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SPRUCH DES JAHRES

Die Zensur ist das lebendige Geständnis der Großen, daß sie nur verdummte Sklaven treten, aber keine freien Völker regieren können.

Johann Nepomuk Nestroy

SPRUCH DER WOCHE

Duldet ein Volk die Untreue von Richtern und Ärzten, so ist es dekadent und steht vor der Auflösung.

 

Plato

 

LUSTIGES

Quelle: Aus dem umgestülpten Papierkorb der Weltpresse (1977)

Rubrik: Das süße Leben

Dallas, Texas - Vor einem Gericht gab Jack Stinney an, er habe seine Frau nur des Spaßes wegen verprügelt. Auf die erstaunte Frage des Staatsanwaltes ergänzte Stinney dann seine Aussage: "Allerdings verprügelte ich meine Frau nur wegen des Spaßes, den sie mit drei anderen Männern gehabt hatte."

Die Lehmänner
Die Lehmänner

Die Insel des Dr. Moreau

H. G. Wells

 

Kapitel 8-15

 

8. Der Schrei des Pumas

 

Montgomery unterbrach meine wirren Mystifikationen und argwöhnischen Vermutungen, und sein grotesker Diener folgte ihm mit einem Tablett, auf dem Brot, etwas Gemüse und andere Eßwaren, eine Flasche Whisky, ein Krug Wasser, drei Gläser und Messer lagen und standen. Ich blickte schräg nach diesem seltsamen Geschöpf und merkte, daß es mich mit seinen wunderlichen, rastlosen Augen beobachtete. Montgomery sagte, er wolle mit mir frühstücken, Moreau sei jedoch durch vorbereitende Arbeiten zu sehr in Anspruch genommen.

»Moreau!« sagte ich; »den Namen kenne ich.«

»Den Teufel kennen Sie ihn!« sagte er. »Was für ein Esel ich bin, ihn Ihnen zu nennen. Ich hätte's mir denken können. Auf jeden Fall wird er Ihnen eine Ahnung von unseren – Geheimnissen geben. Whisky?«

»Nein, danke – ich bin Abstinenzler.«

»Ich wollte, ich wär's gewesen. Aber es nützt nichts, die Tür zu verschließen, wenn der Gaul erst gestohlen ist. Das verdammte Zeug ist schuld, daß ich hier bin. Das und 'ne Nebelnacht. Ich hielt es damals für ein Glück, als Moreau mir anbot, mich mitzunehmen. Es ist seltsam ...«

»Montgomery«, sagte ich plötzlich, als sich die äußere Tür schloß; »warum hat Ihr Diener spitze Ohren?«

»Verdammt!« sagte er, an seinem ersten Bissen kauend. Er starrte mich einen Moment an, und dann wiederholte er: »Spitze Ohren?«

»Kleine Spitzen dran«, sagte ich so ruhig wie möglich, aber mein Atem stockte; »und ein feiner schwarzer Pelz an den Rändern.«

Er schenkte sich mit großem Bedacht Whisky und Wasser ein. »Ich hatte den Eindruck, als verdecke sein Haar die Ohren.«

»Ich sah sie, als er sich neben mir bückte, um den Kaffee auf den Tisch zu stellen, den Sie mir schickten. Und seine Augen leuchten im Dunkeln.«

Mittlerweile hatte Montgomery sich von der Überrumpelung durch meine Frage erholt. »Ich habe mir doch immer gedacht«, sagte er überlegt, und sein Lispeln verstärkte sich, »daß etwas mit seinen Ohren war. Nach der Art, wie er sie verdeckt hielt ... Wie sahen sie aus?«

Ich war überzeugt, daß seine Unwissenheit gespielt war. Und doch konnte ich dem Mann nicht gut sagen, daß ich ihn für einen Lügner hielt. »Spitz«, sagte ich; »ziemlich klein und pelzig – ausgesprochen pelzig. Aber der ganze Mann ist eines der seltsamsten Wesen, die mir je vor Augen gekommen sind.«

Ein scharfer, heiserer Schrei tierischen Schmerzes drang aus dem Hof hinter uns. Die Tiefe und die Lautstärke ließen auf den Puma schließen. Ich sah Montgomery zusammenzucken.

»Ja?« sagte er.

»Wo haben Sie das Geschöpf aufgelesen?«

»Err – San Francisco ... Er ist ein häßliches Vieh, das gebe ich zu. Mit halbem Verstand, wissen Sie. Kann sich nicht besinnen, wo er hergekommen ist. Aber ich bin an ihn gewöhnt, wissen Sie. Wir beide. Was für 'nen Eindruck macht er Ihnen?«

»Er ist unnatürlich«, sagte ich. »Er hat etwas ... Halten Sie mich nicht für albern, aber ich habe ein scheußliches Gefühl, meine Muskeln ziehen sich zusammen, wenn er mir nahe kommt. Es ist etwas ... kurz, er hat etwas Teuflisches.«

Montgomery hatte mit dem Essen aufgehört, während ich dies sagte. »Komisch«, sagte er. »Das kann ich nicht finden.«

Er begann wieder zu essen. »Ich hatte keine Ahnung davon«, sagte er kauend. »Die Mannschaft auf dem Schoner ... muß auch so empfunden haben ... Hetzten den armen Teufel ... Haben Sie den Kapitän gesehen?«

Plötzlich heulte der Puma wieder, diesmal schmerzlicher. Montgomery fluchte leise. Ich hatte Lust, ihn wegen der Leute am Strande anzugehen. Dann stieß das arme Vieh drinnen eine Reihe kurzer, scharfer Schreie aus.

»Ihre Leute am Strande«, sagte ich; »was für eine Rasse ist das?«

»Ausgezeichnete Kerle, nicht wahr?« erwiderte Montgomery abwesend und runzelte die Stirn, als das Tier scharf aufschrie. Ich sagte nichts mehr. Es folgte ein weiterer Schrei, schlimmer als der vorige. Montgomery sah mich mit seinen stumpfen grauen Augen an und trank noch etwas Whisky. Er versuchte mich in eine Diskussion über den Alkohol zu ziehen und beteuerte, er habe mir damit das Leben gerettet. Er schien Gewicht darauf legen zu wollen, daß ich ihm mein Leben verdankte. Ich antwortete ihm zerstreut. Dann war unser Mahl zu Ende, und das ungestalte Monstrum mit den spitzen Ohren räumte ab. Montgomery ließ mich wieder allein im Zimmer. Er war die ganze Zeit in einem Zustand schlecht beherrschter Gereiztheit über das Geheul des vivisezierten Pumas. Er sprach von seinem merkwürdigen Mangel an Nerven und überließ die auf der Hand liegende Erklärung für diesen Zustand mir.

Ich fand selber, daß die Schreie besonders enervierend waren, und sie nahmen an Tiefe und Intensität zu, als der Nachmittag vorrückte. Ihre beständige Wiederholung störte schließlich mein Gleichgewicht. Ich warf eine Horazübersetzung, in der ich gelesen hatte, hin und begann, die Fäuste zu ballen, mir die Lippen zu beißen und im Zimmer hin und her zu gehen. Dann hielt ich mir die Ohren zu.

Die aufwühlende Wirkung dieser Schreie auf mich wuchs beständig, sie wurden schließlich zu einem so vollendeten Ausdruck des Leidens, daß ich es in dem geschlossenen Raum nicht mehr aushielt. Ich trat aus der Tür in die schläfrige Hitze des Spätnachmittags hinaus, ging am Haupteingang vorbei – der, wie ich sah, wieder verschlossen war – und bog um die Mauerecke.

