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SPRUCH DES JAHRES

Die Zensur ist das lebendige Geständnis der Großen, daß sie nur verdummte Sklaven treten, aber keine freien Völker regieren können.

Johann Nepomuk Nestroy

SPRUCH DER WOCHE

Duldet ein Volk die Untreue von Richtern und Ärzten, so ist es dekadent und steht vor der Auflösung.

 

Plato

 

LUSTIGES

Quelle: Aus dem umgestülpten Papierkorb der Weltpresse (1977)

Rubrik: Das süße Leben

Dallas, Texas - Vor einem Gericht gab Jack Stinney an, er habe seine Frau nur des Spaßes wegen verprügelt. Auf die erstaunte Frage des Staatsanwaltes ergänzte Stinney dann seine Aussage: "Allerdings verprügelte ich meine Frau nur wegen des Spaßes, den sie mit drei anderen Männern gehabt hatte."

Die Lehmänner
Die Lehmänner

Das Karpatenschloß

Jules Verne

 

Kapitel 7-12

 

Kapitel 7

 

Wie soll man die Angst beschreiben, die in dem Dorfe Werst herrschte seit dem Aufbruch des jungen Waldhüters und des Doktors? je mehr der schier endlosen Stunden verrannen, ohne daß sie zurückkehrten, desto größer und schmerzvoller wurde die Angst.

Schulze Koltz, Gastwirt Jonas, Magister Hermod und ein paar Bauern wichen nicht mehr von dem Straßen-Ueberbau, der ihnen den Fernblick zum Schlosse eröffnete. Jeder wollte die Steinmasse beobachten, jeder wollte feststellen, ob sich über dem Turm wieder Rauch zeigte oder nicht.

Es wurde kein Rauch wieder wahrgenommen: das litt keinen Zweifel, denn das Fernrohr stand unabänderlich auf die Turmesse gerichtet. Wahrlich! die zwei Gulden, die Frik für das Fernrohr bezahlt hatte, hatten sich gut bezahlt gemacht. Noch niemals war es dem Schulzen, der doch wie alle Bauern nicht gern Geld ausgab und lieber die Hand fest auf den Beutel drückte, um eine Zufallsausgabe so wenig leid gewesen wie um das Geld für das Fernrohr.

Als der Schäfer um halb eins von der Weide zurückkam, wurde er mit Fragen bestürmt, ob es was Neues, was Außergewöhnliches, was Uebernatürliches gebe?

Frik konnte weiter nichts sagen, als daß er, ohne irgend etwas Verdächtiges gesehen zu haben, gerade aus dem Tale der walachischen Sil heraufkäme.

Nach dem Essen, gegen zwei Uhr, bezog jeder wieder seinen Beobachtungsposten. Es wäre niemand eingefallen, zu Hause zu bleiben, am wenigsten aber, einen Fuß wieder in den »König Mathias« zu setzen, wo sich gespenstische Warnrufe vernehmen ließen. Daß Wände Ohren hatten, mochte hingehen, da sich solch Sprichwort nun einmal im Volksmunde festgenistet hat – aber daß Wände einen Mund haben sollten, prrrr! das ging über die Hutschnur.

Es war zufolgedessen nicht gerade erstaunlich, daß den braven Gastwirt die Furcht beschlich, sein Gasthaus möchte in Quarantäne getan werden, und daß aus seinem Herzen alle Ruhe wich. Womöglich sähe er sich noch in die Notwendigkeit versetzt, die Bude zuzumachen, sein Bier und seinen Schnaps allein zu trinken, weil die Kundschaft ausbliebe? und doch hatte er, um die Werster Bauern zu beruhigen, den »König Mathias« von oben bis unten einer gründlichen Untersuchung unterzogen, hatte alle Stuben durchsucht, alle Kisten und Truhen umgewendet, alle Ecken und Winkel seiner Gaststube – vom Keller bis zum Bodenraum, – abgesucht, kurz alles, alles gründlich visitiert, wo sich ein Bösewicht, um solchen schlechten Witz zu machen, hätte verstecken können. Aber nichts, nichts hatte er ausfindig machen können, auch auf der Giebelseite, die auf den Gießbach hinausblickte, war alles Suchen resultatlos geblieben. Daß jemand hätte einsteigen können, dazu waren die Fenster zu hoch, ganz abgesehen davon, daß man, um zur Hauswand zu gelangen, erst über den Bach hätte gelangen müssen. Was konnte das aber alles helfen? Furcht hat lange Beine, und ehe sich die alten Gäste bei Jonas wieder einfanden, ehe das Vertrauen zu seinem Gasthause, zu seiner Gaststube, zu seinem Rakju und Rosoglio bei den Leuten wieder einkehrte, konnte geraume Zeit verstreichen.

Geraume Zeit? – Irrtum! man wird es schnell erleben, daß sich diese betrübsame Aussicht nicht bestätigen sollte.

Nur wenige Tage verstrichen, so ereignete sich nämlich ein Vorfall, den niemand vermutet, erwartet oder gar vorausgesehen hätte und der die Dorf-Honoratioren nötigen sollte, ihre täglichen Zusammenkünfte, bei denen ein guter und kräftiger Schluck nie fehlen durfte, im »König Mathias« wieder aufzunehmen.

Aber um dies dem Leser verständlich zu machen, ist es notwendig, daß wir uns wieder nach dem jungen Waldhüter und seinem Kameraden, dem Doktor Patak, umsehen.

Nik Deck hatte, wie man sich besinnen wird, beim Abschiede der untröstlichen Miriota gelobt, sich mit seinem Ausfluge nach dem Karpathenschlosse zu tummeln, und wenn ihm kein Unglück zustieße, wenn sich die gegen ihn gerichteten Warnungen nicht verwirklichten, so rechnete er in den ersten Abendstunden zurück zu sein. Das ganze Dorf wartete also, und mit welcher Ungeduld! mit um so stärkerer Ungeduld, als doch niemand, weder die junge Dirne noch ihr Vater noch der Schulmeister voraussehen konnten, mit welchen Schwierigkeiten die Männer zu kämpfen haben würden, um vor Einbruch der Nacht bloß bis auf den Kamm des Orgall zu gelangen.

Hieraus erklärt sich, daß die schon tagsüber lebhafte Ungeduld alles Maß überschritt, als von Vulkan herüber, dessen Kirchuhr man in Werst ganz deutlich schlagen hörte, die achte Stunde klang. Was war bloß vorgefallen, daß Nik und der Doktor noch nicht wieder da waren? sie waren ja doch den ganzen Tag schon unterwegs! Sich früher, als sie wieder zurück wären, wieder nach Hause zu begeben, wäre keinem einzigen aus dem Dorfe in den Sinn gekommen. Aller Augenblicke meinte man, sie um die Ecke biegen zu sehen, die die Dorfstraße kurz vor dem ersten Hause machte.

Schulze Koltz war mit seiner Tochter bis an die Ecke gegangen, wo man den Schäfer als Posten aufgestellt hatte. Zuweilen meinten sie, Schatten in der Ferne, zwischen den Bäumen auftauchen zu sehen – bloße Einbildung! der Bergsattel war menschenleer wie sonst, denn nächtlicher Weile wagten sich nur selten Leute über die Grenze. Außerdem war es ja Dienstag abend – der »schlimme Abend«, an welchem Hexen und Kobolde, Strygen und Lamien ihr menschenfeindliches Wesen trieben – da ging, wenn es nicht unbedingt sein mußte, kein Siebenbürger aus dem Hause, geschweige denn über Land. Nik Deck mußte wirklich nicht recht im Kopfe gewesen sein, sich gerade solchen Tag zu dem Ausfluge auf die Burg hinauf auszusuchen. Im Grunde genommen traf hierbei ihn der gleiche Vorwurf wie jeden andern im Dorfe: an den Dienstag und seinen schlimmen Abend hatte eben in der Aufregung niemand gedacht.

Aber der untröstlichen Miriota kamen jetzt all diese Gedanken, und keinen wurde sie wieder los. Ach, welch furchtbare Bilder traten ihr vor die Augen! Im Geiste war sie ihrem Bräutigam von Stunde zu Stunde gefolgt, im Geiste war sie mit ihm durch den Urwald des Plesa geklettert, bis zum Orgall-Plateau hinauf – und jetzt, als es Nacht wurde, vermeinte sie ihn innerhalb der Wallmauer zu sehen, im Kampf mit den Gespenstern und Geistern, die im Karpathenschlosse hausten – als Spielball ihrer Ränke und Streiche – als Opfer ihrer Rache – eingesperrt in tiefem Verlies – vielleicht schon tot oder von Sinnen – –

Armes Dirndl! was hättest du darum gegeben, deinem Nik nachrennen zu können? Ach, das war nicht möglich! unter keinen Umständen möglich! Aber die ganze Nacht wollte sie wenigstens draußen auf der Straße seiner warten – und das litt wieder der Vater nicht, denn der Schäfer blieb draußen auf Posten, und das war ausreichend, – drum mußte sie mit dem Vater ins Haus hinein und in ihr Kämmerchen hinauf.

Als sie dort war, allein mit sich und ihren Gedanken, da flossen die Tränen, ohne Maß und ohne Ende – ach, sie liebte ihn doch so innig, so heiß, ihren braven lieben Nik, und mit um so dankbarerem Herzen, als Nik so ganz anders sie kennen gelernt und um sie geworben hatte, wie es sonst im Siebenbürgerlande Brauch und Sitte ist.

Alljährlich, am Tage von Peter und Paul, wird dort unten in den Karpathen die »Brautmesse« gehalten. Da kommen sämtliche junge Dirnen komitatweis zusammen. In ihren schönsten Karriolen, die mit den besten ihrer Pferde bespannt sind, kommen sie angefahren und bringen ihre Mitgift, selbstgesponnene, selbstgenähte, selbstgestickte Kleider, in buntfarbige Truhen verpackt, mit; die nächsten Anverwandten, Eltern und Geschwister, Vettern und Muhmen, auch Freundinnen und Nachbarinnen kommen mit ihnen mit. Dann kommen, aufs schönste herausgeputzt, im Sonntagsstaat und mit seidenem Gurt um den Leib, die jungen Männer, stolzieren auf der Messe umher, suchen sich die Maid aus, die ihnen gefällt, schieben ihr zum Zeichen des Verlöbnisses einen Ring über den Finger und drücken ihr ein Taschentuch in die Hand. Auf der Heimkehr von der »Brautmesse« wird dann die Hochzeit gefeiert.

Aber Miriota und Nik Deck hatten einander nicht auf solcher »Messe« gefunden. Ihr Verlöbnis war keine Zufallssache gewesen. Sie kannten einander von Kindesbeinen an und waren einander gut, seitdem sie in das Alter, in welchem sich die Geschlechtsliebe einstellt, getreten waren. Und doch, trotzdem sie einander so gut waren, hatte Miriota den Bräutigam nicht abhalten können, den verhängnisvollen Gang zum Karpathenschlosse hinauf zu unternehmen. Ach, welch eine schreckliche Nacht mußte die arme Miriota haben! sie konnte nicht Ruhe im Bett finden, sondern setzte sich ans Fenster und starrte auf die Straße hinaus bis in den hellen Morgen hinein – immer war es ihr, als hörte sie eine Stimme flüstern:

»Nikolaus Deck hat auf die Warnungen nicht gehört, nun hat Miriota keinen Bräutigam mehr!«

Es war nur Sinnestäuschung. Durch die Stille der Nacht drang keine Stimme. Der unerklärliche Vorgang in der großen Gaststube des »Königs Mathias« wiederholte sich im Schulzenhofe nicht.

Am andern Morgen in aller Frühe war die ganze Werster Bauernschaft auf den Beinen. Von dem Straßen-Ueberbau bis zu der Straßenbiegung am Bergfuße wogten die Leute hin und her, nach Neuigkeiten fragend und Neuigkeiten meldend. Es hieß, der Schäfer sei über eine Meile vom Dorfe aus nach dem Plesa-Walde unterwegs, ginge freilich nicht durch den Wald, sondern bloß am Saume hin, täte das aber ganz sicher nicht ohne Ursache. Man müßte abwarten, aber um schneller von ihm Kunde zu haben, sei der Schulze mit seiner Tochter und mit dem Gastwirte vor das Dorf hinausgegangen.

Nach einer halben Stunde sah man den Schäfer ein paar hundert Schritte weit die Straße heraufkommen, langsamen Schrittes, ein Umstand, der als schlimmes Anzeichen gelten durfte.

»Nun, Frik, was gesehen? was gehört?« rief ihm der Schulze schon von weitem entgegen.

»Nein; nichts gehört, und nichts gesehen,« erwiderte Frik.

»Nichts! nichts!« flüsterte das Mädchen mit Tränen in den Augen.

»Bei Tagesanbruch kamen eine Meile von hier zwei Männer in Sicht,« erzählte der Schäfer; »erst glaubte ich, es seien Waldhüter und Doktor – aber es war nicht an dem.«

»Weißt du, was das für Männer waren?« fragte Jonas.

»Zwei Fremde, die über die walachische Grenze wollten,« erwiderte Frik.

»Hast du mit ihnen gesprochen?«

»Ja.«

»Kommen sie zum Dorfe her?«

»Nein, sie wollen auf den Retjesat hinauf.«

»Also Touristen?« fragte Vater Koltz.

»So sehen sie aus, Schulze.«

»Und vom Schlosse herüber haben sie nichts bemerkt in der Nacht auf ihrem Marsche über den Vulkansattel?«

»Nein – weil sie noch auf der andern Grenzseite drüben waren,« versetzte Frik.

»Also gar keine Kunde von Nik?«

»Gar keine.«

»Ach Gott! mein Gott!« seufzte die arme Dirne.

»In ein paar Tagen werdet Ihr die beiden Leute ja selber ausfragen können,« bemerkte Frik noch, »denn sie beabsichtigen, ehe sie nach Klausenburg weiter wandern, in Werst Rast zu machen.«

»Wenn ihnen nicht Uebles von meinem Gasthofe berichtet wird,« dachte Jonas untröstlich; »sonst lassen sie es sich schwerlich einfallen, bei mir zu logieren.« Seit 36 Stunden plagte den wackern Wirt die Furcht, daß kein Reisender mehr im »König Mathias« einkehren und was verzehren werde.

Durch diese Fragen und Antworten zwischen Schulze und Schäfer war kein Licht in die Situation gebracht worden. Stand noch zu hoffen, daß die beiden Männer, die nun um acht Uhr früh des andern Tages noch nicht wieder zurück waren, überhaupt wiederkehren würden? – hieß es nicht schon seit langer, langer Zeit, daß niemand sich ungestraft dem Karpathenschlosse nähern dürfe? Nichtsdestoweniger war es von dringender Notwendigkeit, einen Entschluß zu fassen. Dem Waldhüter und dem Doktor mußte ohne allen Verzug zu Hilfe geeilt werden. Auf Gefahr, die man dabei liefe, durfte es nicht ankommen. Zum wenigsten mußte festgestellt werden, was aus dem Waldhüter und dem Doktor geworden sei. Das war Pflicht nicht bloß für die Verwandten und Bekannten, sondern für jeden Bauern im Dorfe. Nach mancherlei Debatten, Aufforderungen und Ausflüchten fanden sich endlich als tapferste drei zu dem Wagnis bereit: Schulze Koltz, Schäfer Frik und Gastwirt Jonas – sonst niemand. Schulmeister Hermod bekam plötzlich Reißen im Bein und mußte sich in der Schule auf zwei Sessel strecken.

Gegen 9 Uhr machte sich der Schulze mit dem Schäfer und dem Gastwirt auf den Marsch nach dem Sattel des Vulkans, natürlich alle drei wohlbewaffnet; an derselben Stelle, wie Nik Deck, bogen sie von der Straße hinein in den Wald; sie sagten sich nicht ohne Grund, daß Nik Deck, wenn er wieder nach dem Dorfe zurück unterwegs sei, doch sicher auf demselben Wege kommen würde, den er zum Hinweg benutzt hätte.

