine Pause in der Steigerung eintrat. Plötzlich konnte man über sechshundert nicht hinwegkommen. Als ob ein Schiff zu hart eingeklemmt läge und nicht drehen konnte. Die Aktien fielen kurze Zeit auf fünfhundert, konnten dann aber wieder auf sechshundert getrieben werden, wo sie eine Weile stehenblieben, begannen dann aber wieder zu fallen.
Wie geschehen solche Veränderungen? Die Mitspielenden hätten ebensowenig hierauf, wie auf den Umstand, weshalb sie vor einer halben Stunde fieberhaft geboten hatten, eine Erklärung geben können. Man schien erstaunt, disorientiert. In den aufgeregten Lärm mischte sich ein Ton nervöser Angst. »Börsenmanöver!« Kaum war das Wort ausgesprochen, als es sich lautlos durch die Menge fortpflanzte. Die Bedeutung dieses Wortes setzte sich wie ein bestimmter Verdacht in den Köpfen der Anwesenden fest, und wie Staub von Wind aufgewirbelt wird, so flog dieser Verdacht weit aus dem Börsensaal hinaus.
Plötzlich wußte man etwas Bestimmtes: Börsenmakler Winther hatte verkauft. Massenhaft, wahnsinnig verkauft! Winther war Gerichtsadvokat Annebyes Bankier, und Annebye war der Vertrauensmann der Orient-Gesellschaft!
Die Aktien fielen mit reißender Geschwindigkeit. Fünfhundertundfünfzig, fünfhundert! Ein wildes Stöhnen ging wie ein Ausdruck von Schmerz oder Schreck durch die Börse.
In der letzten Stunde war wirklich etwas Besonderes passiert. Um ein Uhr war Gerichtsadvokat Annebye in sein Auto gestiegen, das vorm Palasthotel hielt, und war direkt zum Kontor der Orient-Gesellschaft gefahren, wo er sich, blaß und verstört, mit der Direktion der Aktiengesellschaft eingeschlossen hatte.
Herr Annebye hatte sich ungefähr um zwölf Uhr mit seiner Aktenmappe unterm Arm im Palasthotel eingefunden. Zwischen zwölf und ein Uhr hatte er unausgesetzt mit seinem Bureau in Verbindung gestanden. Um ein Uhr aber war er vom Hotel fortgefahren.
Die Bedeutung des Geschehenen geht am besten aus den wenigen Worten hervor, mit denen der Generaldirektor der Gesellschaft ihn empfing, als er sich dort einfand.
»Die Frist ist um,« sagte der Generaldirektor, »das Geschäft ist also gestrandet?«
Was war es für ein Geschäft und warum war es gestrandet?
Gerichtsadvokat Annebye war ins Palasthotel gekommen, um Jos zu sprechen. Der norwegische Schiffsreeder aber hatte sich nicht gezeigt.
Seit dem gestrigen Abend war Joh. P. Christensen nicht auf seinem Zimmer gewesen, und niemand wußte, wo er sich befand.
Nachmittags wandte sich das Kontor des Gerichtsadvokaten Annebye an die Detektivabteilung der Polizei. Da der diensttuende Detektivkommissar wußte, daß Hansten-Jensen eine norwegische »Affäre« bearbeitete, gab er diesem den Auftrag, mit Herrn Annebye zu verhandeln.
Als Hansten-Jensen sich dort einfand, ahnte er nicht, was vorlag, und konnte sein Erstaunen kaum unterdrücken, als Joh. P. Christensens Name genannt wurde.
Herr Annebye teilte ihm folgendes mit:
»Wie Sie wohl in der Zeitung gelesen haben, ist in den letzten Tagen lebhafte Nachfrage nach den Aktien der Orient-Gesellschaft gewesen.«
»Das soll ich meinen,« dachte Hansten-Jensen bei sich, »dadurch bin ich um einige tausend Kronen reicher geworden.«
»Der Grund zu dieser Nachfrage«, fuhr Herr Annebye fort, »war ein gewisses Gerücht, das durchgesickert ist, und worüber ich mich nicht weiter auslassen möchte. Nur soviel will ich sagen, daß die Aktiengesellschaft mit einem norwegischen Konsortium wegen Verkaufs einiger ihrer transatlantischen Besitztümer in Verhandlung gestanden hat. Es handelt sich um eine Kaufsumme von ungefähr fünfundzwanzig Millionen. Indessen muß dieses Geschäft jetzt als gestrandet betrachtet werden. Falls Sie also«, fuhr der Gerichtsadvokat nicht ohne Galgenhumor fort, »unter dem Eindruck der allgemeinen Kauflust spekuliert haben, dann rate ich Ihnen dringend, vorsichtig zu sein.«
»Ich spekuliere nie,« antwortete der Detektiv kühl, »und ich nehme an, daß man mich nicht gerufen hat, um mir diesen Wink zu geben, für den ich unter anderen Umständen dankbar gewesen wäre.«
»Natürlich nicht,« antwortete Annebye schnell, »wir haben Sie hergebeten, weil wir – oder richtiger ich – um das Schicksal unseres norwegischen Geschäftsfreundes besorgt sind. Es handelt sich um den bekannten Schiffsreeder Joh. P. Christensen aus Christiania.«
Bei Nennung dieses Namens zuckte Hansten-Jensen zusammen, und Annebye fragte neugierig:
»Sie kennen ihn?«
»Mir ist, als ob ich diesen Namen schon einmal gehört hätte. Vielleicht habe ich ihn in der Fremdenliste gelesen.«
»Höchstwahrscheinlich. Die Presse hat nichts über ihn gebracht. Es lag uns nämlich viel daran, die Verhandlungen geheimzuhalten, und deshalb sind sie auch bisher ausschließlich zwischen Herrn Christensen als Vertreter des norwegischen Konsortiums und mir als Vertreter der Orient-Gesellschaft geführt worden.«
»Wie ist dieser Herr Christensen?« fragte Hansten-Jensen vorsichtig.
»Um Gottes willen,« rief Annebye, »glauben Sie nur nicht, daß wir uns an die Polizei gewandt haben, weil wir uns über Herrn Christensen beklagen wollen. Im Gegenteil, Herr Christensen ist die ganze Zeit äußerst korrekt und fair aufgetreten. An seinem Ansehen in Norwegen ist nicht zu rütteln und er hat uns die feinsten Referenzen und Bankverbindungen vorgelegt. Er hat eine Art, zu verhandeln, die fest, schnell und korrekt ist, er ist im Besitz einer fast amerikanischen Energie und Entschlußfähigkeit.«
»Heißt das, daß er ohne Einwendungen bereit war, auf die Bedingungen der Orient-Gesellschaft einzugehen?«
Der Gerichtsadvokat wurde plötzlich reserviert.
»Nun,« meinte er, »von Herrn Christensens Standpunkt aus gesehen, sind unsere Bedingungen sicher sehr annehmbar gewesen. Auf alle Fälle haben die Unterhandlungen keine Schwierigkeiten gemacht. Heute vormittag um zwölf Uhr sollte das vorläufige Abkommen unterfertigt werden. Wie vereinbart, stellte ich mich mit den Papieren im Hotel ein. Herr Christensen aber erschien nicht. Und das ist der Grund, weshalb wir uns an Sie gewandt haben. Der norwegische Vertreter ist ohne ein Wort der Erklärung ausgeblieben. Das beunruhigt uns. Aus dem Vorhergesagten werden Sie ersehen haben, daß Herrn Christensens Fernbleiben nur durch die zwingendsten Gründe zu erklären ist. Ich fürchte, daß unserem Freund heute nacht ein Unglück zugestoßen sein muß. Und rein zufällig habe ich eine Nachricht bekommen, die diese Auffassung bestätigt.«
»Und diese Nachricht ist?« fragte der Detektiv, indem er sein Notizbuch zog, um sich Notizen zu machen.
»Diese Mitteilung betrifft Schiffsreeder Christensens Auftreten gestern nacht. Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß die Sache mit äußerster Diskretion behandelt werden muß. Nicht allein mit Rücksicht auf uns, sondern vor allem mit Rücksicht auf Herrn Christensen selbst. Ich schicke voraus, daß uns Herrn Christensens Benehmen von gestern abend, soweit wir den Herrn kennen, gänzlich unfaßbar und unverständlich ist und mit seinem sonstigen Auftreten gar nicht übereinstimmt. Sie werden begreifen, daß dies die Sache noch mysteriöser macht.«
Der Detektiv beugte sich vor und fragte leise:
»Meinen Sie, daß Herr Christensen, ja, wie soll ich mich ausdrücken, daß er, rein herausgesagt, total betrunken war?«
Der Gerichtsadvokat wurde sofort sehr feierlich.
»Eben das können wir uns kaum von Herrn Christensen vorstellen. Wir nehmen an, daß er nicht wohl gewesen ist. Man hört ja nicht selten von Menschen, die überarbeitet sind und in einem Zustand von Unzurechnungsfähigkeit das Gedächtnis verlieren oder von ihrer Umgebung nichts mehr wissen. Nur solch ein plötzlicher Krankheitsfall scheint uns Herrn Christensens Benehmen zu erklären. Gestern nachmittag hat er das Palasthotel um sechs Uhr verlassen, ohne daß man ihm etwas Ungewöhnliches anmerkte. Aber schon um zehn Uhr befand er sich in dem Restaurant von Wivel in einem Zustand, der am besten dadurch bezeichnet werden kann, daß er Champagner mit einem Löffel von einem flachen Teller aß.«
Der Detektiv beugte sich über sein Notizbuch.
