Besucherzähler

SPRUCH DES JAHRES

Die Zensur ist das lebendige Geständnis der Großen, daß sie nur verdummte Sklaven treten, aber keine freien Völker regieren können.

Johann Nepomuk Nestroy

SPRUCH DER WOCHE

Duldet ein Volk die Untreue von Richtern und Ärzten, so ist es dekadent und steht vor der Auflösung.

 

Plato

 

LUSTIGES

Quelle: Aus dem umgestülpten Papierkorb der Weltpresse (1977)

Rubrik: Das süße Leben

Dallas, Texas - Vor einem Gericht gab Jack Stinney an, er habe seine Frau nur des Spaßes wegen verprügelt. Auf die erstaunte Frage des Staatsanwaltes ergänzte Stinney dann seine Aussage: "Allerdings verprügelte ich meine Frau nur wegen des Spaßes, den sie mit drei anderen Männern gehabt hatte."

Die Lehmänner
Die Lehmänner

Der Jäger von Fall

Ludwig Ganghofer

 

Kapitel 11-15

 

 

Kapitel 11

 

Benno hatte sich über Friedls Verschwinden beim Scheibenschießen bös geärgert. Und als auch die Preisverteilung am Nachmittag vorüber gegangen war, ohne dass Friedl sich sehen ließ, hatte Benno verdrossen ein Wägelchen bestellt, um einen Ausflug nach dem Achensee zu machen. Dort unterhielt er sich so gut, dass er seinen Aufenthalt im sanglustigen Rainerhof über fünf Tage ausdehnte. Dann wanderte er durch den Bergwald zurück nach Fall.

Es wurde späte Nacht, bis er seine Sommerstation wieder erreichte. Im Forsthaus war alles schon in Schlaf und Ruhe. Erst nach langem Klopfen öffnete ihm die Försterin das Haus.

„Da bin ich wieder! Schlaft denn der Förster schon?“

„Ah na! Der is gar net daheim. Im Rauchenberg muss er Aufsicht halten, seit der Friedl liegt.“

„Liegt? Der Friedl?“

„Ja! Was sagen S’, Herr Doktor! Mit’m Friedl sind schöne Gschichten passiert! Am selbigen Abend, wie S’ davonkutschiert waren – ich bin grad vor der Haustür gstanden –, da kommt der Friedl hergrennt von der Dürrachklamm. Kein’ Hut hat er ghabt, über und über blutig im Gsicht, a Kindl am Arm – und auf kein’ Ruf hat er ghört, und fortgrennt is er, allweil zu, und eini in seiner Mutter ihr Haus. Natürlich, der Förster und ich, wir springen gleich ummi. Und drüben in der Stuben steht dös alte Weibl, ’s Kind am Arm, vor lauter Schrecken halber narret. Und der Friedl liegt am Boden im Blut und macht kein’ Muckser nimmer!“

„Ach, du lieber Himmel!“

„Ja, dös sind Gschichten gwesen! Und kein Mensch hat sich denken können, was passiert is! Da hat’s jetzt gheißen: Zugreifen! Ich und mein Mann, wir haben den Friedl aufpackt und ummitragen aufs Bett. Und wie ihm der Meinige den Schuh vom Fuß zieht, is ’s Blut nur so gstanden drin, und der Fuß hat grausam ausgschaut. Gleich hat der Meinige einspannen müssen und einifahren auf Lenggries und den Dokter holen. Und der Friedl hat kein’ Menschen nimmer kennt, vor lauter Fieber, und so liegt er jetzt schon im sechsten Tag.“

„Und weiß man, was da geschehen ist?“

„Wissen! Was heißt wissen? Freilich weiß man was – und weiß wieder nix! Der Friedl selber hat noch net reden können. Dafür reden d’ Leut umso mehr. Dös Büberl drüben, wissen S’, dös is der Modei ihr Kind. Und der Friedl hat ihr ’s Büberl am Sonntag auf d’ Alm auffitragen. Und jetzt sagen halt d’ Leut, der Friedl müsst schon lang mit der Modei im Gspusi sein und wär der Vater von ihrem Kind. Aber was am Sonntag auf der Alm droben geschehen is? Auf’m Heimweg hat ihn halt a Steinschlag troffen. Aber d’ Leut plauschen so hin und her, und a jede denkt ebbes anders. Jetzt ich denk mir gar nix. Ich kann’s abwarten, ’s wird schon noch alles aufkommen! Also, gut Nacht! Und schlafen S’ Ihnen ordentlich aus!“

Das war keine gute Nacht für Benno. Was er gehört hatte, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.

Am Morgen nahm er sich kaum Zeit für das Frühstück. Ohne Hut, in den Hausschuhen, sprang er hinüber zu Friedl. Als er in den Flur trat, kam die Bäuerin gerade aus der Kammer ihres Buben. In ihrem Gesicht stand der Kummer zu lesen, mit allen Zeichen durchwachter Nächte. Und bei Bennos Anblick schossen ihr gleich die Tränen in die Augen.

„Wie geht’s dem Friedl?“

„Ich dank schön, a bissl besser! Seit gestern am Abend hat sich ’s Fieber glegt. Aber schwach is er halt, arg schwach.“

„Darf man zu ihm hinein?“

„Ja, Sie schon! An Ihnen hängt er gar arg!“

Benno trat in die Krankenstube und drückte lautlos hinter sich die Tür wieder zu. Wenn auch draußen die Sonne niederglänzte über Fall und seine Häuser, so füllte doch ein tiefes Dunkel den kleinen, stillen Raum. Nur durch die schmalen Klumsen der geschlossenen Fensterläden stahlen sich feine Lichtbündel herein in die kühle Dämmerung und zeichneten goldene Linien und farbige Punkte auf die gegenüberliegende Wand.

Jedes Geräusch vermeidend, ging Benno zum Bett und hörte einen schweren Atemzug. Im Zwielicht sah er auf geblumten Kissen das blasse, verpflasterte Gesicht des Jägers liegen, mit einem weißen Bund über Stirn und Augen.

„Friedl?“, fragte er leise.

Keine Antwort. Es schien nur, als würde dem Kranken das Atmen leichter.

„Kennst du meine Stimme?“

Der Jäger nickte. Dann ein flüsterndes: „Gott sei Lob und Dank!“

„Um’s Himmels willen, Bub, was ist denn geschehen mit dir?“

Der Atem des Kranken schien sich wieder zu erregen. Das Gesicht auf die Seite drehend, sagte er mühsam: „Der Dokter hat mir ’s Reden verboten.“

„Na also, dann folg nur schön! Ich bleibe bei dir.“ Benno ließ sich neben dem Bett auf einen Sessel nieder. In das einförmige Ticken der Schwarzwälderuhr, die neben dem Türstock hing, mischte sich ein heiteres Kinderlachen, das von der Wohnstube durch die beiden geschlossenen Türen gedämpft herüber klang.

Da knarrte die Bettlade, und der Kranke hob sich halb aus dem Kissen.

„Friedl? Willst du was?“

„A Tröpfl Wasser, ich bitt schön!“ Der Jäger fiel wieder zurück au fdie Kissen.

„Ich hol es dir frisch vom Brunnen herein.“ Als Benno die Tür öffnete, fiel ihm das Licht von draußen hell ins Gesicht. Wohl traten seine Schuhe vorsichtig auf die Steinplatten des Flurs. Dennoch hörte Friedls Mutter in der Stube das Geräusch. Zehrende Sorge in den Augen, kam sie gelaufen und fragte, was denn wäre. Benno beruhigte sie. „Bleiben Sie bei dem Kindl, Mutter! Der Friedl braucht nur einen frischen Trunk. Den hol ich ihm schon.“ Als er vom Brunnen zurückkam, stand die alte Frau noch immer auf der Stubenschwelle. Er nickte ihr lachend zu und trat in die Kammer des Jägers.

Mit dürstenden Zügen leerte der Kranke das Glas und flüsterte matt: „Gott vergelt’s Ihnen tausendmal!“

„Schon recht, Friedl! Aber der Herrgott hat was anderes zu tun.“

„Man sollt’s meinen, ja! Aber diesmal muss ihm sei’ ewige Fürsorg a bissl schief durchanand rumpeln. Sonst tät’s anders zugehn auf der Welt.“

Benno drückte die zitternden Hände des Jägers auf die Bettdecke nieder. „Halte den Schnabel, Bub, und reg dich über die Weltregierung nicht auf! Unser Herrgott wird schon zurechtkommen.“ Er nahm seinen Platz wieder ein, blieb bis in die Nacht, gab die Krankenpflege nimmer aus der Hand und verließ die kleine, dunkle Stube nur, um zu essen und ein paar Stunden zu schlafen, oder um einen Wunsch des Jägers zu erfüllen.

Zwei Tage vergingen. Und wenn die Besserung des Kranken merkliche Fortschritte machte, so hatte es den Anschein, als wäre es Bennos stete Gegenwart, die im Verein mit Friedls kräftiger Natur die Genesung beförderte. Solange Benno neben dem Bett saß, lag der Kranke ruhig. Sobald aber Benno die Kammer verließ, wurde Friedl seltsam erregt und fragte die Mutter immer wieder: „Kommt er net bald?“

Soviel Freude Benno über diese Anhänglichkeit des Jägers empfand, sowenig vermochte er sie zu begreifen. Er war immer gut und freundlich mit Friedl gewesen, aber das konnte das Herz des Jägers doch nicht so fest verpflichten. Die Lösung des Rätsels war: Dass Friedl in Benno einen Vertrauten für alle Sorgen seines Herzens zu finden hoffte und nur den Mut nicht hatte, offen von seinem Kummer zu reden. Schließlich kam aber doch die Stunde, die diesen verschlossenen Brunnen der Schmerzen öffnete.

Es war gegen Abend. Durch die Ritzen der Fensterläden fielen die schimmernden Strhalen. Sie waren rot geworden, und ihre Lichter, die im Lauf der Stunden die ganze Wand entlang gewandert waren, lagen wie große Mohnblumen auf der weißen Bettdekce. In dieses rote Geflimmer hatte der Kranke seine beiden Hände gelegt. Sie sahen aus wie von Blut übergossen. Mit halb geschlossenen Augen blickte Friedl auf dieses brennende Rot, während Benno erzählte, dass bei der lange dauernden Hitze sich auf den Almen die Seuchenfälle zu mehren begännen, und dass man in den herzoglichen Jagden schon gefallens Wild gefunden hätte. „Im heurigen Sommer hat die Sonne viel auf dem Gwissen!“

„Und es is doch so was Schöns ums Sonnenlicht! Von der Sonn, da kommt doch ’s ganze Leben auf der Welt!“ Friedl seufzte. „Aber freilich, wo Licht is, da findst auch den Schatten gleich bei der Hand. Da hab ich schon oft drüber nachdenkt. Der liebe Herrgott muss doch hundert Mal gscheider sein als aller Menschenverstand? Warum hat er’s denn nacher auf der Welt so eingricht, dass alles Schöne sei’ wilde Seiten haben muss, und dass dem Menschen in der liebsten Freud der härteste Wehdamm net erspart bleiben kann? Schauen S’, Herr Dokter, wann ich so allein draußen war in die Berg, da hab ich oft so sinnieren müssen – und da sind mir oft Sachen eingfallen, wo ich mich gfragt hab, wie unser allmächtiger Herrgott so ebbes zulassen kann. Es is grad, als ob er diemal mit seine Engel und Heiligen so viel Schererei hätt, dass er auf uns arme Menschenleut ganz vergisst.“

Benno fühlte sich seltsam berührt von diesen Worten. Das war Pessimismus in seinem naivsten Urzustand! Schon wollte er zu Friedl in einfachen, verständlichen Worten von dem Trost reden, den der Mensch gegenüber der dunklen härte des Schicksals aus dem Bewusstsein des eigenen Wertes schöpfen muss. Da fühlte er seine Hand umfasst. Und Friedl sagte: „Herr Dokter, ich hätt a Bitt!“

„Was denn, Friedl?“

„Wann S’ so gut sein möchten und den Fensterladen aufmachen, dass ich d’ Sonn a bissl sehen kunnt!“

„Aber gern!“ Benno ging zum Fenster. Die Scheiben klirrten. Und die Läden knarrten in ihren Angeln, als Benno sie aufstieß, dass sie polternd an die Außenwand der Hütte schlugen. Breit und rot flutete die Abendhelle in das Stübchen und über Friedls Lager. Gerade dem Fenster gegenüber stand die Sonne, halb schon verschleiert von den Bäumen eines fernen Berggrates.

Vor der ersten blendenden Lichtfülle hatte Friedl die Hand über die Augen decken müssen. Als aber Benno wieder bei ihm saß, blickte der Jäger mit leuchtenden Augen in den Rotglanz des sinkenden Gestirnes.

„Schauen S’ hin, Herr Dokter! Sieht’s net aus, als ob von der Sonn ’s dicke Blut niederfließet über Bäum und Felsen. Wann ich dös so betracht, da kommt’s mir für, als ob uns der Teufel ’s Licht net vergunnt und Tag für Tag die schöne Sonn abischießt vom Himmel. Und d’ Sonn steigt hinter die Berg, wie d’ Leut sagen: Ins Meer – grad wie a kranker Hirsch, der ’s Wasser sucht in der Nacht, dass er z’ morgenst mit frische Kräft wieder aufsteigen kann nach der Höh.“ Friedl richtete sich in den Kissen auf, um die Sonne länger zu sehen, die langsam hinuntertauchte hinter die brennenden Baumwipfel.

Staunend hatte Benno das Gesicht des Jägers betrachtete, diesen dürstenden Mund, diese heißen, in Sehnsucht träumenden Augen. Der weiße Bund, der die Stirn des Kranken deckte, war vom Schein des Abends rot überhaucht. Doch was die sonst so blassen Wangen jetzt so glühend rötete, das war nicht nur die Sonne.