Während die drei Männer nun ihren Marsch unternehmen, wollen wir über die Vorgänge, die sich in ihrem Dorfe während ihrer Abwesenheit zutrugen, berichten. Während es, solange sie noch da waren, für unerläßlich erachtet wurde, daß Leute, die dazu Lust hätten, sich auf den Marsch nach dem Schlosse machten, um über Nik Decks und Doktor Pataks Ausbleiben Gewißheit zu schaffen, erachtete man es, sobald man sie aus dem Gesicht hatte, für eine Unklugheit sondergleichen, daß sich besonnene Männer in solches Wagnis stürzten, statt sich das Schicksal ihrer Vorgänger zu Herzen zu nehmen. Es könnte doch gar nicht anders kommen, als daß es ihnen nicht besser ginge wie den andern – während man jetzt bloß den Verlust von zwei Mitbürgern zu beklagen hätte, würde man am nächsten Morgen den Verlust von ihrer fünf zu beklagen haben – denn daß der Waldhüter und der Doktor bei ihrem wahnsinnigen Beginnen das Leben gelassen hatten, stand jetzt für jedermann außer Zweifel. Wozu wäre es nötig, daß nun auch Schulze, Schäfer und Gastwirt ihr Leben in Gefahr brächten? würde man vielleicht besser dran sein, wenn die Schulzentochter statt bloß um ihren Bräutigam auch noch um ihren Vater Tränen vergösse? wenn außer den vielen Freunden und Bekannten des Doktors nun auch alle Bekannten des Schäfers und alle Kunden des Gastwirts zu Leidtragenden würden?

Im Dorfe griff allgemeine Trostlosigkeit um sich, und daß sie bald aufhören würde, schien sich nicht erwarten zu lassen. Selbst wenn man nicht mit einem Unglück rechnete, das ihnen zustoßen könnte, ließ sich auf die Rückkehr des Schulzen und seiner beiden Kameraden vor Einbruch der Dunkelheit nicht rechnen.

Wie groß war mithin das Erstaunen, als man ihrer in der dritten Nachmittagsstunde weit draußen auf der Heerstraße ansichtig wurde. Wie schnell war Miriota, der die frohe Kunde ohne Verzug gemeldet worden war, auf dem Wege ihnen entgegen!

Es waren ihrer nicht drei, sondern vier, und der vierte ließ sich als der Doktor Patak erkennen.

»Nik – mein armer, armer Nik!« schrie das Dirndl – »ist denn Nik nicht auch da?«

Doch, doch! Nik war mit da – aber Nik lag auf einer Trage aus Baumzweigen, an der Jonas der Wirt und Frik der Schäfer gar schwer zu tragen hatten.

Miriota stürzte zu ihrem Bräutigam, neigte sich über ihn, schloß ihn in die Arme.

»Er ist tot,« schrie sie, »er ist tot!«

»Nein,« entgegnete der Doktor, »tot nicht – aber verdient hätte er es, tot hier zu liegen – und ich auch!«

Der Waldhüter lag nicht tot, sondern bewußtlos auf der Bahre, mit starren Gliedern, leichenblassem Gesicht und schwer nach Atem ringend, - und wenn aus dem Gesichte des Doktors nicht ebenso alle Farbe gewichen war wie aus dem seines Gefährten, so war der Grund einzig und allein in der Marschbewegung zu suchen, die ihm die alte rote Färbung wiedergegeben hatte.

Miriotas Stimme, so weich und herzzerreißend sie war, besaß die Kraft nicht, Nik Teck aus der Erstarrung zu wecken, in die er versunken war. Auf dem ganzen Wege zum Dorfe und bis ins Schulzenhaus hatte er noch kein einziges Wort gesprochen. Nach einer Weile schlug er aber dort die Augen auf, und als er sein Dirndl neben sich sah, da schlich ein Lächeln über seine Lippen; aber als er versuchte, sich aufzurichten, gelang es ihm nicht. Die eine Hälfte seines Körpers war gelähmt. Um aber Miriota nicht zu beunruhigen, sprach er, freilich mit recht, recht schwacher Stimme:

»Es wird nichts zu bedeuten haben – wird nichts zu bedeuten haben!«

»Nik – mein armer, armer Nik!« weinte das Dirndl.

»Bloß ein bißchen Ueberanstrengung, liebe Miriota, und ein bißchen zuviel Aufregung – unter deiner Pflege ist das – schnell vorbei –«

Aber dem Kranken tat Ruhe und Stille not. Darum ging der Schulze aus der Stube und ließ die Tochter mit dem jungen Manne allein, der sich keine emsigere Pflegerin hätte wünschen können. Es dauerte nicht lange, so lag er wieder in tiefer Betäubung.

Unterdes erzählte Wirt Jonas einer zahlreichen Zuhörerschaft, mit lauter kräftiger Stimme, damit ihn ja alle hörten, was sich seit ihrem Aufbruch zugetragen hatte.

Im Unterholz hatten sie, der Schulze, der Schäfer und er, den Kletterpfad gefunden, den sich Waldhüter und Doktor ins Dickicht geschlagen hatten in der Richtung zum Schlosse hinauf. Zwei Stunden lang waren sie die Schrägen des Plesa hinaufgestiegen, bis zur Waldgrenze hatten sie bloß noch etwa eine halbe Meile gehabt, da waren zwei Männer vor ihnen aufgetaucht, der Doktor und der Waldhüter. Dem letztern versagten die Beine den Dienst, der andere war mit seinen Kräften zu Ende und eben am Fuß eines Baumes zusammengebrochen.

Soviel Fragen sie dem Doktor gestellt hatten, so wenig Antworten hatten sie bekommen, denn er stand noch zu sehr unter den entsetzlichen Eindrücken der letzten Stunden. Im Nu hatten die drei Männer aus Zweigen eine Bahre gemacht und Nik darauf gestreckt. Dann halfen sie dem Doktor auf die Beine und machten sich auf den Rückmarsch. Frik und Jonas trugen die Bahre, während der Schulze den Doktor stützte.

Wieso es gekommen war, daß sich der Waldhüter in so kläglichem Zustande befand, und ob er im Burginnern gewesen oder nicht, das wußte der Schulze nicht besser als der Wirt und der Wirt nicht besser als der Schäfer, denn der Doktor war noch immer nicht genug bei Besinnung und Kräften, um ihre Neugierde zu stillen.

Wenn aber Patak bislang noch nicht geredet hatte, so half ihm jetzt nichts mehr davon. Schockschwerenot, jetzt war er doch im Dorfe wieder in Sicherheit und im Kreise seiner Patienten, umringt von seinen Freunden! von den Wesen unten im Tal hatte er doch nichts mehr zu fürchten! und selbst wenn ihm dort oben ein Eid abgenommen worden, nichts von dem allen zu offenbaren, was er im Karpathenschloß gesehen, so legte ihm das Interesse seiner Mitmenschen die Pflicht auf, solchen Eid nicht zu halten.

»Aber, Doktor, so faßt Euch doch!« redete der Schulze ihm zu, »besinnt Euch doch! sammelt Euch doch!«

»Reden soll ich – was?«

»Im Namen Eurer Nachbarn und guten Freunde, im Namen Eurer Patienten, im Namen der gesamten Einwohnerschaft von Werst befehle ich Euch, Doktor, zu reden und dem Dorfe, dem Ihr angehört, seine Ruhe und Sicherheit wiederzugeben.«

Jonas kam mit einem guten Rakju, und dieser Schluck hatte die heilsame Wirkung, dem Doktor den Gebrauch seiner Zunge wiederzugeben. In abgerissenen Sätzen erzählte er nun folgendes:

»Wir sind aufgebrochen zu zweit, Nik und ich – Narren! hirnverbrannte Narren! – Fast einen Tag haben wir gebraucht, um durch diesen vermaledeiten Urwald zu dringen – erst gegen Abend sind wir vor die Burg gelangt – ich zittere noch jetzt, wenn ich daran denke – mein Leben lang werde ich zittern, wenn ich daran denke – Nik wollte in die Burg hinein – ja! die Nacht wollte er im Lugturm zubringen – was doch gerade soviel heißt, wie bei Beelzebub nächtigen wollen.«

Diese abgerissenen Sätze stieß der Doktor so schaurig tief aus seiner Brusthöhle herauf, daß es der Zuhörerschaft durch Mark und Bein ging.

»Ich habe nicht drein gewilligt – nein, ich habe nicht drein gewilligt – und was wäre vorgegangen, hätte ich mich Nik Deck gefügt? – Die Haare steigen mir zu Berge, wenn ich daran denke.«

So war es auch, ihm stiegen die Haare zu Berge, aber weil er sich – vielleicht ohne es wissen oder zu wollen – mit den Händen hineinfuhr.

»Nik hat sich infolgedessen einverstanden erklärt, daß wir uns auf dem Orgall-Plateau lagerten – war das eine Nacht! Freunde, war das eine Nacht! – Probiert's doch mal, Ruhe zu finden, wenn Euch Gespenster und Geister keine Stunde Schlaf gönnen – nein, keine Stunde! – Da, mit einem Male tauchen feurige Ungetüme zwischen den Wolken hervor, richtige Balauris! – stürzen auf das Plateau herab, uns zu verschlingen –«

Aller Blicke richteten sich gen Himmel, um zu sehen, ob am Ende gar noch Gespenster hinter ihm her galoppierten.

»Und gleich darauf,« erzählte der Doktor weiter – »dröhnt die Kapellenglocke – die geschwungen wird – geschwungen –«

Aller Ohren spannten sich zum Horizont hin, und mehr denn einer von den Werster Bauern vermeinte es in der Ferne läuten zu hören, solchen tiefen Eindruck machte die Erzählung des Doktors auf seine Zuhörerschaft.

»Plötzlich,« schrie der Doktor, »plötzlich erfüllt gräßliches Gebrüll den Weltenraum – oder vielmehr Geheul, Geheul von allerhand wildem Getier – dann schießt grelles Licht aus den Fenstern des Lugturms – eine Höllenflamme bescheint das ganze Plateau bis zur Tannenregion – wir sehen uns an, Nik und ich – ja! diese entsetzliche Vision! – wir sehen beide aus wie die Leichen – wie ein paar Leichen, die einander Grimassen schneiden, während bleiches Höllenlicht sie beleuchtet!«

Ein greuliches Bild, das Doktor Patak jetzt zeigte mit seinem verzerrten Gesicht und seinen irren Augen – man meinte wirklich alle Ursache zu der Meinung zu haben, er komme aus jener andern Welt, in die er schon so viele seinesgleichen expediert hatte.

Man mußte ihn erst wieder zu Atem kommen lassen, denn weiterzuerzählen wäre er nicht imstande gewesen. Das kostete dem Wirt Jonas ein zweites Glas Rakju; aber es schien, als wohne diesem Getränk die Kraft inne, dem einstigen Krankenwärter den abhanden gekommenen Verstand teilweis wiederzubringen.

»Was ist denn aber nun eigentlich dem armen Nik passiert?« fragte Schulze Koltz.

Er hatte guten Grund, der Schulze, auf die Beantwortung gerade dieser Frage ganz besondere Wichtigkeit zu legen, weil ja der junge Mann in der großen Gaststube des »Königs Mathias« durch die Geisterstimme persönlich gewarnt worden war.

»Das steht mir noch fest in der Erinnerung,« antwortete der Doktor, »es war wieder Tag geworden – ich hatte Nik gebeten, seine Pläne fallen zu lassen, aber Ihr kennt ihn ja – mit solchem Dickkopf ist doch nichts anzufangen – er ist in den Graben hinuntergestiegen, und ich habe ihm folgen müssen, denn er hat mich hinter sich hergezogen – übrigens wußte ich gar nicht mehr, was ich machte – – Nik dringt nun vor bis unter das Ausfalltor, packt eine Kette von der Zugbrücke und klettert daran in die Höhe – bis zum Wallrande hinauf – in diesem Augenblick kommt mir das Bewußtsein wieder, die Situation wird mir klar – noch ist es Zeit, ihm Einhalt zu tun, diesem Wahnwitzigen, diesem – nun, warum soll ich's nicht sagen? – diesem Gotteslästerer – zum letzten Male befehle ich ihm, wieder herunterzukommen, umzudrehen, mit mir den Rückweg nach Werst einzuschlagen – »nein!« schreit er mich an – ich will fliehen, ja, Freunde! ich bekenne es, ich habe fliehen wollen – und wer von Euch an meiner Stelle hätte nicht den gleichen Gedanken gehabt! – aber umsonst versuche ich, die Füße vom Boden zu heben – sie sind wie festgenagelt, festgeschraubt, festgewurzelt – ich kann versuchen, was ich will, die Füße lösen sich nicht von der Erde – ich schlage um mich – alles umsonst –«

Durch allerhand Gebärden mühte sich der Doktor, die Verzweiflung eines Menschen zum Ausdruck zu bringen, der die Beine nicht setzen kann, weil sie am Boden festsitzen, der sich vorkommen muß wie ein Fuchs, der ins Fangeisen geraten ist. Dann fuhr er in seiner Erzählung fort:

»Im selben Augenblick gellt ein Schrei in der Luft – ja, was für ein Schrei! – aus Niks Munde ist der Schrei gedrungen – seine Hände haben die Kette losgelassen – und er stürzt hinunter auf die Grabensohle, wie niedergeschmettert von unsichtbarer Hand!«

Daß der Doktor die Dinge genau so erzählt hatte, wie sie geschehen waren, und daß seine Phantasie, so getrübt sie auch war, nichts hinzugesetzt hatte, steht fest. Genau so wie er sie schilderte, waren die Wunder geschehen, deren Schauplatz während letzter Nacht das Orgall-Plateau gewesen war.

Was nach Nik Decks Sturz passiert war, wurde erzählt wie folgt:

Der Waldhüter liegt ohnmächtig und Doktor Patak vermag ihm nicht zu helfen, denn er ist mit den Stiefelsohlen an den Boden genagelt, und seine geschwollenen Beine können nicht aus den Stiefeln heraus – plötzlich wird die unsichtbare Kraft, die ihn gekettet hält, jäh gebrochen, seine Beine lösen sich, er stürzt zu dem Kameraden hin, und – eine Tat hohen Mutes von solchem Gesellen – näßt ihm das Gesicht mit seinem Taschentuch, das er ins Wasser des Abzugskanals getaucht hat. Dem Waldhüter kehrt das Bewußtsein zurück, aber der linke Arm, die ganze linke Seite sind ihm gelähmt von der schrecklichen Erschütterung, die er erlitten hat – aber mit Hilfe des Doktors gelingt es ihm, sich aufzurichten, den Klettersteig zur Kontreskarpe hinaufzuklimmen, den Rückweg zum Dorfe einzuschlagen – – Nach einstündigem Marsche werden die Schmerzen im Arm und in der Seite so heftig, daß er stehen bleiben muß – der Doktor will sich eben allein auf den Weiterweg machen, um Hilfe aus dem Dorfe zu holen – da kommen Vater Koltz, Jonas und Frik auf dem Plateau in Sicht – gerade zur rechten Zeit!

Was mit dem Waldhüter vorgegangen, und ob seine Verletzung schwerer Art ist, darüber sich auszusprechen, vermied Doktor Patak, obwohl er sonst in der Regel eine erstaunliche Sicherheit bekundete, wenn es sich um ärztliche Behandlung handelte.

»Ist jemand von einer natürlichen Krankheit befallen,« begnügte er sich in dogmatischem Tone zu erklären, »so ist das schon ein ernster Fall; handelt es sich aber um eine übernatürliche Krankheit, die einem der Schort in den Leib jagt, so gibt es auch keinen andern Rat als zu warten, bis es dem Schort beliebt, die Krankheit wieder aus dem Leibe zu jagen.«

Da es an jeglicher Diagnose auf diese Weise fehlte, konnte solche Prognose für Nik Deck nicht gerade beruhigend sein, Zum großen Glück waren diese Worte kein Evangelium, und wollte man all die Aerzte zählen, die sich seit Hippokrates und Galienus geirrt haben und noch täglich irren, und die »studierter« waren als Patak, der Werster »Dorfbarbier«, so reichten Hunderttausende von Menschenleben dazu nicht aus. Der junge Waldhüter war ein kräftiger Bursche, und bei seiner kerngesunden Konstitution stand wohl zu hoffen, daß er sich wieder »herausmachen« werde, auch ohne Dazwischenkunft und gütige Beihilfe des Gottseibeiuns, unter der Bedingung freilich, daß er sich nicht allzu strikt nach den Vorschriften und Rezepten des einstigen Quarantäne-Pflegers richtete.