Das Schreien klang draußen noch lauter. Es war, als hätte aller Schmerz der Welt eine Stimme gefunden. Und doch – hätte ich gewußt, daß im Nebenzimmer solcher Schmerz zugefügt wurde, und wäre er stumm ertragen worden, ich glaube – so habe ich mir seither gedacht – ich hätte es ganz gut aushalten können. Erst, wenn das Leiden Ausdruck findet und unsere Nerven erbeben macht, quält uns das Mitleid. Aber trotz des hellen Sonnenscheins und der grünen Fächer der Bäume, die sich in der kühlenden Seebrise wiegten, schien mir die Welt ein Wirrsal zu sein, besudelt mit schwarzen und roten Phantasmen, bis ich außer Hörweite des Hauses und der bunten Mauer war.

 

9. Unheimliche Begegnungen

 

Ich wanderte durch das Gestrüpp, das den Hügel hinter dem Hause bedeckte, und achtete kaum darauf, wohin ich ging. Ich kam durch den Schatten dichter, geradstämmiger Bäume und befand mich alsbald auf der andern Seite des Hügelrückens, wo ich zu einem Bach niederstieg, der durch ein enges Tal floß. Ich stand still und horchte. Die Entfernung oder die dazwischen liegenden Dickichtmassen erstickten jeden Schall, der vielleicht noch aus der Ummauerung drang. Die Luft war still. Dann tauchte raschelnd ein Kaninchen auf und sprang den Hang vor mir hinauf und davon. Ich zögerte und setzte mich an den Rand des Schattens.

Die Stelle war hübsch. Der Bach war in der üppigen Vegetation der Ufer verborgen; nur an einer Stelle sah ich einen dreieckförmigen Ausschnitt seines glitzernden Wassers. Auf der anderen Seite entdeckte ich durch den bläulichen Nebel hindurch eine Wildnis von Bäumen und Schlinggewächsen und darüber das leuchtende Blau des Himmels. Hier und dort bezeichnete ein weißer oder roter Fleck die Blüte einer Luftpflanze. Ich ließ meine Augen eine Zeitlang über diese Szenerie wandern, und dann begann ich von neuem an die sonderbaren Eigenheiten von Montgomerys Diener zu denken. Aber es war zu heiß, um zusammenhängend zu denken; und bald verfiel ich in einen unruhigen Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen.

Daraus weckte mich nach ich weiß nicht wie langer Zeit ein Rascheln in den Büschen am anderen Ufer. Einen Moment lang sah ich nichts als die wogenden Spitzen der Farne und Kräuter. Dann erschien plötzlich etwas am Ufer des Baches – erst konnte ich nicht erkennen, was es war. Es beugte den Kopf zum Wasser und begann zu trinken. Dann sah ich, daß es ein Mensch war, der wie ein Tier auf allen vieren ging!

Er war in bläuliches Tuch gekleidet, hatte kupferfarbene Haut und schwarzes Haar. Es schien, als wäre groteske Häßlichkeit das unabänderliche Merkmal dieser Insulaner. Ich konnte das Schlürfen der Lippen hören, als der Mensch trank.

Ich beugte mich vor, um ihn besser zu sehen, und ein Stück Lava, das meine Hand gelöst hatte, kollerte den Hang hinunter. Er blickte schuldbewußt auf, und seine Augen begegneten den meinen. Sofort sprang er auf die Füße, wischte sich mit seiner plumpen Hand den Mund und sah mich an. Seine Beine waren kaum halb so lang wie sein Rumpf. Wir starrten uns verwirrt an und verharrten so wohl eine Minute lang. Dann schlich der Kerl durch die Büsche rechts von mir davon, wobei er ein- oder zweimal stehenblieb, um zurückzublicken; ich hörte das Geräusch des Laubes in der Ferne schwächer werden und ersterben. Noch lange, nachdem er verschwunden war, blieb ich sitzen und starrte in die Richtung, die er eingeschlagen hatte. Meine schläfrige Ruhe war fort.

Ich erschrak über ein Geräusch hinter mir, wandte mich plötzlich um und sah den nickenden weißen Schwanz eines Kaninchens den Hang hinauf verschwinden. Ich sprang auf die Füße.

Die Erscheinung dieses grotesken, halbtierischen Geschöpfes vorhin hatte mir plötzlich die Stille des Nachmittags bevölkert. Ich sah mich ziemlich nervös um und bedauerte, daß ich unbewaffnet war. Dann fiel mir ein, daß der Mensch, den ich eben gesehen hatte, in bläuliches Tuch gekleidet war, daß er nicht nackt war, wie es ein Wilder gewesen wäre, und ich versuchte mir deshalb einzureden, daß er wahrscheinlich doch ein friedlicher Charakter sein müsse, trotz der stumpfen Wildheit seines Gesichts.

Und doch hatte mich die Erscheinung stark beunruhigt. Ich ging den Hang nach links hinauf, wendete den Kopf und blickte zwischen den Baumstämmen durch. Warum sollte ein Mensch auf allen vieren gehen und mit seinen Lippen trinken? Gleich darauf hörte ich wieder ein tierisches Klagen, und da ich es für das des Pumas hielt, wandte ich mich um und ging in der dem Schall diametral entgegengesetzten Richtung davon. Das führte mich zum Bach hinunter, den ich überschritt; und dann bahnte ich mir einen Weg durch das Unterholz.

Mich erschreckte ein großer, lebhafter Scharlachfleck am Boden, und als ich ihn näher betrachtete, sah ich, daß es eine sonderbare Schwammart war, verästelt und runzlig wie eine blättrige Flechte; aber bei der Berührung zerfloß sie zu Schleim. Und dann traf ich im Schatten einiger Farne auf etwas Unerfreuliches, den Leichnam eines Kaninchens, der mit glitzernden Fliegen bedeckt, aber noch warm war; der Kopf war abgerissen. Ich blieb beim Anblick des verspritzten Blutes erschrocken stehen. Hier zumindest war einer der Besucher der Insel umgebracht worden!

Spuren weiterer Gewalttat gab es nicht. Es sah aus, als sei das Kaninchen plötzlich angegriffen und getötet worden. Und als ich die kleine Leiche anstarrte, überlegte ich, wie die Sache wohl geschehen war. Die unbestimmte Angst, die ich verspürte, seit ich das unmenschliche Gesicht des Mannes am Bach gesehen hatte, wurde deutlicher, als ich dort stand. Ich erkannte, wie verwegen ich gewesen war, mich unter dieses unbekannte Volk zu wagen. Das Dickicht rings verwandelte sich in meiner Phantasie. Jeder Schatten wurde ein Hinterhalt, jedes Rascheln eine Drohung. Unsichtbare Wesen schienen mich zu beobachten.

Ich beschloß, zur Ummauerung am Strande zurückzukehren. Ich drehte mich plötzlich um und brach heftig – vielleicht sogar rasend – durch die Büsche, begierig, wieder offenen Raum vor mir zu haben.