»Ich bitte Sie,« bemerkte der Gerichtsadvokat, »notieren Sie keine solchen Nebenumstände. Ich glaube, wie gesagt, daß Herr Christensen in einem Anfall von Unzurechnungsfähigkeit gehandelt hat. Er befand sich in Gesellschaft einer sehr fragwürdigen Person, eines ehemaligen Boxers, ›der starke Oliver‹ genannt. Gott mag wissen, wo er diesen Menschen aufgegabelt hatte.«
»Im Café Alhambra,« antwortete der Detektiv.
»Wie beliebt, woher wissen Sie das?«
»Weil uns bekannt ist, daß ›der starke Oliver‹ sich dort meistens aufhält.«
»Ach so. Ist das eine Verbrecherkneipe?«
»Ja, eine sehr gefürchtete Verbrecherkneipe.«
Der Detektiv gab sich den Anschein, als ob er mit großem Eifer Notizen machte. In Wirklichkeit aber las er nur das, das er bereits am Vormittag aufgezeichnet hatte. Er wußte über Jos' Streifzug viel besser Bescheid als Annebye selbst.
In seinem Buch stand unter anderem:
Soweit konnte der Detektiv in seinen Aufzeichnungen Herrn Annebye folgen. Dieser fuhr fort:
»Ferner ist uns bekannt, daß Herr Christensen später an einem Ort gesehen worden ist, der ›Trocadero‹ heißt, wo er zur allgemeinen Verwunderung der Gäste einen seltsamen Kriegstanz aufgeführt haben soll.«
Der Detektiv las in seinem Buch nach:
Constance stand da, weiter nichts. Die Mitteilungen des Herrn Gerichtsadvokaten brachten nähere Erklärung.
Er sagte:
»Herr Christensen verließ das Lokal mit einer Dame, die Constance genannt wird. Wir haben unsere Informationen aus ganz sicherer Quelle, von einem Herrn, der sich zufällig dort aufhielt. Als Herr Christensen mit Constance im Auto fortfuhr, soll er in ziemlich schlimmer Verfassung gewesen sein. Wie wird diese Constance genannt, rote oder gelbe oder grüne?«
»Rote Constance.«
Der Gerichtsadvokat lehnte sich wohlgefällig in seinen Stuhl zurück, blickte zur Decke und strich sich seinen Bart. In einem Ton, dessen Gleichgültigkeit gänzliche Unwissenheit über Constance und ihr Treiben verriet, bemerkte er:
»Das ist so ein romantischer Name, wie man ihn in Polizeiberichten anzutreffen pflegt. Ich erinnere mich aus meiner eigenen Praxis – aber das gehört nicht hierher. Ich möchte betonen, daß ich keine beschränkten Vorurteile gegen die Vergnügungssucht der Leute habe, besonders was Fremde anbetrifft, die sich ja hier in Kopenhagen allerhand erlauben. Meinetwegen kann der norwegische Schiffsreeder sich sowohl mit der roten, der blauen und der gelben Constance, ja, mit dem ganzen Regenbogen amüsieren. Für mich ist das Entscheidende, daß unser Freund sich in einem gänzlich unzurechnungsfähigen Zustand befand – sagen wir meinetwegen, daß er betrunken war, obgleich, wer Herrn Christensen kennt, dies nicht für möglich halten sollte. Höchstwahrscheinlich war er bereits um sechs Uhr, als er das Palasthotel verließ, seiner Sinne nicht mehr mächtig. Und jetzt irrt er hilflos umher und bedarf unserer Hilfe. Falls nicht –«
»Falls nicht?«
»Ein Unglück bereits geschehen ist.«
Herr Annebye sah den Detektiv ernst an.
»Herr Christensen hatte viel Geld bei sich, ungewöhnlich viel Geld.«
»Was nennen Sie heutzutage viel Geld?« fragte Hansten-Jensen.
»Tcha, zehntausend sind viel Geld. Wenn der Betrag aber fünfzigtausend übersteigt, so kann man das ungewöhnlich viel Geld nennen.«
»Woher aber wissen Sie, daß Herr Christensen so viel Geld bei sich hatte?« fragte der Detektiv. »Durch die Bank?«
»Darüber will ich mich nicht äußern. Nur so viel, daß ich es weiß. Er verließ Constance um drei Uhr. Ich habe mein Wissen aus derselben zufälligen aber sicheren Quelle.«
»Um drei Uhr,« murmelte Hansten-Jensen erstaunt. »Das wußte ich nicht.«
»Die Polizei ist wohl auch nicht allwissend,« sagte Annebye lächelnd. »Constance bewohnt eine Villa in der Vorstadt. Wie ich gehört habe, soll sie eine kostbare Einrichtung, Kunstwerke von ganz beträchtlichem Wert haben. Sie hat einen großen Bekanntenkreis und ihr Salon soll häufig der Treffpunkt fröhlichen Beisammenseins sein.«
»Sehr gut möglich,« bemerkte der Detektiv, »in private Zusammenkünfte kann die Polizei sich nicht einmischen.«
»Auch heute nacht soll dort eine muntere Gesellschaft versammelt gewesen sein. Herr Christensen war nicht allein. Es wurde getanzt. Aber, wie gesagt, um drei Uhr hat Herr Christensen die Gesellschaft verlassen.«
»Hat jemand ihn fortgehen sehen?«
»Nein, aber zu jener Zeit verschwand er, und als man sich nach seinem Pelz umsah, war auch der fort. Ich bitte Sie, zu beachten, mein Herr, was das sagen will: ein zur Hälfte oder ganz besinnungsloser Mensch befindet sich allein in der Nacht in jener unsicheren Gegend mit einem Vermögen in der Tasche.«
»Kann ich mit dem Betreffenden sprechen, der Ihnen diese Aufschlüsse gegeben hat?« fragte Hansten-Jensen.
»Unmöglich,« antwortete der Gerichtsadvokat. »Aber Sie können selbst zu Constance gehen und sich alle Einzelheiten berichten lassen. Vor allem aber möchte ich noch einmal betonen, daß ich mich einzig und allein an Sie gewandt habe, damit Sie einem Unglücklichen helfen, der sicher in Not ist.«
Herr Gerichtsadvokat Annebye erhob sich und reichte Hansten-Jensen die Hand zum Abschied.
Der Detektiv dachte bei sich:
»Er ist bei Constance gewesen.«
Etwas später am selben Nachmittag saß Hansten-Jensen an der Bar im Trocadero und genoß in aller Stille einen Cocktail. Er hatte auf einem Taburett neben der Wand Platz genommen und unterhielt sich leise mit einem der Barmädchen. Nur wenige Gäste befanden sich im Lokal, man sparte Licht, und der Raum lag darum im Halbdunkel. Die anderen Räume, die man hinter einer grünen Portiere liegen sah, waren wie schwarze, leere Abgründe, aus denen kein Laut kam. Das ganze Etablissement mit den vielen leeren Tischen und Stühlen und den symmetrisch geordneten, hochbeinigen Taburetts bot ein Bild vollkommener Sinnlosigkeit. Es sah aus, wie ein menschenleerer, halb dunkler Zirkusgang vor der Vorstellung. Alles war auf den munteren Lärm später Abendstunden eingestellt, wenn rauschende Musik, Alkoholgenuß, ohrenbetäubender Lärm und flatternder Tabakrauch die gähnende Langeweile zu vertreiben vermochten. Die wenigen Gäste, die anwesend waren, befanden sich noch unter dem behaglichen Einfluß eines Nachrausches, der alles verzieh und sogar das Gähnen der Mädchen übersah.
Niemand kann so überlegen und gründlich wie eine Bar-Dame ihrem Entsetzen über die Extravaganzen eines frohen Lebemannes Ausdruck geben. Wenn sie sich über den Tisch legt und ihre Meinung über Dinge und Geschehnisse zum besten gibt, entwickelt sie dabei eine unvergleichliche, vertrauliche Allwissenheit und fast imponierende Würde. Ihre Aeußerungen sind immer mit einer Mannigfaltigkeit von Parenthesen gespickt, wie zum Beispiel: »Und das will ein feiner Herr sein« – »das geht doch wirklich nicht an« – »man muß sich doch in acht nehmen« und dergleichen. Sie äußert sich mit echter Ueberzeugung und reicher Sachkenntnis. Eine leichtsinnige Frau spielt meistens gern die Rolle einer Madonna mit Augenaufschlag. Und sie glaubt selbst daran.
Auf diese Weise erfuhr Hansten-Jensen allerhand über das Fest am vorhergehenden Abend. Valborg oder wie sie hieß, begriff nicht, wie so'n feiner älterer Herr sich so unglaublich benehmen konnte. Denn daß er ein wirklich feiner Herr war, hatte er durch das Heer von Champagnerflaschen bewiesen, das er auffahren ließ. Aber Gott, wie taktlos hatte er sich benommen, als er den Champagner über die ganze Bar goß. Daß Valborg selbst ihm behilflich gewesen war, einen Zylinder mit Champagner zu füllen, hatte sie total vergessen.
Und noch etwas anderes hatte Valborg mißfallen. Daß Jos seine gespickte Brieftasche beständig zeigte. Wieder und wieder hatte er sie hervorgezogen und gezeigt, wie sie förmlich mit Tausendkronenscheinen gespickt war. So was tut doch kein feiner Herr! Und Valborg feuchtete ihre Lippen mit Portwein und fühlte mit der Zunge nach, ob der Puderrand auf der Oberlippe auch keinen Schaden genommen habe.