„Friedl? Wie kommst du zu solchen Gedanken?“

Ein müdes Lächeln zuckte um den Mund des Jägers. „Ich glaub, sie kommen zu mir. Da druckt’s mir allweil d’ Seel und ’s Herz a bissl zamm, und nacher hab ich so ebbes im Kopf drin.“ Er deutete nach der Sonne. „Schauen S’ hin, wie s’ verblutet! ’s letzte Tröpfl rinnt ihr aus! Und allweil tiefer geht’s abi. Und die goldigen Wölkerln ziehen hinter ihr nach, als wären s’ verliebt drein! Verliebt! Da – d’ Sonn is drunt – und d’ Nacht kommt. Pfüet dich Gott, du liebe Sonn!“ Er sank in die Kissen zurück, und tiefe Atemzüge hoben seine Brust. „Grad so is mein bissl Glück versunken“, sprach er flüsternd vor sich hin, „versunken in d’ Nacht! Grad, wie ich denkt hab, es scheint mir am allerschönsten!“

Aus diesen Worten klang eine Wehmut, die Benno ans Herz griff. Er glaubte, der Jäger meine seine Lebenssonne und fürchte, dass er nicht mehr genesen würde. Drum sagte er: „Geh! Wer wird denn so unvernünftige Gedanken haben! Es geht ja schon ganz gut mit dir! Lass nur noch acht Tage vorbei sein, dann springst du wieder auf deine Berge hinauf wie der Gesündeste!“

„Freilich, ja! Aber ich sag meim Leben kein Vergeltsgott net! Mei’ Herzenshoffnung war mein Leben, und seit ich kein Bröserl nimmer hoffen därf, bin ich a Gstorbener, und müsst ich auch auf der Welt noch rumlaufen hundert Jahr! Weswegen hab ich denn dös verdient? Ich brauchet nix fürchten für meine Seelenheil, und wann mich unser Herrgott an Ewigkeit lang brennen lassen möchte für jeden unguten Gedanken, den ich gegen dös Mald im herzen tragen hätt. Sie war mein Denken und Schnaufen, sie war mein Weg und Steg, sie war mein Auf und Nieder seit meiner Kindheit an. Muss man denn in der Welt sein Glück noch teurer zahlen, als wie’s ich hab zahlen müssen? ’s Madl und ’s Kind – ich weiß net, wer mir da lieber gwesen is. Und am selbigen Tag noch, in der Fruh, da war ich der glücklichste Mensch von der Welt! Und auf d’ Nacht –“ Friedl bedeckte das Gesicht mit den Händen. „Ich hab’s doch selber erlebt – und trotzwegen will’s mir noch net eini in mein’ harten Schädel! Allweil und allweil rührt sich ebbes in meim Herzen und redt – und ich kann net glauben, wo ich doch glauben muss!“

„Aber Friedl? Was ist dir denn?“, fragte Benno bestürzt, während er dem Kranken die Hände herunterzog.

Mit heißen Augen sah Friedl zu ihm auf. „Ah ja! Sö wissen noch net, wie d’ Menschen sind! Und wie man bedankt wird auf unserer Welt. Ich will’s Ihnen verzählen. Und wann S’ alles wissen, nacher sagen Sö mir an Rat. Ich selber weiß mir kein’.“

Mit erregten Worten sprach er weiter, und Benno lauschte der leidvollen Geschichte dieses treuen Herzens.

Die Schatten des Abends schlichen durch das Fenster herein. Als Friedl zu Ende gesprochen hatte, lag schon die tiefe Dämmerung in der Stube.

„Das ist freilich eine sorgenschwere Geschichte!“, unterbrach Benno das lange Schweigen, das nach dem letzten Wort des Jägers entstanden war. „Aber dir macht sie keine Unehr, Friedl! Und schau, nach allem, was du mir erzählt hast, will es mir nicht in den Sinn, dass das Mädel so falsch an dir hätte handeln können, wie es freilich den Anschein hat. Wer kann wissen, ob sich der Blasi nicht auf irgendeine Weise den Eintritt in die Hütte erzwungen hat? Und schau – wer kann in der Hast und Aufregung immer gleich das Richtige finden. Menschen, die das können, sind selten. Und denk nur: Was wär dir selber alles erspart geblieben, wenn du kurz entschlossen nach deiner Dienstpflicht gehandelt und den Blasi vor dem gespannten Gewehr heruntergeführt hättest zum Förster.“

Friedl wollte sprechen, aber Benno ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Das soll für dich kein Vorwurf sein! Ein Sprichwort sagt: der hat gut reden, der weit vom Schuss ist. Ich kann mir vorstellen, was dir bei deiner Liebe zu dem Mädel da droben durch den Kopf gefahren ist. Und doch hast du getan, was ein anderer schwer versteht. Kann es so ähnlich nicht auch bei der Modei gewesen sein? Das ist doch leicht zu denken, dass ein Mädel bei so was stumm und ratlos wird vor Angst und Schreck. Vielleicht hat sie selber den Blasi in die Hütte hinein geschoben, um ein Zusammentreffen mit dir zu verhindern, bloß weil sie sich um dich gesorgt hat, um dich allein!“

Friedl umklammerte Bennos Hand. „Herr Dokter, wann ich Ihnen so reden hör, is mir grad, als ob mir jeds Wörtl an Zentner vom Herzen nähm! Am liebsten möcht ich noch in der jetzigen Stund auffispringen auf d’ Alm und zum Madl sagen: ‚Schau, an andrer hat besser denkt von dir als ich –s ag mir, dass er recht hat, und durchs ganze Leben will ich’s abbüßen in Lieb und Treu, was ich an dir versündigt hab!“

„Langsam, langsam, Friedl!“, fiel Benno ein, der in Sorge war, dass er zuviel des Guten gesagt und in Friedl eine trügerische Hoffnung erweckt hätte. „Brennt bei dir schon wieder die Lieb mit der Einsicht durch? Hoff du fürs erste nichts, gar nichts! Aber nimm dir vor, mit ruhigem Blut der Wahrheit nachzugehen, sobald du wieder frisch und gesund auf genagelte Sohlen kommst.“

„Wann’s nur so leicht wär, Herr Dokter: Ein’ Tag um den andern so hinwarten müssen –“ Friedl schwieg und blickte zur Tür hinüber.

Seine Mutter trat ein und brachte einen Teller mit Suppe. „So, Bub, da hast a bissl ebbes!“

Während Friedl aß, stand sie zu Füßen des Bettes und plauderte mit Benno über das merklich gebesserte Aussehen des Sohnes.

Nun reichte ihr Friedl den leeren Teller. „Wer is denn drüben beim Kind?“, fragte er.

„Niemand. Es hockt am Boden und häuselt.“

„Geh, bring mir’s a bissl ummi!“

Die alte Frau verließ die Kammer.

„Herr Dokter“, sagte Friedl, schwer atmend, „Sö haben mir a Wörtl gsagt, dös mir hart auf d’ Seel gfallen is. Ich hätt nach meiner Dienstpflicht den Blasi runterführen müssen zum Förster! Und ich – ich hab ihn laufen lassen! Der Modei z’ lieb. Schon selbigs Mal am Heimweg hab ich mir denken müssen, dass ich mich am Dienst versündigt hab. Und seit ich aus’m Fieber aufgwacht bin, lieg ich allweil in der ewigen Angst, ob net der Förster jede Minuten da einikommt zur Tür und ’s Verhören anfangt –“

„Da mach dir keine Gedanken!“, unterbrach ihn Benno. „Der Förster ist heute gar nicht daheim, und wenn er kommt, will ich ihn abfangen und in aller Ruhe mit ihm reden.“ Er stand vom Sessel auf. „Für heut haben wir schon ein bissl zuviel miteinander geschwatzt. Ich will hoffen, dass es dir nicht von Schaden ist. Schau jetzt, dass du schlafen kannst! Und mach dir keine unnötigen Sorgen! Es wird alles noch recht werden! Also, gut Nacht!“

„Gut Nacht, Herr Dokter! Und tausend Mal Vergeltsgott!“ In den Augen des Jägers leuchtete ein dankbarer Blick. „Aber gelt, morgen kommen S’ wieder ummi zu mir?“

„Natürlich! Also gut Nacht jetzt!“

„Gut Nacht!“

Benno ging, während die Mutter das Franzerl brachte, das lachend und zappelnd die Ärmchen nach dem Jäger streckte. –

Am andern Morgen durfte Friedl für ein paar Stunden aufstehen. Die wunde an seiner Wange fing zu verharschen an, so dass er den Verband ablegen konnte. Mit dem Fuß sah es noch übel aus; der schmerzte auch beim vorsichtigsten Auftreten noch empfindlich; das käme nur von einer Sehnenschwellung, meinte der Arzt, die sich bei mäßiger Bewegung rascher beheben würde als in der Ruhe. –

Gegen Abend kam der Förster nach Hause. Benno, der ihn an der Tür erwartet hatte, ging ihm nicht mehr von der Seite. Und nach dem Abendessen, als die beiden mit ihren qualmenden Pfeifen allein waren, erzählte Benno dem Förster alles, was er wusste, und schilderte ihm die drückende Sorge, die dem Friedl das Jägergewissen beschwerte.

„Du mein Gott, ich kann ihm den Kopf auch net abireißen!“, meinte der Förster. „Ich hab mir’s eh gleich denkt, dass so a verruckte Liebsgschicht dahinter steckt. Und der Lenggrieser Dokter hat’s natürlich kennt, dass der Friedl am Backen an Streifschuss hat. Wie mir die Alte gsagt hat, dass der Friedl am selbigen Nachmittag bei der Modei droben war, hab ich mir denkt: Da musst a bissl nachschauen! No ja, und da bin ich nacher auffi auf d’ Alm. Meiner Seel, ’s Madl hat mich erbarmt – so verweint hat’s ausgschaut. Und kaum a Wörtl hab ich aussibracht aus ihr. Lang hab ich allweil so rumgredt, bis ich am End kurzweg gfragt hab, ob’s wahr is, dass der Friedl am Sonntag heroben war. ’s Mald hat bloß an Deuter gmacht. ‚Und was war denn nacher?’, hab ich gfragt. Da hat’s mich angschaut mit kugelrunde Augen, hat d’ Händ vors Gsicht gschlagen und hat zum zittern angfangt wie an arme Seel, dö ’s Fuier spürt und net weiß, ob’s in d’ Höll kommt oder bloß ins Fegfuier. Was hab ich da weiter machen können? Ich hab mir halt denkt: Wartst es ab, bis der Friedl selber redt! Und bin wieder abgeschoben.“

„Haben Sie dem Mädel gesagt, was mit dem Friedl auf dem Heimweg passiert ist?“

„Gott bewahr! So gscheid war ich schon, dass ich den Schnabel ghalten hab. Dö Gschicht mit’m Steinschlag is mir net plausibel gwesen. Ich hab mir eh gleich denkt: Da stinkt ebbes in der Fechtschul. Hat ’s Madl a Schuld dran, so hätt ihr jeds unfürsichtige Wörtl bloß an Weg zum Aussilügen aufgwiesen. Kann aber ’s Madl nix dafür – so hab ich mir denkt – und hat’s ebbes mit’m Friedl, da kunnt ’s an schauderhaften Schreck davon haben. Umsonst muss man d’ Leut net plagen. ’s Maulhalten is gscheider.“

„Und jetzt, da Sie alles wissen – was wollen Sie tun?“

„Dem saubern Herrn Blais wird vor allem ’s Handwerk glegt. Gleich morgen schick ich an Bericht nach Tölz eini! Also, sei’ Büchsen hat er droben bei der Hütten liegen lassen? Wer weiß, ob er’s schon gholt hat? Jedenfalls schick ich bei Glegenheit den Hies drum auffi. Wann der Blasi ans Wiederkommen denken möchte, soll’s ihm der Hies versalzen! Und jetzt kommen S’, Herr Dokter, jetzt schauen wir mitanand a bissl ummi zu dem verleibten Heuschniggl!“

Als sie hinüberkamen und in die Stube traten, saß Friedl am Tisch und baute dem Franzerl ein schönes Kartenhaus.

 

Kapitel 12

 

Das waren stille, schwermütige Tage in der Hütte auf der Grottenalm.

Modei ging bleich und vergrämt herum; wortkarg tat sie ihre Arbeit, und wenn Punkl oder Monika in der Hütte zusprachen, bekamen sie nicht viel anderes zu hören als ein „Grüß Gott!“ und „Pfüet dich!“ Auch mit dem Bruder redete Modei nur, was die gemeinsame Arbeit verlangte. Und bei der Verstörtheit, die ihr Gemüt umklammert hielt, hatte sie keinen Blick für die seltsame Wandlung, die sich von Tag zu Tag immer deutlicher im Wesen des Bruders vollzog. Die Wahnbilder seines irren Erinnerns schienen in ihm erloschen zu sein. Immer befand er sich in einem Zustand verträumten Suchens, redete wunderliche, nicht zusammenhängende Dinge und wurde schließlich von einer verdrossenen Gereiztheit befallen, weil ihm dieses trübselige Zusammenleben mit der wortkargen Schwester täglich unleidlicher wurde. Und wenn er einen Versuch machte, von jenem Sonntag und seinen Folgen zu reden, wurde Modei noch stiller und verschlossener.

Oft, wenn er unter Tags auf die Schwester zutrat, musste er sehen, wie sie hastig das Gesicht auf die Seite drehte, um ihre Tränen zu verbergen. Wenn er in der Nacht erwachte, hörte er sie leise weinen und beten. Nach schlaflosen Nächten hatte sie zerbrochene Tage, und die sonst so Fleißige wurde bei der Arbeit müde. Und kam jemand zur Hütte, hörte sie einen Schritt, so fuhr sie erblassend zusammen und stammelte: „Der Förstner wieder? Oder der Hies?“

Als Lenzl eines Abends vom Weideplatz heimkehrte, fand er die Schwester am Herd, mit nassen Augen, ganz in sich versunken. Da fing er zu schelten an. „Is dös an Art und Weis? Statt dass dich a bissl zammklaubst, an vernunftbaren Schritt machst und dö ganze Sach wieder auf gleich bringst, derweil hockst den ganzen Tag umanand und flennst und reibst dir d’ Augen! Mit’m Wasserpritscheln is freilich nix profitiert!“

„Du hast gut reden!“, sagte Modei mit erloschener Stimme. „Du spürst es net, wie’s ich spür. Drum red mir nix drein! Dös hat mir halt unser Herrgott aufgladen als Buß. Und so muss ich’s tragen!“

„Freilich! Weil unser Herrgott nix anders z’ tun hat, als dass er d’ Menschen plagt?“

Lenzl sah ein, dass hier nur ein einziger zu helfen vermöchte. Und der muss her, dachte er, soll’s gehen, wie’s mag! Ein paar Tage später, als er abkommen konnte, ohne dass die Arbeit Schaden litt, schlich er sich im Morgengrau, während Modei noch schlief, aus der Hütte. Er erinnerte sich, von Friedl gehört zu haben, dass der Jäger in diesen vierzehn Tagen die Aufsicht auf dem Rauchenberg zu führen hätte. Es war das ein weiter Weg, den Berg hinunter bis ins Tal und drüben wieder hinauf bis zur Jagdhütte, die hoch da droben auf der Bergschneide lag. Der Schwester zulieb wäre Lenzl auch bis ans Ende der Welt gelaufen.

Er brauchte fünf Stunden, um das Ziel seiner Wanderung zu erreichen. An der Jagdhütte fand er die Läden geschlossen und die Tür versperrt. Da nahm er von einer alten Feuerstatt ein Stücklein Kohle und schrieb mit großen, steifen Buchstaben and ie Hüttentür: „Bin dagwest, i, da Lenzl. Kommscht ummi, gell!“ Damit Friedl auch sicher käme, schrieb er noch darunter: „Weils grank is!“

Dann schritt er die Bergschenide entlang zu der eine halbe Stunde entfernten Hochalm. Auch hier fragte er vergebens nach Friedl. Die Sennerin konnte ihm nur den guten Rat geben, sich bei den Holzknechten, die auf dem tieferen Gehäng des Berges arbeiteten, nach dem Jäger zu erkundigen. Als er auch bei den Holzleuten von Friedl keine Nachricht hörte, lief er kurz entschlossen durch den steilen Bergwald hinunter nach Fall. Am Waldsaum musste er sich verstecken, weil der schwerbäuchige Grenzaufseher Niedergstöttner schnaufend und schwitzend auf dem Waldweg gegen die Schlucht der Dürrach hintappte, unter kummervollen Selbstgesprächen, die jede Mühsal des buckligen Weges drei Mal verfluchten.