Ich hielt gerade rechtzeitig inne, um nicht auf eine Lichtung hinauszulaufen, die vom Sturz eines Baumes herrührte; Sämlinge schossen schon hoch und rangen um den leeren Raum, und dahinter hatte sich das Dickicht von Stämmen, Schlingpflanzen und Schwamm und Blütenflecken schon wieder geschlossen. Vor mir, auf den morschen Überresten eines riesigen, gestürzten Baums, hockten, noch ohne meine Nähe zu ahnen, drei groteske menschliche Gestalten. Eine war offenbar weiblich. Die beiden anderen waren Männer. Sie waren nackt, bis auf scharlachfarbene Tuchbinden um die Mittelpartie, und ihre Haut war von stumpfer, rötlichgrauer Farbe, wie ich sie noch bei keinem Wilden gesehen hatte. Sie hatten fette, grobe Gesichter ohne Kinn, fliehende Stirnen und spärliches, borstiges Haar auf den Köpfen. Nie hatte ich bestialischer aussehende Geschöpfe gesehen.

Sie sprachen, oder wenigstens einer der Männer sprach zu den beiden anderen, und alle drei waren zu vertieft gewesen, um auf das Rascheln zu achten, als ich näher kam. Sie wiegten Köpfe und Schultern. Die Worte des Sprechers sprudelten rasch und schlampig hervor, und obgleich ich sie deutlich hören konnte, konnte ich nicht verstehen, was der Mann sagte. Er schien mir ein kompliziertes Rotwelsch zu sprechen. Plötzlich wurde seine Artikulation schriller; er breitete die Hände aus und erhob sich.

Da begannen die anderen im Chor zu schwätzen, während sie gleichfalls aufstanden, die Hände ausbreiteten und sich im Rhythmus ihres Singsangs hin und her wiegten. Mir fiel die abnorme Kürze ihrer Beine und die Plumpheit und Schlaffheit ihrer Füße auf. Alle drei begannen sich langsam im Kreis zu bewegen und mit den Füßen zu stampfen und die Arme zu schwingen; eine Art Melodie schlich sich in ihre rhythmische Rezitation, und ein Refrain – er klang etwa wie »Alula« oder »Balula«. Ihre Augen begannen zu funkeln, und ihre häßlichen Gesichter erhellten sich und zeigten den Ausdruck einer unheimlichen Freude. Aus ihren lippenlosen Mündern tropfte Speichel.

Plötzlich, als ich noch ihre grotesken und unerklärlichen Gesten beobachtete, merkte ich zum erstenmal klar, was mich so verstört hatte, was mir die beiden unvereinbaren und widerstreitenden Eindrücke äußerster Fremdartigkeit und seltsamster Vertrautheit vermittelt hatte. Die drei mit diesem geheimnisvollen Ritus beschäftigten Geschöpfe besaßen zwar menschliche Gestalt, erinnerten jedoch auf die seltsamste Weise an Haustiere. All diese Geschöpfe trugen trotz ihrer menschlichen Form und trotz der Andeutung von Kleidung in sich, in ihre Bewegungen, in den Ausdruck ihrer Gesichter, in ihr ganzes Wesen hinein verwoben, das unverkennbare Zeichen eines Tiers: immer wieder mußte ich bei ihrem Anblick an Schweine denken.

Ich stand da, überwältigt von dieser verblüffenden Entdeckung, und dann stürzten die furchtbarsten Fragen auf mich ein. Die Geschöpfe begannen in die Luft zu springen, erst eines und dann auch die anderen; sie schrien und grunzten. Dann glitt eines aus und stand einen Moment auf allen vieren; freilich erhob es sich sofort. Aber der flüchtige Blick auf das echte Tiertum dieser Ungeheuer war genug.

Ich wandte mich so geräuschlos wie möglich um, und erstarrte vor Angst, entdeckt zu werden, jedesmal, wenn ein Zweig knackte oder ein Blatt raschelte, als ich in die Büsche zurückwich. Es dauerte lange, ehe ich kühner wurde und mich frei zu bewegen wagte.

Mein einziger Gedanke war im Moment, von diesen widrigen Wesen fortzukommen, und ich achtete nicht darauf, daß ich auf einen kaum erkennbaren Pfad zwischen den Bäumen geraten war. Dann, als ich plötzlich über eine kleine Lichtung kam, sah ich mit unangenehmem Schreck zwei plumpe Beine zwischen den Bäumen, die mit geräuschlosen Schritten parallel zu meinem Weg gingen. Kopf und Oberleib waren hinter einem Gewirr von Schlingpflanzen verborgen. Ich blieb unvermittelt stehen. Die Füße ebenfalls. Ich war so nervös, daß ich den Impuls zu jäher Flucht nur mit größter Mühe beherrschte.

Dann blickte ich scharf hin und erkannte durch das verschlungene Netzwerk Kopf und Rumpf des Viehs, das ich hatte trinken sehen. Es bewegte den Kopf. In seinen Augen blitzte es smaragden, als es mich aus dem Schatten der Bäume heraus ansah, ein Aufleuchten, das verschwand, als es den Kopf wieder wandte. Es stand einen Moment regungslos, und dann begann es mit geräuschlosen Füßen durch die grüne Wirrnis zu laufen. Im nächsten Moment war es hinter einigen Büschen verschwunden. Ich konnte es nicht sehen, aber ich fühlte, daß es stehengeblieben war und mich wieder beobachtete.

Was um alles in der Welt war das – Mensch oder Tier? Was wollte es von mir? Ich hatte keine Waffe, nicht einmal einen Stock. Flucht wäre Wahnsinn gewesen. Auf jeden Fall fehlte dem Wesen der Mut, mich anzugreifen. Ich biß die Zähne zusammen und ging gerade darauf zu. Ich wollte ihm die Furcht nicht zeigen, die mir das Rückgrat lähmte. Ich zwängte mich durch ein Dickicht großer, weißblütiger Büsche und sah das Ungeheuer zwanzig Meter dahinter; es blickte mich über die Schulter an und zögerte. Ich ging einen oder zwei Schritte weiter und sah ihm fest in die Augen.

»Wer bist du?« fragte ich. Es versuchte, meinem Blick zu begegnen.

»Nein!« sagte es plötzlich, wandte sich und sprang von mir fort ins Unterholz. Dann wandte es sich von neuem und starrte mich an. Seine Augen glänzten hell aus der Dämmerung unter den Bäumen.

Mir klopfte das Herz im Halse, aber ich fühlte, daß meine einzige Chance Verwegenheit war, und ich ging unverwandt auf das Wesen zu. Es wandte sich wieder und verschwand im dunklen Gesträuch. Noch einmal meinte ich, das Glitzern seiner Augen zu erkennen. Doch dann war da nichts mehr.

Zum ersten Male wurde mir klar, welche Folgen die späte Stunde für mich haben konnte. Die Sonne war schon seit einigen Minuten untergegangen, die schnelle Dämmerung der Tropen verblich am östlichen Himmel, und ein erster Nachtfalter flatterte mir still am Kopf vorbei. Wollte ich nicht die Nacht inmitten der unbekannten Gefahren des geheimnisvollen Waldes verbringen, so mußte ich zur Ummauerung zurückeilen.

Der Gedanke an eine Rückkehr in diese schmerzerfüllte Zuflucht war mir äußerst zuwider, aber noch unangenehmer war der, im Freien von der Dunkelheit überrascht zu werden, und von allem, was dieses Dunkel verbergen mochte. Ich warf noch einen Blick in die blauen Schatten, die dieses merkwürdige Geschöpf verschlungen hatten, und suchte dann den Weg hinunter zum Bach zurück, wobei ich, meiner Meinung nach, die Richtung einschlug, aus der ich gekommen war.