»Bist ja höllisch vornehm geworden,« sagte Estella, die sich zufällig in der Nähe befand und die letzten Worte gehört hatte.
»Halt den Schnabel,« antwortete Valborg und gab der Freundin einen hinten drauf.
Hansten-Jensen merkte, daß er seit längerer Zeit von einem Herrn beobachtet wurde, und jetzt trafen sich ihre Blicke. Es war Suron. Er saß zwischen zwei anderen Herren an der Bar. Sie tranken Champagner mit einigen Mädchen, die hin und her gingen und die Flaschen für den Abend ordneten.
Suron sah nicht fort, sondern schien verständnisvoll zu lächeln, als Hansten-Jensen ihn musterte. Gleich darauf machte der Finne ihm ein Zeichen zu, und sie ließen sich in zwei bequemen Lehnstühlen mitten zwischen den öden Tischen nieder.
Der Detektiv sah den Finnen zum erstenmal in der Nähe. Seine Augen blitzten wie die eines Jünglings, und seine Erscheinung hatte etwas Elastisches und Energisches, als ob er beständig auf dem Sprunge sei. Wie alle anderen, die Suron zum erstenmal trafen, war auch Hansten-Jensen von dieser gesunden und kräftigen Persönlichkeit frappiert. Er wirkte außerdem sympathisch, sein Lächeln war geradezu gewinnend.
Er nannte seinen Namen und auch Hansten-Jensen stellte sich vor. Worauf Suron bemerkte:
»Es freut mich, Sie kennenzulernen. Ich sah Sie neulich bei Nimb mit meinem Freund Krag, und ich kann mir denken, daß Sie ein Kollege von ihm sind. Ich hörte, Daß Sie mit Valborg von Schiffsreeder Christensen sprachen. Ist er wieder aufgetaucht?«
»Woher wissen Sie, daß er verschwunden ist?« sagte Hansten-Jensen.
»Durch seine Sekretärin, Fräulein Aino Erko, eine Landsmännin von mir. Ich war gestern nacht eine Zeitlang mit ihm zusammen und machte mir Sorge um ihn, denn er ist ein guter Freund von mir und in solcher Verfassung hatte ich ihn noch nie gesehen, er war ganz hysterisch.«
Er heftete seine ruhigen, kalten Augen forschend auf den Detektiv. Und dann lächelte er. Hansten-Jensen sah dieses Lächeln, er fing es gleichsam mit seinen Nerven auf, und ein unfreiwilliges Gefühl von Unbehagen überschlich ihn.
»Ich versuchte ihm beizustehen,« fuhr er fort, »aber es war nicht möglich. Schließlich wurde er unverschämt gegen mich und forderte mich auf, mich zum Teufel zu scheren, er sei kein Wickelkind, erklärte er. Na gut, dachte ich, wenn du absolut fünf bis sechs von deinen Tausendkronenscheinen loswerden willst, dann ist der Schaden wohl auch nicht groß. Er verdient sie ja im Handumdrehen wieder. Darum überließ ich ihn sich selbst.«
»Fünf bis sechs,« murmelte Hansten-Jensen, »das langt nicht.«
»Na, sagen wir zehn-, zwölftausend. Obgleich, so viel wird er wohl kaum losgeworden sein.«
»Auch zehn-, zwölftausend reichen noch nicht,« sagte der Detektiv.
Suron hob seine Augenlider ein wenig, und jetzt erst wurde es Hansten-Jensen klar, daß es diese seltsamen Augen waren, die dem Gesicht die ungewöhnliche Intensität verliehen.
»Das ist doch viel Geld,« sagte Suron.
»Fünfzigtausend aber sind noch mehr,« antwortete der Detektiv.
Es entstand eine augenblickliche Pause. Dann fragte Suron plötzlich:
»Woher wissen Sie, daß Christensen so viel Geld bei sich hatte?«
Hansten-Jensen bemerkte Surons lebhaftes Interesse und wich aus.
»Ich weiß nichts Bestimmtes,« sagte er, »aber ich weiß, daß Herr Christensen große Geschäfte vorhatte, und da ist es ja denkbar, daß er bedeutende Summen bei sich trug.«
Surons Gesicht verriet eine gewisse Unruhe.
»Wenn Christensen gestern abend ein kleines Vermögen bei sich hatte,« sagte er, »dann bekommt die Sache ein ganz anderes Gesicht. Denn er zeigte seine Brieftasche reichlich viel. Dabei sieht es ihm gar nicht ähnlich, prahlerisch aufzutreten, ich war über sein Benehmen sehr erstaunt. Er machte einen ganz verwirrten Eindruck. Er hat wohl in der letzten Zeit kolossal gearbeitet und hat sich überanstrengt.«
»Schon möglich,« meinte der Detektiv, »um so mehr eilt es, daß wir ihm zu Hilfe kommen. Sie kennen seine Sekretärin, Fräulein Aino Erko?«
»Ja.«
»Haben Sie sie heute schon gesprochen?«
»Ja, vor einer Stunde. Sie ist sehr unglücklich über das Verschwinden ihres Chefs. Die arme Kleine ist außerdem von einem privaten Kummer betroffen worden. Sie hat ein Telegramm aus Kotka bekommen, daß ihr Vater todkrank ist. Ein altes Sprichwort sagt, daß ein Unglück selten allein kommt.«
Hansten-Jensen war erstaunt über die vielen Unglücksfälle, die plötzlich über das arme Fräulein Aino hereingebrochen waren. Doch sagte er gefaßt:
»Vielleicht kann Fräulein Erko uns Aufschluß darüber geben, wieviel Geld und welche Wertpapiere etwa Jos bei sich gehabt hat. Das ist für unsere Nachforschungen von großer Wichtigkeit.«
»Darüber habe ich Fräulein Erko bereits befragt,« antwortete Suron. »Sie meint, daß der Chef nur einige tausend Kronen bei sich gehabt hat. Von Wertpapieren weiß sie nichts.«
Hansten-Jensen sann eine Weile darüber nach, wie wenig Annebyes und Fräulein Erkos Angaben übereinstimmten. Außerdem hatte der Detektiv den Eindruck bekommen, als ob Suron gern das Vorhandensein einer größeren Summe verneinen wollte. Das eine wie das andere veranlaßte ihn, weiter in ihn zu dringen. Ihm ahnte, daß sich hier ein Geheimnis verbarg.
»Wir können vielleicht mal bei Herrn Christensens Bank anfragen,« sagte er. »Arbeitet er nicht mit der Aktienbank?«
Da aber lachte Suron beinahe überlegen.
»Sonderbar, wie unpraktisch die Herren von der Polizei manchmal sind,« sagte er. »Ich glaube kaum, daß die Bank Ihnen Aufschlüsse gibt, wenn Sie auch Ihre Legitimationskarte vorzeigen. In diesen Zeiten der Spekulation ist Diskretion ja von äußerster Wichtigkeit. Wo aber ist Asbjörn Krag?«
»Ich habe ihn heute noch gar nicht gesehen. Doch habe ich ihm einen Bescheid im Hotel hinterlassen. Wir werden ihn aber bald treffen. Haben Sie Zeit?«
Suron warf einen forschenden Blick auf seine Freunde, die ganz von Valborg und Estella in Anspruch genommen waren.
»Ich habe nichts Besonderes vor,« antwortete er zögernd.
»Aber Sie sind müde?«
Suron lächelte.
»Ich müde!« sagte er. »Ich kann drei Tage und Nächte unterwegs sein, ohne daß man es mir anmerkt, und dies waren erst die ersten vierundzwanzig Stunden.«
»Dann darf ich Sie vielleicht bitten, mir Gesellschaft zu leisten. Mein Auto hält draußen.«
»Wohin soll es denn gehen?«
»Zur ›roten Constance‹. Dort können Sie mir von Nutzen sein. Und Sie wollen einem guten Freund doch gern einen Dienst erweisen, nicht wahr?«
Suron erhob sich sofort bereitwillig.
»Ich begleite Sie,« sagte er. »Ich werde mein möglichstes tun, um bei der Aufklärung mitzuhelfen.«
Er entschuldigte sich bei seinen Freunden, die sich indessen in jenem Zustand der Seligkeit befanden, wo man leicht und sorglos durchs Leben gleitet und sich ohne Gemütsbewegung mit seinen Freunden trifft und von ihnen scheidet. Suron und Hansten-Jensen bestiegen das Auto.
In dieser Zeit der allgemeinen Wohnungsnot konnte man mit Recht die rote Constance um die Wohnung beneiden, die sie sich verschafft hatte. Die Villa lag etwas abseits von der Straße, in einem großen Garten. Es war ein altes Holzgebäude mit zwei Reihen Fenstern. Die unteren waren mit Jalousien bedeckt, wie man sie an französischen Häusern sieht. Vor den oberen hingen von innen dicke, hellgrüne Vorhänge. In der Dezemberkälte wirkte das kleine Haus warm und behaglich.
Durch einen schmalen Gang kamen die beiden Herren zu der Eingangstür, die sich auf der Rückseite des Hauses befand. Davor war ein kleiner Hof. Kaum hatten sie geläutet, als die Tür von einem Bedienten geöffnet wurde. Ein geschickter Theaterregisseur hätte ihn nicht besser ausstatten können. Englischer Stil, etwas korpulent, unbewegliches Gesicht, würdevoll, diskrete grüne Livree mit schwarzen Knöpfen.
Er verbeugte sich steif.