 

Kapitel 8

 

Dergleichen Ereignisse konnten freilich die Werster Bauern von dem Schrecken nicht erlösen, der sie befallen hatte. Es war jetzt kein Zweifel mehr statthaft, daß es keine hohlen Drohungen waren, die der »Schattenmund« – wie der Dichter sich ausdrückt – den Gästen des »Königs Mathias« gekündet hatte. Nik Deck war für seinen Ungehorsam und seine Verwegenheit bitter gestraft worden durch den unerklärlichen Schlag, der ihn getroffen hatte. War das nicht ein Wink für alle, die sich versucht fühlten, es ihm gleichzutun? Jeder Versuch, sich nach dem Karpathenschlosse zu begeben, war strikte verboten – durch höhere Mächte verboten: das lehrte doch dieses beklagenswerte Beginnen deutlich genug! wer es versuchen wollte, der riskierte sein Leben!

Daraus folgt, daß in Werst wie auch in Vulkan und im ganzen Tale der beiden Sil größeres Entsetzen herrschte als je zuvor. Es wurde von nichts anderm mehr gesprochen als daß es geraten sei, die Gegend zu verlassen. Verschiedene Zigeunerfamilien zogen es schon vor, auszuwandern, statt sich in der Nähe der Burg niederzulassen. Seitdem sie übernatürlichen und böswilligen Wesen zum Aufenthalt diente, konnte sich niemand mehr mit ihr befreunden. Entschloß sich die ungrische Regierung nicht, das unzugängliche Felsennest zu schleifen, so blieb nichts anderes übrig, als sich nach einer andern Komitatsgegend zu flüchten. Ließ sich aber das Karpathenschloß mit den dem Menschen verfügbaren Mitteln von der Erde tilgen?

In der ganzen ersten Juniwoche traute sich kein Mensch aus dem Dorfe heraus, nicht einmal zur Besorgung von Feldarbeit. Konnte nicht der geringste Spatenstich ein Gespenst aus den Eingeweiden der Erde lösen? – konnte nicht die Pflugschar, wenn sie Furchen im Erdreich zog, ganze Scharen von »Strygen« oder »Staffien« aufscheuchen? würde nicht Satanskorn aufgehen, wenn man Korn säete?

»Selbstverständlich könnte das nicht ausbleiben,« sagte Schäfer Frik voll Ueberzeugung und hütete sich für seine Person weislich, mit seinen Schafen nach den Weideplätzen im Siltal zu ziehen.

So stand das Dorf unter dem Banne des Schreckens. Die Feldarbeit blieb liegen. Alles blieb in seinen vier Pfählen, hinter wohlverschlossenen Türen und Fenstern. Schulze Koltz wußte nicht, wie er es anstellen sollte, um seiner Dorfgemeinde ein Vertrauen wieder zu schaffen, das ihm übrigens selbst fehlte. Ganz entschieden gab es kein anderes Mittel als in Klausenburg vorstellig zu werden und das Einschreiten der Behörden zu verlangen.

Und der Rauch? zeigte sich noch immer welcher über der Lugturmesse des Schlosses? – Ja! verschiedentlich hatte man ihn mit Hilfe des Fernrohres beobachten können, mitten in dem Dunst, der sich über dem Orgall-Plateau hinzog.

Und die Wolken? nahmen sie noch immer nach Einbruch der Nacht rötliche Färbung an, daß es aussah wie Widerschein von Feuer? Ja! man hätte manchmal sogar meinen können, Flammenzungen schossen über das Schloß hin.

Und das Gebrüll, das den Doktor Patak in solchen Schrecken gesetzt hatte? drang es noch immer über die Felsen und durch die Wälder des Plesa hinüber zum Grausen der Werster Bewohnerschaft? Ja! zum wenigsten trugen, trotz der Entfernung, die Südwestwinde entsetzliches Grollen, das in hundertfältigem Echo aus den Bergen widerhallte, bis nach dem Dorfe herüber.

Außerdem war es, wenn man den betörten Leuten Glauben schenken durfte, als ob der Erdboden von unterirdischen Wogen bewegt würde, als ob sich ein alter Krater in der Kette der Karpathen wieder geöffnet hätte. Vielleicht spielte aber in allem, was die Werster Bauern zu sehen, zu hören, zu empfinden meinten, ein gutes Teil von Uebertreibung mit seine Rolle. Gleichviel, unbestreitbarer, mit den Händen greifbarer Dinge genug waren, das wird man zugeben, passiert, und in solcher, so wider alle Ordnung und Regel durch Geister und Gespenster heimgesuchten Gegend konnten doch unmöglich noch Menschen leben!

Daß die Gastwirtschaft »zum König Mathias« nach wie vor ohne Gäste war, versteht sich nach dem Gesagten von selbst. Kein Lazarett in Seuchenzeiten hätte ängstlicher gemieden werden können. Niemand getraute sich über die Schwelle, und Jonas überlegte schon, ob es nicht das klügste sei, die Wirtschaft ganz zu schließen, als die Ankunft zweier Fremden in den Zustand der Dinge Wandlung brachte.

Gegen acht Uhr abends am 9. Juni wurde draußen an der Tür geklinkt; aber die Tür war von innen verriegelt, so daß sie nicht aufgehen konnte. Jonas, der schon in seine Dachstube hinaufgegangen war, eilte hinunter. Zu der Hoffnung, sich einem Gaste gegenüberzusehen, gesellte sich die Furcht, daß solcher Geist bloß ein Wesen mit dem bösen Blick sein möchte, dem er doch nicht schnell genug Abendbrot und Nachtlager weigern könne.

Klugerweise fragte deshalb Jonas erst durch die Tür, wer da sei.

»Reisende!«

»Lebendige?«

»Potztausend ja! an den Tod denken wir wenigstens noch lange nicht!«

Jonas faßte sich ein Herz und schob den Riegel zurück.

Zwei Männer traten über die Schwelle der Gaststube.

Kaum waren sie herein, so fragten sie, ob sie ein Zimmer haben könnten, da sie die Absicht hätten, zwei Tage in Werst zu bleiben.

Jonas musterte beim Schein seiner Lampe die Ankömmlinge aufs sorgfältigste und erlangte die Gewißheit, daß es Menschen von Fleisch und Bein seien, mit denen sich dreist Geschäfte machen ließen. War das ein Glücksfall für den »König Mathias«!

Der jüngere der beiden Reisenden schien anfangs der dreißiger Jahre. Elegante Figur verband sich bei ihm mit einem vornehmen, schönen Gesicht, mit schwarzen Augen, kastanienbraunem Haar und Bart von sauberem Schnitt. Der Ausdruck seines Gesichts war stolz, verriet aber Traurigkeit. Alles deutete an, daß man in dem Fremden einen Kavalier vor sich habe, und ein Wirt von so scharfer Beobachtungsgabe wie Jonas konnte sich in solchen Dingen nicht irren.

Das erwies sich sofort, als er fragte, unter welchen Namen er die beiden Reisenden im Fremdenbuch einzeichnen solle?

»Graf von Telek,« antwortete der junge Mann, »mit seinem Leibhusar Rotzko.«

»Woher?«

»Aus Krajowa.«

Krajowa ist eine Bezirkshauptstadt des Königreichs Rumänien, das im südlichen Karpathengebiet mit siebenbürgischen Landesteilen zusammentrifft. Franz von Telek war also rumänischer Abkunft – was übrigens Jonas auf den ersten Blick gesehen hatte.

Rotzko war ein Mann von etwa 40 Jahren, groß, stark, mit dichtem Schnauzbart, borstigem Haupthaar, braunem Teint und echt militärischer Haltung. An Achselriemen über die Schulter gehängt, trug er den Soldatentornister, in der Hand einen ziemlich leichten Mantelsack.

Das war das ganze Gepäck des jungen Grafen, der als Tourist, meistens zu Fuß, reiste. Das verrieten sein Kostüm, der gerollte Mantel, die Bergsteiger-Kappe, die von einem Gurt um die Taille geschlossene Joppe, das walachische Messer, das im Futteral am Gurte hing, und die prall über den breiten, dicksohligen Schuhen sitzenden Gamaschen.

Die beiden Reisenden waren keine anderen als die, welche Schäfer Frik vor etwa vierzehn Tagen auf dem Wege zum Bergsattel getroffen hatte, dieselben, die den Gipfel des Retjesat hatten ersteigen wollen. Nachdem sie die Gegend bis zum Maros durchstreift und den Retjesat erstiegen hatten, wollten sie in Werst kurze Rast machen, um von da aus durch das Sil-Tal zu wandern.

»Man kann doch Zimmer bei Ihnen haben?« fragte Franz von Telek.

»Zwei, drei, vier – soviel dem Herrn Grafen zu befehlen belieben,« antwortete Jonas.

»Zwei werden reichen,« sagte Rotzko; »bloß müssen sie beieinander liegen.«

»Werden hier diese genehm sein?« fragte Jonas, indem er zwei Türen am Ende der Gaststube öffnete.

»Schön! sehr schön!« antwortete Franz von Telek.

Jonas brauchte, wie man sieht, von seinen neuen Gästen nichts zu fürchten. Das waren keine überirdischen Wesen, keine Geister, die sich in Menschengestalt kleideten – nein! dieser Kavalier entpuppte sich als eine jener Standespersonen, die jeder Gastwirt zu bewirten als Ehre ansieht – wahrhaftig! das war ein glücklicher Zufall, der den »König Mathias« wieder aufs Tapet zu bringen versprach.

»Wie weit sind wir von Klausenburg?« fragte der junge Graf.

»Etwa 50 Meilen,« antwortete Jonas, »auf der Straße von Petroseny nach Karlsburg.«

»Beschwerlicher Weg?«

»Für Fußgänger ja – und wenn der Herr Graf die Bemerkung erlauben, so erscheint es, als wenn Hochdemselben ein paar Ruhetage recht not –«

»Können wir was zum Abendbrot haben?« fragte Franz von Telek, dem Gastwirt das Wort abschneidend.

»Eine halbe Stunde Geduld, und ich werde die Ehre haben, dem Grafen ein Mahl seiner würdig vorzusetzen –«

»Brot, Wein, Eier und kalter Braten sind für heut Abend ausreichend.«

»Ich werde auftragen.«

»So schnell wie möglich.«

»Auf der Stelle!« und schon war Jonas unterwegs nach der Küche, als ihn eine Frage festhielt.

»Viel Gäste scheinen bei Ihnen nicht zu verkehren?« fragte der Graf.

»Allerdings – zur Zeit niemand, Herr Graf.«

»Ist das denn die Kneipstunde nicht für Euren Ort?«

»Die Kneipstunde ist schon vorbei, Herr Graf; in Werst geht man mit den Hühnern schlafen.«

Nun und nimmer hätte er sagen mögen, warum im »König Mathias« kein einziger Gast verkehrte.

»Euer Dorf zählt wohl zwischen 400 und 500 Einwohnern?«

»So ungefähr, Herr Graf.«

»Wir haben auf der Dorfstraße nicht eine Seele gesehen –«

»Das macht – heute ist Sonnabend – der Abend vorm Sonntag –«

Franz von Telek beharrte, zum Glück für Jonas, der sich mit Antworten nicht mehr zu helfen wußte, nicht auf weiteren Fragen. Um alles in der Welt hätte er nicht sagen mögen, wie die Dinge standen. Die Fremden würden es ohnehin noch früh genug erfahren – und wer weiß, ob sie dann nicht eilen würden, solchem mit Fug und Recht verdächtigen Dorfe den Rücken zu wenden?

»Wenn bloß nicht die Geisterstimme wieder zu schwatzen anfängt, so lange sie beim Essen sitzen,« dachte Jonas bei sich, als er den Tisch in die Mitte rückte.

Nach wenigen Augenblicken stand das übereinfache Mahl, das der Graf bestellt hatte, auf dem sauber gedeckten Tische. Franz von Telek setzte sich, Rotzko nahm ihm gegenüber Platz. So waren sie es gewöhnt auf Reisen. Es wurde mit großem Appetit gegessen. Gleich nachdem sie fertig waren, begaben sie sich in ihre Zimmer.

Da während des Essens kein Wort gewechselt worden war, hatte Jonas, zu seinem lebhaften Mißvergnügen, keine Gelegenheit zur Aussprache mehr gefunden. Franz von Telek schien übrigens wenig mitteilsamer Natur, und von Rotzko sagte sich Jonas, nachdem er ihn eine Zeitlang beobachtet hatte, daß sich von solchem Leibhusar nichts über die Familie und über die Verhältnisse seines Dienstherrn erfahren lassen möchte.

Jonas hatte sich also dreinschicken müssen, seinen Gästen eine schlichte gute Nacht zu wünschen. Aber bevor er sich in sein Dachstübchen verfügte, machte er noch einen Gang durch die Gaststube und lauschte ängstlich auf das geringste Geräusch innerhalb und außerhalb ihrer.

»Wenn bloß die schreckliche Stimme die Herrschaften nicht aus dem Schlafe scheucht!« brummte er in einem fort vor sich hin.

Aber die Nacht verlief ruhig. Am andern Morgen verbreitete sich schnell die Kunde im Dorfe, daß im »König Mathias« zwei Fremde abgestiegen seien, und Bauern über Bauern liefen vor die Schenke.

Die beiden Fremden, von ihrem letzten Tagesmarsch stark ermüdet, schliefen noch. Vor 7 oder 8 Uhr hatten sie sicher die Absicht nicht, aufzustehen.

Zufolgedessen große Ungeduld bei den knurrigen Bauern, die doch, solange die fremden Gäste nicht ihre Zimmer verließen, sich nicht getraut hätten, einen Fuß in die Gaststube zu setzen.

Endlich schlug es acht, und endlich zeigten sich die beiden Gäste.

Es war ihnen nichts Schlimmes passiert. Man konnte sie in der Gaststube auf und ab gehen sehen. Dann setzten sie sich zum Frühstück. Selbstverständlich wirkte das beruhigend auf die Bauern draußen. Jonas stand lächelnd auf der Schwelle und bat seine alten Gäste, ihm wieder Vertrauen zu schenken. Der Fremde sei ein Kavalier aus Rumänien, ein Graf, ein Herr Graf, wenn's erlaubt sei hinzuzusetzen, aus einem der ältesten Geschlechter Rumäniens – was sei wohl in so vornehmer Gesellschaft zu fürchten? Kurz und gut, der Schulze, in der Meinung, es sei Pflicht für ihn, mit gutem Beispiel voranzugehen, riskierte es, den Fuß über die Schwelle zu setzen, wenn auch noch zögernden Schrittes. Das war gegen 9 Uhr. Gleich nachher fand sich Magister Hermod ein, der die Schenke wohl schon zu lange vermißte, dann 3-4 andere Stammgäste, dann Frik, der Schäfer. Doktor Patak hätten aber keine zehn Pferde in die Gaststube hinein gebracht.

Eine Bemerkung ist hier am Platze: wenn der Schulze sich dazu entschlossen hatte, den Fuß wieder in den »König Mathias« zu setzen, so war es nicht bloß Neugierde, die ihn herführte, auch nicht bloß der Wunsch, mit dem Grafen von Telek zu sprechen, sondern zum nicht geringen Teil schnöde Gewinnsucht. Die beiden Fremden mußten dem Ortsstatut gemäß eine Durchgangssteuer entrichten, die, wie der Leser nicht vergessen haben wird, in die Tasche des Schulzen floß.

Der Schulze brachte demnach diesen Fall zum Vortrag, wie gesagt werden muß, in höchst schicklicher Form, und der rumänische Graf, wenn auch über die Forderung einigermaßen verwundert, beeilte sich, ihr gerecht zu werden. Er bot sogar dem Schulzen und dem Magister einen Platz an seinem Tische an, und solche Höflichkeit ließ sich natürlich nicht abschlagen.

Jonas dagegen ließ sich nicht nötigen, die besten Liköre aus seinem Keller aufzutragen. Ein paar Werster forderten nun einen »Gang« auch für eigene Rechnung. So ließ sich annehmen, daß die eine Zeitlang ausgebliebene Kundschaft den Weg zum »König Mathias« wiederfinden werde.

Franz von Telek wollte, als er seine Steuer entrichtet hatte, wissen, ob diese einträglich sei.

»Sie könnte besser sein, Herr Graf,« lautete die Antwort aus des Schulzen Munde.