Ich strebte, von all diesen Dingen beunruhigt, ungeduldig vorwärts und befand mich plötzlich auf einem ebenen Platz unter zersplitterten Bäumen. Die farblose Klarheit, die der Sonnenuntergangsröte folgt, wurde dunkler. Der blaue Himmel färbte sich intensiver, und die kleinen Sterne erschienen einer nach dem anderen; die Zwischenräume zwischen den Bäumen, die Lücken im Busch, die im blauen Tageslicht nebelblau gewesen waren, wurden schwarz und geheimnisvoll.

Ich eilte weiter. Jede Farbe verlosch. Die Baumwipfel hoben sich tintenschwarz von dem leuchtendblauen Himmel ab, und alles, was sich darunter befand, verschmolz in gestaltlosem Dunkel. Dann wurden die Bäume spärlicher, das strauchige Unterholz üppiger. Schließlich kam ich auf eine einsame Lichtung, die mit weißem Sand bedeckt war, und dann folgte wieder eine Strecke verwachsenen Buschwerks.

Ich erschrak von einem leisen Rascheln zu meiner rechten Hand. Erst dachte ich, es sei Einbildung, denn sooft ich stillestand, war alles ruhig, nur die Abendbrise strich durch die Baumwipfel. Wenn ich dann wieder weiterging, folgte meinen Schritten etwas wie ein Echo.

Ich zog mich vom Dickicht zurück, hielt mich auf offenem Grund und versuchte hin und wieder dieses Wesen, wenn es existierte, durch plötzliche Wendungen zu überraschen, sobald es auf mich zuschlich. Ich sah nichts, und trotzdem wuchs das Gefühl, daß noch jemand da war, beständig. Ich ging schneller und kam nach einiger Zeit zu einem sanften Hügelrücken; ich überschritt ihn, wandte mich scharf und blickte von der anderen Seite unverwandt hinauf. Der Rand stand schwarz und scharfumrissen vor dem dunklen Himmel.

Und gleich darauf schob sich einen Moment eine unförmige Masse vor die Himmelslinie und verschwand wieder. Ich war überzeugt, daß mich mein braungesichtiger Gegner neuerlich beschlich. Und zugleich damit erhielt ich die unangenehme Gewißheit, daß ich den Weg verloren hatte.

Eine Zeitlang eilte ich, von den unsichtbaren Schritten verfolgt, in hoffnungsloser Ungewißheit weiter. Was es auch war, dem Wesen fehlte es entweder an Mut, mich anzugreifen, oder es wartete, um mich an einer günstigen Stelle zu packen. Ich hielt mich sorgsam auf offenem Terrain. Ab und zu drehte ich mich um und horchte, und dann versuchte ich mir einzureden, daß mein Verfolger die Jagd aufgegeben habe oder nichts als ein Geschöpf meiner aufgeregten Phantasie sei. Da hörte ich das Rauschen des Meeres. Ich beschleunigte meine Schritte, dann lief ich, und sofort hörte ich hinter mir ein Stolpern.

Ich wandte mich plötzlich und starrte auf die Bäume hinter mir. Ein schwarzer Schatten schien sich mit einem anderen zu vereinigen. Ich horchte starr und hörte nichts als das Pochen des Blutes in meinen Ohren. Ich dachte, meine Nerven seien abgespannt und meine Phantasie täusche mich; ich wandte mich entschlossen wieder dem Rauschen des Meeres zu.

Nach etwa einer Minute erreichte ich eine kahle niedrige Landzunge, die in das düstere Wasser hineinragte. Die Nacht war ruhig und klar, und der Widerschein der Sterne zitterte im ruhigen Heben des Meeres. Eine Strecke weit draußen leuchtete die Brandung auf einem unregelmäßigen Band von Riffen in einem bleichen, eigenartigen Licht. Ich sah, wie sich im Westen das Zodiakallicht mit dem gelben Glanz des Abendsterns mischte. Die Küste fiel gegen Osten ab, und nach Westen zu war sie durch den Rücken des Vorgebirges verborgen. Dann besann ich mich auf die Tatsache, daß der Strand bei Moreaus Haus nach Westen lag.

Hinter mir brach ein Ast, und ich hörte ein Rascheln. Ich wandte mich um und stand vor den dunklen Bäumen. Ich konnte nichts sehen – und dennoch sah ich zuviel. Jeder Umriß im Dunkel wurde zu einer unheilvollen, lauernden Gestalt. So stand ich vielleicht eine Minute lang, und dann wandte ich mich, immer noch mit einem Auge auf den Bäumen, nach Westen, um über die Landzunge hinüberzugehen. Und sowie ich mich bewegte, bewegte sich auch einer der Schatten und folgte mir.

Mein Herz schlug rasch. Dann wurde die weite Fläche einer sich nach Westen öffnenden Bucht sichtbar und ich stand wieder still. Der geräuschlose Schatten hielt ein Dutzend Meter hinter mir. Ein kleiner Lichtpunkt glänzte an der ferneren Biegung des Ufers, und die graue Fläche der Sandbucht lag blaß unter dem Sternenlicht. Vielleicht zwei Meilen weit weg war jener kleine Lichtpunkt. Um an den Strand zu kommen, mußte ich durch den Wald gehen, wo die Schatten lauerten, und dann einen mit Sträuchern bewachsenen Hang hinunter.

Ich konnte das Wesen jetzt etwas deutlicher sehen. Es war kein Tier, denn es stand aufrecht. Da öffnete ich den Mund zum Sprechen und entdeckte, daß mir Schleim die Stimme erstickte. Ich versuchte es noch einmal und rief: »Wer ist da?« Es kam keine Antwort. Ich ging einen Schritt weiter. Das Wesen rührte sich nicht; spannte nur jeden Muskel. Mein Fuß stieß an einen Stein.

Da kam mir eine Idee. Ohne die Augen von der schwarzen Gestalt vor mir abzuwenden, bückte ich mich und hob den Stein auf. Aber bei meiner Bewegung wandte sich das Wesen unvermittelt, wie ein Hund, und schlich schräg ins Dunkel hinein. Dann fiel mir ein Schuljungenmittel gegen große Hunde ein; ich knotete den Stein in mein Taschentuch und schlang es mir ums Handgelenk. Ich hörte eine Bewegung im Unterholz, als ob das Wesen auf dem Rückzug sei. Da ließen meine Anspannung und Erregung plötzlich nach; ich brach in Schweiß aus und begann zu zittern, als mein Gegner floh, und ich diese Waffe in der Hand hatte.

Es dauerte einige Zeit, ehe ich den Entschluß fassen konnte, durch die Bäume und Büsche an der Flanke der Landzunge zum Strand hinunterzugehen. Schließlich lief ich los, und als ich aus dem Dickicht auf den Sand hinausrannte, hörte ich jemand anderen mir krachend nachstürzen.

Da verlor ich vor Angst vollständig den Kopf und begann den Sand entlang zu laufen. Sofort hörte ich das schnelle Geräusch weicher verfolgender Füße. Ich stieß einen wilden Schrei aus und verdoppelte meine Geschwindigkeit. Ein paar dunkle, schwarze Wesen, etwa drei- oder viermal so groß wie Kaninchen, hüpften vom Strand zu den Büschen hinauf, als ich vorüberlief. Solange ich lebe, werde ich an das Grauen dieser Jagd denken. Ich lief nah am Rande des Wassers und hörte von Zeit zu Zeit das Klatschen der Füße, die mich einholten. Fern, hoffnungslos fern war das gelbe Licht. Die Nacht um mich herum war schwarz und still. Klatsch, klatsch, kamen die Füße näher. Ich fühlte, wie mir die Luft ausging, denn ich war völlig untrainiert; der Atem pfiff, wenn ich ihn einzog, und in der Seite fühlte ich messerscharfen Schmerz. Ich wußte, das Wesen würde mich längst, ehe ich die Ummauerung erreichte, einholen – und verzweifelt und nach Atem ringend drehte ich mich um, stürzte darauf zu und traf es, als es herankam – traf es mit all meiner Kraft. Der Stein rutschte dabei aus der Schlinge heraus.