»Gnädiges Fräulein empfangen nicht,« sagte er.
»Donnerwetter, Johnny!« rief der Detektiv, indem er dem Bedienten gemütlich die Schulter klopfte. »Haben uns lange nicht gesehen.«
Johnny zog die Augenbrauen hoch, genau wie ein Bedienter in einem amerikanischen Filmdrama.
»Sie sind dick geworden, Johnny,« fuhr der Detektiv fort. »Damals, Sie wissen wohl, waren Sie viel schlanker –«
Johnny machte eine neue, nicht weniger steife Verbeugung und sagte:
»Die Herren sind willkommen, ich werde Sie melden.«
Damit stieg er schnell die Treppe hinauf und die beiden folgten ihm. Hansten-Jensen sagte lachend:
»Wie soll man so einen eigentlich nennen? Bedienter, Beschützer, Liebhaber oder Ehemann? Ich weiß wirklich nicht.«
Die teppichbelegte Treppe, die verschleierten Lampen, die Gobelins an den Wänden machten auf den Besucher den eleganten und behaglichen Eindruck, den solch ein Taubenschlag machen muß. Aber die ganze Umgebung war auch von wirklichem Geschmack geprägt. An den Wänden des Vestibüls hingen alte wertvolle Kupferstiche, und allein der Schirmständer aus gehämmertem Messing war ein kleines Kunstwerk.
Johnny öffnete die Tür zum Salon.
Es war mehr ein Atelier als ein gewöhnlicher Raum. Er ging durch die ganze Breite des Hauses; in der einen Ecke stand ein Flügel, weiße Statuetten überall, weiche Teppiche, Bilder an den Wänden usw. Es fiel kein Tageslicht herein, aber elektrische Lampen mit grasgrünen Schirmen verbreiteten eine angenehme, gedämpfte Beleuchtung.
Aus dem Dämmer der einen Ecke löste sich eine Gestalt. Es war ein Herr, mit einem Whiskyglas in der Hand.
»Willkommen, meine Herren,« rief er ihnen entgegen, »dies ist ein ganz vorzüglicher Whisky.«
Hansten-Jensen blieb erschrocken stehen.
»Gestern war Jos hier unzurechnungsfähig,« dachte er bei sich, »ist heute Asbjörn Krag an der Reihe? Diese Norweger sind unberechenbar.«
Mit dem Glas in der Hand ging Krag auf die beiden Herren zu und sagte:
»Willkommen, liebe Freunde, es freut mich außerordentlich, Sie hier zu sehen. Unsere schöne Wirtin wird gleich kommen. Ich habe die norwegischen Zeitungen bereits gelesen. Der Scherz ist über Erwarten geglückt. Nehmen Sie Platz!«
»Welcher Scherz?« fragte Hansten-Jensen.
»Ah, da ist unsere Wirtin,« fuhr Krag fort.
In der grünlichen Beleuchtung tauchte die rote Constance auf. Sie hatte sich keine Mühe gegeben, den Herren zu imponieren. Von Johnny hatte sie sicher erfahren, wer die Besucher waren. Sie trug eine jener unbeschreiblichen Morgentoiletten – es war ja erst sechs Uhr am Nachmittag – die bei jüngeren und schöneren Frauen nur dazu da zu sein scheinen, um ausgezogen zu werden, die sie aber trug, weil man doch etwas anhaben muß, wenn man den Milchmann an der halbgeöffneten Tür bezahlt.
»Tag, Jensen,« sagte sie und nickte Suron zu. Darauf machte sie sich an der Stehlampe neben dem Flügel zu schaffen.
»Das Whiskytrinken am Tage ist unausstehlich,« fuhr sie gereizt fort, »mitten am Tage.«
»Ist sie nicht eine herrliche Frau!« rief Krag, indem er sich an einem kleinen Tisch niederließ.
»Ganz meine Meinung,« stimmte Hansten-Jensen bei und nahm Krag gegenüber Platz.
Auch Suron ließ sich am Tische nieder, mit einer Miene, als ob man nach einer durchbummelten Nacht in der ersten Straßenbahn Platz nimmt.
»Haben Sie Karten?« fragte er.
Da aber verlor die rote Constance die Geduld. Bisher war sie auf ihren türkischen Pantoffeln umhergeschlürft und hatte Staub gewischt. Jetzt ging sie auf die Herren zu und sagte:
»Das geht wirklich nicht an, daß Sie mich hier aufhalten. Feine Herren benehmen sich nicht so. Das können Sie einer Dame nicht bieten, Jensen!«
»Whisky!« war Jensens gelassene Antwort.
»Zigarren!« fügte Krag hinzu.
Constance stand einen Augenblick unbeweglich auf dem prächtigen Smyrnateppich, mit dem Staubwedel in der Hand. Nichts aber kann einen festen Willen besser ausdrücken als drei Herren mittleren Alters um einen Tisch. Sie betrachtete diesen Tisch eine Sekunde, ließ darauf ihr Staubtuch auf die Erde fallen und trabte in ihren türkischen Pantoffeln hinaus. Leider konnte sie die Tür nicht hinter sich zuknallen, denn alles war hier auf diskrete Lautlosigkeit eingestellt. Gleich darauf aber glitt die Tür wieder auf und herein trat ein junges Mädchen mit einem Nickeltablett, reich besetzt mit Flaschen und Gläsern. Das Mädchen war jung und hübsch, mit einer weißen Spitzenhaube auf dem Haar – das schönste aber war, daß die Flaschen auf ihrem Tablett die Marke »White Horse« trugen. Sie setzte das Tablett auf den Tisch und verschwand. Die Herren waren jetzt allein, und darum konnte der eine ernst werden.
»Ja,« begann er, »ich habe wirklich in norwegischen Zeitungen gelesen, daß es ein großer Erfolg war.«
»Was?« fragte Hansten-Jensen.
»Die Vorstellung,« fuhr der ernste Herr, es war Asbjörn Krag, fort – »die ›Aktiengesellschaft der 7. Dezember‹ hat großen Erfolg gehabt. ›Die blaue Eule‹ war von oben bis unten ausverkauft. Besonders soll der Schriftsteller Oedegaard mit seinem Vortrag über die Erlebnisse des Aktiengesellschaftskomitees Jubel erweckt haben. Eine Menge Geld ist für die Armen eingenommen. Gestatten Sie, meine Herren, daß ich ein Wohl auf diese vortrefflichen Menschen ausbringe, die sich zu Weihnachten der Armen und Bedürftigen angenommen haben. Es ist nicht mehr als billig, daß wir dem Etablissement ›Die blaue Eule‹ wünschen, daß es nach Weihnachten den Lohn für diese einzig dastehende Arbeit im Dienste der Wohltätigkeit ernten möge.«
Asbjörn Krag stieß mit den beiden anderen an. Hansten-Jensen mischte sich ein neues Glas.
»Ich saufe wie ein Norweger,« sagte er, »um mich zu Ihrer Höhe hinaufzuschwingen und Sie besser zu verstehen. Wissen Sie, daß Jos verschwunden ist?«
»Ja,« sagte Krag, »ich bin hier, um nach ihm zu suchen. Und bin schon lange hier gewesen.«
»Seit wann?«
»Seit drei Uhr.«
Hansten-Jensen zeigte auf Krags Glas.
»Haben Sie ihn dort gesucht?«
Krag hob wieder sein Glas und trank den anderen zu.
»Ich habe auf ihn gewartet und habe auch Spuren von ihm gefunden.«
»Welche Spuren?« Hansten-Jensen stimmte in seinen scherzhaften Ton ein.
»Bisher habe ich nur seinen blutigen Rock und seine leere Brieftasche gefunden. Sie liegen dort neben dem Flügel.«
Asbjörn Krag sagte diese Worte keineswegs in einem spaßhaften Ton, aber doch mit einer Gleichgültigkeit, die mit dem schrecklichen Ernst der Mitteilung ganz und gar nicht im Einklang stand. Hansten-Jensen betrachtete ihn genauer und begegnete einem Blick seiner Augen, einem eigentümlich wachsamen Blick, so daß er bei sich dachte:
»Der ist auf alle Fälle nüchtern. Er spielt Suron nur Komödie vor.«
Der Finne war aufgesprungen.
»Nicht möglich!« rief er. »Ein blutbefleckter Rock, sagen Sie, eine leere Brieftasche ... Großer Gott, bedeutet das nicht ...«
Er konnte keine Worte finden. Es war seltsam, diesen sonst so kaltblütigen Mann so ganz außer sich zu sehen. Auch Asbjörn Krag schien davon überrascht zu sein, denn er sagte, indem er ihn forschend anblickte:
»Ich bin ganz überrascht, Sie in Ekstase zu sehen, Suron, ich dachte, Sie seien gefühllos wie eine Maschine aus Stahl, und jetzt geben Sie förmlich eine dramatische Szene zum besten. Mich dünkt, Sie schreien etwas zu laut, das kleidet Sie nicht.«
Suron zuckte zusammen.
»Ich bin über das Schicksal meines Freundes besorgt, finden Sie das so merkwürdig? Ich habe diesen Herrn begleitet, um mit ihm nach dem Verschwundenen zu forschen. Wenn Sie mich hier aber für überflüssig halten, Herr Krag, dann ziehe ich mich zurück.«
Asbjörn Krag sprang auf und legte ihm die Hand beruhigend auf die Schulter.