Das Kapellenglöckl läutete die Mittagsstunde, als Lenzl hinter den Weidenstauden der Dürrach hinunter schlich zur Isar. Wie ein Fuchs, der einer Henne an den Hals will, pirschte er gegen den kleinen Garten, den Friedls Mutter mit ihren rastlosen Händen dem steinigen Hügel abgerungen hatte. Lautlos an den Heckenstauden entlang huschend, spähte er durch das dichte Gezweig und kicherte vor sich hin: „Jetzt hab ich’s troffen.“

An der Mauer saß der marode Jäger auf einem Bänkl und sonnte den heilenden Fuß, während seine dürstenden Augen immer in der blauen Höhe suchten. Auf dem Schoß hatte er das Fernrohr liegen. Das hob er immer wieder und richtete es nach den Rasenwellen der Grottenalm wie ein Jäger, der Gämsen sucht.

Da richtete Friedl sich plötzlich auf. Er hörte klappernde Schritte und eine keuchende Stimme, die immer, wie in atemloser Angst, die zwei gleichen Worte wiederholte: „Jesus, Maria – Jesus, Maria – Jesus, Maria –“

Erschrocken zuckte der Jäger vom Bänkl auf, ohne seines kranken Fußes zu denken. „Mar’ und Joseph!“, stammelte er, weil er die Stimme zu erkennen glaubte. „Is denn dös net der Lenzl?“

Richtig! Der war’s! Wie ein Besessner kam der Alte mit flatterndem Weißhaar von der Dürrach über die Straße hergelaufen und wollte am Gärtl des Jägers vorübersausen. „Jesus, Maria – Jesus, Maria – Jesus, Maria –“

„Lenzl!“ Mit hinkendem Fuß machte Friedl ein paar wilde Sprünge gegen die Heckenstauden. „Um Christi willen! Lenzl! Was is denn? So komm doch her zu mir! So lass doch reden a bissl!“

„Ich kann net – Jesus, Maria!“, keuchte der Alte und sprang. „Ich hab kei’ Zeit net, ich muss zum Dokter aussi nach Lenggries. Mei’ Schwester is soviel krank! Dö braucht a Trankl, a heilsams! Ich muss zum Dokter aussi – Jesus, Maria –“ Und weg war der Alte, verschwand an der Straßenbiegung, sprang aber nicht „aussi nach Lenggries“, sondern huschte kichernd in die Stauden der Dürrach und lief geduckt hinüber gegen den Waldsaum.

Als Friedl allein war, fingen ihm die Hände so heftig zu zittern an, dass er sie hinter den Hosengurt stecken musste. Wie ein Verrückter humpelte er zur Haustür hinüber, trat langsam in die Stube, warf einen Sorgenblick auf das schlafende Büberl und sagte ruhig: „Mutter, jetzt musst mir a Krügl Bier ummiholen. Soviel dürsten tut mich!“

Das alte Weibl zappelte flink davon. Als sie mit dem Krügl vom Wirtshaus kam, war keiner mehr da, der Durst hatte und trinken wollte. Auch Friedls linker Nagelschuh war verschwunden; nur der rechte stand noch unter dem Ofen. Und verschwunden war des Jägers Hut, sein Rucksack, seine Büchse und sein Bergstock. „O du heilige Mutter!“, stammelte die alte Frau erschrocken, rannte vors Haus und fing zu schreien an.

Das konnte Friedl noch hören, obwohl er den Triftsteg an der Dürrach schon erreicht hatte. Ohne das Gesicht zu drehen, sprang er wie einer mit gesunden Beinen. Drüben über dem Wasser, auf dem steigenden Waldweg, ging es langsamer. Alle paar hundert Schritte musste er stehen bleiben, um den schmerzenden Fuß rasten zu lassen. Und weil der plumpe Filzschuh, den er am kranken, dich verbundenen Fuß hatte, beim Steigen immer rutschte, musste Friedl sich hinsetzen, eine Schnur aus dem Rucksack nehmen und den lockeren Filzkübel verlässlich an den Knöchel binden. Ein paar Schlingen der Schnur legte er auch um die Sohle, damit er einen festeren Tritt bekäme. Als er, zitternd vor Ungeduld, sich erhob, blickte er über den steilen Bergweg hinauf, den er zu überwinden hatte. Und da gewahrte er in der Höhe, nicht weit von der Grottenalm, eine sonderbare Sache. Da droben war ein feines Blitzen und Gefunkel, als spiegelte sich die Sonne in vielen, beweglichen Glassplittern.

Dieses Funkeln und Strahlenschießen kam von den Uniformknöpfen und vom Bajonett des schwerbäuchigen Grenzaufsehers Niedergstöttner, der sich schon mit Schwitzen und Fluchen über den ganzen Waldsteig hinaufgezappelt hatte und der Alm schon nahe war.

Er hatte, um Luft zu bekommen, die grüne Uniform aufgeknöpft, nicht nur den Rock, auch die Hose. Die großschirmige Mütze hatte er an das Bajonett seines königlich bayrischen Grenzkarabiners gehängt, den er bald auf die rechte, bald auf die linke Schulter lupfte. Ein großes, geblumtes Taschentuch, fleckig durchfeuchtet, bedeckte als Sonnenschutz die Glatze und warf noch einen Zipfelschatten über das erhitzte, krebsrote Vollmondgesicht. Trotz seiner dritthalb Zentner war Herr Niedergstöttner von qucksilberner Beweglichkeit. Und ebenso flink, wie er die kurzen dicken Beine rührte, schwatzte er beim Steigen die Monologe seiner Bergverzweiflung vor sich hin.

„Tuifi, Tuifi, Tuifi, is dös a Hitz! Is dös a Hitz! Und schnaufen muss ich, grad schnaufen, schnaufen, schnaufen.“

Hurtig kletterte er über die letzten Steigstufen hinauf, drehte sich um, guckte in die Tiefe und fand, wenn auch ein bisschen asthmatisch, das Lachen eines Glücklichen.

„Gott sei Lob und Dank! Jetzt bin ich heroben! Is dös an Arbeit gwesen! Verfluchte Berg, verfluchte Berg!“ Er zerrte das Taschentuch von der Glatze, trocknete Gesicht und Hals, dehnte sich wie ein Schlangenmensch vor der Produktion und zog das Knie in die Höhe. „Die ganze Muschkelatur hint aussi is mir krämpfig! Allweil d’ Füß heben, allweil d’ Füß heben! Unser Herrgott muss an böshäftigen Hamur ghabt haben, wie er die Berg derschaffen hat! Verfluchte Berg, verfluchte Berg! Und an Durst kriegt man, jöööises, an Durst, an Durst, an Durst! Da wär jetzt a Maßerl fein, a Maßerl, a Maßerl!“ Sehnsüchtig guckte er auf dem almfeld herum und betrachtete Modeis stille Hütte. „He da! Was is denn? Is dö bucklete Welt da heroben ausgstorben? Und gibt’s denn da gar net a bissl ebbes, was kühl is? Aaaah, da is ja a Brünndl, a Brünndl, a Brünndl!“ Er zappelte auf den Brunnen zu und legte lachend das Gewehr ab. „Wasser! Brrrrr! A schauderhafte Sach! Da ghört a Kurasch dazu, a Kurasch, a Kurasch, a Kurasch.“ Hurtig steckte er das Dampfnudelköpf in den Brunnentrog, pritschelte und spritzte, scheuerte die zinnoberfarbene Glatze und schüttelte die Tropfen von sich ab, was ihm leicht gelang, da er keine Haare hatte, in denen das Wasser hätte hängen bleiben können.

Weil er eine Sennerin von der Almhöhe herunterkommen sah, knöpfte er als Kulturmensch unverweilt die klaffende Hose zu, machte säuberliche Amtstoilette und setzte die Mütze auf.

Mit der ledernen Salztasche um die Hüften kam Modei müd und versonnen über das Weidefeld herunter. Als sie die Uniform sah, erschrak sie, dass ihre Lippen weiß wurden. Dann merkte sie: ein Grenzaufseher, kein Gendarm. Und mit halber Ruhe konnte sie sagen: „Grüß Gott, Herr Grenzer! Was schaffen S’ bei mir?“

„Aufschreiben, aufschreiben, wie viel als d’ Vieh hast.“ Niedergstöttner zog ein Ungestüm von grünledernem Notizbuch heraus. „Aber sag, du saubers, du herzliebs Maderl, hast net ebba aus gottsgütigem Zufall a Flascherl Bier da heroben? Für a Flascherl Bier kunnt ich dem Tuifi heut mein ewigs Leben verschreiben.“

„Mit Bier kann ich net aufwarten. Aber a Schüssel Milli wann S’ mögen?“

„Milli?“ Der Grenzer schnitt in groteskem Schreck eine Grimasse, die jedem Zirkusclown einen Beifallssturm eingetragen hätte. „Marrriandjosef! Sprich dös gfahrliche Wörtl nimmer aus! Sonst trifft mich a Verstandeslähmung, und um fall ich und bin a Leichnam, a Leichnam, a Leichnam!“ Er richtete einen klagenden Blick zum Himmel, erledigte unter drolligen Scherzen das amtliche Geschäft, notierte die Zahl der Ochsen, Kühe, Rinder und Schafe, aus denen Modeis Almherde bestand, verwahrte das Notizbuch wieder, trocknete mit dem Taschentuch das Dampfnudelköpfl und setzte sich auf den Brunnentrog. „Soviel plagen muss sich der Mensch! Malefiz Arbet! Wie schön wär d’ Welt, wann d’ Arbet net wär, dö gottverfluchte Arbet.“

„Nach jeder Arbet kommt a Ruh.“

„Net wahr is, aaaah, net wahr is! Nach der Arbet kommen d’ Schweißtröpfln, a höllischer Durst und der Muschkelkrampf.“

„Seids ös von der Station in Fall drunt? Lang müssts noch net da sein, weil ich enk noch nie net gsehen hab.“

„A paar Wochen erst, a paar Wochen. Ehnder, da bin ich z’ Münka gwesen, z’ Münka, in der Haupt- und Rrrrassidenzstadt, beim Oberzollamt.“ Niedergstöttner bekreuzigte sich, wie es eine alte Bäuerin bei heftigem Blitzschlag macht. „Daaaa hat’s Arbet geben! So viel, wie der Hund Flöh hat! Und d’ Arbet vertrag ich net, ich vertrag’s halt net! Wann’s einer vertragt, da kann er Minister werden. Ich hab’s net dersitzen können. ’s Hirn is mir allweil kleiner worden und ’s Fundament allweil breiter, allweil breiter. Und so a sitzende Betätigungsweise – jöi, jöi, jöi – da tut sich allweil Salz entwickeln im Inkreisch, zwischen Nabel und Schattseiten. Und da hast nacher allweil Durst, allweil Durst, Durst, Durst, Durst. Drum haben mich die Gottsöbersten da aussi versetzt nach Fall. Dö haben gmeint, da heraußen tät ich weniger bimseln, weil ’s Bier so schlecht is, weißt. Ja, Schnecken, Schnecken! Da heraußen muss ich noch viel mehrer bürsten, weil ich allweil schwitzen muss, allweil schwitzen, allweil schwitzen.“

Modei konnte ein bisschen lachen. „Aber sonst gfallt’s enk bei uns da, gelt?“

„Ui jeeegerl, jegerl, jegerl! Schau mein Ranzerl an, mein Ranzerl! Und söllene Berg dazu! Und allweil muss ich auffi, allweil auffi, auffi, auffi, wie a verlassene Wanzen an der nacketen Kirchenwand! O du heiliger, heiliger Geist der Schöpfung! Deine Welteinrichtung hat verdächtige Buckeln.“

Das Mädel tat einen schweren Atemzug. „Ich kann mir noch ebbes Härters denken als wie ’s Bergsteigen.“

„Soooo? Und wann ich ausrutsch? Und wann’s mich abireißt? Dös is ja gar net zum ausdenken, was ich da für a Loch ins Tal einischlag. Söllene grauslichen Gfahren haben s’, dö verfluchten Berg, dö verfluchten Berg! Da muss einer schon aufpassen, der ’s Bergsteigen los hat! A Jager, a Jager, der kann doch ’s Bergsteigen, net? Und jetzt schau amal an, was dem Jager von Fall passiert is, dem Jager von Fall!“

„Jesus“, stammelte Modei erschrocken, „was is denn mit’m Friedl?“

„Friedl heißt er, ja, Maderl, Friedl, Friedl, Friedl!“

Verstört umklammerte Modei den Arm des Grenzers. „Um Herrgotts willlen, so red doch, Mensch!“

„Der Jager, weißt, der Jager, der Jager, der hat a Kindl abitragen vom Berg, a Kindl, a Kindl a kleins –“

Sie nickte in Angst. „Ja, ja –“

„Und drunt bei der Dürrach hat ihn a Steinschlag troffen, a Steinschlag am Fuß. Und allweil, allweil, mit’m halbert verdruckten Fuß, da is er noch allweil gsprungen, und heim mit’m Kindl, und heim, und in d’ Stuben eini zur Mutter. ‚Nimm ’s Kindl!’ sagt er, und da hat’s ihn hinghaut am Boden – Jesses, Maderl, was hast denn, was hast denn? Du bist ja kaasweiß im Gsichtl! Was hast denn?“

Modei, nach Sprache ringend, lallte einen unverständlichen Laut. Dann griff sie mit den Händen ins Leere, schrie den Namen des Bruders, jagte zur Hütte hinunter und verschwand um die Balkenmauer.

Niedergstöttner guckte mit kreisrunden Augen. „Hab ich ebba da a Rindviecherei gmahct? Ja? Mir scheint, mir scheint, mir scheint.“ Zu dem ehrlichen Kummer, der in seiner sanften, mit Speck wattierten Bierseele Einzug hielt, gesellte sich der Jammer über den weiteren Verlauf seines Amtsweges. Zu Punkls Hütte ging es steil in die Höhe. Bei der Musterung dieses Weges machte Niedergstöttner ein Gesicht wie ein Kater, wenn er Salmiak riechen muss. „Allweil wieder auffi, auffi, auffi und auffi! Hat denn d’ Welt nach auffi gar keine Grenzen, gar keine, gar keine?“ Während er zu krabbeln anfing, klagte er noch: „O du armseligs Mitglied der königlich bayrischen Zollnarretei!“ Als er den Hüttenzaun erreichte, blieb er blasend stehen. „He da! Was is denn? Rührt sich da gar nix, gar nix, gar nix?“

„Waaaaas?“, klang in der Stube der heisere Alt der Sennerin. „Hat da a Kalbl plärrt? Oder kommt ebbes Menschligs?“ Punkl erschien auf der Schwelle. Der überraschende Anblick von drei Zentnern unbezweifelbarer Männlichkeit verwandelte die Säure ihres Zwiebelgesichtes in grinsende Freude. „Jesses, a Grenzer!“ Sie buckelte, als wäre ein königlicher Prinz bei ihr erschienen. „Dös freut mich aber! Grüß Gott, grüß Gott! Mit was kann ich aufwarten?“

„Aufschreiben muss ich, aufschreiben, wie viel Vieh als d’ hast!“

„Jesses, jesses, so a liebs Mannsbild!“, staunte die Alte. „Zu dem kunnt man Zutrauen haben.“ Wieder buckelte sie. „Grüß Gott, Herr Grenzer!“ Sie zappelte ihm entgegen, stütze den Schnaufenden und schob ihn nach aufwärts. „Gschwinder a bissl! Aufkochen tu ich, aaaah, grad nobel! Und in der Kellergruben hab ich noch a drei, vier Flascherln Bier.“

„Was!“ Der Erschöpfte machte eine Zuckbewegung, wie durchrissen von einem elektrischen Strom. „A Bier hast? A Bier? A Bier?“

„Fünf, sechs Flascherln, jaaaa!“

So einladend kann auch Evas Apfel auf den Adam nicht gewirkt haben. In Niedergstöttner flammte eine zärtliche Begeisterung. O du Herzkäferl, du benedeits! An Kniefall mach ich! Dir verschreib ich mei’ Seel! A Bier, a Bier! O Himmelreich, o Paradeis, Paradeis, Paradeis, o irdische Glückseligkeit!“

Die drei zollämtlichen Zentner tauchten am Arm der überirdisch grinsenden Jungfrau in den Dusterschein der Sennstube.