Als ich mich umwandte, erhob sich das Geschöpf, das auf allen vieren gelaufen war, und das Geschoß schlug genau gegen seine linke Schläfe. Der Schädel dröhnte laut und der Tiermensch stürzte auf mich zu, warf mich mit den Händen zurück, stolperte an mir vorbei und stürzte kopfüber auf den Sand, mit dem Gesicht ins Wasser. Und dort blieb er liegen.

Ich konnte mich nicht dazu überwinden, mich dem schwarzen Haufen zu nähern. Ich ließ ihn dort liegen, wo das Wasser sich unter den stillen Sternen um ihn herum kräuselte, und setzte meinen Weg fort, auf das gelbe Licht des Hauses zu. Und dann hörte ich plötzlich mit Erleichterung das jämmerliche Klagen des Pumas, das Geräusch, das mich ursprünglich hinausgetrieben hatte, diese geheimnisvolle Insel zu erforschen. Obgleich ich schwach und furchtbar ermattet war, nahm ich all meine Kraft zusammen und begann wieder, auf das Licht zuzulaufen. Mir war, als riefe mich eine Stimme.

 

10. Der Schrei des Menschen

 

Als ich mich dem Hause näherte, sah ich, daß das Licht aus der offenen Tür meines Zimmers drang; und dann hörte ich aus dem Dunkel neben dem gelben Viereck Montgomery rufen: »Prendick.«

Ich lief weiter. Gleich darauf hörte ich ihn wieder. Ich antwortete mit einem schwachen »Hallo!« und im nächsten Moment war ich bis zu ihm hingestolpert.

»Wo sind Sie gewesen?« fragte er und hielt mich in Armeslänge von sich weg, so daß mir das Licht aufs Gesicht fiel. »Wir haben beide so viel zu tun gehabt, daß wir Sie bis vor einer halben Stunde vergessen hatten.«

Er führte mich ins Zimmer und setzte mich in den Schiffsstuhl. Eine Zeitlang war ich vom Licht geblendet. »Wir dachten nicht, daß Sie sich aufmachen würden, um unsere Insel zu erforschen, ohne daß Sie es uns sagen«, meinte er. Und dann: »Ich hatte Angst! Aber ... was ... Hallo!«

Denn meine letzte Kraft wich von mir, und mir fiel der Kopf vorn auf die Brust. Ich glaube, er empfand eine gewisse Befriedigung, als er mir Brandy gab: »Um Gottes willen«, sagte ich, »machen Sie die Tür zu.«

»Sie sind ein paar von unseren Kuriositäten begegnet, eh?« fragte er. Er verschloß die Tür und wandte sich mir wieder zu. Er stellte mir keine Fragen, aber er gab mir noch etwas Brandy mit Wasser und drängte mich, zu essen. Ich war am Rande des Zusammenbruchs. Montgomery erklärte vage, er habe vergessen, mich zu warnen, und fragte mich kurz, wann ich das Haus verlassen und was ich gesehen hätte. Ich antwortete ihm ebenso kurz in fragmentarischen Sätzen. »Sagen Sie mir, was das alles bedeutet«, bat ich, dem Weinen nahe.

»Es ist nichts wirklich Furchtbares«, sagte er. »Aber mir scheint, Sie haben für einen Tag genug gehabt.« Der Puma stieß plötzlich einen scharfen Schmerzensschrei aus. Da fluchte er leise. »Ich laß mich hängen«, sagte er, »wenn's hier nicht ebenso schlimm ist wie in der Gower Street – mit den Katzen.«

»Montgomery«, fragte ich, »was war das für ein Wesen, das mir nachkam? War es ein Tier oder war es ein Mensch?«

»Wenn Sie heut' nacht nicht schlafen«, antwortete er, »haben Sie morgen früh den Verstand verloren.«

Ich stand auf. »Was war das für ein Wesen, das mir nachkam?« fragte ich.

Er blickte mir gerade in die Augen und verzog den Mund. Seine Augen, die eine Minute zuvor lebhaft ausgesehen hatten, wurden stumpf. »Nach Ihrer Beschreibung«, sagte er, »scheint mir, war es ein Popanz.«

Ich fühlte eine stürmische Gereiztheit, die so rasch verging, wie sie gekommen war. Ich warf mich wieder in den Stuhl und preßte die Hände gegen die Stirn. Der Puma heulte von neuem.

Montgomery trat von hinten auf mich zu und legte mir die Hand auf die Schulter. »Hören Sie, Prendick«, sagte er. »Ich hatte nicht vor, Sie allein auf diese unsere alberne Insel hinauswandern zu lassen. Aber es ist nicht so schlimm, wie's Ihnen scheint, Mann. Ihre Nerven sind in Fetzen. Ich will Ihnen etwas geben, damit Sie schlafen. Das ... das wird noch stundenlang so weitergehen. Sie müssen einfach schlafen, sonst garantiere ich für nichts.«

Ich antwortete nicht. Ich beugte mich nach vorn und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Gleich darauf kam er mit einer dunklen Flüssigkeit zurück. Die gab er mir. Ich nahm sie ohne Widerstand, und er half mir in die Hängematte.

Als ich aufwachte, war es heller Tag. Eine Zeitlang blieb ich liegen und starrte auf das Dach über mir. Die Sparren, bemerkte ich, waren aus Schiffsrippen gemacht. Dann drehte ich den Kopf und sah ein Mahl für mich auf dem Tisch bereit. Ich merkte, daß ich hungrig war, und wollte aus der Hängematte herausklettern; sie kam meiner Absicht zuvor, drehte sich um, und ich landete auf allen vieren auf dem Boden.

Ich stand auf und setzte mich an den Tisch. Ich hatte ein Gefühl der Schwere im Kopf und zunächst nur die unbestimmteste Erinnerung an die Dinge, die am Abend vorher geschehen waren. Die Morgenbrise blies erfrischend durch das Fenster, und das Frühstück vermehrte die Empfindung physischen Behagens. Plötzlich öffnete sich die Tür hinter mir, die innere Tür, die in den ummauerten Hof führte. Ich wandte mich und sah Montgomerys Gesicht. »In Ordnung?« fragte er. »Ich hab' furchtbar viel zu tun.« Und er schloß die Tür wieder. Nachher entdeckte ich, daß er sie zu versperren vergessen hatte.

Dann besann ich mich auf seinen Gesichtsausdruck am Abend vorher, und damit wurde die Erinnerung an alles, was ich erlebt hatte, wieder ganz klar. Gerade, als ich wieder Furcht empfand, hörte ich einen Schrei von drinnen. Aber diesmal war es nicht der Schrei eines Pumas.

Ich legte den Bissen nieder, den ich eben an die Lippen führte, und horchte. Stille – nur die Morgenbrise flüsterte. Ich dachte also, meine Ohren hätten mich getäuscht.