»Besuchen die Fremden diesen Teil von Siebenbürgen also nicht häufig?«

»Nur selten,« antwortete der Schulze, »und doch verdiente diese Gegend viel besucht zu werden.«

»Der Meinung bin ich auch,« sagte der Graf; »was ich gesehen habe, scheint mir der Beachtung der Reisewelt wert. Vom Retjesat habe ich herrliche Aussicht gehabt, auf die Täler der Sil, auf die Ortschaften im Osten, auf den Gebirgskessel, den im Hintergrunde das Karpathenschloß abschließt.«

»Eine sehr schöne Gegend, Herr Graf, wirklich eine sehr schöne Gegend!« stimmte Magister Hermod bei, »und als Ergänzung Ihrer Tour möchte ich zu einem Aufstieg des Paring raten.«

»Ich fürchte bloß, die Zeit wird mir knapp,« meinte der Graf.

»Ein Tag würde genügen.«

»Gewiß, gewiß, aber ich will morgen in Karlsburg sein.«

»Was?« rief Jonas, indem er sein liebenswürdigstes Wesen herauskehrte, »so schnell will uns der Herr Graf wieder verlassen?«

»Es geht nicht anders,« antwortete der Graf – »übrigens, was sollte mir längerer Aufenthalt in Werst nutzen?«

»O, unser Dörfchen lohnt schon für Touristen einen längern Aufenthalt,« bemerkte Schulze Koltz.

»Aber vielbesucht scheint es nicht zu werden,« versetzte Franz von Telek, »doch wohl darum, weil die Gegend nicht viel Sehenswertes bietet.«

»Allerdings, viel nicht,« pflichtete der Schulze bei, an die Burg denkend.

»Nein, viel nicht,« wiederholte der Magister.

»Oho! oho!« machte Schäfer Frik, dem aber dieser Ausruf wider Willen entschlüpfte.

Freundliche Blicke waren es keineswegs, die dem Schäfer vom Schulzen und von den andern, vorzugsweise aber vom Gastwirt zugeworfen wurden. War es denn notwendig, einen Fremden in die Geheimnisse der Gegend einzuweihen? ihm zu offenbaren, was sich auf dem Orgall-Plateau zutrug? seine Aufmerksamkeit auf das Karpathenschloß zu lenken? wenn man ihn nicht gerade abschrecken, ihm Lust machen wollte, das Dorf recht schnell zu verlassen? und wer würde in Zukunft noch als Tourist über den Vulkansattel den Weg nach Siebenbürgen suchen? Wahrlich, dieser Schäfer war um nichts gescheiter als der jüngste von seinen Hammeln.

»So schweig doch bloß, Esel!« rief ihm halblaut der Schulze zu.

Immerhin war die Neugierde des jungen Grafen geweckt worden, und er wandte sich nun direkt an den Schäfer mit der Frage, was es mit seinem Ausruf Oho! für eine Bewandtnis habe.

Der Schäfer war keiner, der einen Schritt rückwärts machte; auch mochte er wohl denken, der Graf könne dem Dorf mit einem guten Rat von Nutzen sein.

»Nun, ja, Herr Graf, ich habe Oho! gesagt,« erwiderte Frik, »und meinen Ruf nehme ich auch nicht zurück.«

»Gibt es etwa in der Gegend von Werst ein Wunder zu besichtigen?« fragte der junge Graf weiter.

»Ein Wunder –« wiederholte Schulze Koltz.

»Nein! – nein!« riefen die Umstehenden.

Schon der Gedanke, daß ein zweiter Versuch, in die Burg zu dringen, gemacht werden und neues Unheil bringen könnte, jagte ihnen heillosen Schreck ein.

Franz von Telek beobachtete nicht ohne gewisse Verwunderung diese braven Leute, auf deren Gesichtern in unterschiedlicher, aber durchweg sehr markanter Weise der Schrecken sich malte.

»Was gibt es denn?« fragte er.

»Was es gibt, Herr?« versetzte Rotzko – »nun, allem Anschein nach das Karpathenschloß!«

»Das Karpathenschloß?«

»Ja, den Namen hat mir der Schäfer hier eben ins Ohr geflüstert!«

Bei diesen Worten zeigte Rotzko auf Frik, der, ohne daß er sich getraute, den Schulzen anzusehen, den Kopf schüttelte.

Nun war in die Mauer des abergläubischen Dorflebens Bresche geschossen, und nicht lange, so sollte seine ganze Geschichte durch diese Bresche ihren Weg genommen haben. Der Schulze, der nun wußte, was er wollte, hielt es für am besten, dem jungen Grafen die Situation selbst auseinanderzusetzen, und erzählte ihm alles, was auf das Karpathenschloß Bezug hatte.

Daß Franz von Telek sein Erstaunen über diese Geschichte und die Empfindungen, die sie ihm verursachte, nicht verbergen konnte, wird sich begreifen lassen. Wenn auch, wie so ziemlich der ganze junge Adel, der tief im walachischen Lande auf seinen Schlössern lebte, in wissenschaftlichen Dingen nicht sonderlich zu Hause, so war er doch ein Mann, der seine fünf Sinne zusammenhielt. Drum glaubte er auch nicht recht an Geisterspuk und lachte gern über Sagen und Mären. Eine Burg, in der Gespenster hausten, war ihm so recht danach, seine Ungläubigkeit ins Feld zu rücken. Seiner Ansicht nach lag in allem, was ihm der Schulze erzählt hatte, gar nichts Wunderbares, sondern bloß eine Folge von fest- oder weniger feststehenden Tatsachen, denen die Werster Bauern einen übernatürlichen Ursprung zuschrieben. Der Rauch über dem Lugturm, das Geläut der Kapellenglocke waren doch alles Dinge, die sich auf ganz natürliche Weise erklären ließen – die Blitze dagegen, die aus der Wallmauer gezuckt hatten, wie auch das Gebrüll, das den beiden Männern zu Ohren gedrungen war, beruhte lediglich auf Einbildung oder war Folge von Sinnestäuschungen.

Franz von Telek hielt, zum großen Aergernis seiner Zuhörer, weder mit seinen Worten, noch mit seinen Witzen hinter dem Berge.

»Aber, Herr Graf,« wandte der Schulze ein – »es läßt sich auch noch mehr erzählen.«

»Noch mehr? Der Tausend!«

»Jawohl, noch mehr! ins Innere des Karpathenschlosses zu dringen ist ganz unmöglich.«

»Wirklich?«

»Jawohl, wirklich!« wiederholte, ärgerlich über den fortwährenden Spott des Grafen, der Schulze; »unser Waldhüter und unser Doktor haben die Mauern vor ein paar Tagen übersteigen wollen, im Interesse des Dorfs, und haben den Versuch fast mit dem Leben bezahlt.«

»Was ist ihnen denn passiert?« fragte Franz von Telek in ironischem Tone.

Schulze Koltz erzählte ausführlich die von Nik Deck und Doktor Patak erlebten Abenteuer.

»So so?« meinte der junge Graf, »als der Doktor aus dem Graben gewollt hat, haben ihm die Füße so fest am Boden gesessen, daß er keinen Schritt hat vorwärts tun können?«

»Keinen Schritt vor- und keinen Schritt rückwärts,« ergänzte Magister Hermod.

»Das wird er sich wohl bloß eingebildet haben, Euer Doktor,« versetzte Franz von Telek – »die Furcht wird ihm wohl in den Gliedern gesessen und bis – in die Beine – und unter die Sohlen gefahren sein!«

»Meinetwegen, Herr Graf,« versetzte Schulze Koltz; »aber wie erklärt sich dann die furchtbare Erschütterung, die Nik Deck erlitten hat, als er die Hand auf den eisernen Beschlag der Zugbrücke legte?«

»Als ein Bubenstreich, dem er zum Opfer gefallen ist –«

»– und der von so üblen Folgen gewesen,« entgegnete der Schulze, »daß der arme Mensch seitdem das Bett hütet.«

»Doch hoffentlich nicht in Lebensgefahr?« fragte teilnahmsvoll der Graf.

»Nein – zum Glück nicht!«

Hier lag nun allerdings tatsächliches Material, ein nicht bestreitbarer Fall vor, und Schulze Koltz wartete, welche Erklärung Franz von Telek dafür haben würde. Was er prompt antwortete, war folgendes:

»In allem, was ich eben gehört habe, finde ich, wie schon gesagt, nicht das mindeste, was sich nicht aufs einfachste erklären ließe. Bloß eins ist mir nicht länger zweifelhaft, daß nämlich das Karpathenschloß jetzt bewohnt wird. Von wem, weiß ich freilich nicht. Jedenfalls aber sind es keine Gespenster, die dort hausen, sondern Leute, denen daran liegt, sich dort verborgen zu halten, nachdem sie dort Zuflucht gefunden haben – wahrscheinlich Verbrecher –«

»Verbrecher?« schrie der Schulze –«

»Wahrscheinlich, und da sie im Schlosse nicht gestört sein wollten, haben sie den Glauben verbreitet, daß die Burg von übernatürlichen Wesen bevölkert sei.«

»Was, Herr Graf,« entgegnete Magister Hermod – »Sie meinen –?«

»Ich meine, daß das Siebenbürgerland sehr abergläubisch ist, daß die Leute, die im Schlosse hausen, das wissen, und daß sie sich auf diese Weise den Besuch ungelegener Gäste haben fernhalten wollen –«

Daß sich die Dinge so verhalten mochten, war nicht unwahrscheinlich, aber daß in Werst niemand diese Auslegung gelten lassen wollte, wird niemand verwundern.

Der junge Graf sah freilich, daß er Leute, die sich nicht überzeugen lassen mochten, nicht überzeugt hatte. Darum ließ er sich an dem Zusatze genügen:

»Da Ihr von meinen Gründen nichts wissen wollt, lieben Leute, glaubt nach wie vor was Euch beliebt vom Karpathenschlosse.«

»Wir glauben, was wir gesehen haben, Herr Graf,« antwortete Schulze Koltz.

»Und was der Fall ist,« setzte der Magister hinzu.

»Meinetwegen; ich bedauere bloß, keine vierundzwanzig Stunden mehr zur Verfügung zu haben, denn ich hätte sonst mit Rotzko Eure berühmte Burg ganz sicher besichtigt, und daß wir bald gewußt hätten, woran wir mit ihr sind, das dürft Ihr mir glauben!«

»Die Burg besichtigen!« schrie der Schulze.

»Ohne Zaudern – und der Gottseibeiuns in höchsteigener Person hätte uns nicht hindern sollen, über die Wallmauer zu dringen.«

Entsetzen ganz anderer Art ergriff die Werster Bauern, als sie aus dem Munde des jungen Grafen solch bewußte und dabei so höhnische Reden vernahmen. Hieß es nicht, Katastrophen über das Dorf ziehen, wenn man die Schloßgeister auf solch wegwerfende Weise behandelte? hörten diese überirdischen Wesen nicht jedes Wort, das in der Gaststube des »König Mathias« gesprochen wurde? würde sich die Geisterstimme nicht zum andern Male vernehmen lassen?

Um deswillen erzählte nun der Schulze dem jungen Grafen, auf welche Weise der Waldhüter unter Anrufung seines Namens mit schlimmer Strafe bedroht worden sei, wenn er sich einfallen ließe, die Geheimnisse der Burg aufzudecken.

Franz von Telek begnügte sich mit den Achseln zu zucken. Dann stand er auf; sagte, es sei ganz unmöglich, daß sich in dieser Gaststube, wie man behaupte, solche Stimme habe hören lassen, außer von jemand, der vielleicht mit denen auf der Burg gemeinsame Sache mache – wenn nicht die ganze Geschichte bloß in der Einbildung zu leichtgläubiger Gäste beruhe oder der Ursprung etwa »in zu viel Rakju« zu suchen sei.

Daraufhin suchten verschiedene Gäste die Tür, weil ihnen nichts daran lag, länger in einem Raume zu weilen, wo solcher Spötter solche Dinge äußerte.

Franz von Telek winkte ihnen zu bleiben.

»Entschieden steht, wie ich sehe, liebe Freunde, das Dorf Werst unter dem Banne der Furcht.«

»Und nicht ohne Grund, Herr Graf,« antwortete Schulze Koltz.

»Nun, das Mittel, mit den Dingen, die Eurer Ansicht nach im Karpathenschlosse vorgehen, aufzuräumen, haben wir an der Hand. Uebermorgen werde ich in Karlsburg sein und, wenn es Euch recht ist, die Stadtbehörde in Kenntnis setzen. Dann wird Euch eine Schwadron Gendarmen oder Polizeimannschaft hergeschickt, und ich stehe Euch dafür, daß es keiner von beiden schwer fallen wird, in die Burg zu dringen, um entweder die Witzbolde zu vertreiben, die sich aus Eurer Leichtgläubigkeit einen Spaß machen, oder die Verbrecher zu verhaften, die vielleicht irgend einen bösen Anschlag schmieden.«

Nichts war, dem Anschein nach, annehmbarer als dieser Vorschlag, und doch war er nicht nach dem Geschmack der Werster Dorf-Honoratioren. Ihrer Meinung nach hätten weder Gendarmen noch Polizisten noch Soldaten irgend welche Gewalt über solche überirdischen Wesen, weil solchen doch übernatürliche Mittel zur Abwehr zu Gebote ständen.

»Aber mir fällt eben ein, liebe Freunde,« nahm der junge Graf nochmals das Wort, »Ihr habt mir ja noch gar nicht gesagt, wem das Karpathenschloß gehört oder gehört hat.«

»Einem alten Geschlechte des Landes, den Baronen von Görz,« antwortete der Schulze.

»Der Familie von Görz?« schrie Franz von Telek.

»Ihr und keiner andern!«

»Zu der ein Baron Rudolf gehört hat?«

»Jawohl, Herr Graf.«

»Und wißt Ihr, was aus ihm geworden ist?«

»Nein. Seit Jahren über Jahren hat sich der Baron im Schlosse nicht mehr sehen lassen.«

Franz von Telek war leichenblaß geworden.

Mechanisch, mit veränderter Stimme rief er wieder den einen Namen:

»Rudolf von Görz!«

 

Kapitel 9

 

Das Geschlecht der Telek war eines der ältesten und erlauchtesten und nahm bereits einen hohen Rang ein zu Anfang des 16. Jahrhunderts, als das rumänische Land um seine Unabhängigkeit rang. Mit allen politischen Vorgängen, welche die Geschichte dieser Länder ausmachen, aufs engste vermischt, steht das ruhmreiche Geschlecht der Telek in den Annalen Rumäniens mit ehernem Griffel verzeichnet.

Zur Zeit minder vom Schicksal begünstigt, als jene berühmte Buche des Karpathenschlosses, der noch immer drei Hauptäste verblieben sind, sieht das Geschlecht der Telek sich beschränkt auf einen einzigen Ast oder Zweig, auf die Teleks von Krajowa, als deren letzter Schößling der junge Edelmann galt, der eben in Werst eingekehrt war.

Während der Kindheit hatte Franz sein Ahnenschloß, in welchem seine Eltern, der Graf und die Gräfin Telek wohnten, nie verlassen. Die Abkömmlinge dieses Geschlechts genossen hohen Ansehens und machten von ihrem Reichtum den vornehmsten Gebrauch. Die ungezwungene, bequeme Lebensweise des Landadels nötigte sie kaum mehr als einmal im Jahre, ihrer Herrschaft Krajowa den Rücken zu wenden, und in der Regel nie weiter als nach der nur wenige Meilen entfernten gleichnamigen Bezirkshauptstadt, in welcher sich all ihre Geschäfte abwickeln ließen, zu reisen.

Eine solche Lebensweise mußte notwendigerweise die Erziehung ihres einzigen Sohnes beeinflussen, und die Umgebung, in welcher Franz seine Jugend verlebt hatte, ihre Wirkung auf ihn lange üben. Zum Lehrer hatte er einen greisen Priester, italienischer Herkunft, der ihm natürlich nur das Wissen beibringen konnte, das er selbst besaß, und bedeutend war dasselbe nicht. Zum Jüngling herangewachsen, verfügte Franz nur über höchst unzulängliche Kenntnisse. Die Jagd war seine Leidenschaft, sein eigentlicher Zeitvertreib, bei Tag und bei Nacht schweifte er durch die Felder und Wälder, hetzte Hirsche und Keiler und ging dem Raubzeug im Gebirge mit dem Messer zu Leibe. Er galt im Lande als der unerschrockenste, tapferste Weidmann, und manches Heldenstück von ihm war in der Leute Munde.