»Aber nein,« rief er, »Sie haben mich mißverstanden. Ich bin im Gegenteil froh, daß Sie da sind. Ich habe auf Ihre Ruhe und Geistesgegenwart gerechnet und darum hat mich Ihr Gefühlsausbruch so überrascht. Der blutbefleckte Rock dort lehrt uns ja, daß wir hier nicht Gefühle, sondern Handlungskraft nötig haben. Verstehen Sie mich jetzt?«
Suron drückte ihm warm die Hand.
»Er macht sich über ihn lustig,« dachte Hansten-Jensen bei sich.
Krag ging zum Flügel und nahm ein Paket in braunem Papier auf, das dort auf der Erde lag. Das Paket enthielt einen zerknitterten und beschmutzten Gehrock. Krag breitete ihn aus.
»Nicht wahr,« sagte er, »wir alle kennen Jos' strammsitzenden Gehrock. Und hier ist die Brieftasche. Die Wertsachen sind herausgenommen, aber sie enthält noch einige Papiere, die keinen Zweifel lassen, wer der Eigentümer war.«
Hansten-Jensen untersuchte einige Flecke auf dem Stoff.
»Kein Zweifel, das sind Blutflecke,« sagte er. »Wo haben Sie den Rock gefunden?«
»Ich habe ihn nicht gefunden,« antwortete Krag. »Er wurde heute vormittag auf der Polizei eingeliefert. Ein Milchjunge hat ihn auf dem Hof eines Hauses in der Dragonergasse gefunden.«
»Ein unheimliches Viertel,« murmelte der Kopenhagener Detektiv. »Welche Hausnummer?«
»Nummer 75.«
»Das Haus ist wohl untersucht und abgesperrt worden?«
»Nein.«
»Nicht! Was haben Sie denn mit Hinblick auf diesen unheimlichen Fund vorgenommen. Hier gilt es doch rasch zu handeln.«
»Der Ansicht bin ich auch,« schob Suron ein.
»Ich habe nichts weiter vorgenommen, als hier auf Sie zu warten,« antwortete Krag.
Hansten-Jensen konnte sein Erstaunen kaum unterdrücken.
»Sie haben wohl schon einen bestimmten Verdacht und arbeiten nach einem bestimmten Plan?«
»Ja.«
»Vielleicht halten Sie es sogar für überflüssig, etwas in der Dragonergasse 75 vorzunehmen?«
»Bis auf weiteres halte ich es für Zeitvergeudung. Es sei denn, um festzustellen, welchen Weg Christensen heute nacht gegangen ist. In den Hauptpunkten aber ist es uns schon bekannt, dank der vorzüglichen Arbeit der Kopenhagener Polizei.«
Hansten-Jensen nickte beifällig.
»Vom Trocadero fuhr Christensen direkt hierher, nicht wahr?«
»Ja, und hier war er mit einer großen Gesellschaft zusammen, einer seltsamen Mischung von Damen und Herren, bis halb fünf Uhr.«
Plötzlich unterbrach er sich und fragte Suron:
»Waren Sie hier mit ihm zusammen?«
Suron schüttelte den Kopf.
»Ich war eine Weile mit ihm im Trocadero zusammen. Dort aber war er so unliebenswürdig und übrigens auch so betrunken, daß ich mich drückte.«
»Um halb fünf Uhr hat er sich von hier allein fortgeschlichen. Doch hinterließ er Constance solch reichliche Summe, daß das Fest noch lange fortgesetzt werden konnte. Später haben mehrere Personen ihn allein auf den Straßen herumirren sehen. Seitdem hat niemand mehr etwas von Jos gesehen, und dieser blutige Rock ist die einzige Spur von ihm.«
»Und das ist alles, was man weiß?« fragte Hansten-Jensen eifrig.
»Das ist alles, was man von Christensens Umtrieben heute nacht weiß.«
»Aber mein Gott, das alles beweist doch, daß Schiffsreeder Christensen heute nacht in einem unzurechnungsfähigen Zustand ausgeplündert und wahrscheinlich ermordet worden ist!« rief Hansten-Jensen mit steigender Unruhe.
»Daß er ausgeplündert ist, ist jedenfalls sicher,« meinte Krag.
»Ich begreife Ihre Gleichgültigkeit nicht. Ich kann diese Untätigkeit kaum noch ertragen.«
Krag sah nach der Uhr.
»Warten Sie noch einen Augenblick, wir wollen gleich gehen.«
»Wohin?«
»Zum Palasthotel.«
»Glauben Sie, daß Sie den Verbrecher dort finden?« fragte Suron.
»Nein,« antwortete Krag.
»Wen denn? Haben Sie einen Verdacht?«
»Wenn ich nun Sie in Verdacht hätte?« sagte er lachend und schlug Suron freundlich auf die Schulter.
Eine halbe Stunde später befanden die drei Herren sich im Palasthotel, wo Asbjörn Krag ein großes Zimmer gemietet hatte. Suron erkundigte sich eingehend bei Portier und Inspektor, ob man etwas von dem Verschwundenen gehört habe, bekam aber nur ein verneinendes Kopfschütteln zur Antwort. Hansten-Jensen wunderte sich, daß Krag an diesem Bescheid so wenig Anteil nahm. Als sie sich auf Krags Zimmer begeben hatten, sagte er zu seinem Kollegen:
»Wenn ich Sie recht verstehe, sind Sie sich bereits über das Schicksal des Unglücklichen im klaren.«
Darauf antwortete Krag nichts, sondern sah nur nach seiner Uhr und schien irgend etwas zu berechnen.
»In einer Stunde«, sagte er halblaut, »ist die Uhr halb acht.«
»Hat dieser Zeitpunkt eine besondere Bedeutung?« fragte Hansten-Jensen.
»Ja,« sagte Krag, »große Bedeutung. Und außerdem ist das Wetter wichtig.«
Er blickte aus dem Fenster. Der Rathausplatz lag regenblank im Schein der elektrischen Lampen.
»Häßliches Weihnachtswetter,« bemerkte Hansten-Jensen.
»Wundervolles Wetter,« antwortete Krag vergnügt, »milde und schneefrei. Für unser Vorhaben kann es gar nicht besser sein.«
Der Kopenhagener Detektiv, der einsah, daß Krag etwas Bestimmtes erwartete, worüber er vorläufig nicht sprechen wollte, faßte sich in Geduld und setzte sich an einen Tisch, wo norwegische Zeitungen lagen. Sie waren voll von Berichten über Direktor Reismanns kühnen und glücklich durchgeführten Scherz mit der »Aktiengesellschaft der 7. Dezember«. Das Fest war mit großer Pracht vom Stapel gelaufen und das Publikum hatte sich mit Rücksicht auf den guten Zweck den Bluff gefallen lassen.
Asbjörn hatte sich an den Schreibtisch gesetzt und ordnete allerhand Papiere, die wie Abrechnungen und Protokolle aussahen. Auch Telegramme waren dazwischen. Er schien diese Papiere in Haufen nach einem bestimmten System zu ordnen.
»Es stimmt aufs Haar,« sagte er schließlich.
»Was stimmt?« fragte Hansten-Jensen.
»Meine Abrechnung,« antwortete Krag.
»Ihre private Abrechnung?«
»Nein, in Jos' Angelegenheiten.«
Plötzlich fragte er Suron, der neben ihm saß:
»Wann haben Sie mit Fräulein Erko gesprochen?«
»Heute nachmittag um drei Uhr.«
»Und sie will morgen früh reisen?«
»Ja, ihr Vater ist schwer erkrankt.«
»Ich weiß. Sie hat ein Telegramm aus Kotka erhalten. Wenn aber Herr Christensen bis dahin nicht aufgetaucht ist, was dann?«
»So bleibt es Sache der Polizei, zu entscheiden, ob ihre Anwesenheit notwendig ist. Aber sie hat ja das Hotel seit gestern nachmittag nicht verlassen, kann darum auch keine Auskünfte geben. Außerdem muß man wohl auch Rücksicht darauf nehmen, daß sie eine Tochter ist, die an das Bett ihres todkranken Vaters eilen möchte.«
»Befindet sie sich in diesem Augenblick auf ihrem Zimmer?«
»Ich nehme es an.«
Krag zeigte auf das Telephon.
»Rufen Sie sie bitte an.«
Fräulein Erko war zu Hause, und Suron bat sie, auf Krags Aufforderung, zu ihnen auf Zimmer Nummer 118 zu kommen.
Während man auf sie wartete, ordnete Krag die Plätze um den Tisch. Es war wie vor einer Sitzung. Auf seinen eigenen Platz legte er die Papiere, die er soeben durchgesehen hatte.
Fräulein Erko kam.
Sie war auffallend blaß, und die Blässe wurde noch durch ihr schwarzes Kleid gehoben. Hansten-Jensen dachte bei sich: »Sie ist bereits auf den Tod ihres Vaters vorbereitet.«
Krag geleitete sie artig zu einem Platz am Tische.
Er sprach sein Bedauern aus über die traurige Nachricht, die sie erhalten hatte. Sie antwortete kaum und erschien gedrückt und verschüchtert.
»Ich hoffe, daß Sie morgen reisen können,« sagte er. »Das hängt von den Ereignissen der nächsten Stunde ab.«
Suron schob ein:
»Wir haben ihn noch nicht gefunden. Doch haben wir eine Spur, die uns sehr beunruhigt. Wir sind auf das Schlimmste gefaßt.«
Bei diesen Worten suchte er den Blick des jungen Mädchens. Und er sprach langsam und mit Nachdruck, als wolle er ihr bedeuten, daß seine Worte einen Doppelsinn hatten. Hansten-Jensen fing den Blick des Finnen auf und sah, daß das Gesicht des jungen Mädchens einen seltsamen Ausdruck bei der Verzauberung dieser merkwürdigen Augen bekam. Er fühlte wieder den unerklärlichen Schauder, den er im Halbdunkel der Bar empfunden hatte.