Nach einer langen Pause begann ich wieder zu essen, war aber immer noch gespannt. Dann hörte ich etwas anderes, sehr schwach und leise; dennoch wühlte es mich tiefer auf als alles, was ich bisher von den Greueln hinter der Mauer gehört hatte. Diesmal war ein Irrtum über die dumpfen, gebrochenen Töne nicht möglich, ebensowenig ein Zweifel über ihren Ursprung; denn es war ein Stöhnen, das von Schluchzen und qualvollem Keuchen unterbrochen wurde. Diesmal war es kein Tier. Es war ein menschliches Wesen auf der Folter.

Und als mir das klar war, stand ich auf, war in drei Schritten durchs Zimmer, faßte den Griff der Tür zum Hof und stieß sie auf.

»Prendick, Mann! Halt!« rief Montgomery dazwischenspringend. Ein erschreckter Hund bellte auf und knurrte. Ich sah Blut in der Abflußrinne, teils braun, teils scharlachrot, und ich roch den eigentümlichen Geruch der Karbolsäure. Dann sah ich durch eine offene Tür im gedämpften Licht eine unförmige Masse, die mühsam auf ein Rahmenwerk gebunden war: vernarbt, rot und bandagiert. Und dann erschien, diesen Anblick verdeckend, das Gesicht des alten Moreau, weiß und furchtbar.

Im Nu hatte er mich mit einer Hand, die rot besudelt war, an der Schulter gefaßt, herumgedreht und kopfüber in mein Zimmer zurückgeschleudert. Er hob mich hoch, als wäre ich ein kleines Kind. Ich fiel zu Boden, und die Tür schlug zu und verbarg mir sein erregtes und verzerrtes Gesicht. Dann hörte ich, wie der Schlüssel im Schloß gedreht wurde und Montgomery schimpfte.

»Die Arbeit eines Lebens ruinieren!« hörte ich Moreau sagen.

»Er versteht nichts«, sagte Montgomery, und noch anderes, was nicht zu hören war.

»Ich habe jetzt keine Zeit«, sagte Moreau.

Den Rest hörte ich nicht. Ich stand auf und zitterte; mein Geist wurde von den furchtbarsten Ahnungen durchzuckt. War es möglich, dachte ich, daß Moreau Menschen vivisezierte? Die Frage traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Und plötzlich verdichtete sich das Grauen in meiner Seele zu einer lebhaften Empfindung der Gefahr, in der ich mich befand.

 

11. Die Jagd auf den Menschen

 

Mir fiel ein, daß die äußere Tür meines Zimmers noch offenstand, was meine Hoffnung auf Rettung unvernünftig belebte. Ich war jetzt überzeugt, absolut überzeugt, daß Moreau ein menschliches Wesen viviseziert hatte. Die ganze Zeit über, seit ich seinen Namen gehört hatte, hatte ich versucht, das groteske Tiertum der Insulaner mit seinen Greueln in Verbindung zu bringen; und jetzt, meinte ich, durchschaute ich alles. Moreaus Werke über Blutübertragung fielen mir wieder ein. Diese Geschöpfe, die ich gesehen hatte, waren die Opfer eines scheußlichen Experiments!

Diese elenden Schurken hatten mich nur zurückhalten wollen, um mich mit ihrem gespielten Vertrauen zu ködern, und mir dann ein furchtbareres Schicksal zu bereiten als der Tod, mit Qualen und der scheußlichsten Erniedrigung, die denkbar war – um mich, eine verlorene Seele, ein Tier, den anderen ihrer Kreaturen hinzuzufügen. Ich sah mich nach einer Waffe um. Nichts. Dann drehte ich in einer Eingebung den Schiffsstuhl um, setzte den Fuß darauf und riß die Seitenlatte herunter. Zufällig bekam ich mit dem Holz einen Nagel heraus, der darinsteckte und der lächerlichen Waffe eine Spur von Gefährlichkeit verlieh. Ich hörte draußen Schritte und stieß die Tür schnell und heftig auf. Montgomery stand keinen Meter davon entfernt. Er hatte die äußere Tür verschließen wollen.

Ich hob meine Nagelstange und schlug gegen sein Gesicht, aber er sprang zurück. Ich zögerte einen Moment, dann wandte ich mich und floh um die Hausecke. »Prendick! Mensch!« hörte ich ihn erstaunt rufen. »Seien Sie kein alberner Esel, Mann!«

Noch eine Minute, dachte ich, und er hätte mich eingeschlossen, meinem Schicksal ausgeliefert wie die Versuchstiere an einer Klinik. Er kam um die Ecke herum, denn ich hörte ihn »Prendick!« rufen. Dann begann er, mir nachzulaufen, wobei er mir allerlei zurief.

Diesmal lief ich blind nach Nordosten, in eine andere Richtung als bei meinem ersten Ausflug. Einmal blickte ich, als ich so den Strand hinauflief, über die Schulter zurück und sah Montgomerys Diener. Ich rannte wütend den Hang hinauf, hinüber, und wandte mich dann nach Osten, in ein felsiges Tal, das auf beiden Seiten mit Gebüsch gesäumt war. Ich lief vielleicht eine Meile ununterbrochen; mein Atem flog und das Blut pochte mir in den Ohren. Als ich nichts mehr von Montgomery und seinem Diener hörte, schlug ich, da ich mich der Erschöpfung nahe fühlte, einen scharfen Haken, nach dem Strande zu, wie mir schien, und legte mich im Schutz eines Rohrgebüsches nieder.

Dort blieb ich lange Zeit, zu ängstlich, um mich zu rühren, ja zu ängstlich, um einen Aktionsplan zu entwerfen. Die Sonne brannte hernieder, und um mich herum, in dieser wilden Landschaft, herrschte Stille; das einzige Geräusch in meiner Nähe war das dünne Summen einiger kleiner Mücken, die mich entdeckt hatten. Dann wurde ich mir eines schläfrigen Schalles bewußt, der wie tiefes Atmen klang – das Rauschen des Meeres auf dem Strande.

Nach etwa einer Stunde hörte ich Montgomery weit im Norden meinen Namen rufen. Darüber begann ich an einen Aktionsplan zu denken. Wie ich jetzt meinte, war diese Insel nur von diesen zwei Vivisektoren und ihren Opfern bewohnt. Ein paar von denen konnten sie, wenn es nötig werden sollte, ohne Zweifel dazu zwingen, sie bei meiner Verfolgung zu unterstützen. Ich wußte, sowohl Moreau wie Montgomery hatten Revolver; und abgesehen von einer schwachen Tannenholzlatte, die mit einem kleinen Nagel beschlagen war – einem Spottbild von einer Keule –, war ich unbewaffnet.

So blieb ich liegen, wo ich lag, bis ich an Essen und Trinken denken mußte. Und in dem Moment ging mir die wirkliche Hoffnungslosigkeit meiner Lage auf. Ich wußte nicht, wie ich etwas zu essen bekommen sollte; ich verstand auch zuwenig von Botanik, um irgendwelche eßbare Wurzeln oder Früchte zu entdecken. Ich hatte auch kein Hilfsmittel, um die paar Kaninchen auf der Insel zu fangen. Je mehr ich meine Lage bedachte, um so trostloser erschien sie mir. Schließlich fielen mir in meiner Verzweiflung die Tiermenschen ein, denen ich begegnet war. Nacheinander besann ich mich auf alle, die ich gesehen hatte, und versuchte, mich daran zu erinnern, ob einer so ausgesehen hatte, als würde er mir vielleicht helfen.