 

Kapitel 13

 

Bei Modeis Hütte gellte wieder und immer wieder ein Schrei in die Sonne: „Lenzl! Lenzl!“

Nur das Echo an den nahen Felsen, nie eine Antwort.

Verzweifelt, wie in sinnloser Verstörtheit, rannte und suchte das Mädel. „Is auf der Weid net! Is net im Stall! Is bei die Schaf net! Wo is er denn? Lenzl, Lenzl!“ Zitternd an allen Gliedern kam sie zur Hüttentür, taumelte gegen die Balken und presste den Arm über die Augen. „Ich bin schuld! An allem bin ich schuld! Und wann er jetzt leiden muss –“

Denken konnte sie nimmer. Ohne zu wissen, was sie tat, dem Trieb des quälenden Augenblicks gehorchend, sprang sie in die Stube, riss das Arbeitsgewand herunter und kleidete sich, als wär’s für den Kirchgang. Ihr Hütl über die Zöpfe hebend, trat sie aus der Hüttentür, hetzte die Stufen hinunter und hatte einen Schreck, der sie völlig lähmte.

In verwittertem Anzug und dennoch schmuck, umschimmert von der Nachmittagssonne, stand der Huisenblasi zwischen den Stauden. Lächelnd sagte er: „Grüß dich Gott, Sennerin!“

Ein klangloser Laut in der Stille. „Du!“ Das Hütl fiel dem Mädel aus der Hand und kollerte über den Rasen.

Blasi lachte. „Hast dir an andern verhofft?“ Langsam trat er auf Modei zu. „Oder haltst ebba dös für a Wunder: Dass a Mannsbild, a gsunds, zu der guttätigen Sennerin kommt – bei der’s kei’ Gfahr net hat – und die sein Schatz is?“

Da wurde sie ruhig, streckte sich und sah ihn mit Zorn funkelnden Augen an. „Du musst dich verschaut haben in der Gegend. Die Monika hat ihren Burschen. Und bei der Punkl wirst ebba doch net ans Fenster mögen?“ Sie wollte gehen.

„Du, wart a bissl!“ Er sprang ihr in den Weg und musterte sie schmunzelnd. „Zu dir komm ich. Die alten Zeiten a bissl auffrischen.“

„Alte Zeiten?“ Das war ein Ton, aus dem der Widerwille klang. „Fahrt dir net ’s Blut ins Gsicht? – mach, dass d’ weiterkommst! Ich hab an Gang.“ Sie wandte sich gegen den Steig.

„Öha! Langsam!“, rief er und verstellte ihr wieder den Weg.

Hart fragte sie: „Was willst?“

„Ich muss dir doch a guts Wörtl sagen dafür, weil mir am ungfahrlichen Sonntag so an freundschäftlichen Schutzengel gmacht hast! A rassigs Weiberleut bist! Kreiz Teifi noch amal!“ Er lachte. „Wie du den Jager von Fall am Schnürl hast!“

Dunkel schoss ihr die Zornröte in die Stirn. „Mein’ Weg gib frei! Ich sag dir’s zum letzten Mal! Mit dir hab ich nix mehr z’ reden.“

„Aber ich noch a bissl ebbes mit dir!“ Er drängte sie Schritt um Schritt gegen die Hüttenstufen hin. Und immer behielt er den heiteren Ton. „Vergelts Gott, Schatzl! Soviel haushälterisch bist! Grad wie mein Vater! Der schnürt mir den Geldbeutel zu, und du hilfst mir Patronen sparen. Aber allweil kunnt’s dir net nausgehn mit der Knauserei. Und willst den Jager von Fall schön sicher durchfretten bis zur Hochzeit, so lass ihm an eiserns Gwandl machen, gelt! Ich bin net allweil so kugelarm. Und meiner Kugel springt er so gschwind net aus’m Weg als wie so eim Brocken Stein.“

„Jesus!“ Modeis Gesicht verzerrte sich. „Den Stein hast du – –“ Sie schlug die Hände vor die Augen. „Und so an Menschen gibt’s auf der Welt!“

„D’ Jager sind wie Schwaben und Russen. So an Ungeziefer dertrappt man, wo man’s derwischen kann. Schad, dass man diemal daneben trappt.“

Sie sah ihn an, mit irrendem Blick. „Blasi! Dein Kind hat er tragen.“

„Mein Kind?“ Er zuckte die Achseln. „Protokolliert hab ich’s noch allweil net, dass ich der Vater bin.“

Aus verstörten Augen rannen ihr langsame Tränen über die blassen Wangen. Sie wandte sich ab, gegen die Hütte hin, und drehte das entfärbte Gesicht über die Schulter. „Gstorben bist mir gwesen. Und begraben. Mir! Schon lang. Von heut an is meim Kind der Vater verfault. Und wann’s mich fragt amal, nacher weiß ich nimmer, wie er gheißen hat.“ Modei machte einen müden Schritt. „Schlecht wird mir, wann ich dich anschau. Geh, sag ich dir!“

Ein wunderliches Staunen in den Augen, spottete Blasi nach kurzem Schweigen: „Ah na! Jetzt bleib ich erst recht. So gut wie heut hast mir noch nie net gfallen. D’ Weibsbilder sind allweil am feinsten, wann ihnen ’s Blut a bissl aufwurlt. Ja, jetzt hab ich wieder an Gusto auf dich.“ Er fasste mit eisernem Griff ihren Arm. „und hätt’s auch kein’ andern Verstand, als dass ich dem Jager die süße Schüssel versalz.“ Lachend riss er das Mädel an sich.

Ekel und Entsetzen lähmten ihre Zunge. Mit verzweifeltem Widerstand suchte sie sich loszureißen. Ihre Kraft erlahmte unter dem Druck dieser stählernen Arme. Kaum dass sie noch ihr Gesicht vor Blasis Lippen zu schützen vermochte. Sie wollte schreien. Seine Hand erstickte ihren ersten Laut. Und lachend zerrte er sie gegen die Stufen hin, während sie den Haarpfeil aus den Zöpfen riss, die ihr über die Schultern fielen.

Da keuchte Lenzl über den Steig herauf, ohne Hut, mit dem klirrenden Bergstock, das kleine Hirtenfernrohr am Gürtel. „Was is denn da?“

Den Kopf drehend, ließ Blasi das Mädel fahren.

Wie ein Besessener hetzte Lenzl auf den Burschen zu. „Du Herrgottsakermenter! Rühr mir d’ Schwester noch amal an mit deine drecketen Pratzen – und ich renn dir den Bergstecken durch und durch.“

Atemlos, das Haar ordnend, sagte Modei: „Da brauchst dich net plagen! In d’ Hütten hätt er mich net einibracht. Da hätt er schon ehnder mein’ Haarpfeil im Hals drin ghabt.“

Erheitert war Blasi ein paar Schritte zurückgetreten. „Ui jegerl! Da kunnt’s ja gar gfahlrich werden, da heroben. Und da schau an! Der Lenzl als Hulaner mit’m Spieß! Oder bist ebba gar der dümmste von die sieben Schwaben?“ Er lüftete auf nette Art das Hütl. „No also, pfüe Gott für heut! An anders Mal wieder.“ Und gemütlich sagte er zu dem Alten: „Wie, du, hol mir mein Büchsl aussi, dös ich beim letzten Bsuch vergessen hab!“

„So?“, knirschte Lenzl in bebender Wut. „Und sonst willst nix? Da kannst abschieben! Dö Büchs, dö kriegt bloß a Jagdghilf oder der Förster.“

Blasi schoss einen funkelnden Blick auf den Alten. Dann verzog er den Mund zu einem spöttischen Lächeln. „Is a teuflisch guts Gwehrl! Da kann der Jager sei’ Freud dran haben. Muss ich halt nachschauen, ob mei’ alte Büchs da drüben im Lahnwald unter die Steiner net rostig worden is seit’m Hahnfalz. Ohne Gamsbock geh ich heut net heim.“ Schmunzelnd sah er die Sennerin an. „Wann einer fallt, so bring ich dir d’ Nieren. Dö kannst dir bachen im Schmalz.“ Leise lachend sprang er in die Stauden.

„So ein’ musst anschaun!“ Lenzl fieberte vor Zorn. „Und da sagt man, unser Herrgott hat d’ Leut derschaffen! So a Gottslästerung! Under Herrgott muss sich schön geärgert haben, wie der erste Haderlump aussigwachsen is aus der Mistgruben.“ Ruhiger werdend, stellte er den Bergstock fort und legte den Arm um die Schwester. „Geh, komm! Tu dich a bissl niederlassen! Zitterst ja an Händ und Füß.“

Sie ließ sich zu den Stufen führen. „Wegen dem da, meinst? Ah na! Heut plagt mich ebbes anders –“ Da sah sie die müde Erschöpfung im erhitzten Gesicht des Bruders. „Was hast denn? Wo bist denn gwesen den ganzen Tag?“

Er kicherte. „So umanand steigen hab ich halt müssen – bei der Hüterei.“

„Gott sei Dank, dass daheim bist!“ Sie erhob sich. „Heut auf’n Abend muss mei’ Arbet machen. Ich hab an Weg.“

Lenzl stutzte. „Was? An Weg hast? Wohin denn?“

„Nach Fall muss ich abi. Es leidt mich nimmer. Ich muss –“ Die Stimme zerriss ihr. „Dem Friedl is ebbes Unguts zugstoßen. A Grenzer hat mir’s verzählt.“

Erst erschrak der Alte. Dann fand er ein Lachen. „Geh, lass dich net anschmalgen! Is ja net wahr!“

Die Schwester sah ihn eine Weile schweigend an. „Weißt denn du was davon?“

„No ja – im Wald drunt hat a Holzknecht so narrisch dahergredt, dass ich selber derschrocken bin. Aber wie ich nacher ummikommen bin am Rauchenberg –“

„Du? Und am Rauchenberg?“

„A Träupl Schaf hat sich verloffen, auf’n Rauchenberg ummi. Dö hab ich suchen müssen, ja, und da bin ich net weit von der Jagdhütten gwesen, hab ’s Spektiv aufzogen, hab ummigschaut – und da is er gmütlich vor der Hütten gsessen, der Friedl, und hat in der Sonn sei’ Pfeifl gruacht.“

Tief aufatmend, sagte Modei: „Dem Herrgott sei Lob und Dank!“ Sie sah hinüber zum Rauchenberg. „Wie d’ Leut aber lügen können!“

„Jaaa!“ Lenzl schmunzelte. „Dö lügen wie druckt – wann’s sein muss.“

Modei wollte in die Hütte treten und wandte sich wieder, von einem Misstrauen befallen. „Lenzl –“

„Was?“

Sie sprach nicht weiter, sondern blickte zu den Stauden hinüber, in denen Blasi verschwunden war. Der hatte doch auch gesagt: Dass Friedl dem fallenden Stein aus dem Weg gesprungen wäre. Sie bekreuzigte sich aufatmend, und wieder suchten ihre Augen den blauen, plumpen Buckel des Rauchenberges. Eine wehe Trauer schnitt sich um ihren Mund. „So a Sprüngl, so a kleins!“ Ein versunkener Laut. „Und kommt net ummi1“

Lenzl musste das Lachen verstecken. „Er wird halt kei’ Zeit net haben.“

Modei nickte. „Für mich!“ Sie holte ihr Hütl, das zwischen den Steinen lag. „Geschieht mir schon recht. Wer ’s Taubenhaus net verwahrt, der muss riskieren, dass der Marder alles auffrisst, was lebendig bleiben möchte.“ Müden Schrittes, noch einmal die Augen zu dem blauen Berg hinüberwerfend, trat sie in die Sennstube.

Nachdenklich nahm Lenzl den Kopf zwischen die Hände. „Sakra, sakra – dö arme Seel, dö verzehrt sich ganz – was tu ich denn da? Soll ich a Wörtl reden, oder muss ich den Schnabel halten?“ Auf der untersten Hüttenstufe sitzend, schlang er die Arme um das Knie und sann ins Blaue hinaus. Nach einer Weile raunte er vor sich hin: „So is dös allweil – hat sich a Wetter verzogen, so scheppert’s noch lang, wann d’ Luft schon sauber is und a jedweds Blüml wieder sein Köpfl hebt.“ Nun saß er unbeweglich und stumm, einen seltsam kindhaften Blick in den Augen, ein scheues Lächeln kindhaften Blick in den Augen, ein scheues Lächeln um den welken Mund. Wie Staunen und Spannung erwachte es in seinen erschöpften Zügen, wie der Ausdruck eines Menschen, der auf etwas wunderlich Klingendes in seinem Innern hört. Dann fingen seine Augen zu gleiten an und hafteten an vielen Dingen, als sähe er sie zum ersten Mal. Nun plötzlich ein Aufzucken, ein Erinnern. „Höi! Schwester!“

Sie kam aus der Hütte, schon wieder in ihren Arbeitskleidern. „Was?“

„Dös muss ich dir sagen: Sei gscheid, Schwester! Und tu dich net kümmern! Solang der Mensch noch schnauft, geht ’s Leben allweil wieder auf a Lachen zu.“

„Geh, du!“ Sie sah ihn verwundert an und sagte müd: „Amal, da hast mir versprochen, dass d’ Sonn allweil wiederkommt.“

Er lächelte. „So schau halt auffi! Steht s’ net droben?“

„No ja, freilich – aber du meinst es allweil anders als wie ich.“

„Sooo?“ Lenzl kicherte heiter. „Ah ja, d’ Menschenleut! Sooft man so a dumms Häuterl anschaut, muss man lachen. In Geduld kann der Mensch auf alles warten, was ihm weh tut. Aber d’ Freud? Da meint er allweil, dö muss gleich bei der Hand sein.“

In Staunen schwieg das Mädel eine Weile. „Lenzl?“

„Was?“

„Reden tust – ich weiß net, wie – als tätst völlig an andrer sein, als d’ allweil gwesen bist.“

Er nickte ernst. „Gelt, ja?“ Und fasste sie mit raschem Griff bei einer Rockfalte. „Schwester! Komm! Hock dich her a bissl zu mir!“ Als Modei neben ihm auf der Stufe saß, begann er leise und langsam zu reden, wie ein Träumender. „Die ganzen Täg her such ich allweil ebbes in meim Hirnkastl und kann’s net finden. Und alls is mir anders, als wie’s gwesen is. D’ Leut, und die ganze Welt, und d’ Luft in der Höh – alls schaut sich anders an. Sein tut’s mir, als wär ich noch halb a Kind, und als hätt ich gschlafen, ich weiß net, wie lang. Und ebbes hat mich aufgweckt. Und da merk ich, dass ich an alter Mensch bin, möchte traurig sein und muss doch lachen drüber, als ob ich a Kindl wär.“ Er kicherte vor sich hin.