Das junge Mädchen blickte entsetzt drein.
Krag legte seine Hand auf ihren Arm.
»Seien Sie ruhig,« sagte er, »noch kann sich alles zum Guten wenden.«
Er sah auf die Uhr, und suchte darauf zwischen den Papieren auf dem Tisch.
»Wollen Sie uns etwas vorlesen?« fragte Hansten-Jensen.
»Ja,« antwortete Krag, »ich möchte Ihnen eine Novelle vorlesen, allerdings keine literarische Novelle, denn sie besteht ausschließlich aus Telegrammen, Protokollen und anderen Dokumenten.«
»Wovon handelt diese Novelle?« fragte Hansten-Jensen.
»Wenn ich ihr einen Titel geben sollte, würde ich sie ›Die Aktiengesellschaft der 7. Dezember‹ oder ›Wie Jos verschwand‹ nennen. Wo wollen Sie hin, Suron?«
Suron hatte sich plötzlich von seinem Platz in dem weichen Sofa erhoben.
»Ich sitze hier nicht gut in der Ecke,« erwiderte der Finne.
Es fiel Hansten-Jensen auf, daß seine Stimme plötzlich so heiser klang.
»Ich möchte lieber dort sitzen,« fuhr Suron fort, indem er auf einen Stuhl zeigte.
»Ich habe Ihren Platz bestimmt,« antwortete Krag in einem ruhigen und befehlenden Ton, so daß Suron unfreiwillig in die Sofaecke zurücksank.
»Lieber Freund,« wandte Krag sich an Hansten-Jensen, »helfen Sie mir bitte, ihn dort festzuhalten.«
Jetzt verstand Hansten-Jensen.
»Lesen Sie,« bat er ungeduldig.
»Gleich,« sagte Krag, »wenn die Versammlung vollzählig ist. Der ledige Stuhl dort wartet noch auf jemanden.«
»Wen erwarten Sie?«
»Ich erwarte Jos.«
Im selben Augenblick schlug die Rathausuhr halb acht.
Dramatische Ueberraschungen liebte Krag, nicht allein, weil sie ihm eine rein persönliche Befriedigung gewährten, sondern weil der Moment der Ueberraschung von Wert sein konnte. Bei dem Unerwarteten verraten die Menschen sich leichter, als wenn sie Zeit haben, ihre Lage zu überdenken.
Wenn Krag die Absicht gehabt hatte, durch dieses Manöver in den Mienen der Anwesenden zu lesen, so war es ihm glänzend geglückt.
In Hansten-Jensens Augen blitzte es humoristisch. Er kannte die Ueberraschungen seines Kollegen und wußte jetzt, daß Krag die ganze Lösung in der Hand hielt.
Was die junge Dame anbetraf, so schien sie von Krags sensationeller Mitteilung merkwürdig unberührt zu sein. Es war, als ob sie schon alles wüßte und ahnte, was kommen würde. Sie saß unbeweglich mit einem seltsamen versteinerten oder vergrämten Ausdruck da.
Suron dagegen konnte nicht verbergen, daß die unerwartete Mitteilung ihn schwer getroffen hatte. Er sah mit einem komischen Ausdruck fragender Neugierde von einem zum anderen. War das Ganze ein Scherz? Sollte er laut lachen? Er wählte das Vernünftigste, was er tun konnte, und wartete schweigend alles weitere ab. Um seine Gemütsbewegung zu verbergen, zündete er sich eine Zigarre an und hüllte sich in den blauen Rauch ein, während er sich in die Sofaecke zurücklehnte.
Krag blätterte indessen unberührt in seinen Papieren, während draußen die tiefen Töne der Rathausuhr verklangen, ohne daß etwas eintraf.
Er blickte ruhig auf, wie ein Vorsitzender, der eine langweilige Komiteesitzung leiten soll.
»Vielleicht müssen wir einige Minuten warten,« sagte er, »obgleich ich nach dem letzten Telegramm annehmen darf, daß Jos pünktlich sein wird. Das Wetter ist ja ausgezeichnet.«
Bei dieser Bemerkung mußte Hansten-Jensen lächeln.
Krag fuhr fort:
»Um indessen keine Zeit zu verlieren, will ich mit der Einleitung beginnen. Ich brauche wohl nicht erst auseinanderzusetzen, daß Christensens Verschwinden mit der ›Aktiengesellschaft der 7. Dezember‹ in enger Beziehung steht.«
»Ich dachte, daß die Komödie bereits zu Ende gespielt sei,« fiel Hansten-Jensen ein.
»Das dachte ich auch,« sagte Krag, »ich bin aber eines Bessern belehrt worden. Die Komödie, die hoffentlich heute abend ihren Abschluß finden wird, ist eine merkwürdige Mischung von Scherz und Ernst. Anfangs sollte sie nur Scherz enthalten, das Schicksal aber wollte es anders, und so kam der Ernst hinzu. Glücklicherweise hat es sich so gefügt, daß wir der großen Tragödie entgangen sind, obgleich sie ursprünglich geplant war. Wie wir alle wissen, verschwand Jos vor sechs Tagen in Christiania –«
Hansten-Jensen riß den Mund vor Staunen auf.
»Vor sechs Tagen in Christiania!« rief er. »Er ist doch erst heute nacht um fünf Uhr in Kopenhagen verschwunden!«
Krag antwortete mit gemachter Ueberlegenheit:
»Lieber Freund, unterbrechen Sie mich nicht. Behalten Sie lieber den Herrn dort im Sofa im Auge, damit er unser friedliches Beisammensein nicht stört.«
Suron saß unbeweglich da. Hansten-Jensen sah, daß er sehr blaß geworden war, und von nun an ließ er ihn nicht mehr aus den Augen.
Asbjörn Krag wollte gerade in seinem Bericht fortfahren, als ein lautes Klopfen an der Tür erklang.
»Da ist er,« sagte Krag und machte gleichzeitig seinem Kollegen ein Zeichen zu.
Es war wirklich Jos, der ins Zimmer trat.
Aber nicht Jos, den man erwartet hatte, der verbummelte, mißhandelte Jos, sondern der Schiffsreeder Joh. P. Christensen, wie man ihn kannte, wenn er aus seinem Auto stieg, den pelzgefütterten Automobilmantel zurückgeschlagen, die gewaltigen Handschuhe und die Pelzmütze unterm Arm, mit den buschigen Augenbrauen und dem graugesprenkelten Spitzbart, der von der Winterkälte feucht war.
Er blieb mit einem kurzen Kopfnicken neben der Tür stehen.
»Guten Abend,« sagte er, »komme ich zu spät?«
»Nein,« erwiderte Krag, »wir haben eben erst begonnen. Dort steht ein Stuhl für Sie bereit.«
Jos blickte sich im Zimmer um, ging dann schnell auf Suron zu und sagte:
»Wir haben noch miteinander abzurechnen.«
Suron erhob sich langsam.
»Für wieviel haben Sie hier in Kopenhagen für mich abgeschlossen?«
Er bekam keine Antwort. Statt dessen warf Hansten-Jensen sich auf Suron und packte ihn an den Armen.
Ein Gegenstand fiel klirrend zu Boden. Es war Surons Revolver. Der Detektiv schleuderte ihn mit dem Fuß beiseite und drückte den Finnen ins Sofa hinein. Darauf sah er Krag fragend an.
»Ich glaube kaum, daß wir ihm Handeisen anzulegen brauchen,« meinte Krag gelassen. »Er sitzt da ja gut auf dem Platz, den ich ihm angewiesen habe. Uebrigens bereiteten Sie mir soeben eine Ueberraschung, Suron,« fügte er zu dem totenblassen Finnen gewandt hinzu, »ich habe Sie für kaltblütiger gehalten. Was meinten Sie mit dem Revolver zu erreichen? Glaubten Sie, daß Sie entkommen könnten? Man hätte Sie auf alle Fälle auf der Treppe angehalten.«
Suron strich sich mit der Hand über die Stirn.
»Mit Ihnen habe ich nichts zu schaffen,« sagte er schließlich. »Ich habe nur mit diesem Herrn dort« – er zeigte auf Jos – »zu verhandeln. Die Erklärungen von seiten der Polizei sind gänzlich überflüssig.«
»Es sind keine Erklärungen, ich stelle nur Tatsachen fest. Und von diesen Feststellungen hängt es ab, ob Sie hier oder auf der Polizei mit Herrn Christensen verhandeln werden. Sie gestatten wohl, daß ich fortfahre. Werfen Sie nur einen Blick auf meinen Kollegen, mit dem ist nicht zu scherzen.«
»Gestatten Sie mir nur eine Frage, Herr Christensen,« sagte Hansten-Jensen. »Sie sehen aus, als ob Sie von einer großen Autofahrt kämen. Aber von der roten Constance bis zum Palasthotel ist der Weg doch nicht weit.«
»Rote Constance?« murmelte Jos verständnislos.
»Sie sind doch zuletzt heute morgen um fünf Uhr bei der roten Constance gesehen worden!«
Jetzt griff Krag ein.
»Zu der Zeit war Herr Christensen viele Meilen von Kopenhagen entfernt,« sagte er.