Dann hörte ich plötzlich einen Hetzhund bellen, und damit wurde mir eine neue Gefahr bewußt. Ich nahm mir wenig Zeit zum Denken, sonst hätten sie mich da gefangen. Ich raffte meine Nagellatte auf und stürzte aus meinem Versteck jäh in Richtung Meer. Ich entsinne mich eines Gebüsches dorniger Pflanzen mit Stacheln, die wie Federmesser stachen. Ich kam blutend und mit zerrissenen Kleidern zu einer kleinen Bucht, die sich nach Norden öffnete. Ich ging, ohne eine Minute zu zögern, geradewegs ins Wasser und stand gleich darauf knietief in einer schwachen Strömung. Ich kletterte schließlich auf dem westlichen Ufer wieder heraus und kroch, während mir das Herz laut schlug, in ein Farndickicht, um den Ausgang abzuwarten. Ich hörte den Hund – es war nur einer – näher kommen und bellen, als er die Dornen erreichte. Dann hörte ich nichts mehr und begann zu glauben, daß ich entkommen war.

Die Minuten vergingen, die Zeit zog sich hin, und schließlich begann mir nach einer Stunde der Sicherheit der Mut zurückzukehren.

Mittlerweile war ich nicht mehr sehr in Angst und fühlte mich nicht mehr so elend. Denn ich hatte gleichsam die Grenze des Schreckens und der Verzweiflung überschritten. Ich fühlte jetzt, daß mein Leben praktisch verloren war, und dieses Gefühl machte mich fähig, alles zu wagen. Ich hatte sogar den Wunsch, von Angesicht zu Angesicht mit Moreau zusammenzutreffen. Und ich entsann mich, daß mir wenigstens noch ein Weg der Flucht vor der Qual offenblieb – sie konnten mich nicht gut daran hindern, mich selbst zu ertränken. Ich hatte beinahe Lust, mich zu ertränken, aber ein merkwürdiger Wunsch, das Abenteuer zu Ende zu sehen, ein wunderliches Zuschauerinteresse an mir selber hielten mich zurück. Ich streckte meine Glieder, die von den Dornenstichen wund waren, aus, und blickte um mich auf die Bäume; und plötzlich fiel mein Auge auf ein schwarzes Gesicht, das mich beobachtete.

Ich sah, daß es das affenartige Geschöpf war, das dem Boot am Strand entgegengekommen war. Der Kerl hing am schrägen Stamm einer Palme. Ich griff nach meinem Stock und sprang vor ihm auf. Er begann zu schwatzen. »Du, du, du«, war alles, was ich zunächst verstehen konnte. Plötzlich ließ er sich vom Baum fallen, bog die belaubten Zweige auseinander und starrte mich neugierig an.

Ich fühlte diesem Geschöpf gegenüber nicht den gleichen Widerwillen, den ich bei meinen Begegnungen mit den anderen Tiermenschen empfunden hatte. »Du«, sagte er, »im Boot.« Also war er ein Mensch – wenigstens ebensosehr Mensch wie Montgomerys Diener –, denn er konnte reden.

»Ja«, sagte ich, »ich bin im Boot gekommen. Vom Schiff.«

»Oh!« sagte er, und seine glänzenden, rastlosen Augen musterten mich, meine Hände, den Stock, den ich trug, meine Füße, die zerfetzten Stellen an meinem Rock und die Schnitte und Schrammen, die ich von den Dornen davongetragen hatte. Ihn schien etwas zu verwirren. Seine Augen glitten auf meine Hände zurück. Er hob seine eigene Hand und zählte langsam: »Eins, zwei, drei, vier, fünf – eh?«

Ich begriff noch nicht, was er meinte. Später sollte ich entdecken, daß ein großer Teil dieser Tiermenschen entstellte Hände hatte, denen bisweilen bis zu drei Finger fehlten. Da ich aber damals glaubte, dies sei ein Gruß, so tat ich das gleiche. Er grinste mit ungeheurer Befriedigung. Dann wanderte sein schneller, schweifender Blick wieder umher. Er machte eine rasche Bewegung und verschwand. Die Farne schlugen da, wo er gestanden war, zusammen.

Ich folgte ihm und war erstaunt, ihn mit seinem dürren Arm an einem Strick von Schlingpflanzen schwingen zu sehen, der aus dem Laub oben niederhing. Er wandte mir den Rücken zu.

»Hallo!« sagte ich.

Er landete mit einem wirbelnden Sprung auf dem Boden und stand vor mir. »Höre«, fragte ich, »wo kann ich etwas zu essen bekommen?«

»Essen!« sagte er. »Essen Menschennahrung jetzt.« Und seine Blicke schweiften wieder zu der Lianenschaukel. »Bei den Hütten.«

»Aber wo sind die Hütten?«

»Oh!«

»Ich bin neu hier, weißt du.«

Da drehte er sich um und ging mit schnellem Schritt davon. Alle seine Bewegungen waren merkwürdig rasch. »Komm mit«, sagte er. Ich ging mit ihm, um das Abenteuer zu Ende zu führen. Ich dachte mir, die Hütten, wo er und andere vom Tiervolk wohnten, wären primitive Behausungen. Ich würde die Tiermenschen vielleicht freundlich gesinnt finden, könnte vielleicht von ihrem Geist Besitz ergreifen. Ich wußte noch nicht, wie weit sie das menschliche Erbe vergessen hatten, das ich ihnen zuschrieb.

Mein affenartiger Begleiter trabte neben mir her; seine Hände hingen nieder, sein Kiefer war vorgeschoben. Ich fragte mich, wie es wohl um sein Gedächtnis bestellt sein mochte. »Wie lange bist du schon auf dieser Insel?« fragte ich.

»Wie lange?« sagte er. Und nachdem ich die Frage wiederholt hatte, hielt er drei Finger hoch. Das Geschöpf war nicht viel mehr als ein Idiot. Ich versuchte herauszubekommen, was er damit meinte, und anscheinend bereitete ihm das große Pein. Nach noch einer oder zwei Fragen lief er plötzlich von mir weg und sprang nach einer Frucht, die von einem Baume hing. Er riß eine Handvoll stachliger Hülsen herunter und ging essend weiter. Das sah ich mit Befriedigung, denn nun wußte ich, wo Nahrung zu finden war. Ich versuchte es noch mit ein paar anderen Fragen, aber er schnatterte rasche Antworten, die meinen Fragen oft ganz entgegenliefen. Ein paar paßten, andere waren wie von einem Papagei.

Ich beobachtete meinen Begleiter so scharf, daß ich kaum auf den Pfad achtete, dem wir folgten. Plötzlich kamen wir zu Bäumen, die ganz verkohlt und braun waren, und dann in eine öde, kahle Gegend, die mit gelbweißer Inkrustation bedeckt war, über die beißender Rauch trieb. Zu unsrer Rechten sah ich über einem nackten Felsrücken die blaue Fläche des Meeres. Der Pfad wand sich plötzlich in eine enge Schlucht, zwischen knotigen Massen schwärzlicher Lava hindurch. Dahinein gingen wir.

Der Gang wirkte nach dem blendenden Sonnenlicht und dem Widerschein vom schwefligen Boden außerordentlich dunkel. Die Wände ragten steil empor, der Pfad wurde immer enger. Grüne und rote Flecken schwammen mir vor den Augen. Mein Führer stand plötzlich still. »Zu Hause«, sagte er, und ich stand auf dem Boden eines Schlundes, der mir erst absolut finster erschien. Ich hörte einige seltsame Geräusche und rieb mir mit den Knöcheln der linken Hand die Augen. Ich wurde mir eines üblen Geruchs bewußt, der an einen schlecht gereinigten Affenkäfig erinnerte. Im Hintergrund öffnete sich der Fels wieder auf einen sanften Hang sonnenbeleuchteten Grüns, und zu beiden Seiten drang das Licht durch einen engen Schacht in das Dunkel.