Als er 15 Jahre alt war, starb seine Mutter, und in seinem 21. Jahre traf ihn der Verlust des Vaters, der auf der Jagd verunglückte. Franz hing mit großer Liebe an seinen Eltern. Es dauerte lange, bis er den bittern Schmerz über ihren Verlust überwunden hatte. Die kaum vernarbten Wunden brachen von neuem auf, als ihm auch der greise Freund und Lehrer, sein einziger Berater noch, durch den Tod genommen wurde. Allein in der Welt stehend, verlebte der junge Graf noch drei Jahre auf Schloß Krajowa, ohne nach außerhalb Beziehungen zu suchen. Bloß nach Bukarest nötigten ihn jährlich ein paarmal seine Geschäfte, aber er beschränkte seinen Aufenthalt immer nur auf die kürzeste Zeit.

Lange konnte indessen eine solche Lebensführung ihn nicht befriedigen; er fühlte schließlich das Verlangen nach Erweiterung eines Horizonts, den seine rumänischen Berge allzu eng umschlossen.

Der junge Graf mochte in seinem 23. Jahre stehen, als er den Entschluß faßte, zu reisen. Sein Vermögen erlaubte ihm alle Genüsse. So übergab er eines Tages die Schloßverwaltung seinen alten Dienern und verließ das walachische Land. Einen alten rumänischen Soldaten, Rotzko mit Namen und über zehn Jahre schon im Dienst des gräflichen Hauses, zudem sein langjähriger Jagdgenosse und ein Mann von Mut, Entschlossenheit und Treue, nahm er als Leibhusar mit.

Der junge Graf gedachte Europa zu bereisen, sich in den wichtigsten Großstädten ein paar Monate aufzuhalten, seine Bildung zu mehren und – das Leben zu genießen. Zuerst Italien, denn er beherrschte die Sprache des Landes, dessen Schönheiten und Schätze sein greiser Lehrer ihm in glühenden Farben geschildert hatte. Frankreich, Spanien, Deutschland, England, Rußland sollten später, im gereifteren Alter, an die Reihe kommen. Die Jugendzeit sollte Italien gehören.

27 Jahre war Franz von Telek alt, als er Neapel zum letzten Male sah. Bloß ein paar Tage gedachte er dort zu verweilen, um sich von dort nach Sizilien zu begeben. Mit dem Besuch der alten Trinakria wollte er die italienische Reise abschließen, dann nach Schloß Krajowa zurückkehren und sich ein Jahr lang ausruhen.

Ein unvermuteter Vorfall sollte nicht bloß seine Pläne umstoßen, sondern über sein ganzes Leben entscheiden.

Hatten die in Italien verlebten Jahre die wissenschaftliche Bildung des jungen Grafen nur wenig gefördert, so war ihm dafür der Sinn für Schönheit geweckt worden wie einem Blinden das Augenlicht. Mit schwärmerischer Begeisterung weihte er sich der Pflege der Kunst, studierte die Meisterwerke der Malerei, besuchte die Museen von Neapel, Venedig, Rom und Florenz, weidete sich an dem Genusse der großartigen Schöpfungen der Musik und an den herrlichen Leistungen der darstellenden Künstler jener Zeit.

Während dieses letzten Aufenthaltes in Neapel sollte es nun, und unter eigentümlichen Umständen, geschehen, daß sich eine Empfindung intimerer Natur und von stärkerer Gewalt seines Herzens bemächtigte.

Damals trat im Theater San Carlo eine berühmte Cantatrice auf, die mit ihrer reinen Stimme, ihrer tüchtigen Schulung und ihrem dramatischen Spiel die Bewunderung der Zeitgenossen erntete. Bisher hatte »die Stilla« sich niemals um den Beifall des Auslandes gekümmert, sondern sang ausschließlich italienische Musik, die in der Komposition den ersten Rang wieder einnahm. Das Carignan-Theater in Turin, die Scala in Mailand, das Fenice-Theater in Venedig, das Alfieri-Theater in Florenz, das Apollo-Theater in Rom, San-Carlo in Neapel besaßen sie reihum, und ihre Triumphe in der Heimat hatten noch kein Bedauern in ihr aufkommen lassen darüber, daß sie auf den andern Bühnen Europas noch nicht aufgetreten war.

Die Stilla, damals in ihrem 25. Jahre, war ein Weib von unvergleichlicher Schönheit. Ihr langes, wie Gold blitzendes Haar, ihre schwarzen, tiefen, Flammen sprühenden Augen, die klassische Reinheit ihrer Züge, ihr blühender Teint, ihr herrlicher Wuchs, den keines Praxiteles Meißel vollkommener hätte bilden können: das alles schuf hier ein vollendetes Werk weiblicher Glorie. Und dieses herrliche Weib war eine noch herrlichere Sängerin, eine zweite Malibran, von der Musset wieder hätte singen können:

»Und gen Himmel trug dein Sang das Weh.«

Aber der Stilla Stimme war von jener Art, wie sie der liebenswürdigste aller Dichter in seinen unsterblichen Stanzen gefeiert hat, war:

»Jene Herzensstimme, die allein
Zum Herzen dringt –«

ja, das war der Stilla Stimme in all ihrer unsagbaren Pracht und Größe. Indessen hatte die große Sängerin, die die Klänge der Liebe, die gewaltigsten Empfindungen des Herzens mit solcher Vollkommenheit, solcher Meisterschaft wiedergab, ihre Wirkungen im eignen Herzen noch niemals empfunden. Sie hatte nie geliebt, und ihre Augen hatten die Tausende von Blicken, die sie auf der Bühne verschlangen, mit keinem Blick erwidert.

Seit Franz die Stilla gesehen, loderte in seinem Herzen der wilde Feuerbrand der ersten Liebe. Der Plan, nach dem Besuch Siziliens Italien zu verlassen, schwand im Nu; an seine Stelle trat der Entschluß, bis zum Ablauf des Jahres in Neapel zu bleiben. Wie von einem unsichtbaren Bande, das zu lösen seine Kraft nicht reichte, an die Sängerin gefesselt, war er, wenn sie sang, im Theater und nahm teil an dem großartigen Triumphe, den jeder Auftritt ihr brachte. Außer stande, seine Leidenschaft zu beherrschen, hatte er wiederholt versucht, Zutritt zu ihr zu erlangen; aber die Tür der Stilla blieb, wie für so viele ihrer fanatischen Bewunderer, auch für den Grafen von Telek geschlossen.

Kein Wunder, daß er bald der beklagenswerteste aller Männer war. »All sein Sinnen, all sein Streben, galt nur ihr, nur ihr allein« – nur sie wollte er sehen, nur sie wollte er hören, von Beziehungen zu den Kreisen, in die ihn sein Name rief, mochte er nichts wissen, sein Vermögen, seine Gesundheit litten unter dieser Herzens- und Geistesfolter – und was würde er erst gelitten haben, wenn er einen Nebenbuhler besessen hätte – aber daß ihn niemand in Schatten stellen konnte, wußte er, wußte er recht gut, nicht einmal eine gewisse Persönlichkeit ziemlich befremdlicher Art, zu deren Bekanntschaft uns der Verlauf dieser Erzählung führen wird, wenn nicht nötigt.

Das war ein Mann zwischen 50 und 55 Jahren – so wenigstens schätzte man zur Zeit von Franzens letzter Reise nach Neapel, – ein Mann von wenig mitteilsamem Wesen, der scheinbar etwas darunter suchte, sich außerhalb der von den oberen Klassen gepflogenen gesellschaftlichen Formen zu stellen. Von seiner Familie, seiner Lage, seiner Vergangenheit [Eine Zeile fehlt im Buch. Re] in Florenz und zwar immer, wie bemerkt werden muß, je nachdem die Stilla da oder dort war. Tatsächlich war bloß eine Passion von ihm bekannt: die berühmteste Primadonna der Zeit zu hören, die mit ihrer Stimme in der Kunst des Gesanges an erster Stelle stand.

Wer war dieser eifrige Verehrer, der Abend für Abend in seiner Gitter-Loge saß und dem Sange der Stilla lauschte, der sich, wenn die Stilla ihr letztes Lied gesungen hatte, verstohlen aus seiner Loge schlich, den kein anderer Sänger, keine andere Sängerin hätte halten können? Die Stilla hatte sich umsonst bemüht, es zu erfahren. Von einem Naturell, das Eindrücken sehr zugänglich war, hatte sie sich zuletzt über die Anwesenheit des wunderlichen Herrn zu ängstigen angefangen, obwohl diese Angst eigentlich ebenso grundlos wie lebhaft war. Während dieser wunderliche Mensch immer allein in seiner Loge saß und niemals ausging außer ins Theater, wäre man doch fehlgegangen, wenn man hieraus hätte schließen wollen, daß er ganz abgeschlossen für sich lebte. Nein, er lebte nicht allein und abgeschlossen, sondern hatte jemand bei sich, einen Kameraden, der kein geringerer Sonderling war als er.

Dieses Individuum hieß Orfanik. Wie alt Orfanik war, woher Orfanik war, wußte niemand, hätte niemand sagen können. Seinen Reden nach zu schließen, und reden tat er gern, war er eines von jenen verkannten gelehrten Genies, die sich nicht zur Geltung haben bringen können, die weltfremd und menschenfeindlich geworden sind. Nicht ohne Grund ging von ihm die Rede, daß hinter ihm ein armer Teufel von Erfinder steckte, der dem reichen Dilettanten auf dem Geldbeutel liege.

Orfanik war ein Mann von mittlerer Größe, mager, hager, hektisch, von jener fahlen Gesichtsfarbe, die man früher gern Geizhälsen beizumessen liebte. An Stelle des rechten Auges, das er bei einem seiner Experimente eingebüßt haben mochte, trug er – als besonderes Kennzeichen – ein schwarzes Glasauge und auf der Nase eine große starke Brille mit einem einzigen Glase für sein grünlich schimmerndes, kurzsichtiges, linkes Auge. Eine Eigentümlichkeit weiterer Art an ihm war, daß er auf seinen einsamen Spaziergängen gestikulierte wie im Geplauder begriffen mit einem unsichtbaren Wesen, das ihm zuhörte, ohne ihm zu antworten.

Diese beiden Typen, der wunderliche Musiknarr und der nicht minder wunderliche Orfanik, waren in allen italienischen Städten, wohin sie regelmäßig die Theatersaison rief, sehr bekannte Figuren. Ihnen gehörte das Vorrecht, die öffentliche Neugierde zu wecken, in hohem Maße, und wenn auch der Verehrer der Stilla sich noch immer die Zeitungsschreiber und die mit ihnen zusammenhängenden Interviewer fernzuhalten gewußt hatte, so war man schließlich doch hinter seinen Namen und seine Nationalität gekommen. Der Mann war Rumäne von Geburt, war Baron und hieß, wie Franz von Telek auf die erste Frage hin geantwortet wurde:

Rudolf von Görz.

Dies war der Stand der Dinge zur Zeit der Ankunft des jungen Grafen in Neapel. Seit acht Wochen war das San-Carlo-Theater an allen Abenden ausverkauft, und von Abend zu Abend noch wuchs der Erfolg der Stilla. Niemals hatte sie in allen ihren Rollen so herrlich gesungen, niemals hatte sie großartigere Ovationen geerntet.

Abend für Abend saß Franz von Telek auf seinem Orchestersitz, und Abend für Abend saß Rudolf von Görz in seiner Loge versteckt – und Abend für Abend labten der Graf und der Baron sich an diesem göttlichen Gesange, an dieser wunderbaren Stimme, ohne die keiner von beiden mehr leben zu können schien.

Damals ging ein Gerücht in Neapel um, das zunächst im Publikum keinen Glauben fand, aber die Welt der Kunstfreunde lebhaft beunruhigte. Es hieß, daß die Stilla nach dieser Saison vom Theater scheiden werde – und so unwahrscheinlich das Gerücht auf den ersten Blick erschien, so bestätigte es sich doch, und Baron von Görz war, ohne es zu ahnen, zum Teil Ursache zu diesem Entschlusse der Sängerin; denn dieser unverwüstliche Zuschauer mit seinem geheimnisvollen Wesen, der immer hinter seiner Gitterloge saß, ohne daß er zu sehen war, hatte zuletzt doch bei der Stilla eine so hochgradige und andauernde Nervosität bewirkt, daß sie sich ihrer nicht mehr zu erwehren vermochte. Sie fühlte sich nirgends vor ihm sicher, gleichviel wo sie auftrat, denn überall war er ihr auf den Fersen, und das verleidete ihr die Bühne. Sie sah kein anderes Mittel, sich dieser Folter zu entziehen als ganz vom Theater zu scheiden.

Reichlich acht Wochen vor Auftauchen dieses Gerüchts hatte sich Franz von Telek zu einem Schritte gegenüber der gefeierten Sängerin entschlossen, dessen Folgen unglücklicherweise zu einer Katastrophe führen sollten, wie keine schlimmere hätte eintreten können. Herr über ein sehr bedeutendes Vermögen und völlig freier Herr über sich selbst, war es ihm mit der Zeit gelungen, Zutritt zur Stilla zu finden, und kurz darauf hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Der Stilla waren die Empfindungen, die sie dem jungen Grafen einflößte, längst kein Geheimnis mehr. Sie kannte den Grafen auch, und zwar als Kavalier, dem jede Dame, selbst aus den höchsten Kreisen, mit Freuden ihr Jawort gegeben hätte. Und so tat auch sie, als Franz von Telek ihr mit seinem Antrag nahte, tat es mit unverhohlener Herzenswärme, mit vollem Vertrauen, ohne schmerzliche Empfindung über den Verzicht auf ihre Bühnenlaufbahn.

Es bestätigte sich also, was in ganz Italien als Gerücht kursierte, die Stilla würde nach Ablauf ihres Vertrags mit dem San-Carlo-Theater auf keiner Bühne mehr auftreten. Ihre Vermählung mit dem Grafen von Telek, von der bisher nur gemunkelt worden war, galt hinfort als sicher.

War schon die Wirkung dieser beiden Nachrichten in der Künstlerwelt und in den vornehmen Kreisen Italiens außerordentlich, so läßt sich nicht ausmalen, mit welcher Schwere sie den Baron Rudolf von Görz traf. Der Gedanke, daß ihm die Stilla genommen werden sollte, war Gift für seine Seele; mit dem Verluste der herrlichen Sängerin riß jedes Band, das ihn ans Leben noch fesselte, und das Gerücht kam in Umlauf, daß er sich mit Selbstmordgedanken trage. Eins aber stand fest, daß man von diesem Tage ab Orfanik, den Kameraden des Barons, nicht mehr in den Straßen von Neapel herumschweifen sah. Er wich nicht mehr von Rudolfs Seite, er schloß sich sogar, was noch nie zuvor passiert war und bei der Abneigung gegen Musik, die man an ihm kannte, durchaus unverständlich war, wiederholt mit ihm in seine Loge im San-Carlo ein.

Die Tage verflossen; die Aufregung legte sich nicht; und am Abend des letzten Auftretens der gefeierten Diva stieg sie auf ihren höchsten Gipfel. In der herrlichen Rolle der Angelika im »Orlando«, dem Meisterwerke Arconatis, gedachte die Diva sich von dem Publikum zu verabschieden. An diesem Abend war San-Carlo viel zu klein, die Zuschauer zu fassen, die sich an seinen Portalen drängten. Weit über die Hälfte konnte keinen Einlaß finden, sondern mußte auf dem Platze vor dem Theater sich aufstellen. Man befürchtete Demonstrationen. gegen den Grafen, wenn auch nicht während des Auftretens der Stilla, so doch nach dem Schlusse der Vorstellung, wenn nach dem fünften Akte der Vorhang sank.

Der Baron von Görz saß in seiner Gitterloge, wiederum in Gesellschaft Orfaniks, seines andern Ichs. Die Stilla erschien, tiefer erregt als sonst. Aber sie gewann die Herrschaft über sich, sie überließ sich ihrer Inspiration und sang, ach! so herrlich, so wunderbar, so unvergleichlich schön, daß Menschenwort zu schwach wäre, es zu schildern. Unbeschreiblich war die Begeisterung, die sie weckte; bis zum Delirium schwoll der Jubel an, der sie umbrauste.

Der junge Graf hatte sich während der Vorstellung hinter den Kulissen aufgehalten, von Ungeduld gequält, in fieberhafter Erregung, nervös, reizbar, außer stande, sich Mäßigung aufzuerlegen; erbost über die Länge der Auftritte, mehr noch über die ewigen Hervorrufe und über die endlosen Beifallsbezeugungen, die den Abend ins Endlose verlängerten.