Jos zog seinen Mantel aus und steckte Handschuhe und Mütze in die geräumigen Taschen. Er trocknete seinen Bart und schüttelte sich, als wollte er seine Muskeln prüfen. Darauf nahm er auf dem ledigen Stuhl am Tische Platz. Er sah nichts weniger als spaßhaft aus in diesem Augenblick. Seine untersetzte, kräftige Gestalt drückte ungeduldige Entschlossenheit aus.
»Ich möchte jetzt reinen Wein eingeschenkt bekommen,« sagte er.
»Ich bin gerade dabei, den Versammelten die Lage zu erklären,« antwortete Krag. »Was ich bisher mitteilte, war Ihnen schon bekannt. Wie schon so häufig,« fuhr Krag fort, »sind wir auch bei dieser Sache auf ein charakteristisches Doppelspiel gestoßen. Ursprünglich werden wir von einer Affäre gefesselt, doch ohne daß wir es anfänglich merken, beginnt eine zweite Affäre nebenher zu laufen und sich mit der ersten zu vermengen. Dadurch bekommt die Sache etwas Rätselhaftes und anscheinend Unlösbares. In dem vorliegenden Fall hat ein verschlagener Verbrecher sich solch ein Doppelspiel zunutze machen wollen, um einen unerhörten Coup zu machen. Der verschlagene Mensch, von dem ich spreche, sitzt dort in der Sofaecke. Wie ich sehe, hat er den vernünftigen Entschluß gefaßt, sich als aufmerksamer Zuhörer ganz still zu verhalten. Lieber Suron, sollte ich einen Fehler in der Darstellung machen, bitte ich Sie, mich zu verbessern.
Wir haben«, setzte Krag seinen Bericht fort, »den Ausgangspunkt der Affäre in dem burlesken Aufzug zu suchen, den einige Herren in Christiania arrangierten und unter dem Namen: ›Aktiengesellschaft der 7. Dezember‹ auch ausführten. Bei diesem Aufzug hatten auch Sie, Herr Christensen, eine Rolle.«
»Ich hatte mir aber vorbehalten, unter Ausschluß der Oeffentlichkeit mitzuwirken,« wandte Christensen ein.
»Sehr richtig. Diesen Vorbehalt machten Sie, weil Sie meinten, daß der Scherz Ihr Ansehen als ernsthafter Geschäftsmann schädigen könnte. Man kann ja nicht leugnen, daß der Scherz ziemlich derb war, wenn er auch zum Zweck der Wohltätigkeit geplant wurde. Wir wissen, daß auf Grund einer Wohltätigkeitsvorstellung eine große Reklame gemacht werden sollte, damit ganz Christiania sich in der ›Blauen Eule‹ einfände. Vier Teilnehmer des Komplotts sollten nach und nach verschwinden, auf die sensationellste Art, nachdem sie geheimnisvolle, hellblaue Briefe empfangen hatten. Ich muß gestehen, der Plan glückte vortrefflich, denn alle Welt ging auf den Leim. Zuerst verschwand Reismann, dann von Brakel, dann Doktor Oedegaard. Darauf sollte Herr Christensen an die Reihe kommen.«
»Stimmt,« schob Christensen ein. »Indessen hatte ich um Dispens gebeten, unter anderem, weil mich plötzlich sehr wichtige Geschäfte nach Kopenhagen riefen.«
»Soweit ist alles ganz klar,« fuhr Krag fort. »Sie wußten um das Komplott. Aber noch jemand anderes wußte darum, auf den Sie sich verlassen zu können meinten: Ihre Privatsekretärin, Fräulein Aino Erko. Besondere Umstände veranlaßten sie, dieses Vertrauen zu mißbrauchen. Der Hauptumstand war der, daß sie von ihrem Bruder dazu gezwungen wurde. Brauche ich Ihnen ihren Bruder vorzustellen, meine Herren? Dort sitzt er in der Sofaecke. Es ist Suron. Dieser Mann hat bisher die Rolle ihres Kavaliers, ihres Verlobten, ihres Liebhabers, ja, was Sie wollen, gespielt, in Wirklichkeit ist er ihr Bruder. Als ich ihn zum erstenmal an jenem Abend vor Herrn Christensens Haus sah, als er sich fortschlich und sein ›Excelsior‹-Auto bestieg, bekam ich den Verdacht, daß er einen Finger mit im Spiel habe, aber erst hier in Kopenhagen ist mir die ganze Tragweite seines frechen Planes klar geworden.«
Die Anwesenden lauschten Krags Darstellung unter tiefstem Schweigen. Fräulein Erko starrte vor sich hin und schien völlig unberührt. Suron lächelte sarkastisch. Hansten-Jensen machte sich Notizen in seinem Buch. Krag fuhr fort:
»Durch seine Schwester bekam Suron Einblicke in Christensens Unternehmen in Kopenhagen. Er begriff, daß hier große Summen zu verdienen waren, nicht für ihn, den unbekannten Abenteurer ohne Geld, sondern für den soliden Geschäftsmann Joh. P. Christensen. Hierauf baute er seinen großen Plan. Er beschloß, in die Geschäfte der ›Aktiengesellschaft der 7. Dezember‹ einzugreifen. Durch seine Schwester hatte er erfahren, daß Christensen am Abend des 6. Dezember in seinem Auto nach Kopenhagen fahren wollte. Gleichzeitig hatte er in Erfahrung gebracht, daß Jos seinem Versprechen gemäß die Freunde in dem alten Wirtshaus Tyrihöhe besuchen wollte, unter anderem, um mit Reismann über seine Beteiligung an dem Geschäft in Kopenhagen zu verhandeln. Das machte er sich zunutze. Mittags um drei Uhr hält er mit seinem Auto vor Jos' Kontor, und dieser, der natürlich glaubt, daß die Botschaft aus Tyrihöhe kommt, steigt ein und läßt sich entführen. Auf diese Weise macht er sich einen Scherz nutzbar, und gleichzeitig mischt sich der Ernst in den Scherz, meine Herren. Am selben Tage, einige Stunden später kommt die richtige Mitteilung aus Tyrihöhe, da aber ist Jos bereits auf und davon, und ich nehme den blauen Brief als Vorwand, um den Unternehmern auf die Spur zu kommen. Als ich dabei die Ueberzeugung gewinne, daß Jos' Verschwinden ein Geheimnis enthält, das nicht mit der ›Aktiengesellschaft der 7. Dezember‹ in Zusammenhang steht, fasse ich den Entschluß, die Sache von diesem Ausgangspunkt zu verfolgen. Am Abend desselben Tages entdecke ich eine schwache Spur, indem ich Surons merkwürdiges Gebaren vor Jos' Kontor beobachte. Ich gehe in den Freisinnigen Klub und bin dort Zeuge des Schlußspieles zwischen Direktor Reismann und Stenesen.«
»Darüber bin ich unterrichtet,« bemerkte Jos. »Ich habe Reismann vor meiner Abreise in Christiania gesprochen.«
»Schön. Im Klub erhalten wir die erste Nachricht von Jos. Er hat ein Telegramm aus Moß gesandt, daß er sich auf dem Wege nach Kopenhagen befindet, und ordnet an, daß seine Privatsekretärin, Fräulein Erko, ihm bestimmte Dokumente und Wertpapiere dorthin bringen soll. Dieses Telegramm hat natürlich gar nicht existiert. Es ist nur eine Mitteilung, die Fräulein Aino Billington auf Verlangen ihres Bruders machte. Nicht wahr, Fräulein Aino?«
Die junge Dame nickte nur.
»In Wirklichkeit befand Schiffsreeder Christensen sich in der Nähe von Christiania, wo er in einer kleinen Sportshütte gefangengehalten wurde, die Suron und seinem Helfershelfer Hekki, auch einem Finnen, gehörte, der den Auftrag hatte, den Gefangenen zu bewachen. Ich hoffe, daß man Sie nicht zu schlecht behandelt hat?«
»Ich war unter strengster Bewachung,« erklärte Jos, »und man drohte mir, daß man mich ohne Umstände niederschießen würde, wenn ich einen Fluchtversuch machte. Außerdem nahm man mir alle meine Papiere und Gelder ab. Ich muß gestehen, daß ich höchst erstaunt war, als Suron sich als internationaler Verbrecher entpuppte. Zuerst dachte ich, das Ganze sei Scherz, ein neuer Einfall von Reismann, bald aber wurde ich vom Gegenteil überzeugt. Alles in allem aber kann ich über die Behandlung nicht klagen.«
»Anfangs war ich im Zweifel, ob Sie nicht doch das Telegramm aus Moß abgesandt hatten und auf dem Wege nach Kopenhagen seien. Indessen war mein Mißtrauen einmal geweckt und wurde durch Surons Auftreten an dem Abend im Klub bestärkt. Er bot Stenesen Teilung an und gewann eine große Summe.«
»Reismann behauptet, es sei Betrügerei mit im Spiel gewesen.«
»Das war es auch. Darauf aber kommen wir später noch zurück. Ich habe Surons Schulden ordnungsgemäß hier in meinen Papieren aufgestellt. Soweit ich sehen kann, war sein Anteil an dem Kompaniegeschäft vierunddreißigtausend Kronen, aber ich habe die ganze Summe achtundsechzigtausend Kronen auf sein Konto gesetzt, weil er für den ganzen Betrag verantwortlich ist ... Hallo, bleiben Sie nur sitzen, ich habe noch mehr Posten für Sie notiert.«
»Alles in allem«, fuhr Krag fort, »waren meine Eindrücke von den Ereignissen des Nachmittags und Abends so stark, daß ich beschloß, eine Reise nach Kopenhagen zu machen. Vor meiner Abreise aus Christiania traf ich allerhand Dispositionen. Unter anderem trug ich unserem allerbesten Spürhund auf, dem ›Excelsior‹- Auto zu folgen und auf diskrete Weise Erkundigungen über Suron einzuziehen. Außerdem sollte er die erbrochenen Siegel und Karten, die von dem Spielinspektor des Klubs verwahrt wurden, aufs genaueste untersuchen. Darauf bestieg ich den Zug nach Kopenhagen und war nicht erstaunt, Suron dort zu treffen. Ich hatte eine Maske angelegt, die es ihm unmöglich machte, mich zu erkennen. Nicht wahr, Suron, gegen den französischen Handelsreisenden, der Ihrer Schwester gegenübersaß, nährten Sie nicht den geringsten Verdacht?«
Suron beschränkte sich darauf, die Augenbrauen hochzuziehen, aber diese Bewegung verriet, daß die Mitteilung ihm neu und überraschend war.