In Schreck und Freude stammelte Modei: „Jesus – Lenzl –“

„Dös hat angfangt am selbigen Abend, weißt, wo ich deintwegen so schauderhaft derschrecken hab müssen. Und wie mich der Blasi bei der Gurgel ghabt hat, dass ich gmeint hab, ich muss dersticken – da hat mir allweil a schiechs Fuier vor die Augen bronnen. Und allweil a schiechs Fuier vor die Augen bronnen. Und allweil hab ich a Stimm ghört – a Stimm, wie d’ Mutter ghabt hat, weißt – und dö Stimm hat allweil gschrien: ‚D’ Schwester musst aussitragen, d’ Schwester musst aussitragen!’“ Sich zurückbeugend, sah er sie an und lachte herzlich. „Wie dich ausgwachsen hast! Heut kunnt ich dich nimmer tragen.“ Er wurde wieder ernst, und seine Augen suchten. „Jetzt musst mir ebbes sagen, Schwester! Allweil is mir so a Wörtl im Verstand, und ich weiß net, wo ich hin muss damit –“

„Was für a Wörtl?“

„Hast mir net du amal die letzten Täg her ebbes verzählt – von eim Tanzboden?“

Mit erweiterten Augen sagte sie zögernd: „Freilich, ja – da hab ich gredt davon.“

„Tanzboden? Tanzboden? Gar nimmer einfallen tut’s mir. – Wie war denn dös?“

„So gredt haben wir halt – vom selbigen Unglück.“

„Unglück?“ Lenzl furchte sinnend die Augenbrauen. „Was für an Unglück?“

„Wie –“ Die Stimme wollte ihr nicht gehorchen. „No ja, wie der Tanzboden einbrochen is!“

„Wart a bissl!“ Er nickte eifrig. „Jetzt kriebelt mir im Hirnkastl ebbes in d’ Höh. Du meinst den Tanzboden, der einbrochen is und a paar Leut derschlagen hat?“

Scheu stammelte Modei: „Den Grubertoni –“

„Jetzt haben wir’s! Ja! Der arme Teufel! Jetzt fallt mir alles wieder ein. Und zwei Madln hat man wegtragen müssen. Net? Auf eine kann ich mich ganz gut bsinnen. So a kleine. Mit lustige Äugerln.“ Er sah ins Leere, ernst, doch ruhig. „Ja, Schwester, so geht’s! Junge, lustige Leut! Und laufen der süßen Freud nach. Und gahlings is d’ Nacht da. Und alls hat an End.“ Mit raschem Griff umklammerte er die Hand des Mädels. „Schwester! Solang er noch schnaufen därf, der Mensch, muss er sich anhalten an der lieben Freud – ’s kunnt allweil die letzte sein.“

Die Heilung des Bruders erkennend, sprang Modei auf und hob unter Weinen und Lachen die Arme. „Vergelts Gott! Jesus! Vergelts Gott! Tausend Mal Vergelts Gott!“

„Schwester?“ Verwundert guckte Lenzl an ihr hinauf. „Was hast denn?“ Flink erhob er sich.

Erschüttert und in Freude klammerte sie den Arm um seinen Hals. „Dös musst ja doch selber spüren –“

„Was?“

„Dein Verstand is wieder licht. Dös merk ich, Bruder – dös muss ich doch merken –“

„Verstand? Und merken? Was?“ In drolligem Misstrauen sah er die Schwester an und begann zu lachen. „O du Schlaucherl! Spannst a bissl ebbes? Gelt, von die ganz Dummen bin ich keiner. Und heut – Schwester – allweil glaub ich, heut bin ich einer von die ganz Gscheiden gwesen. Und wie’s mir eingfallen is in der Fruh, da hab ich a Freud ghabt – ich kann dir’s gar net sagen!“ Wieder das muntere Lachen. „Ah, der hat gschaut – wie ich so gsprungen bin auf der Straßen. Und allweil: Jesus, Maria, Jesus, Maria! Und derschrocken is er – aaah, dös is ihm gsund! Da schmeckt ihm nacher d’ Freud umso besser.“

In Modei, als sie den Bruder so unverständlich reden hörte, erwachte die Sorge wieder. „Lenzl? Was denn? Was denn?“

„Öha, langsam!“, scherzte er. „Net gar so pressieren! A bissl Geduld musst allweil haben.“ Schmunzelnd guckte Lenzl zum Steig hinüber. „Aber lang wird’s nimmer dauern. Da kunnt ich wetten drauf.“ Er sah die Schwester an und zwinkerte lustig mit den Augen. „A Mordstrumm Weg hab ich machen müssen. Und hungern tut mich. Seit der Fruh hab ich nimmer aufs Essen denkt. Hast net a Bröckl für mich?“

Halb noch ratlos, zwischen Sorge und Freude, sprang Modei über die Stufen hinauf. „Aber freilich, ja! Gleich koch ich dir ebbes auf. Und ’s Allerbeste, was ich hab.“ Sie raffte ein paar Scheite Brennholz zwischen die Hände und verschwand im Dunkel der Hüttentür.

Der Alte lachte. „Und an Trunk muss ich haben. An festen. Wie Fuier is mir der Durst im Hals.“ Er ging zum Brunnen. „Da drunt im Faller Tal, da hat’s a Hitz ghabt zum Verschmachten.“ Er trank am Brunnenstrahl. Dann guckte er sinnend in den Wasserspeigel des Troges. „So ebbes Gspaßigs! Da schaut an alts und a lustigs Gsicht aus’m Wasser aussi. Mit weißgraue Haar und mit schieche Falten. Und wie ich ’s letzt Mal einigschaut hab, da hab ich zwei junge, traurige Augen ghabt. – Ah na! So kann’s net sein! – Bin ich amal jung gwesen? – Es kommt mir so für, als wär ich schon alt auf d’ Welt kommen? Und hätt a Ruh ghabt vor allem, was für junge Leut a Plag is.“ Versunken in Gedanken, immer murmelnd, ging er zur Hütte, blieb stehen, sah zu den Standen des Waldsaums hinüber und wurde unruhig.

Da drüben wand sich der Jäger Hies aus den Büschen heraus, mit Bergstock und Büchse, den Kopf gebeugt, immer zur Erde spähend. Von seiner munteren Art war nichts an ihm zu gewahren. Eine eiserne Härte war in seinem Gesicht, in jeder Bewegung, die er machte. Und immer näher kam er den Hüttenstufen.

Lenzl richtete sich auf und tat ein paar flinke Sprünge gegen den Jäger. „Hies!“

Der Jagdgehilf zuckte mit dem schwarzbärtigen Kopf in die Höhe. „Ah so, du bist da? Grüß dich Gott!“

In Erregung fragte Lenzl: „Was suchst denn da?“

„An Hirsch hab ich gspürt.“

„– – An Hirsch?“

„Ja. Und an ganz guten.“ Der Jäger lächelte. „Wann ich den derwisch – der freut mich.“ Es blitzte in seinen Augen.

„Hast dich net ebba verschaut? D’ Hirsch kommen so weit net abi. Bei der Hütten mögen s’ net grasen. Den Leutgruch derleiden s’ net.“

„D’ Leut stinken halt.“ Ein kurzes und hartes Lachen. „Den Hirsch, den spür ich. Dös redst mir net aus.“ Der Jäger wandte sich gegen den Waldsaum, den Stauden zu, zwischen denen der Huisenblasi verschwunden war.

„Hies!“ Flink, nach einem Sorgenblick zur Hüttentür, huschte Lenzl gegen den Jäger hin.

„Was willst?“

Der Alte flüsterte: „Hast vom Friedl ebbes ghört – vom selbigen Sonntag, mein ich?“

Der Jäger lachte. „A bissl ebbes, ja!“

„Meinst, der Friedl hat an Unsinn gmacht?“

Es zuckte spöttisch um den schwarzbärtigen Mund. „A jeder macht’s halt, wie er muss.“

„Und du? Wie tätst es denn du nacher machen?“

Die Gestalt des Jägers streckte sich. „Da müsst mir erst amal a gute Glegenheit dastehn auf hundert Gäng. Nacher kunnt ich dir’s gnau sagen – wie’s ich mach.“

Da mahnte der Alte ernst: „Geh, Hies, sei gscheid! Ruh schaffen? No freilich, ja! Aber a Hirsch is a Hirsch, a Gams is a Gams – und a Mensch bleibt allweil a Mensch.“

„So? Meinst? Aber diemal kommt’s halt, dass man Viech und Mensch nimmer recht ausanand klauben kann. Und dass eim ’s Viech no allweil besser gfallt als so a zweifüßige Kreatur.“ Der Jäger schob sich zwischen die Stauden und tauchte um eine Felskante.

Lenzl streckte die Hände. „Jesus, Hies, so lass dir doch sagen –“ Er wurde stumm. Und nach kurzem Schweigen raunte er in Erregung vor sich hin: „Meintwegen! Was geht’s denn mich an. Ich bin net der Weltregent. Wann’s unser Herrgott anders haben will, soll er’s halt anders machen. Er wird’s halt einrichten, wie’s ihm taugt. Auf sei’ ewige Grechtigkeit kann man sich allweil ausreden.“

Von der Höhe, die hinaufstieg zu den anderen Hütten, klang in der Sonnenstille die kreischende Stimme der alten Punkl: „Monika! Monerl! Hast net an Grenzer gsehen?“

Dann die lachende Stimme des Mädels: „Was soll ich gsehen haben?“

„Ob net an –“ Der Alten schien die Luft zu entrinnen. Dann pfiff sie im höchsten Diskant: „Herr jesses, so sag mir doch, hast net an Grenzer gsehen?“

„Was schreist denn a so? Ich hör ja ganz gut.“

Lenzl guckte und trat zur Hüttenecke. Ein paar Schritte hinter dem Almbrunnen standen die beiden Weibsleute beisammen, in der Sonne leuchtend wie goldene Figürchen.

„Weißt, a Grenzer“, schnatterte Punkl, „a Grnezer is bei mir in der Hütten gwesen. So a liebs Mannsbild! Ah, der hat mir gfallen! Und gleich hab ich ihm a fünf a sechs Flascherln Bier aus’m Keller auffigholt. Und derweil wir so gredt haben mitanand – no ja, und diemal a bisserl medazinisch, weißt – da hat er gahlings gmeint, ich soll ihm a frisch gmolchene Milli einiholen vom Stall. Was braucht er denn a frisch gmolchene Milli, hab ich mir denkt, wann er bei mir a Bier haben kann? Und alls, was er mag? Aber no, wann a Mannsbild, a liebs, ebbes haben will, da tut man’s doch gleich. Gelt ja? Und wie ich mit der frisch gmolchenen Milli einikomm in d’ Hütten, is mein Grenzer nimmer da! Is nimmer da! Und gar nimmer zum finden is er! Jesses, jesses, ich kann mir gleich gar nimmer denken, was da passiert sein muss! Geh, komm! Und hilf mir a bissl suchen!“

Die Monika lachte. „Is er ebba so zwirnsfadendünn, dass er hart zum derschauen is?“

„Ah na! Der hat a noblige Breiten.“

Erheitert wollte Lenzl zum Brunnen hinüber. Da hörte er hinter sich in den Stauden ein Gekoller von Steinen, ein Rumpeln und Rascheln.

Die fiskalische Mordwaffe über der Hemdbrust, unter dem linken Arm den Uniformrock und den Bergstecken, in der rechten Hand eine Bierflasche, rutschte der Grenzaufseher Niedergstöttner schwitzend und mit angstvollen Augen aus den Stauden heraus und flüsterte: „Stad sein, stad sein, stad sein! Verrat mich net, Mensch! Dös Weibsbild därf mich net finden, net finden, net finden!“

Im gleichen Augenblick gewahrte Punkl den Alten an der Hüttenecke und kreischte: „Höi! Du da drunten! Lenzerl! Hast net an Grenzer gsehen?“

Abwehrend fuchtelte Niedergstöttner mit der Bierflasche. „Verrat mich net! Um Gottschristi Barmherzigkeit willen! Verrat mich net! Dö hat mich – hat mich – hat mich für an Dokter ghalten, weißt! Ah na, Da dank ich schön!“ Er zappelte sich aus den Stauden heraus, setzte die Flasche an den Mund, nahm einen Stärkungsschluck und hopste in der Sonne hurtig über das Almfeld, den tiefer stehenden Bäumen zu. Es war ein sehr auffallender Vorgang. Punkl konnte die springenden drei Zentner nicht übersehen. „Mar’ und Joseph!“, zeterte sie. „Da hupft er ja!“ Der Sinn dieses flinken Ereignisses konnte ihr nicht verschlossen bleiben. „O jöises, jöises“, klagte sie, „fünf Flascherln hat er ausbichelt, ’s sechste hat er noch mitgnommen – – und so viel Zutrauen hab ich ghabt. Wann d’ Mannsbilder söllene Feigling sind – da gib ich’s auf! Da muss ich krankhaft bleiben bis an mein gottseligs Absterben!“

Lachend trommelte Lenzl mit den Fäusten auf seine Schenkel. „O du verruckte Welt! Der Ernst und d’ Narretei, und Tag und Nacht, a junge Freud und der letzte Schnaufer – und alls geht Ellbogen an Ellbogen!“ Wie ein lustiger Junge, der Freude am Springen hat, tollte der Alte zum Waldsaum und guckte kichernd dem hemdärmeligen Zollkürbis nach, der zwischen den schütter stehenden Bäumen flink hinunterkollerte ins sichere, unmedizinische Tal.

Da drunten war, wenn der Sonnenwind schärfer aufwärts zog, das Läuten einer großen Kuhschelle und das Gebimmel von zwei kleinen Glocken zu hören. „Mar’ und Joseph!“, murmelte Lenzl erschrocken. „Da is ja die Blässin drunt! Und a paar von die Kalbln! No also, jetzt hab ich’s! So geht’s, wann einer herlauft hinterm Glück, statt dass er sei’ Schuldigkeit bei der Arbet tut!“ Am Vormittag hatten die drei Stück Vieh, als sie unbehütet waren, den Almzaun durchbrochen und hatten sich verlocken lassen durch die saftigen Grasflächen, die vom Gehänge der Dürrachschlucht heraufschimmerten. „Dö muss ich auffitreiben! Und gleich! Da kunnt sich a Stückl derfallen!“

Seiner Mahlzeit vergessend, die auf ihn wartete, hetzte Lenzl durch den steilen Wald hinunter mit dem gellenden Hirtenschrei: „Kuh seeeh, Kuh seeeh, Kuh seeeh!“

 

Kapitel 14

 

In der goldschönen Nachmittagssonne qualmte der blaue Herdrauch durch das wettergraue Schindeldach der Grottenhütte. An den Türbalken, die schon beschattet waren von der Ausladung des Daches, spielte der rötliche Flackerschein des Feuers, über dem die Pfanne mit Lenzls Mahlzeit dampfte.