Der letzte Auftritt nahte, mit der ergreifenden Szene, in welcher die Heldin stirbt. Noch nie hatte Arconatis herrliche Musik so ergreifend geklungen, noch nie hatte die Stilla mit solcher Leidenschaft gesungen. Ihre ganze Seele schien durch ihre Lippen zu sickern – und doch war es, wie wenn diese Stimme auf Momente zu versagen anfinge, wie wenn sie brechen wollte – diese Stimme, die keinem Ohre hinfort mehr erklingen sollte!

In diesem Augenblick senkte sich das Gitter der Loge, in welcher der Baron von Görz saß, und ein seltsames Haupt, mit langem, ins Graue spielenden Haar und flammensprühenden Augen wurde sichtbar. Dieses verzückte Gesicht war von entsetzlicher Blässe, und Franz erblickte es von seinem Platz hinter den Kulissen aus im vollen Lichte – ein Fall, der nie zuvor passiert war.

Die Stilla sang die hinreißende Fuge des Finalgesangs mit allem Feuer, mit aller Inbrunst, – sie hatte mit wunderbarer Empfindung die Phrase

Innamorata, mio cuore tremante,
Voglio morire ...

wiederholt – da – plötzlich stockt sie – schweigt sie – – –

Das Gesicht das Barons von Görz entsetzt sie – ein unerklärliches Grausen lähmt sie – sie fährt mit der Hand zum Munde, der sich mit Blut färbt – sie wankt – sie stürzt –

Bebend, von Sinnen, auf dem Gipfel der Angst, springt das Publikum von seinen Sitzen – ein Schrei dringt aus der Loge des Barons – Franz ist auf die Bühne gestürzt, fängt die Stilla in den Armen auf – umschlingt sie, sieht sie an, ruft sie ...

»Tot! tot!« schreit er – »tot!«

Die Stilla ist tot – ein Gefäß ist in ihrer Brust zerrissen – ihr Gesang ist mit ihrem letzten Seufzer verklungen – – –

*

Man hat den Grafen nach seinem Hotel getragen – in einem Zustande, daß man um seinen Verstand fürchtet – an der Beerdigung der Diva, die unter einem ungeheuren Zulauf der Bevölkerung von Neapel stattfindet, kann er nicht teilnehmen.

Auf dem Campo Santo Nuovo wird die Diva bestattet. Auf einem weißen Marmorstein steht bloß ein einziges Wort:

 

Stilla.

 

Am Abend des Begräbnistages tritt ein Mann auf den Campo Santo Nuovo. Mit eingesunkenen Augen, vorgebeugten Hauptes, die Lippen zusammengepreßt, daß sie aussehen wie schon versiegelt durch den Tod, steht er und blickt lange auf die Grabstelle, wo die Stilla den ewigen Schlaf schläft. Er scheint zu lauschen, als solle die Stimme der großen herrlichen Diva noch ein letztes mal aus diesem Grabe dringen.

Der Mann war Rudolf von Görz.

In derselben Nacht noch hat der Baron in Orfaniks Begleitung Neapel verlassen, und niemand kann sagen, wohin er gereist ist, was aus ihm geworden ist.

Aber am andern Morgen gelangt ein Brief an den jungen Grafen, der nur wenige Worte enthält, aber Worte von bedrohlicher Kürze:

 

»Sie haben ihr den Tod gegeben! – Wehe, wehe über Sie, Graf von Telek!

Rudolf von Görz.«

 

Kapitel 10

 

So hatte die traurige Geschichte sich zugetragen.

Vier Wochen lang schwebte das Leben des Grafen in schlimmer Gefahr. Niemand erkannte er wieder, nicht einmal seinen Leibhusar Rotzko. Im Paroxysmus des Fiebers fand ein einziges Wort, ein Name, den Weg über seine dürren Lippen: Stilla.

Der Graf entrann dem Tode. Aerztliche Kunst, Rotzko's unablässige Pflege, auch Jugend und Natur hatten das Ihrige dazu geholfen. Auch sein Verstand blieb gesund trotz der furchtbaren Erschütterung, die er erlitten. Aber als ihm das Gedächtnis wiederkam, als er sich des tragischen Finale aus dem »Orlando« erinnerte, in welchem die Seele der Künstlerin verhaucht war, da schrie er, während seine Hände sich wie zum Beifallsklatschen falteten: »Stilla! meine Stilla!« Sobald der Graf das Bett verlassen konnte, setzte Rotzko es durch, daß sie die verfluchte Stadt verließen und nach dem Schlosse Krajowa übersiedelten. Aber vor der Abreise am Grabe der toten Diva ein Gebet zu verrichten, das wollte der Graf sich nicht nehmen lassen. Rotzko begleitete ihn auf den Campo Santo Nuovo. Der Graf warf sich über die grausame Erde, mit den Nägeln wollte er sich selbst sein Grab neben ihr graben; mit Mühe gelang es Rotzko, ihn von der Stätte zu ziehen, die sein Glück, sein Alles barg.

Ein paar Tage später war Franz von Telek zurückgekehrt in seine walachische Heimat, auf das alte Stammschloß seines Geschlechts. Dort lebte er in völliger Abgeschlossenheit, ohne einen Fuß ins Freie zu setzen, fünf volle Jahre. Weder die Zeit noch die Entfernung hatten seinem Schmerze Linderung gebracht, und vergessen konnte er nicht; das Andenken an die Stilla, die noch ebenso lebendig vor seinem Auge stand wie an dem Tage, da er sie zum ersten Male sah, war mit seinem Dasein verwachsen. Es gibt Wunden, die erst mit dem Tode sich schließen, und solche Wunde hatte dem Grafen das Schicksal geschlagen.

Zu der Zeit, in welcher diese Erzählung anhebt, hatte der junge Graf das Schloß seiner Ahnen seit ein paar Wochen verlassen, aber erst nachdem ihm Rotzko monatelang zugesetzt hatte. Die Reise sollte zuerst durch Siebenbürgen, dann durch Europa gehen, gemäß dem Plane, der durch die traurigen Ereignisse in Neapel unterbrochen worden war. Wie die beiden Reisenden nach Werst gelangt waren und in welcher Verfassung sie dessen Bewohner angetroffen hatten, ist dem Leser bekannt, desgleichen wie ihnen bekannt geworden war, daß das Karpathenschloß dem Baron Rudolf von Görz gehörte.

Die Wirkung, die dieser Name auf den jungen Grafen gemacht hatte, war zu energisch gewesen, als daß es der Schulze und die andern Honoratioren nicht hätten bemerken sollen. Nicht zu verwundern ist, daß Rotzko diesen Schulzen, der den Namen so unseligerweise noch im Augenblicke des Auseinandergehens gesagt hatte, mitsamt seinen dummen Geschichten dorthin verwünschte, wo der Pfeffer wächst. Warum hatte ein böses Geschick den Grafen Franz just in diesem Augenblick nach diesem Dorfe in der Nachbarschaft des Karpathenschlosses geführt!

Der Graf bewahrte Stillschweigen. Sein von einem zum andern irrender Blick verriet nur zu deutlich die tiefe Gemütsstörung, die er umsonst zu bekämpfen suchte.

Der Schulze begriff gleich den andern Anwesenden, daß den Grafen Telek ein geheimnisvolles Band mit dem Baron von Görz verknüpfen müsse; aber so neugierig sie auch waren, so bewahrten sie doch eine schickliche Zurückhaltung und stellten keine Fragen. Nicht lange, so hatten sie alle zusammen den »König Mathias« verlassen, aufs höchste beunruhigt durch diese außerordentliche Verkettung von Abenteuern, die für das Dorf nichts Gutes ahnen ließ. Worauf sie gespannt waren, war, ob der junge Graf sein Versprechen halten und die Behörden in Karlsburg benachrichtigen, sowie ihre Einmischung nachsuchen werde. Jedenfalls war, wenn er es unterließ, der Schulze jetzt selbst hierzu willens, denn das Dorf konnte nicht länger unter diesem Drucke, in diesen Zweifeln leben, ob oben im Schlosse Geister oder Uebeltäter ihr Wesen trieben, wenn auch schließlich noch immer die Mehrzahl der Einwohner zu der ersteren Annahme neigte.

Sobald der Graf in der Gaststube allein war, überließ er sich dem Gange seiner Erinnerungen, die durch den Namen des Barons von Görz so schmerzlich geweckt worden waren. Eine Stunde lang saß er wie gelähmt auf einem Schemel. Dann stand er auf, trat aus dem Gasthause, schritt bis zu dem Knie, das die Straße außerhalb des Dorfs bildete, und richtete den Blick in die Weite.

Auf dem Kamme des Plesa, mitten auf dem Orgall-Plateau, erhob sich das Karpathenschloß. Dort also hatte jener eigentümliche Mensch gelebt, der Zuschauer von San Carlo, der Musiknarr, der der unglücklichen Diva, seiner Stilla, solch unüberwindlichen Schrecken eingeflößt hatte. Aber jetzt stand die Burg öde und leer, denn der Baron von Görz war doch nach seiner fluchtähnlichen Reise aus Neapel nicht wieder hierher zurückgekehrt, wußte man ja nicht einmal, was aus ihm geworden war, ob er vielleicht nach dem Tode der Sängerin seinem Leben selbst ein Ziel gesetzt hatte.

Franz von Telek verirrte sich also in Hypothesen, ohne zu wissen, an welche er sich halten solle.

Anderseits ließ ihm das Abenteuer des jungen Waldhüters keine Ruhe; er hätte gar zu gern, wenn auch bloß um die Bevölkerung von Werst zu beruhigen, das Geheimnis aufgedeckt. Am besten erschien es ihm schließlich, nach langem Hin- und Herdenken, sich bei dem Waldhüter selbst zu erkundigen. Darum begab er sich in der dritten Nachmittagsstunde ins Schulzenhaus.

Vater Koltz fühlte sich aufs höchste geehrt durch den Besuch des Herrn Grafen von Telek – des Abkömmlings eines alten rumänischen Geschlechts – dem sein Dorf es verdankte, wieder zur Ruhe gekommen zu sein und auch den Weg zum alten Wohlstand wieder gefunden zu haben, denn nun würden ja dem Beispiel des Herrn Grafen auch andere Touristen wieder folgen usw. usw.

Franz von Telek dankte dem Schulzen für die Komplimente und fragte, ob es störe, wenn er um eine kurze Unterhaltung mit Nik Deck ersuche.

»Keineswegs, Herr Graf, keineswegs,« versetzte der Schulze; »mit dem armen Kerl geht es ja wieder einigermaßen; er wird wohl seinen Dienst bald wieder aufnehmen können.« Dann drehte er sich um und fragte seine Tochter: »Nicht wahr, Miriota? so ist's?«

»Gott gebe es, Vater!« antwortete bewegt das junge Mädchen.

Franz von Telek war entzückt von dem anmutigen Knixe, den ihm das junge Mädchen machte.

»Ich hätte gern mit Ihrem Bräutigam ein paar Worte gesprochen, liebes Mädchen – sein Zustand erlaubt es doch?«

»Er wird Ihnen gern Rede und Antwort stehen, Herr Graf, auch wenn es ihn Anstrengung kostet.«

»O, ich will ihm nicht zuviel zumuten, liebes Mädchen!« versetzte der Graf – »sobald ich sehe, daß es ihn angreift, gehe ich wieder.«

»O, ich weiß, Herr Graf, ich weiß –«

»Wann soll denn Hochzeit sein?«

»In vierzehn Tagen,« antwortete der Schulze.

»Wenn mich der Schulze einzuladen geruht, wird es mir eine Freude sein dabei zu sein,« sagte der Graf.

»Und uns eine Ehre,« versetzte der Schulze, sich verbeugend.

»Also in 14 Tagen, abgemacht! Nik Deck wird schon frisch und munter sein, wenn es zur Hochzeit geht –«

»Gott gebe es, Herr Graf!« antwortete errötend Miriota, und auf ihrem Gesicht kam so lebhafte Angst zum Ausdruck, daß Franz nicht umhin konnte, nach dem Grunde zu fragen.

»Ja, ja, Gott gebe es!« wiederholte Miriota, »denn bei dem Versuch, ins Schloß zu dringen, hat Nik die bösen Geister geweckt – wer weiß, ob ihn die nicht im ganzen Leben peinigen werden –«

»O, wenn es weiter nichts ist, Miriota,« rief Franz, »dann wollen wir schon Ordnung schaffen – das verspreche ich Ihnen!«

Inzwischen war Nik Deck von dem Besuch des Grafen unterrichtet worden. Er erhob sich mühsam aus dem alten Lehnstuhl, in welchem er saß. Da er sich von der Lähmung, die ihn betroffen, so ziemlich wieder erholt hatte, fiel es ihm nicht schwer, auf die ihm vom Grafen gestellten Fragen Rede und Antwort zu stehen.

Der Graf drückte dem jungen Manne zum Gruße die Hand, dann hub er an:

»Lieber Deck, zuerst die Frage: Glauben Sie an die Gegenwart überirdischer Wesen im Karpathenschlosse?«

»Ich muß wohl, Herr Graf.«

»Also daß Ihnen der Weg über die Burgmauer durch überirdische Wesen gewehrt worden ist?«

»Das bezweifle ich nicht.«

»Und warum nicht, wenn ich bitten darf?«

»Weil ich mir den Vorfall anders gar nicht erklären könnte.«

»Erzählen Sie mir, bitte, was sich zugetragen hat, aber ohne etwas auszulassen.«

Nik Deck folgte der Aufforderung, konnte aber im Grunde bloß wiederholen, was dem Grafen schon durch die Unterhaltung mit den Gästen des »König Mathias« bekannt war. Wie schon dort, suchte der Graf auch jetzt für all diese Dinge eine natürliche Erklärung zu geben.

»Aber wie wollen Sie mir erklären, wie es sich mit den Füßen des Doktors verhalten hat? wenn der hätte laufen können, der Hasenfuß, so hätte er es doch sicher getan!«

»Nun, nehmen wir an, er sei mit den Füßen in eine Falle geraten, die auf der Grabensohle gelegen?«

»Wenn sich Fallen schließen,« antwortete der Waldhüter, »dann verwunden sie grausam, zerreißen einem das Fleisch – an den Beinen des Doktors ist aber keine Spur von einer Wunde zu sehen gewesen.«

»Ganz richtig, Nik Deck, und doch hat es sich, glauben Sie, mit den Füßen des Doktors nicht anders verhalten –«

»Wie hätte aber eine Falle von selbst wieder aufgehen sollen, Herr Graf?«

Auf diese Frage wußte der Graf keine Antwort.

»Im übrigen, Herr Graf,« fuhr der Waldhüter fort, »überlasse ich Ihnen, betreffs des Doktors zu denken, was Sie wollen. Behaupten kann ich schließlich doch bloß, was ich selbst erlebt habe.«

»Recht so! lassen wir diesen braven Mann beiseite und reden wir bloß davon, was Ihnen passiert ist, Nik!«

»Was mir passiert ist, liegt völlig klar. Daß ich eine fürchterliche Erschütterung erlitten habe, steht außer Zweifel, wenn ich sie mir auch absolut nicht erklären kann.«

»Von Verletzung ist an Ihrem Körper nichts zu sehen?« fragte der Graf.

»Keine Spur, Herr Graf, und doch bin ich mit einer Gewalt getroffen worden –«

»Gerade in dem Augenblick, als Sie mit der Hand an das Eisen der Zugbrücke faßten?«

»Jawohl, Herr Graf, und kaum hatte ich es berührt, so war ich wie gelähmt. Zum Glück hatte ich mit der andern Hand die Kette nicht losgelassen und bin bis zur Grubensohle gerutscht, wo mich der Doktor bewußtlos aufgehoben hat.«

Franz schüttelte den Kopf wie jemand, der an all diese Dinge nicht glauben kann.