»Dagegen überraschte es mich, daß Fräulein Aino in Helsingör ausstieg. Damals war mir der Zusammenhang ja noch nicht klar. Jetzt verstehe ich ihn besser. Soeben rühmte ich mich der Verkleidung als französischer Handelsreisender. Darf Ihnen, Suron, jetzt mein Kompliment machen über Ihre glänzende Maske als Schiffsreeder Joh. P. Christensen. Ich erkannte Sie nicht in Helsingör und auch später nicht.«
Bisher hatte Hansten-Jensen Krags Schilderung zugehört und sich emsig Notizen gemacht. Jetzt legte er seinen Bleistift mit einem kleinen Knall auf den Tisch, lehnte sich zurück und brach in ein schallendes Gelächter aus.
Christensen sagte ruhig und ernst:
»Nach und nach wird mir alles klar. Ich begreife nur nicht, wie ein Mensch so unverschämt sein kann.«
»Hasard!« antwortete Krag. »Suron ist ein ausgesprochener Hasardspieler, dreist, brutal. Das stimmt auch genau mit den Aufschlüssen überein, die ich soeben von meinem Gewährsmann aus Christiania erhalten habe. Damals aber war ich der bestimmten Meinung, daß es Schiffsreeder Joh. P. Christensen sei, der mit seiner Privatsekretärin von Helsingör nach Kopenhagen fuhr, um dort große Geschäfte abzuschließen.«
Als Krag merkte, daß Jos bei diesen Worten Unruhe verriet, fügte er hinzu:
»Auf die Art dieser Geschäfte will ich hier nicht näher eingehen. Nur erwähnen möchte ich, daß es sich um den Ankauf von Plantagen der ›Orient-Gesellschaft‹ handelte und daß man allgemein von einer Kaufsumme von fünfunddreißig Millionen Kronen sprach. Wegen dieses Geschäftes war Jos nach Kopenhagen gekommen. Natürlich waren schon vorher schriftliche Verhandlungen darüber geführt worden, vielleicht brauchte der Vertrag nur noch unterschrieben zu werden. Der falsche Jos führte natürlich alle Dokumente mit sich, die er von der Privatsekretärin bekommen hatte. Außerdem hatte dieser Jos ein Bankkreditiv und gewisse diskrete Aufträge von Freunden in Christiania, darunter von Reismann, daß er die Hausse in der ›Dänischen Orient-Gesellschaft‹, die unfehlbar eine Folge von Jos' großzügiger Finanzoperation sein würde, aufs beste ausnutzen sollte. So war unser Freund Jos glänzend ausgerüstet. Nur daß unser Freund Jos nicht Jos, sondern Suron war, während der richtige Jos in Surons Sporthütte gefangengehalten wurde. Ich muß zugeben, daß selten ein Hasardspieler und Schwindler solch gute Karten in der Hand gehabt hat. Daß das Spiel trotzdem nicht glückte, liegt, glaube ich, an meiner Anwesenheit in Kopenhagen.«
Nach einer kleinen Pause fuhr Krag fort:
»Obgleich ich anfänglich keinen Verdacht hegte, daß Jos nur ein verkleideter Betrüger sei, kam mir die ganze Sache nach und nach doch merkwürdig vor. Vor allen Dingen konnte ich mich an die Telegramme meines Mitarbeiters in Christiania halten. Er war dem ›Excelsior‹-Auto beständig gefolgt und hatte entdeckt, daß die Sporthütte etwas Mystisches an sich hatte. Ferner hatte er durch genaueste Untersuchung der Karten des Klubs festgestellt, daß sich Fingerabdrücke darauf befanden, die weder Reismanns, Stenesens noch die des Spielinspektors waren. Ich möchte darauf wetten, daß es Surons sind und ich bin neugierig, welche Aufschlüsse uns die Polizei in Monte Carlo, Ostende und London geben wird, wenn wir uns bei ihr nach Anders Suron aus Helsingfors erkundigen.
Was meinen Verdacht, daß Suron ein falsches Spiel trieb, bestärkte, war der Umstand, daß er Jos hier in Kopenhagen auswich, obgleich er mit ihm befreundet war. Ich sah sie nie zusammen. Entschuldigen Sie, bester Herr Christensen, daß ich Sie eine kurze Zeit wegen eines Liebesverhältnisses im Verdacht hatte, bei dem Fräulein Aino der Mittelpunkt war. Jetzt wissen wir ja alle nur zu gut, warum Herr Christensen und Suron sich nie zusammen zeigten. Sie waren ein und dieselbe Person. Schließlich beschloß ich, Jos persönlich in meiner Verkleidung als französischer Handelsreisender einen Besuch zu machen, um Gewißheit zu erlangen. Ich traf Jos nicht an, statt dessen kam Suron aus seinem Zimmer. In dem Augenblick, als ich ihn sah, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und um mich aus der unerwarteten Situation zu retten, machte ich eine Szene, die damit endete, daß man mich hinauswarf.
Plötzlich stimmten alle meine Berechnungen. Suron hatte als Jos mit der ›Dänischen Orient-Gesellschaft‹ unterhandelt. Diese Unterhandlungen hatte er benutzt, um an der Börse zu spekulieren. Er wußte ja genau, ob das Papier steigen oder fallen würde. Nun hätte er sich damit begnügen sollen, Reismanns Depositionen und Christensens Kreditiv zu heben, samt den anderen Wertpapieren, zu denen er durch Christensens Bank Zugang hatte, zu realisieren, dann wären wir seiner vielleicht niemals habhaft geworden. Aber er sah die Möglichkeit eines noch größeren Gewinnes und da wurde er von der Spielleidenschaft ergriffen. Er entwarf einen Plan, der es ihm möglich machte, sich und seine Schwester zu retten, ja, vielleicht nach Christiania zurückzukehren und dort ein angenehmes Leben weiterzuführen. Dieser Plan aber war nur durch einen Mord durchführbar. Gestern abend ging er als Jos verkleidet aus, spielte den Betrunkenen, der nach einem Besuch bei der ›roten Constance‹ verschwand und dessen blutbefleckten Rock man in einer der berüchtigten Seitenstraßen Kopenhagens fand. Darauf konnte Suron sich, von seiner Verkleidung befreit, ruhig in Kopenhagen zeigen und sich mit seinem Raub hinbegeben, wohin er wollte, während Kopenhagen noch eine unaufgeklärte Raubmordgeschichte mehr zu verzeichnen gehabt hätte.
Durch meine Mitarbeiter in Christiania war Jos mittlerweile befreit worden. Ich ließ ihn bitten, den Zusammenhang der Sache zu verschweigen und sich sofort mit seinem Auto hierherzubegeben. Das Wetter war herrlich und die Reise ging schnell vonstatten. Durch Fräulein Erko habe ich erfahren, was Suron an der Sache verdient hat. Es genügt, um die Betrügerei mit den versiegelten Karten, Reismanns Verlust, das abgehobene Kreditiv und alle anderen Ausgaben zu decken. Das Geld ist in Sicherheit. Lieber Jensen, tun Sie jetzt Ihre Pflicht.«
Mit einem Wutschrei sprang Suron auf, im nächsten Augenblick aber war er übermannt und in Eisen gelegt.
»Um aber das Spiel zu gewinnen,« sagte Jos empört, »hätte ich doch aus dem Wege geräumt werden müssen. Glauben Sie wirklich, daß er das im Sinn hatte?«
»Ich sagte ja bereits,« antwortete Krag ernst, »daß Mord mit im Spiel war.«
*
Der Fall Suron kam nicht vor Gericht.
Was Jos mit Gerichtsadvokat Annebye vereinbarte, gehört nicht in diese Erzählung. Tags darauf stiegen die Aktien der »D. O. G.« um fünfundsiebzig.
Asbjörn Krag und Hansten-Jensen aber spekulierten nicht mehr, denn zeitig am Morgen hatten sie sich mit dem finnischen Geschwisterpaar auf die Reise begeben, um es an der finnischen Grenze der zuständigen Polizei zu übergeben, die ihm mit großem Interesse entgegensah.
Joh. P. Christensen hatte ausdrücklich solche Lösung der Angelegenheit gewünscht. Bei näherer Ueberlegung hatte er nämlich gefunden, daß es schade sein würde, wenn eine sensationelle Gerichtsverhandlung den munteren Scherz verdürbe, den die »Aktiengesellschaft der 7. Dezember« so verdienstvoll durchgeführt hatte.