Kaum ein Laut war in der flimmernden Stille des Almfeldes. Der Brunnen plätscherte leise, manchmal bimmelte irgendwo eine Kälberschelle, und von Zeit zu Zeit klang aus dem tieferen Wald herauf das Hämmern eines Spechtes. Drunten in der Talsohle rauschten die fernen Dürrachfälle so sanft, dass es sich anhörte, wie wenn eine Hand über starre Seide gleitet.

Noch war der Himmel rein. Doch über den schattseitigen Waldgehängen begannen schon weißliche Flocken aus dem Blau herauszuwachsen, zarte Wolkenkinder, so fein wie Apfelblüten. Manche verschwanden wieder, andere erschienen und wuchsen zu luftigen Bällen, die sacht im Blau zu schwimmen begannen. Wenn zwei einander nahe kamen, schmiegten sie sich Seite an Seite, ließen immer voneinander und schmolzen in eins zusammen. Liebe und Sehnsucht auch da droben!

Nun ließ sich, erst ferne, dann immer näher, in gleichmäßigen Zwischenräumen von der doppelten Dauer eines Menschenschrittes, ein klirrendes Geräusch vernehmen, als käme über den Steig aus der Tiefe des Waldes einer langsam heraufgestiegen, der nicht auf zwei genagelten Sohlen wanderte, nur auf einer.

Mit suchenden Augen tauchte Friedls Gesicht aus dem Steingewirr der Steigstufen. Es war ihm anzusehen, welch eine schwere Mühsal dieser Bergweg für ihn geworden. An seinem rechten Fuß hatte sich der Filzschuh in eine so unförmliche Sache verwandelt, dass man den Jäger – wär’ es Mitternacht und finster gewesen – für den berühmten Hinkenden mit dem Pferdefuß hätte halten können. In der Sonne sah dieses Fußknappen eher drollig als unheimlich aus. Friedl, die Zähne übereinander beißend, gab sich auch alle Mühe, so fest und aufrecht wie möglich zu schreiten. In Unruh und Sorge spähten seine huschenden Augen. Als er den Rauch sah, der aus den Schindeln qualmte, dachte er: Eine barmherzige Nachbarin ist da, die Monika oder die Punkl, um für die Kranke zu kochen. Erst tat er noch einen tiefen Atemzug und trocknete die Perlen seiner Plage vom erhitzten Gesicht. Dann ging er auf die Hüttenstufen zu .

Aus der Sennstube scholl eine klingende Stimme: „Geh, Bruder, komm eini! Die’ Mahlzeit is fertig.“

Dem Jäger war es anzumerken, dass ihm das Herz herauf schlug bis in den Hals. Dabei glänzten ihm die Augen in froher Erleichterung. „Dös Stimmerl is gar net krankhaft. Da kann’s doch so weit net fehlen, Gott sei Lob und Dank!“

Nun wieder dieser gesunde Klang: „Wo bleibst denn, Lenzl? So komm doch eini!“

Erst jetzt fiel es dem Jäger auf, dass Modei mit dem Bruder redete, der in Lenggries beim Doktor war, um das „heilsame Trankl“ zu holen. In Verwunderung weiteten sich Friedls Augen. „Dös kommt mir a bissl gspassig für –“ Bevor er dieses Klarstellende zu Ende denken konnte, befiel ihn ein anderer Gedanke mit fürchterlichem Schreck: „O heilige Mutter, dös Madl weiß nimmer, was mit ’m Bruder is! Dös Madl fiebert!“ Er machte ein paar Sprünge, bei denen er wieder die Zähne übereinander beißen musste, kam bis zu den Hüttenstufen – und im gleichen Augenblick trat Modei, ein bisschen blass, sonst aber kerngesund, aus dem schwarzen Türschatten in die goldwarme Sonne heraus.

Was den beiden beim gegenseitigen Anblick über die Gesichter blitzte? War es Freude, Verblüffung, Schreck? Oder alles zugleich?

„Friedl!“

„Modei!“

Zwei Namen, zwei Stimmen, und doch nur ein einziger Laut aus gleichem Gefühl. Dann standen sie stumm, und jedes hing mit dürstendem Blick an den Augen des andern, bis die Verlegenheit sich störend dazwischen schob. Im Verlaufe dieses Schweigens schienen sich die Empfindungen der beiden ein bisschen nach verschiedener Richtung zu entwickeln. Während Modei ratlos das Geheimnis des deformierten Filzkübels betrachtete, regten sich Verblüffung und Misstrauen im Jäger. Jener böse Sonntag, dem Bennos kluge Ratschläge den Giftzahn schon ausgebrochen hatten, wurde neuerdings bedrohlich, Friedl vergaß aller guten Vorsätze, und was nach diesem Purzelbaum in seinen taumelnden Sinnen noch übrig bleib, war eigentlich eine ganz vernünftige Sache, aber gerade deshalb für Glück und Liebe verhängnisvoll: Die Feststellung des Tatsächlichen, die übel schmeckende Witterung einer Unwahrheit. Ein bisschen rautönig brach der verdutzte Jäger das Schweigen: „Mit deiner gfahrlichen Krankheit kann’s doch net gar so gfahrlich ausschauen? Weil schon wieder so munter auf die Füß bist?“

„Krankheit?“, fragte sie scheu. „Wieso? Was meinst denn da? Wie kommst denn drauf, dass ich krank sein soll?“

Er wurde heftig. „Is dös am End gar net wahr?“

Sein Ton und die Bitterkeit dieser Worte machten sie hilflos. „Mit ’m besten Willen, da weiß ich nix davon.“

„So so? Und da schreit man auf der sonnscheinigen Straßen: Jesus Maria, Jesus Maria!“ Ein kurzes Lachen. Mir scheint, da bin ich wieder amal ’s gutmütige Rindviech gwesen – und kann wieder umkehren.“ Friedl wandte sich rasch. „Pfüe Gott!“

Erschrocken die Hände streckend, jagte Modei über die Stufen herunter. „Mar’ und Joseph!“

Friedl war blind und taub. Wesentlich verständiger benahm sich in diesem Augenblick der grausam misshandelte Filzkübel, der sich als hilfreicher Freund erwies, indem er rutschte. Der Jäger machte eine gaukelnde Bewegung, brach auf der leidenden Seite halb ins Knie, verbiss den quälenden schmerz und versuchte zu lachen.

„Hast dir weh tan?“, stammelte das Mädel in Sorge. „Am Fuß?“

„Ich?“ Dieses Fürwort erinnerte im Klang an das „Ah“ des ehemaligen Nachtwächters von Lenggries. Dabei guckte Friedl halb über die Schulter, noch immer krampfhaft lachend. „Meine Füß derleiden schon a bissl ebbes.“ Er wollte wandern. Das ging nicht. Mit blassen Lippen sagte er: „Gleich marschier ich wieder. Aber a Recht zum Rasten hat der Mensch allweil, wann der Weg weit is. Und an kühlen Trunk muss ich haben – mir is, als müsst mir einwendig alls verbrennen.“ Er schleppte sich zum Brunnen hinüber. Modei blieb ratlos stehen und sah ihm nach, sah immer den knappenden Fuß an. Dabei gewahrte keins von den beiden, dass am unteren Saum des Almfeldes die Blässin und zwei Kälber aus dem Wald heraufgaloppierten. Die Blässin rasselte mit der großen Schelle, eins von den Kälbern bimmelte. Das andre kam stumm gesprungen – es war irgendwo im Wald, bei der Dürrach drunten, an einer Staude hängen geblieben und hatte den ledernen Schellengurt vom Hals gerissen.

Mit Steinen werfend, hetzte Lenzl hinter den drei eingeholten Flüchtlingen her. Und gleich gewahrte er das Paar beim Brunnen. Sich duckend, kicherte er seine Freude vor sich hin und huschte gedeckt zur Hütte hinauf. „Mir daucht, da muss ich noch a bissl schieben. Bei der Lieb liegt allweil der Verstand überzwerch.“

Friedl hatte Gewehr und Bergstock an die Brunnensäule gelehnt, ließ sich hinfallen auf den Trog, schöpfte Wasser mit der hohlen Hand und schlürfte gierig.

Da sprang das Mädel auf ihn zu und riss ihm die Hand von den Lippen. „Du! Dös tust mir net! In d’ Hitz eini so a kalts Wasser trinken.“

„Ah was! Der Schlag wird mich net gleich treffen. So verzartelt bin ich net. Mich haben ganz andere Sachen ent umgworfen.“ Ein wehes Schwanken war in seiner Stimme. „Und ’s Wasser is allweil ebbes, wo man sich drauf verlassen kann. Wann ’s Wasser klar is, weiß man: Da därfst trinken davon. Und wann’s trüb is, kennt man sich auch gleich aus. Da is nie ebbes Unsichers dran, wo man net weiß, was man sich denken soll.“ Weil er an ihren Augen sah, wie nah ihr diese Worte gegangen waren, stammelte er erschrocken: „Deswegen brauchst net so traurig dreinschauen. Ebbes Bsonders hab ich mir net denkt dabei. Bloß a bissl beispielmaßig hab ich gredt. Und jetzt hab ich mich gut abkühlt, jetzt kann ich wieder marschieren.“ Nach dem Gewehr greifend, erhob er sich.

„Na, Friedl!“ Sie war ruhig geworden. „So därfst mir net fort – mit deim armen Fuß –“

Er wurde ungeduldig. „Fuß, Fuß, Fuß? Was willst denn allweil mit meim Fuß? Der is schon lang wieder gut.“

„Wie kann er denn gut sein, wann noch allweil kein’ Schuh net tragen därfst?“

„Muss denn der Mensch an Schuh tragen? Dös ghört noch lang net zur ewigen Glückseligkeit. Im Himmelreich laufen d’ Leut mit die nacketen Füß umanand. Oder hast vielleicht in der Kirch schon amal an Engel gsehen mit gnagelte Schuh oder mit Röhrenstiefel?“ Weil ihm das Stehen sauer wurde, hockte er sich wieder auf den Brunnentrog, blickte kummervoll in den Sonnenglanz und sagte, um Modeis Sorge zu beschwichtigen: „Mein, a bissl aufgangen hab ich mich halt.“

Was war an diesem Wort, dass es in Modei eine so tiefe, deutlich merkbare Erschütterung hervorrief. Und dann huschte ein stilles, schönes Lächeln über ihr vergrämtes Gesicht. „Friedl!“, sagte sie leise. „Dös war wieder eins von deine Wörtln.“

„Meine Wörtln?“, maulte er und betrachtete sie verdutzt. „Ich weiß net, was d’ meinst. So ebbes kann jeder sagen.“

„Na, Friedl!“ Immer froher wurde ihr Lächeln. „So ebbes sagst bloß du, sonst keiner.“

„Geh, lass mich aus!“ In Unbehagen rührte Friedl die Schultern. „Und wann ich amal sag, ich hab mich aufgangen, so hab ich mich aufgangen. Da shclupft einer gern in an Filzschlorpen eini, der net druckt. Und von Fall bis da auffi, dö lausigen drei Stündln, da brauchtman noch lang keiN’ gnagelen Schuh.“

„Von Fall? Bis da auffi?“ Jetzt erlosch ihr Lächeln. „Kommst denn du net vom Rauchenberg ummi?“

„Ich? Na. Ich komm von daheim.“

„Jetzt kenn ich mich aber gar nimmer aus.“

„Da geht’s dir grad so wie mir.“

Schwer atmend legte Modei den Arm an die Stirn, als befände sich die Ursache dieser sonderbaren Dunkelheiten unter ihren Zöpfen. „Ganz verschoben is mir alles – und wann’s wahr sein tät, dass dich bloß aufgangen hast, so müsst mich der ander anglogen haben.“

„Anglogen?“ Friedl wurde unruhig. „Was? Wer?“

„A Grenzer hat mir gsagt: Wie mein Kindl tragen hast, da is dir –“ Sie konnte nicht weiter sprechen, „Da dir a Stein über’n Fuß gangen – hat er gsagt.“

Wütend fuhr Friedl auf: „So a schafhaxeter Ochsenschüppel! Was muss denn der söllene Sachen reden und muss dich aufregen für nix und wieder nix.“ Er wurde ruhiger. „Ich hab mich aufgangen. Punktum. So sag ich und so bleibt’s.“

„Friedl!“ Nun fand sie ihr glückliches Lächeln wieder. Dabei wurden ihr die Augen feucht. „Lügen? Dös heißt doch net: Gut sein.“

Dem Jäger fuhr das Blut in den Kopf. „No ja, wann schon meinst, es muss a Stein gwesen sein, in Gotts Namen, so war’s halt einer. Steiner gibt’s gnug in die Berg. Da is schon oft einer gfallen. Deswegen brauch ich noch lang net lügen. Deim Kindl is nix passiert. Dös is rund und gsund. Und dös is d’ Hauptsach. Und geht sich an andrer überm Stein auf, so hab halt ich mich unterm Stein aufgangen. Da wird der Unterschied net so schauderhaft sein. Marschieren kann ich auch schon wieder. Dös wirst gleich merken.“ Er wollte aufstehen.