»Aber, Herr Graf,« nahm Nik Deck wieder das Wort, »was ich Ihnen erzählt habe, habe ich nicht geträumt, und wenn ich acht Tage lang auf diesem Bette liege, ohne Bein und Arm gebrauchen zu können, so wäre es doch nicht mit Vernunft zu vereinbaren, daß ich mir das alles hätte einbilden sollen.«

»Das behaupte ich auch nicht, und daß Sie eine brutale Erschütterung erlitten haben, steht ja außer Zweifel.«

»Brutal? – brutal und sakrisch!«

»Sakrisch?«

»Nun ja doch! teuflisch! satanisch! diabolisch!«

»Hierin, Nik Deck, gehen unsere Meinungen auseinander,« erwiderte der junge Graf. »Sie meinen von einem übernatürlichen Wesen einen Schlag bekommen zu haben, und ich meinesteils glaube das nicht, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil es übernatürliche Wesen nicht gibt, weder solche bösen noch solche guten Charakters.«

»Möchten Sie mir dann wohl erklären, Herr Graf, was mir widerfahren ist?«

»Das kann ich noch nicht, Nik Deck, aber glauben Sie mir, es wird sich alles aufklären und auf die einfachste Art und Weise.«

»Gebe es Gott!« antwortete der Waldhüter.

»Sagen Sie mir,« nahm Franz wieder das Wort, »hat dieses Schloß zu aller Zeit der Familie Görz gehört?«

»Jawohl, Herr Graf, und es gehört ihr noch, wenn auch der letzte Abkömmling, Herr Baron Rudolf, verschwunden ist, ohne je etwas von sich hören zu lassen.«

»Und wie lange ist es her, daß der Baron verschwunden ist?«

»Etwa 20 Jahre.«

»20 Jahre?«

»Jawohl, Herr Graf. Eines Tages war er vom Schlosse weg, niemand wußte, wohin. Wenige Monate nachher starb der letzte Diener auf dem Schlosse – seitdem steht es leer.«

»Und niemand hat den Fuß hinauf gesetzt?«

»Niemand.«

»Und was denkt man in der Gegend?«

»Daß Herr Baron Rudolf im Auslande gestorben sein müsse, und zwar kurz nach seinem Verschwinden.«

»Ein Irrtum, Nik Deck, vor etwa 5 Jahren wenigstens hat der Baron noch gelebt.«

»Noch gelebt, Herr Graf?«

»Ja – in Italien – in Neapel.«

»Sie haben ihn doch nicht gar gekannt?«

»Jawohl, ich habe ihn gekannt.«

»Und seit fünf Jahren –«

»– habe ich nichts mehr von ihm gehört.«

Der junge Waldhüter verfiel in Sinnen. Ihm kam ein Gedanke, über den er aber nicht reden mochte. Endlich aber fragte er, die Brauen runzelnd und den Kopf aufrichtend:

»Daß der Herr Baron mit der Absicht, sich im Burginnern einzusperren, wieder ins Land gekommen sei, läßt sich nicht annehmen, Herr Graf?«

»Nein, Nik Deck.«

»Welches Interesse könnte er haben, sich dort zu verstecken? niemand zu sich zu lassen?«

»Gar keins,« antwortete Franz von Telek.

Und doch war das ein Einfall, der langsam auch im Geiste des jungen Grafen sich festsetzte. War es nicht ganz gut möglich, daß dieser Mensch mit dem allzeit so rätselhaften Dasein sich nach seinem Aufbruch von Neapel hierher in dieses Schloß geflüchtet hätte? Hier wäre es ihm doch leicht gewesen, sich völlig abzuschließen, sich jeder unbequemen Nachfrage zu entziehen, ganz für sich selbst zu leben; und daß ihm bekannt war, wie abergläubisch die Gegend sei, und daß er auf diesen Aberglauben leicht fußen könne, mußte ihm bekannt sein. Indessen erachtete es Franz nicht für nützlich, die Werster Bauern über diese Mutmaßung zu unterrichten. Man hätte sie über Dinge allzu persönlicher Natur ins Vertrauen ziehen müssen. Zudem hätte er doch keineswegs die Ueberzeugung geändert; das sah er vollkommen ein, als Nik hinzusetzte:

»Wenn Baron Rudolf es ist, der jetzt im Schlosse haust, dann muß man glauben, er sei der Schort, denn bloß der Schort hat mich auf solche Weise traktieren können.«

Frei von Verlangen, die Unterhaltung wieder auf dieses Gebiet zu führen, sprach Franz von anderen Dingen, und legte dem jungen Manne ans Herz, den Versuch, der ihm so übel bekommen sei, nicht noch einmal zu wagen; denn es sei nicht seine Sache, das über dem Schlosse waltende Geheimnis aufzuklären, sondern Sache der Karlsburger Behörden, denen es gewiß auch nicht schwer fallen werde, solche Aufgabe zu erfüllen.

Hierauf verabschiedete er sich.

Im »König Mathias« überließ er sich seinem Sinnen, und ging den ganzen Tag nicht aus. Um 6 Uhr deckte Jonas den Abendtisch. Weder der Schulze noch sonst jemand aus dem Torfe getraute sich, ihn zu stören. Gegen 8 Uhr sagte Rotzko zu dem Grafen:

»Sie brauchen mich nicht mehr, Herr Baron?«

»Nein, Rotzko!«

»Dann möchte ich draußen eine Pfeife rauchen.«

»Geh, Rotzko, geh!«

In einen Sessel gelehnt, ließ nun Franz von neuem seinen Gedanken, die ihn zurück in die unvergeßliche Vergangenheit führten, freien Lauf. Er sah sich wieder in Neapel bei der letzten Vorstellung im San-Carlo-Theater – er sah den Baron von Görz wieder geisterhaft aus seiner Loge blicken, die glühenden Augen auf die Künstlerin gerichtet, wie wenn er sie fascinieren wolle – –

Dann fiel ihm der Inhalt jenes Briefes ein von der Hand des Barons, in welchem er, Franz von Telek, beschuldigt wurde, den Tod der Sängerin verursacht zu haben.

Und während all dieses Sinnierens fühlte er den Schlaf nahen. Aber er lag eine Weile in jenem Halbschlummer, zwischen Schlaf und Munterkeit, in welchem man das leiseste Geräusch vernimmt – als ein seltsames Phänomen sich vollzog – es war, wie wenn eine Stimme, von wunderlieblichem zartem, süßem Klange durch die Gaststube dringe, in welcher Franz allein, aber bei vollem Verstande, saß.

Ohne sich zu fragen, ob er wache oder träume, erhob er sich – lauschte er – –

Ja! es war, als wenn sich seinem Ohre ein Mund nähere – als ob von unsichtbaren Lippen die ausdrucksvolle Melodie erklinge:

Nel giardino de mille flori
Audiamo, mio cuore, –

Franz kannte das Lied – die Stilla hatte es gesungen an jenem letzten Abend – an ihrem Abschiedsabend – –

Wie eingelullt, ohne zu wissen, wie ihm geschieht, überläßt sich Franz der Wonne, das Lied noch einmal zu hören – –

Dann ist's zu Ende – und die Stimme erstirbt langsam – in lieblichen Modulationen.

Aber Franz hat die Lähmung, die ihn befallen, abgeschüttelt, – er hat sich jäh aufgerichtet – er findet die Kraft wieder zu atmen, er sucht ein fernes Echo von der Stimme zu erhaschen, die ihm zu Herzen drang.

Alles ist Schweigen – draußen im Freien und drinnen im Saale.

»Ihre Stimme!« flüstert er – »ja – es war – ihre Stimme – die Stimme, die ich so heiß, so innig geliebt habe –«

Dann kämpft er sich in die Wirklichkeit zurück.

»Ich habe geschlafen,« ruft er – »ich habe geträumt.«

 

Kapitel 11

 

Am andern Tage wachte der Graf auf, als kaum der Morgen graute. Noch spukten die Truggebilde der Nacht in seinem Geiste. Sein Plan war, vormittags von Werst aufzubrechen, zuerst die Industrieorte Petroseny und Liwadsel zu besichtigen, dann einen Tag Karlsburg zu widmen, von Karlsburg nach Klausenburg, der siebenbürgischen Hauptstadt, zu reisen, dort einen längern Aufenthalt zu nehmen, dann mit der Bahn durch die Provinzen Mittelungarns, dem Endziel seiner Reise, zu fahren.

Franz war aus dem Gasthause getreten und ging auf der Straße auf und ab; mit dem Glas auf den Augen musterte er tief erregt die Umrisse der Burg, die von der aufgehenden Sonne ziemlich scharf auf dem Orgall-Plateau profiliert wurden.

Seine Gedanken richteten sich auf den Punkt, ob er in Karlsburg das den Werster Bauern gegebene Versprechen halten und die Behörden von dem Treiben im Karpathenschlosse in Kenntnis setzen solle. Wenn er versprochen hatte, dem Dorf seine Ruhe wieder zu verschaffen, so hatte er es in der Ueberzeugung getan, daß sich auf dem Schlosse eine Verbrecherbande, zum wenigsten doch verdächtiges Gesindel eingenistet hätte, die begreiflicherweise Interesse haben müßten, jeden Besuch, jeden Verkehr vom Schlosse fernzuhalten.

Aber während der Nacht hatte er andere Ansichten bekommen. Jetzt besann er sich, ob er noch so handeln solle. Wenn Baron Rudolf, der letzte derer von Görz, seit fünf Jahren verschwunden war, so wußte niemand, was aus ihm geworden war, wohin er sich gewandt haben mochte. Freilich hatte sich das Gerücht von seinem Tode kurz nach seiner Abreise von Neapel verbreitet. Aber war dies Gerücht auch wahr? Vielleicht war der Baron noch am Leben, und wenn es an dem war, warum sollte er nicht auf das Schloß seiner Ahnen zurückgekehrt sein? warum sollte ihn nicht Orfanik, sein einziger Vertrauter, dorthin begleitet haben? und warum sollte nicht dieser seltsame Mensch, der zugleich Gelehrter und Ingenieur war, all die Erscheinungen ersonnen und in Ausführung gesetzt haben, die das Land rings herum in Schrecken gesetzt hatten und unter dem Banne des Schreckens hielten?

Daß dieser Gedankengang nicht unlogisch war, wird der Leser einräumen, und wenn Baron Rudolf und Orfanik tatsächlich im Schlosse hausten, so wäre es in Anbetracht ihrer Neigung zur Abgeschlossenheit und Einsamkeit auch nicht verwunderlich, wenn sie es abzusperren suchten.

Wie mußte aber, wenn es sich so verhielt, der Graf sein Verhalten einrichten? war es geraten für ihn, sich in die Privatangelegenheiten des Barons zu mischen? Das Für und Wider dieser Frage wog er ab, als sein Leibhusar sich auf der Straße zu ihm gesellte.

Der Graf hielt es für angezeigt, demselben Kenntnis von seinen Gedanken zu geben.

»Herr Graf,« lautete Rotzkos Meinung, »warum soll es nicht möglich sein, daß der Baron von Görz hinter all diesem Teufelsspuk steckt? Wenn es der Fall sein sollte, so möchte ich es für das klügste halten, sich nicht darein zu mischen. Die Werster Hasenfüße mögen sich aus der Affäre ziehen, wie sie es verstehen; uns geht der Kram nichts an – was sollen wir uns in Unruhe bringen, um dem dummen Dorfe die Ruhe wieder zu schaffen?«

»Meinetwegen sollst du recht haben,« entgegnete Franz von Telek.

»Ich denke auch nicht, im Unrecht zu sein,« lautete des Leibhusaren Antwort.

»Schließlich weiß ja der Schulze, wie er sich zu verhalten hat, wenn er sich die vermeintlichen Burggespenster vom Halse schaffen will.«

»Freilich, Herr Graf, – er braucht sich ja bloß an die Karlsburger Polizei zu wenden.«

»Nach dem Frühstück wollen wir uns auf den Marsch machen, Rotzko.«

»Ich werde alles bereit halten.«

»Vor dem Abstieg ins Siltal wollen wir jedoch auf den Plesa hinauf –«

»Wozu, Herr Graf?«

»Ich möchte mir doch das Karpathenschloß einmal aus der Nähe ansehen.«

»Hat das Zweck, Herr Graf?«

»Eine Laune, eine Grille, wie du willst, Rotzko – aber versäumen können wir ja nicht viel, wenn du mich ihr folgen läßt.«

Rotzko gefiel dieser Entschluß gar nicht. Er tat sein Bestes, seinen Herrn davon abzubringen. Aber umsonst. Franz von Telek fühlte sich wie mit Ketten zu dem Schlosse hingezogen. Vielleicht ohne daß er es wußte, hing dieser Bann mit dem Traume zusammen, in welchem er die Stimme der Stilla wieder gehört hatte. Aber hatte er auch bloß geträumt? war in der Gaststube nicht schon einmal eine Stimme erklungen – jene, die den jungen Waldhüter gemahnt hatte? Bei der Geistesverfassung, in der sich der junge Graf befand, wird es nicht verwundern, daß er den Plan gefaßt hatte, sich nach dem Karpathenschlosse zu begeben, wenn auch nicht in sein Inneres zu dringen, so doch bis an den Fuß seines alten Gemäuers hinaufzuklettern.

Die Werster Bauern von seinem Vorhaben zu unterrichten, hielt er nicht für geraten, insofern, als doch zu erwarten stand, daß auch sie alles versuchen würden, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Wie er bemerkt hatte, führte am Fuße des Retjesat bis zum Vulkansattel noch ein anderer Weg, so daß es möglich war, den Plan auszuführen, ohne vom Schulzen und von seinen Bauern gesehen zu werden.

Gegen Mittag beglich er beim Gastwirt die etwas hochgeschraubte Rechnung. Dann rüstete er sich zum Aufbruch. Der Schulze, der Magister, der Doktor, der Schäfer, auch Jonas mit der freundlichsten Miene, über die er verfügte, begleiteten den Grafen und seinen Leibhusar bis vor das Dorf. Der Schulze erinnerte den Grafen nochmals an sein Versprechen betreffs der Behörden in Karlsburg. Der Graf versprach sein Bestes zu tun. Dann brachen sie auf. Nach zwei Marschstunden, an der Stelle, wo die walachische Sil in scharfem Knie an die Heerstraße herantritt, machten sie Rast. Ihnen gegenüber erhob sich das Orgall-Plateau in einer Entfernung von einer knappen Meile. Der Aufstieg war auch auf dieser Seite nicht unbeschwerlich. Zuerst mußten sie sich durch Walddickicht, dann ziemlich tief gehöhlte Rinnsale mühsam den Weg bahnen; zur Regenzeit tritt die Sil nämlich gern über die Ufer und schießt in wildem Laufe zu Tale, die Gegend weit und breit unter Wasser setzend. Es verging weit über eine Stunde, bis sie auf dem Vulkansattel standen, und erst gegen fünf Uhr ließ sich an den Weitermarsch zum Schlosse hinauf denken.

Rotzko versuchte noch einmal, seinen Herrn von der, wie er sich ausdrückte, unpraktischen und ungesunden Idee abzubringen. Indessen nach wie vor umsonst. Das einzige, was ihm der Graf zugestand, war, daß in Liwadsel Nachtquartier genommen und erst am andern Morgen der Marsch nach Karlsburg fortgesetzt werden sollte.

Wenn auch der Plesa auf seiner rechten Seite nicht die unsäglichen Schwierigkeiten bietet, die der Waldhüter auf dem Aufstieg von Werst aus zu überwinden hatte, so kam doch die achte Stunde heran, bis Franz von Telek und Rotzko das Orgall-Plateau erstiegen hatten und bis sich vor ihren Blicken aus den abendlichen Schatten heraus der unheimliche Felsbau erhob, dessen Färbung mit der des Plesa-Gesteins zusammenlief.

Nach links hin machte die Wallmauer, von dem Bastionswinkel flankiert, eine scharfe Biegung, und hier war es, wo über die zinnengekrönte Brustwehr die Buche mit ihren knorrigen, von den Südweststürmen, die hier oben hausten, krumm gezogenen drei Aesten aufragte.

Schweigend betrachtete Franz von Telek das von dem dicken Lugturm in der Mitte beherrschte mächtige Bauwerk. Dort, unter dem Wust von Felsen lagen noch gewölbte, geräumige hallende Säle, endlose Korridore, bargen die Eingeweide der Erde noch grausige Verließe, wie sie sich in allen alten magyarischen Festen finden. Keine andere Behausung als dieses altertümliche Herrenschloß hätte für den letzten Abkömmling des Geschlechts der Görz besser getaugt sich in Vergessenheit, deren Geheimnis niemand durchdringen konnte, zu vergraben. Und je mehr der junge Graf darüber sann, desto mehr klammerte er sich an den Gedanken, daß sich Rudolf hinter die weltfernen Wälle seines Karpathenschlosses geflüchtet haben müsse.