„Du!“ In Sorge fasste Modei seinen Arm und hielt ihn fest. „Jetzt tust mir sitzen bleiben! Auf der Stell!“

So verblüfft, dass sein Gesicht sich völlig veränderte, guckte Friedl an ihr hinauf. „ah, die schau an!“ Er befreite seinen Arm. „Aufbegehren tät s’ auch noch! Und sagt: Ich tu lügen! Sagst vielleicht du allweil d’ Wahrheit? Vom letzten Sonntag –“ Dieses rote Kalenderwort zerdrückte ihm die Stimme. „Da will ich net reden davon. Kunnt allweil sein, dass er recht hat – der Herr Dokter – mit seim guten Menschenglauben.“ Friedl schien sich dem einsichtsvollen Augenblick mit Gewalt entreißen zu wollen. „Aber heut wieder? Dös mit deim Kranksein? Is dös ebba net glogen gwesen?“

„O du heiliger –“, klagte Modei. „So red doch endlich amal a Wörtl, dös man verstehn kann! Wer soll denn krank gwesen sein?“

„Du!“

„Ich? Wer hat denn dös gsagt?“

„In Fall drunt hat mir’s der Lenzl einigjammert übern Zaun.“

Zuerst ein hilfloser Blick, dann ein frohes Aufleuchten in Modeis Augen. Und ihre Hände griffen zum leuchtenden Himmel hinauf. „O du heilige Mutter! Jetzt glaub ich dran, dass er sei’ lichte Vernunft wieder hat!“

„So? Da kannst dich noch freuen drüber?“, murrte Friedl in Zorn. „Und ich bin derschrocken, dass ich gmeint hab, jetzt hab ich kein Tröpfl Blut nimmer in der Haut. Schier narrisch bin ich worden. Und im Filzschlorpen hab ich auffi müssen zu dir – da hat nix gholfen –“ Immer heißer wurde seine Empörung. „Und so kann mich einer anlügen! No, Gott sei Lob und Dank, Madl, weil nur gsund bist! Aber so lügen können! So lügen!“

Da klang es mit lustigem Kichern um die Hüttene>Beklommen staunte Friedl: „Heut stellt sich d’ Welt am Kopf! Der da – und sagt Narr zu mir!“ Er sah zu dem kichernden Alten hinüber. „Wer von uns zwei der Gscheidere is –“

„Friedl!“, fiel Modei unter glücklichem Lachen ein. „Da kunnt man heut doch a bissl in Zweifel sein.“

Das heitere Lachen der beiden schien den Jäger noch um den letzten Rest seiner klaren Besinnung zu bringen. „Mir isnet lacherisch z’mut. Und ich sag dir’s, Madl –“

Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, und ihre Augen glänzten. „Brauchst mir gar nix nimmer sagen. Alles weiß ich schon. Dein Filzschuh hat mir alles verzählt.“

„O du verruckter Strohsack!“, schimpfte Lenzl. „Lass doch amal sein’ Fuß in Ruh. Und wann er net selber ’s richtige Wörtl findt, so musst ihm halt du ebbes sagen, was Verstand hat!“

„Ja, Friedl!“ Modeis Stimme bekam einen Klang, dass dem Jäger die Hände zu zittern begannen. „Dös muss ich dir sagen – weil ich weiß, dass dir alles a Freud wird, was für mich a Freud is. Friedl, heut is ebbes Heiligs hergfallen über uns. Ebbes Glückhafts hat sich zutragen mit meim Bruder –“

„Jöises, jöises!“ Lenzl schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Jetzt fangt s’ von mir zum reden an! Dös is ja doch zum Verzweifeln!“ Mit klappernden Schuhen kam er über die Hüttenstufen herunter.

Ratlos stotterte Friedl: „Was hat er denn, der?“ Und Modei lachte leise: „Verstand hat er.“

Jetzt stand der Alte vor den beiden und schalt: „An Ewigkeit wart ich schon allweil drauf, dass eins von enk zwei ’s richtige Wörtl findt. Oder muss dös ebba so sein in der Welt: Dass ’s Allerleichteste allweil ’s Allerhärteste wird? Bloß fragen brauchst: Wie is denn dös gwesen am Sonntag? Und ’s ander, dös braucht bloß sagen: So! Und alls is gut. Aber na! Net zum derleben! Der Mensch is allweil an ungscheider Lapp. Und soll er noch ganz vertäppen, da muss ihm d’ Lieb noch an Schubbser geben und muss ihm den Verstand durchanand beuteln wie ’s Millifett im Butterfassl. Meiner Seel, der Narr muss kommen und nachhelfen.“ Er griff in den Hosensack. „Du! Da schau her!“ Auf der flachen Hand heilt er dem Jäger eine Schrotpatrone vor die Nase hin.

„Jesus!“, stammelte Modei in Schreck und dennoch aufatmend. Und Friedl fragte perplex: „Was macht er denn da schon wieder für an Unsinn? Dös is ja a Schrotpatron –“

„Dö ich gfunden hab, ja! Da drüben in der Stauden. Wo s’ d’ Schwester einigschmissen hat – am Sonntag. Verstehst jetzt bald?“

Bis in den Hals erblassend, richtete Friedl sich auf. „Modei?“

Weil sie wortlos stand, versetzte Lenzl ihr einen derben Puff an die Schulter. „Herrgott, so sag’s ihm doch amal!“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann net reden!“ Mit brennendem Gesicht, den Arm vor die Augen schlagend, ging sie hinüber zu den Hütenstufen.

„Dö Patron hat d’ Schwester dem andern aussigrissen aus der Hinterladerbüchs, derweil er sich gwalttätig verstecken hätt mögen in der Hütten drin!“ Der Alte lachte. „Verstehst noch allweil net?“

„Mar’ und Joseph! Und ich!“ Nach einigen zwecklosen Armbewegungen fasste der Jäger seinen Kopf zwischen die zitternden Fäuste und fing zu hinken und zu humpeln an, immer flinker. „Jesus, Jesus, was bin ich für a Narr!“

Lenzl kicherte: „Wie halt a jeder einer is, der umanandwuzelt auf zwei Menschenfüß!“

Noch ehe Friedl die Hüttenstufen erreichen konnte, sprang Modei erschrocken auf ihn zu. „Um Gotts willen! Wie kannst denn so umanandhupfen! Mit deim kranken Fuß!“

„Macht nix! Macht nix!“

„Geh, dös muss dir ja schauderhaft weh tun!“

„Was? Weh tun? Is ja net wahr!“ Er fand das Lachen seines Glückes. „Wohl tut’s mir, wohl tut’s mir.“ Jauchzend machte er mit seinem Filzkübel einen Sprung wie der schneidigste Schuhplattltänzer. „Mir is, als müsst ich versaufen in lauter Freud! Und alles draht sich, und die ganze sonnscheinige Welt is wie an ewige Seligkeit! Madl, jetzt hab ich dich! Madl, jetzt lass ich dich nimmer aus!“ Mit beiden Armen griff er zu und riss die Stammelnde an seine Brust mit so heißer Kraft, dass sie stöhnen musste.

Dann sprachen die beiden kein Wort mehr. Als wäre das Glück, das auf ihre Herzen gesunken, zu gewichtig, um es aufrechte zu tragen, so fielen sie auf die Hüttenstufen nieder, stumm, eins an die Brust des anderen gewachsen.

„So!“, nickte Lenzl. „Dö zwei, dö brauchen mich nimmer.“ Er guckte zur Hüttentür. „Jetzt kunnt ich mir d’ Mahlzeit schmecken lassen! Ah na! Dös hat noch Zeit! Ebbes Schöns, dös muss eim allweil wichtiger sein als wie der Magen. Dös Glöckl muss her!“ Er meinte die Schelle, die eines von den beiden Kälbern im Wald bei der Dürrach drunten verloren hatte. „So viel fein is dös Glöckl im Almgläut allweil gwesen! Dös Glöckl muss her! Und wann i suchen müsst bis eini in d’ Nacht. Ich kunnt net schlafen, wann ich mir denken müsst: Dös feine Glöckl is hin. Ah na! Dös Glöckl muss her! Und heut noch!“

Einen Jauchzer gegen die Sonne schreiend, sprang er hinunter zum Waldsaum.

Das sahen die beiden auf den Hüttenstufen nicht. Wohl hatte der klingende Schrei sie aufgeweckt aus ihrer stummen Versunkenheit. Doch sie lösten sich nur voneinander, um Aug in Auge und Hand in Hand zu bleiben. Keine Zärtlichkeit fiel ihnen ein. Sie dachten nicht daran, sich zu küssen, fühlten nur, dass sie einander gehörten, Herz an Herz, für Leben und Sterben. Das zu wissen, war ihnen von allem Guten das Beste. Und als sie ruhiger wurden und sich ausgesprochen hatten, bleiben sie noch immer so sitzen, Wange an Wange, und träumten mit leuchtenden Augen hinaus in den schönen Tag.

Von seiner Schönheit sahen sie nicht viel. Die ganze grüne, steinerne Welt, die da in der Sonne um sie her war, versank ihnen als etwas Leuchtendes im ruhigen Traum ihres neu gewonnenen Lebens und ihres gefesteten Glücks.

Kleine weiße Wolken schwammen hoch im Blau, an ihren westlichen Rändern wie beschlagen mit goldenen Buckeln. Und ihre Schatten glitten sacht über das Almfeld und über die Felswände. Das war anzusehen, als hätte die Erde, die um alle Dinge des Lebens weiß, in der Sonnenfreude dieser schönen Stunde auch dunkle, schwermutsvolle Gedanken.

 

Kapitel 15

 

Hundert Mal war Hies auf dem Moos bewachsenen Waldboden von der Fährte abgekommen, die er verfolgte. Und immer, in seiner verbissenen Beharrlichkeit, hatte er sie wieder gefunden, auf zertretenem Gras, an aufgeschürften Mooslappen, an abgestoßenen Steinchen oder auf einem feuchten Erdfleck. Und wenn auch in dieser Fährte der Abdruck der neun Nägelköpfe fehlte – Hies kannte die Form dieses Fußes auch ohne das verräterische Zeichen von einst.

Weiterspürend von Schritt zu Schritt, war Hies hinübergekommen bis zu den Wassergräben des Lahnwaldes, dessen steile, lichter werdende Gehänge sich hinuntersenkten zu den Schluchten der Dürrach. Hier wucherte dieses Berggras, durchfilzt vom vorjährigen Laub der Buchen und Erlen. Vom strengen Verfolgen einer Fährte konnte da keine Rede mehr sein. Und was hätte Blasi hier suchen sollen? Die Äsungsplätze der Gämsen lagen höher, die Tagstände des Hochwildes tiefer, wo der Wald wieder dichter wurde. Blasi hatte diesen Weg wohl nur genommen, um den Stieg zu vermeiden, und war schon auf dem Heimweg. Sonst hätte er diese Richtung nicht eingeschlagen. Ob’s nicht ratsamer wäre, stiel durch die Deckung einer Wasserrinne hinunter zu gleiten. Da konnte der Jäger noch als erster die Dürrachbrücke erreichen, die Blasi passieren musste. Solang es noch heller Tag war, würde der Wildschütz diesen Weg nicht einschlagen; erst nach Anbruch der Dunkelheit. Da blieb dem Jäger noch reichliche Zeit, um zur Schlucht hinunterzuklimmen und einen geschützten Lauerposten bei der Brücke zu wählen.

Schon wollte Hies von der Bergrippe, über die er sich hinüber geschlichen hatte, schräg hinunterklettern in den steinigen Wassergraben. Da vernahm er aus den tiefer liegenden Büschen ein Geräusch, wie wenn ein Tier im dürren Laub und im Reisig scharrt. Blitzschnell duckte sich der Jäger. Sorgsam seiner Deckung achtend, schlich er im Graben abwärts, von Stein zu Stein, bis er mit dem Staudenbuckel, von dem er das Geräusch vernommen hatte, in gleicher Höhe war. Den Hut in die Joppentasche stopfend, machte er die Büchse schussfertig und schob zuerst den Lauf seiner Waffe, dann seine Stirn und die Augen über den Grabenrand hinaus. Auf dreißig Schritte, hinter dem Schleier der Buchenäste, gewahrte er einen Körper, der sich bewegte. Nun sah er in einer Lücke des Staudenwerks den sonnfleckigen Schimmer eines Mannsgesichtes und erkannte an dem aufgezwirbelten Schnauzer den Huisenblasi, der auf der Erde kniete, mit den Händen das dürre Laub beiseite räumte und unter den Steinen ein kurzläufiges, mit Tuchlappen umwickeltes Gewehr hervorzog. Unter einem Lächeln wilder Freude nahm der Jäger die Büchse an die Wange. „Lump, verdammter! In d’ Höh mit deine Pratzen! Oder es kracht!“

Blasis entfärbtes Gesicht tauchte über die Stauden herauf, nur einen Augenblick, dann verschwand es wieder. Die Deckung der Büsche nützend, warf der Wilddieb sich platt auf den Boden hin und wälzte sich flink in die Deckung einer Steinmulde. Als Hies, den übereilten Anruf bereuend, mit schussfertiger Büchse dem Geräusch entgegen sprang, hörte er den Huisenblasi hinter den Stauden schon über den Berghang hinunterflüchten.

Mit jagenden Sprüngen hetzte der Jäger hinter dem Fliehenden her. Mehr und mehr verringerte sich die Entfernung zwischen den beiden. Hies, der den Wilddieb ohne nutzbare Waffe wusste, brauchte sich nimmer zu decken und konnte auf geradem Weg durch den Wald hinunterstürmen, während Blasi, um Schutz zu finden, im Zickzack von Staude zu Baum und von Baum zu Staude huschen musste. Schon hörte Hies den keuchenden Atem des Fliehenden. Auf zwanzig Schritte sah er ihn über eine schmale Blöße rasen, ohne das Gewehr, das der Wilddieb auf der Flucht in die Büsche geworfen oder im Versteck zurückgelassen hatte. Jetzt ein Kollern von Steinen, ein lärmender Aufschlag. Blasi war verschwunden, war über die Felskante auf den Steig hinunter gesprungen.

Eine Sekunde der Überlegung. Dann wagte auch de rJäger den stubenhohen Sprung, gewnan den Steig und rannte den schmalen Pfad entlang, zur Rechten die immer steiler und höher werdende Felswand, zur Linken die tiefe Dürrachschlucht. Der Fliehende, schon vierzig oder fünfzig Schritt voraus, war nur manchmal für einen Husch zu sehen, weil der Steig in kurzer Wendung sich immer wieder herumdrückte um eine Steinkante. Doch immer hörte Hies die klirrenden Sprünge, häufig den rasselnden Atem des schon Erschöpften. Und jetzt, unter dem Klappern und Klirren der hetzenden Nagelsohlen und unter dem Knattern und Pfeifen der Steine, die hinuntersausten in die Dürrachtiefe, war immer wieder und immer schneller, immer näher, ein feiner, hübsch klingender Laut zu vernehmen, wie das Geläut einer kleinen, gut geschmiedeten Kälberschelle. Wilde Freude verzerrte das Gesicht des hetzenden Jägers, dem die Kräfte auch schon zu entrinnen drohten. Er wusste: Das war eine Hilfe. Kam da ein Stück Almvieh über den schmalen Steig herauf, dann war der Weg gesperrt, der fliehende Wilddieb eingeschlossen und gefangen.

Als Hies herumkeuchte um eine Felskante, sah er den Wilddieb auf halbe Schussweite in ratloser Verzweiflung gegen die Felswand taumeln. Auch der Huisenblasi schien zu wissen, was das hübsche, feine Gebimmel hinter der nächsten Steigwendung für ihn bedeutete – und sah den Jäger kommen, hatte die Augen eines Fieberkranken und wusste nur diese einzige Rettung noch: Er musste das bimmelnde Kalb, das von da drunten kam und auf dem schmalen Steinpfad nicht wenden konnte, durch einen jähen Schreck verstört machen und hinausstoßen über den Steig. Einen Felsbrocken aufraffend, jagte der Huisenblasi gegen die Wendung des Pfades und dem hübschen Gebimmel entgegen.

„Halt, du!“, brüllte der Jäger. „Zum letzten Mal: Halt! Oder hin bist!“ Er hob die Büchse. Da erschien, an der Biegung des Steiges, hinter dem Fliehenden, ein hemdärmeliger Mensch, ein weißhaariger Almhirt, der eine fein klingende Schelle an ledernem Gurt um die Brust hatte, gleich dem Bandelier eines Trommlers. „Jesus! Der Lenzl!“ Und erschrocken senkte der Jäger seine Büchse.

Dem Huisenblasi fiel unter keuchenden Sprüngen der Stein aus der Hand. „An d’ Wand hin, Lenzl, druck dich an d’ Wand hin, um Tausendgottswillen!“, schrie er mit gellender Stimme.