Im übrigen verriet jedoch nichts die Anwesenheit von Gästen im Innern des Turms. Kein Rauch stieg aus seinen Essen, kein Geräusch drang aus seinen hermetisch verschlossenen Fenstern. Nichts, nicht einmal ein Vogelschrei, störte das Geheimnis der finstern Wohnstätte.

Ein paar Augenblicke lang verschlang Franz gierig den Wall, von welchem vor Zeiten Festtrubel und Waffengetöse geklungen haben mochte, mit dem Blicke. Aber er schwieg. Sein Geist war von wilden Gedanken erfüllt, sein Herz lief über von herben Erinnerungen.

Rotzko war, weil er den Grafen mit sich allein lassen wollte, beiseite getreten. Er hätte sich nicht getraut, ihn durch eine Bemerkung zu stören. Als aber die Sonne von dem Gebirgsstock des Plesa wich, als sich das Tal der beiden Sil mit Schatten zu füllen begann, da zauderte er nicht länger.

»Herr Graf, der Abend bricht herein,« sagte er, – »es geht stark auf acht.«

Franz schien ihn nicht zu hören.

»Es ist Zeit zum Aufbruch,« fuhr Rotzko fort, »wenn wir noch in Liwadsel sein wollen, ehe die Gasthäuser geschlossen werden.«

»Rotzko – im Augenblick – ja, im Augenblick bin ich bei dir,« versetzte Franz.

»Wir werden eine gute Stunde brauchen, Herr Graf, bis wir zum Sattel zurück sind; bei der finstern Nacht werden wir freilich die Straße passieren können, ohne daß uns vom Dorfe her jemand sieht.«

»Noch ein paar Minuten,« antwortete Franz – »dann brechen wir in der Richtung zum Dorfe hinunter auf.«

Der junge Graf hatte sich von dem Fleck nicht gerührt, wo er stehen geblieben war, als er das Plateau erreicht hatte.

»Vergessen Sie nicht, Herr Graf,« drängte Rotzko, »daß es mühsam sein wird, nachts durch diese Felsen zu klettern. Wir haben den Weg ja kaum bei hellem Tage gefunden –«

»Ja, ja, Rotzko – gehen wir – ich folge –«

Aber es schien, als würde Franz unbezwinglich vor der Burg festgehalten, wie gebannt vielleicht von einer jener geheimen Ahnungen, über die sich das Herz keine Rechenschaft zu geben vermag. War er denn an den Boden genagelt, wie es Doktor Patak in der Grabensohle gewesen sein wollte? – nein! seine Beine waren von jeder Fessel frei – er konnte auf der Plateaufläche gehen, wohin er wollte, und nichts hätte ihn, wenn er Verlangen danach spürte hindern können, den Weg um den Wall herum zu machen, an dem Rande der Kontreskarpe hin.

Und vielleicht lag das in seinem Willen?

So dachte auch Rotzko, der zum letzten Male fragte:

»Kommen Sie nun, Herr Graf?«

»Ja doch – ja doch –« antwortete Franz, blieb aber stehen, ohne sich zu rühren.

Das Orgall-Plateau lag schon in Finsternis. Von Süden stieg der gewaltige Schatten des hohen Gebirgsstocks herauf, langsam das Bauwerk einhüllend, dessen Umrisse bloß eine unsichere Silhouette noch zeigten. Bald mußte von ihm nichts mehr zu erkennen sein, falls nicht aus den schmalen Turmfenstern Lichtschein dringen sollte.

»Herr Graf – so kommen Sie doch, bitte! kommen Sie!« wiederholte Rotzko.

Franz schickte sich endlich an, seinem Leibhusaren zu folgen – da zeigte sich auf dem Bastionsvorsprung, dort, wo sich die sagenhafte Buche in die Höhe reckte, eine wirre Form – wie eine verschwommene Gestalt.

Franz blieb stehen, den Blick wie gebannt auf diese Gestalt richtend, deren Profil sich langsam schärfer abhob.

Aber war das nicht das Gewand, das Kostüm, in welchem er die Stilla zum letzten Male gesehen? das sie in jenem Schlußakt der Orlando-Oper getragen, in dessen Finale er sie zum letzten Male gehört hatte?

Ja! ja! und dort stand sie selbst, regungslos, starr, die Arme nach ihm streckend, den Blick heiß und verlangend auf ihn gerichtet.

»Sie! – sie!« schrie er – und vorwärtsstürzend, wäre er, hätte Rotzko ihn nicht gepackt, über den Rand in den Graben hinunter gestürzt.

Plötzlich verschwand die Erscheinung. Kaum auf die Dauer einer Minute hatte sich die Stilla gezeigt.

Was kam es hierbei an auf die Zeit? Eine Sekunde hätte für Franz hingereicht, sie wiederzuerkennen – und seiner Kehle entrangen sich die Worte:

»Sie – sie – am Leben!«

 

Kapitel 12

 

War das möglich? Die Stilla, die Franz nie wiederzusehen vermeinte, war ihm auf dem Bastionsvorsprung erschienen! nicht der Spielball eines Trugbilds war er gewesen, denn Rotzko hatte sie ebenso gesehen wie er! es war wirklich und wahrhaftig die erhabene Sängerin in ihrem Kostüm als Angelika gewesen, ganz wie sie sich dem San-Carlo-Publikum in ihrer Abschiedsvorstellung gezeigt hatte.

Die grause Wahrheit schoß dem jungen Grafen wie ein Blitz durch das Gehirn. Das vergötterte Weib, das ihm hatte angehören sollen, das Gräfin von Telek hatte werden sollen, war seit fünf Jahren hier, auf dieser Felsenburg der Karpathen, eingesperrt! Ganz so, wie Franz sie hatte auf der Bühne zusammenbrechen sehen, hatte sie weiter gelebt! Also hatte, während man ihn auf den Tod erkrankt nach seinem Hotel trug, Baron Rudolf zur Stilla dringen, sie entführen, sie nach dem Karpathenschlosse bringen können, und die ganze Bevölkerung von Neapel, die sie zum Santo Campo Nuovo hinaus geleitete, war einem leeren Sarge gefolgt?!

Das waren Dinge, die von A bis Z nicht glaubhaft, nicht möglich zu sein schienen, die dem gesunden Verstande zu widersprechen schienen. Das grenzte ja an Wunder – widersprach aller Wahrscheinlichkeit – und Franz hätte sich das fort und fort sagen sollen – ja! aber über alle andern ragte eine Tatsache heraus: da die Stilla auf der Burg war, war sie vom Baron Görz entführt worden – und da sie ihm oben auf der Mauer erschienen war, lebte sie auch – an dieser Gewißheit ließ sich nicht rütteln.

Der Graf suchte aber sich von dem Gewirr freizumachen, in das seine Gedanken geraten waren – und je länger, desto schärfer richteten sich dieselben auf ein einziges Ziel: dem Baron die Stilla zu entreißen, die seit fünf Jahren im Karpathenschlosse gefangen saß!

»Rotzko,« sprach Franz stockend – »höre mir zu – begreife auch, was ich sage – denn mir scheint, mein Verstand gerät ins Wanken.«

»Herr Graf – mein lieber, guter Herr Graf –«

»Um jeden Preis muß ich zu ihr – zu ihr – noch heute abend –«

»Nein – morgen –«

»Heute abend noch, sage ich dir – sie ist da – sie hat mich gesehen, wie ich sie – sie wartet auf mich –«

»Nun gut – ich will mitgehen –«

»Nein! ich gehe allein!«

»Aber wie wollen Sie in die Burg hineingelangen? soll es Ihnen gehen wie dem jungen Waldhüter?«

»Verlaß dich darauf – ich finde den Weg in die Burg!«

»Das Ausfalltor ist gesperrt –«

»Für mich nicht! ich werde eine Bresche suchen – und finden –«

»Ich soll Sie nicht begleiten, Herr Graf? Das kann Ihr Wille nicht sein –«

»Nein! wir werden uns trennen, und dadurch wirst du mir besser nützen können –«

»Ich soll also hier auf Sie warten?«

»Nein, Rotzko – nicht hier, sondern im Dorfe, in Werst – nein, nicht in Werst!« berichtigte sich Franz, »es ist nicht nötig, daß die Bauern dort darum wissen. Geh ins andere Dorf, nach Vulkan hinunter, bleib dort die Nacht – und falls ich morgen früh nicht dort bin, so komme in der Frühe herauf – nein! warte den Vormittag ab, oder – noch besser! Geh dann nach Karlsburg, unterrichte die Polizei, komme mit Mannschaft wieder herauf, und wenn es sein muß, dann stürme die Burg – befreit sie, befreit sie! ha, barmherziger Himmel! dieses arme Weib, das lebendig in der Gewalt dieses Rudolf von Görz sich befindet!«

Während diese abgerissenen Sätze aus dem Munde des Grafen drangen, sah sein Diener mit Schrecken, wie die Erregung desselben von Sekunde zu Sekunde stieg.

»Geh, Rotzko! geh!« rief der Graf zum letzten Male.

»Soll ich wirklich?«

»Ja! Du – sollst!«

Diesem ausdrücklichen Befehle mußte Rotzko sich fügen. Zudem war Franz schon eine Strecke weit weg – und schon verbargen ihn die nächtlichen Schatten seinen Blicken.

Ein paar Augenblicke blieb Rotzko, außer stande, den Fuß zu heben, auf dem Flecke stehen, wo er stand. Dann fiel ihm ein, daß alle Anstrengung des Grafen, über die Wallmauer zu gelangen, vergeblich sein würde, daß ihm nichts weiter übrig bleiben dürfte, als nach Vulkan hinunter zu marschieren – vielleicht morgen früh, vielleicht noch heute abend – dann könnten sie zusammen weiter nach Karlsburg, und was weder Franz noch der Waldhüter verrichtet hätte, würde die Polizei schneller und besser erreichen – die würde mit diesem verrückten Baron Rudolf schon fertig werden, würde ihm die Stilla entwinden, würde dies Karpathenschloß durchwühlen, würde keinen Stein auf dem andern lassen – und wenn sich alle Teufel der Hölle zusammentäten, es ihr zu wehren.

Von diesem Gedankengang geleitet, wandte Rotzko der Felsenburg den Rücken und stieg das Orgall-Plateau in der Richtung nach dem Vulkansattel ab, um an dessen Fuße die Straße nach dem gleichnamigen Dorfe zu gewinnen. Unterdes war Franz von Telek am Rande der Kontreskarpe entlang bereits um den ihre linke Seite beherrschenden Bastionswinkel gelangt.

Tausenderlei Gedanken schossen ihm durch den Sinn. Daß Baron Rudolf in dem Schlosse hauste, stand jetzt außer allem Zweifel, nachdem feststand, daß die Stilla dort gefangen gehalten wurde. Wer anders als er sollte sie dort gefangen halten? Die Stilla also lebte! aber wie sollte Franz bis zu ihr dringen? wie sollte es ihm gelingen, sie aus dem Schlosse zu reißen? Das wußte er freilich nicht, aber geschehen mußte es, und geschehen würde es, denn ihn trieb nicht Neugierde in diese Ruinen, sondern die Liebe zu jenem Weibe, das er hier am Leben fand, nachdem er es fünf Jahre lang totgeglaubt, und das er Rudolf von Görz entreißen wollte, koste es, was es wolle!

Franz lief und lief, sich so dicht wie möglich an die Mauer haltend, mit Händen und Füßen tastend, um sicher zu sein, daß er sich nicht verirre, an den Zickzacks der Kontreskarpe entlang. Von übermenschlicher Kraft aufrecht erhalten, hatte er auch die Empfindung, als ob ihn ein außerordentlicher Instinkt leite, bei dem jede Irreführung ausgeschlossen sei.

Jenseits der Bastion zog sich die südliche Curtine hin, mit der die Zugbrücke, wenn sie nicht gegen das Ausfalltor gelehnt stand, die Verbindung herstellte. Von hier aus schienen die Schwierigkeiten sich zu vervielfältigen. Zwischen den mächtigen Felsblöcken, die das Plateau bedeckten, der Kontreskarpe weiter zu folgen war nicht tunlich, der Graf mußte sich in gewissem Abstande halten. Aber wenngleich er sich beim Kriechen zwischen den Felsen und den dornigen Büschen, beim Uebersteigen hoher Blöcke, beim Klettern über Knorren und Wurzeln die Finger wundriß, wenn ihm auch Eulen und andere Vögel, aufgescheucht aus ihren Schlupfwinkeln, mit greulichem Geschrei um den Kopf schwirrten, so kämpfte sich der Graf doch unverdrossen weiter – ha! warum erklang nicht jetzt, wie jenes andere mal, als Nik Deck mit dem Waldhüter hier war, die Glocke der alten Kapelle? warum flammte nicht auch jetzt jener grelle Lichtschein wieder über den Turmzinnen, den jene beiden Männer gesehen hatten? Er wäre dem Klange nachgegangen, wäre dem Lichtschein gefolgt, wie der Seemann sich nach dem Schall eines Nebelhorns oder dem Stellfeuer eines Leuchtturms richtet.

Nein! ihn hüllte tiefe Nacht ein, die Tragweite seines Blicks auf wenige Schritte vor ihm beschränkend.

Das dauerte etwa eine Stunde. Die Abschüssigkeit des Terrains, auf das er geraten war, belehrte ihn, daß er sich verirrt habe. Er hielt inne, stampfte mit dem Fuße, wand die Hände. Nach welcher Seite die Schritte lenken? Ha! Grimm erfaßte ihn bei dem Gedanken, daß er gezwungen sein möchte, den Tag abzuwarten. Bei Tage mußte er ja von den Leuten in der Burg gesehen werden, bei Tage war es doch ausgeschlossen, sie zu überrumpeln, und Rudolf von Görz würde sich schon vorsehen.

Ein Schrei entrang sich seiner Kehle, ein Schrei aus Verzweiflung – »Stilla!« schrie er, »meine Stilla!«

Konnte er meinen, die Gefangene werde ihn hören? werde ihm antworten?

Doch kaum! und doch schrie er an ein Dutzend mal den Namen, den die Echos des Plesa ihm wieder zutrugen.

Plötzlich trafen Lichtreflexe seine Augen, die grell aus gewisser Höhe herab die finsteren Schatten zerrissen.

»Dort liegt die Burg – dort!« sprach er bei sich – bei der Lage, die sie inne hatte, konnte dieser Lichtschein bloß aus dem Mittelturm kommen.

Bei der Ueberreizung seiner Nerven war es dem Grafen keine Sekunde zweifelhaft, daß ihm die Stilla diesen Lichtstrahl sende. Ganz ohne Frage hatte sie ihn in dem Augenblick wiedererkannt, als sie ihm auf dem Bastionsvorsprunge erschienen war. Jetzt zeigte sie ihm den Weg, wie er zu ihr gelangen könne, und Franz lenkte die Schritte nach diesem Lichtherde, dessen Glanz sich verstärkte, je näher er ihm kam. Er hatte sich zu weit nach links gehalten und mußte nach rechts zu zwanzig Schritte zurück. Nach einer Weile Tastens und Kletterns und Kriechens fand er den Rand der Kontreskarpe wieder.

Jetzt flammte der Lichtschein ihm gegenüber, und aus einer Höhe, daß es außer Zweifel stand, daß er aus einem der Turmfenster drang.

Franz sah sich also angesichts der letzten Hindernisse, und zwar solcher, deren er vielleicht nicht Herr werden konnte. Da das Ausfalltor gesperrt, die Zugbrücke aufgezogen war, geriet er jedenfalls in die Notwendigkeit, sich bis zum Fuße der Wallmauer hinunterzulassen und von dort aus, ähnlich wie der Waldhüter, eine Stelle zu suchen, an der er hinaufklettern könne.

Franz schritt auf die Stelle zu, wo sich die Zugbrücke befand, – als das Ausfalltor geöffnet wurde – jetzt sah er, daß die Zugbrücke niedergelassen war – ohne sich eine Sekunde zur Ueberlegung zu lassen, war er mit einem Satze über die Brücke hinüber und zwischen den finstern Wölbungen verschwunden.

Aber kaum war er hinüber, so flog die Zugbrücke mit Lärm wieder gegen das Ausfalltor, und Graf Franz von Telek war Gefangener des Karpathenschlosses.

 

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© Thomas Lehmann

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