Und der Jäger kreischte: „Halt ihn auf! Halt ihn auf, den Lumpen!“ Dann rannte er mit dem Aufgebot seiner letzten Kraft, bis der Schreck ihm die Knie lähmte. Er hatte noch ein halb höhnisches, halb erschrockenes Auflachen des Hirten, einen flehenden Schrei des Huisenblasi und ein heftiges Gebimmel der feinen Schelle vernommen.

Nicht weit von der Stelle, wo der schwere, von Blasi ins Rollen gebrachte Felsklumpen den Schweißhund des Friedl zerschmettert und in die Tiefe geschleudert hatte, waren Blasi und Lenzl gegeneinander gestoßen. Was da geschah, vermochte der Jäger nicht zu erkennen. Wollte Lenzl den Huisenblasi die Flucht versperren? Oder wollte er ausweichen, sich an die Steinwand pressen, um dem Fliehenden freien Weg zu schaffen? Und verhängte sich der Schellengurt, die fein tönende Glocke, an der Joppe, an den Hosenträgern, an der Hemdbrust des Vorüberhuschenden? Die beiden waren plötzlich ein ringender, keuchender, unentwirrbarer, mit gellenden Lauten kreischender Knäuel. Sie taumelten und schlugen mit den Armen, verloren den Boden, einer riss den anderen mit sich, und unter schrillem Doppelschrei, in den sich ein halb ersticktes Gerassel der Schelle mischte, stürzten die zwei Aneinandergekrampften in die schattenblaue Tiefe.

Zwischen dem Gepolter und Sausen fallender Steine vernahm der Jäger einen dumpfen Aufschlag. Vor Grauen wirbelten ihm die Sinne, dass er sich gegen die Felswand lehnen musste. Diese Verstörtheit dauerte nur ein paar Augenblicke. Dann sprang der Jäger hinüber zur Unglücksstelle, warf sich auf die Knie und beugte sich über den Absturz. „Lenzl!“, schrie er. „Lenzl! Lenzl!“ Das Rauschen des Bergwassers war die einzige Antwort, die aus der Tiefe heraufkam. „Heiliger Herrgott!“, lallte der Jäger und bekreuzigte das aschfarbene Gesicht. „Dös hab ich net wollen.“ Er schien sich über das eigene Wort zu ärgern und knirschte einen Fluch in die Zähne. „Freilich, so is dös allweil auf der Welt! Wann einer an Unsinn macht, so raunzt er a jeds Mal: Dös hab ich net wollen.“

Er begann über die Wand hinunterzuklettern, kehrte aber wieder um, weil er sich sagen musste, dass er allein da drunten, wenn Hilfe überhaupt noch möglich war, nicht helfen konnte. Und weil er die nächsten Menschen in den Almhüten wusste, rannte er über den Steig hinauf, den letzten Rest seines Atems erschöpfend. Die Gedanken, die ihn auf diesem Weg begleiteten, begannen ihn verdrießlich zu machen. Allen inneren Kampf, den sie ihm verursachten, wehrte er mit dem galligen Wort von sich ab: „Ah was! Is halt a Marterl mehr auf der Welt! Und a Lump und a hirnkranks Mannsbild weniger!“ Der Hies war keine mit überflüssigen Sentimentalitäten belastete Seele. Doch als er in der schönen Goldsonne des beginnenden Abends hinauf kam auf das Almfeld und die zwei jungen Menschen in ihrem träumenden Glück vor der Hütte sitzen sah, da gab es ihm doch, wie der Volksmund zu sagen pflegt, einen Riss. Auch fuhr ihm erst jetzt die Erkenntnis durch den Sinn, dass es die Schwester war, an die er die erste Botschaft vom Unglück des Bruders auszurichten hatte. An den Huisenblasi dachte der Hies schon nimmer, der war für ihn erledigt. Während Hies im Goldschimmer des Abends auf die Hütte zuging, nahm er schwül schnaufend den Hut herunter, so, wie er es immer tat, wenn er an einem Feiertag zu Lenggries in die Kirche musste.

Modei löste sich aus dem Arm des Jägers. „Da kommt einer!“, sagte sie leise. Unter einem Lächeln, das ihr Gesicht verjüngte, strich sie mit beiden Händen langsam über ihre glühenden Wangen.

Friedl, der im Gesicht seines Kameraden zu lesen wusste, sprang erschrocken auf. „Jesus! Hies! Wie schaust denn aus! Hat’s ebbes geben?“

„A bissl ebbes, ja!“ Der Jäger warf sich auf einen Steinblock hin. Mühsam pumpte seine Brust. Als er Atem hatte, sagte er’s mit zwanzig Worten, von denen er meinte, dass sie barmherzig wären.

Modei konnte das Entsetzliche nicht fassen. Der Umschlag aus der Freude in den Jammer war zu jäh über sie hergefallen. Sie zitterte unter stummen Tränen, als Friedl sie umschlang und an seinem Herzen hielt. Auch er vermochte eine Weile nicht zu reden. Dann sagte er zu dem Jäger: „’s Madel is die Meinige, weißt!“ Und sagte zu Modei: „Komm, Herzliebe! ’s Klagen hilft da nix. Da muss man helfen.“ Seine ernste Festigkeit und der zärtliche Klang seiner Worte gaben ihr Mut und Kraft. Sie nickte. Und nun konnte sie gleich an alles denken. „Der Hies muss rasten. Ich spring zu die andern Hütten auffi und hol den Veri und d’ Monika und der Punkl ihren Hüter. Und du Friedl – Jesus, dein kranker Fuß!“

„Der vertragt schon noch a Bröserl. Ich spring zum Grottenbach ummi. Da schaffen zwei Holzknecht. Die haben alles, was man braucht!“ Weil Modei seine Hand nicht lassen wollte, sagte Friedl: „Da ummi geht’s abwärts. Da tu ich mich leicht. Und mit die Holzknecht komm ich gleich auf’n Dürrachsteig.“ Er humpelte flink davon.

Als die acht Menschen eine halbe Stunde später an der Unglücksstelle zusammentrafen, schrie Modei wie von Sinnen einen gellenden Laut in die rote Glut des Abends. Friedl musste sie stützen. „Herzliebe, sei stark! Jetzt heißt’s den Kopf in der Höh halten!“ Er legte Gewehr und Rucksack ab und teilte jedem seine Arbeit zu. Monika und Modei mussten mit den Beilen der Holzknechte zu einer gangbaren Waldstelle laufen, um Fichtenzweige für eine Tragbahre abzuhauen. „Der Hies und a Holzknecht bleiben auf’m Stieg. Der ander Holzknecht mit die zwei Hüter muss über d’ Wand auffi – da haben s’ mehr Platz, haben Bäum zum Einspreißen und haben mehr Kraft zum Halten und Ziehen. Ich, weil ich a bissl schwach auf die Schuh bin, ich lass mich anseilen.“

„Aber Mensch!“, warnte Hies. „Dös is die härteste von aller Plag!“

„Mein Fuß kann rasten dabei.“ Mit einer Doppelschlinge, die nicht würgen konnte, band sich Friedl das Ende des langen Seiles um die Brust und nahm noch ein zweites Seil in den Rucksack. Dann gab er den Hut fort, sprach mit leiser Stimme ein Vaterunser und warf noch einen Blick nach der Waldstelle, von welcher Modeis Beilhiebe herüber klangen.

Das Seil wurde straff gezogen, Friedl rutschte vom Steig ins Leere und schwebte über dem Abgrund, mit gespreizten Füßen von der Steinwand sich abstemmend, um ein Aufscheuern des Seiles an den Felskanten zu verhüten.

In der Tiefe, bis übers Knie im Wildwasser stehend, musste er zuerst die Hände über die Augen decken, um das Grauen des Anblicks zu überwinden, der sich ihm bot.

An einem halb aus dem Wasser ragenden Felsen hing Blasis Leichnam, bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert; das gurgelnde Wasser spülte weg über seinen Kopf; die starre Faust umklammerte einen zerfetzten Ledergurt mit einer breit gequetschten Schelle, die von den schießenden Wellen gegen den Stein gesprudelt wurde und noch immer klingen wollte.

Hinter dem Fels lag Modeis Bruder, bis zu den Hüften ins Wasser getaucht, mit dem Rücken und den im Nacken verschlungenen Armen gegen die Steinwand gedrückt. Seine Augen waren geschlossen, Blutschaum quoll aus den Mundwinkeln.

Friedl watete durch den schäumenden Bach auf Lenzl zu und trug den leblos Scheinenden zu einer freieren Stelle des Ufers. Auf den Knien liegend, riss er sein Halstuch herunter, tauchte es in das kalte Wasser, wusch dem Lenzl das Gesicht und schrie vor Freude, als ein tiefer Atemzug die Brust des Ohnmächtigen schwellte.

Droben rief eine Stimme: „Um Gottes willen, was is denn?“

„Der Lenzl lebt!“, schrie Friedl hinauf und sah, dass der Blutende die Augen öffnete. Die glitten langsam in der Schattendämmerung der engen Schlucht umher und blieben am Gesicht des Jägers haften.

Ein mattes Lächeln. „Mir scheint – da kenn ich mich aus – da hat’s an End mit der Sonn – und d’ Nacht is da – und d’ Schwester –“ Die Stimme erlosch im Rauschen des Wassers. Ein Seufzer. Und die Augen schlossen sich wieder.

Jäher Schreck befiel den Jäger, und erschüttert stieß er vor sich hin. „Gscheider, er wär a Narr blieben!“ Die Brust des Bewusstlosen atmete weiter. Und Friedl hoffte wieder. Gebete stammelnd, riss er aus seinem Bergsack den Strick heraus, den er mitgebracht hatte, band den Lenzl an die eigene Brust, schnürte die schlaffen Arme des Ohnmächtigen um seinen Hals, rüttelte am hängenden Seil und schrie zur Höhe: „Auf!“

Straff spannte sich das Seil im Zug der doppelten Last. Ruck um Ruck schwebten die zwei empor, und Friedl musste seine ganze Kraft und Besinnung aufbieten, um beim Schwanken und Drehen des Seiles jeden Anprall an die Felsen zu verhindern.

Als man die beiden bis zum Schluchtrand hinaufgezogen hatte, wanden sie über der Felswand Stehenden das Seil um einen Baum, so dass der Holzknecht und Hies auf dem Steig die Hände frei bekamen, um den Jäger mit seiner Last über die Steinkante heraufzulupfen. Als Friedl das Seil von seiner Brust löste, flüsterte Hies: „Und der ander?“

„Da musst unsern Herrgott fragen!“, sagte Friedl ernst. „Wir müssen schauen, dass wir den Lenzl heimbringen. Jeder Verzug is Gfahr für sein Leben.“

Hies und der Holzknecht trugen den Bewusstlosen hinunter bis zur Dürrachbrücke. Als sie ihn dort ins Gras legten, kam die Schwester, Stangen und Zweige schleppend. Sie warf sich neben dem Bruder zu Boden und presste zuckend das Gesicht an seine Schulter.

Während die letzte Rotglut des Abends auf den Gipfeln und hohen Wänden brannte, band man im dämmrigen Waldschatten eine Tragbahre zusammen.

Die zwei Hirten stiegen zu ihren Hütten hinauf, und Monika sage zu Modei: „Um ’s Vieh brauchst dir kei’ Sorg net machen. Ich bin schon da. Und alls wird in Ordnung sein.“ Bei der Brücke bleiben nur die beiden Holzknechte, um auf die Mannsleute zu warten, die ihnen Friedl zur Hilfe heraufschicken wollte; dann sollten sie in der Nacht den anderen aus der Tiefe heben und hinaustragen nach Lenggries.

Die beiden Jäger schleppten die Bahre. Das ging langsam. Und Friedl, auch auf der besseren Straße, musste alle hundert Schritte rasten. Immer wollte ihn Modei ablösen. Das litt er nicht. „Dich braucht der Lenzl.“ Neben der Bahre gehend, tauchte sie, sooft eine Quelle kam, das Tuch ins Wasser und kühlte die Stirn des Bruders. Und immer betete sie, während ihr die Tränen über die Lippen kollerten.

Beim schweren Tragen mit dem zerweichten, häufig rutschenden Filzschuh zitterte Friedl immer merklicher. Vergelts Gott, dachte er, weil’s nur allweil finster wird! Da kennt sich ‚s Madl net aus.

Als die viere auf fünf Füßen und einem halben unter spärlichen Sternen nach Fall kamen, war er schon so still und dunkel, dass niemand den Zug gewahrte, der sich langsam dem Haus des Jägers näherte.

Während Modei und die erschrockene alte Frau in Friedls Kammer den Bewusstlosen betteten und wuschen, sprang Hies zum Förster hinüber. Und Friedl brachte noch die hundert Humpelschritte bis zum Wirtshaus fertig, um Benno zu bitten: Er möchte nach Lenggries zum Doktor fahren und dem Huisenbauer ein barmherziges Wörtl sagen.

Schweigend, ohne eine Frage zu stellen, sah Benno immer den Jäger an, der sich mit der Schulter an die Mauer lehnte.

„Komm, Friedl! Lass dich führen!“

„Ich find schon weiter. Fahren S’, Herr Dokter! Dös pressiert.“

Als Friedl heimkam, war er mit seiner Kraft zu Ende, in seiner Kammer fiel er auf die Ofenbank. „Wie geht’s ihm denn?“

„Ich glaub, net schlecht!“, flüsterte Modei, den Umschlag des Ohnmächtigen wechselnd. Und die Mutter sagte: „Auswendig sieht man gar net viel. Aber einwendig muss ihm ebbes fehlen. Allweil wieder kommt Blut. Beim Waschen is er aufgwacht und hat gfragt nach dir. Aber gleich war’s wieder aus. Da muss man Geduld haben – und muss an alles denken.“ Sie wollte ihrem Sohn den schlammstarrend Filzklumpen vom Fuß herunterschälen.

Eine Hand schob die alte Frau beiseite. „Mutter, dös musst mir lassen!“

Als Modei den heißen, von Blut überkrusteten Fuß des Jägers zwischen ihren Händen hielt, begann sie heftig zu zittern, beugte jäh das Gesicht hinunter und küsste das schwarz gewordene Blut.

„Jesus, Madl“, stammelte Friedl erschrocken, „was tust denn!“

„Was ich müssen hab!“ Sie hob die nassen, schimmernden Augen zu ihm auf.

Er tat einen wohligen Atemzug und sagte leise, mit einem aus der Tiefe seines Herzens klingenden Laut: „Dös heilt mich.“

Ein Rascheln in den Kissen drüben. Ein sachtes Gleiten der dürren sonnverbrannten Hirtenhand, die auf der wollenen Decke lag. Lenzls Augen blieben geschlossen. Nur der blutende Mund bewegte sich: „Mein Glöckl, gelt – dös hast mit auffibracht?“ Das Zucken seiner Lippen wurde ein Lächeln. „Grad hab ich’s – läuten hören – so ebbes Schöns!“ Dieses frohe Lächeln erlosch nicht mehr. Es blieb und wurde wie Wachs, wie weißer Marmor.

 

Ende

 

Druckversion | Sitemap
© Thomas Lehmann

Diese Homepage wurde mit IONOS MyWebsite erstellt.