 

12. Die Sprecher des Gesetzes

 

Dann berührte etwas Kaltes meine Hand. Ich fuhr heftig zusammen und sah dicht vor mir ein blaßrosa Wesen, das den Eindruck eines gescholtenen und verschüchterten Kindes machte. Das Geschöpf hatte die milden, aber abstoßenden Züge eines Faultiers, dieselbe niedere Stirn und die langsamen Bewegungen. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich deutlicher. Das kleine faultierartige Geschöpf stand da und starrte mich an. Mein Führer war verschwunden.

Ich befand mich in einem Gang zwischen hohen Lavamauern; auf beiden Seiten bildeten geflochtene Seegrasmatten, Palmenfächer und Rohre, die gegen den Felsen lehnten, rohe und undurchdringlich dunkle, höhlenartige Verschläge. Der Weg, der sich dazwischen die Schlucht hinaufwand, war kaum drei Ellen breit und mit Haufen von faulendem Fruchtmark und anderem Abfall bestreut. Daher stammte also der unangenehme Gestank.

Das kleine rosige Faultiergeschöpf blinzelte mich noch an, als mein Affenmensch wieder erschien und mir winkte. Unterdessen kroch ein schwerfälliges Ungeheuer aus einer der Höhlen weiter oben in dieser seltsamen Straße, und da stand es nun vor dem hellen Grün im Hintergrund und starrte mich an. Ich zögerte – hatte beinahe Lust, den Weg, den ich gekommen war, zurückzustürzen – und dann faßte ich, entschlossen, das Abenteuer zu Ende zu führen, meinen Nagelstock etwa in der Mitte und folgte meinem Führer nach in das kleine übelriechende Loch.

Es war ein Raum von der Form eines halben Bienenkorbs, und gegen die Felsmauer an der Innenseite war ein Haufen verschiedener Früchte, Kokosnüsse und anderes aufgeschichtet. Einige plumpe Gefäße aus Lava und Holz standen am Boden umher, eins auch auf einem rohgezimmerten Schemel. Feuer gab es keines. Im dunkelsten Winkel der Hütte saß eine unförmige, dunkle Masse, die »He!« grunzte, als ich hereinkam, und mein Affenmensch stand im schwachen Licht der Tür und hielt mir eine gespaltene Kokosnuß hin, als ich in den anderen Winkel kroch und mich hinhockte. Ich nahm sie und begann trotz meiner Angst und der fast unerträglichen Stickigkeit der Höhle so heiter wie möglich daran zu nagen. Das kleine rosige Faultierwesen stand in der Öffnung der Hütte und noch ein anderes Geschöpf mit einem grauen Gesicht und glänzenden Augen starrte ihm über die Schulter.

»He!« tönte es aus dem geheimnisvollen Haufen gegenüber. »Es ist ein Mensch! Es ist ein Mensch!« schwätzte mein Führer. »Ein Mensch, ein Mensch, ein lebendiger Mensch wie ich.«

»Hör auf!« sagte die Stimme aus dem Dunkel und grunzte. Ich knabberte in eindrucksvoller Stille an meiner Kokosnuß. Ich spähte scharf in die Dunkelheit, konnte aber nichts erkennen. »Es ist ein Mensch«, wiederholte die Stimme. »Will er bei uns leben?« Es war eine heisere Stimme mit einem eigenartigen, pfeifenden Beiklang, aber die englische Aussprache war merkwürdig gut.

Der Affenmensch sah mich an, als erwarte er eine Antwort auf die Frage. »Er will bei euch leben«, sagte ich.

»Es ist ein Mensch. Er muß das Gesetz lernen.«

Allmählich nahm die unförmige Masse vor mir Gestalt an: dieses Geschöpf schien bucklig zu sein. Dann sah ich, daß der Eingang von zwei weiteren Köpfen verdunkelt wurde. Meine Hand faßte den Stock fester. Das Wesen im Dunkel wiederholte lauter: »Sage die Worte.« Ich hatte seine letzte Bemerkung überhört. »Nicht auf allen vieren gehen, das ist das Gesetz.« Es wiederholte sie in einer Art Singsang.

Ich war verwirrt. »Sage die Worte«, erklärte auch der Affenmensch, und die Gestalten am Eingang stimmten drohend mit ein. Ich merkte, daß ich diese idiotische Formel wiederholen mußte. Und dann begann eine wahnsinnige Zeremonie. Die Stimme im Dunkel intonierte Zeile für Zeile eine tolle Litanei, und ich und die anderen mußten sie nachsagen. Dabei wiegten sie sich hin und her und schlugen mit den Händen auf die Knie, und ich folgte ihrem Beispiel. Mir war, als sei ich tot und befände mich in einer anderen Welt. Die Dunkelheit, nur hie und da ein Lichtfleck, diese grotesken, undeutlichen Gestalten, und alle wiegten sich im Chor und sangen:

»Nicht auf allen vieren gehen; das ist das Gesetz. Sind wir nicht Menschen?«

»Nicht das Wasser schlürfen; das ist das Gesetz. Sind wir nicht Menschen?«

»Weder Fleisch noch Fisch essen; das ist das Gesetz. Sind wir nicht Menschen?«

»Nicht von Bäumen Rinde reißen; das ist das Gesetz. Sind wir nicht Menschen?«

»Keine anderen Menschen jagen; das ist das Gesetz. Sind wir nicht Menschen?«

Und so fort, vom Verbot dieser Akte der Torheit bis zu dem, was ich damals für das denkbar Tollste, Unmöglichste hielt. Eine Art rhythmischer Begeisterung befiel uns alle; wir schwätzten und wiegten uns schneller und wiederholten dieses erstaunliche Gesetz. Äußerlich hatte mich die Raserei dieser Tiermenschen erfaßt, aber tief in mir rangen Gelächter und Ekel miteinander. Eine lange Liste von Verboten wurde vorgetragen, und dann änderte sich die Litanei:

»Sein ist das Haus des Schmerzes.«

»Sein ist die Hand, die schafft.«

»Sein ist die Hand, die verwundet.«

»Sein ist die Hand, die heilt.«

Und so eine neue lange Serie hindurch, meist für mich ganz unverständliches Zeug über ihn, wer er auch sein mochte. Mir kam das alles vor wie ein Traum, aber noch nie hatte ich im Traum Gesang gehört.

»Sein ist der Blitz«, sangen wir. »Sein ist das tiefe, salzige Meer.«

Mir kam der furchtbare Gedanke, Moreau könne, nachdem er diese Menschen in Tiere verwandelt hatte, in ihre verkümmerten Gehirne das Gebot der Vergötterung seiner Person eingepflanzt haben. Aber ich sah zu deutlich rings um mich weiße Zähne und starke Klauen, als daß ich darum mit dem Singen aufgehört hätte. »Sein sind die Sterne am Himmel.«

Schließlich war der Gesang zu Ende. Ich sah das Gesicht des Affenmenschen vor Schweiß glänzen, und da meine Augen nun ans Dunkel gewöhnt waren, sah ich die Gestalt im Winkel deutlicher. Sie war groß wie ein Mensch, aber wie ein Skye-Pinscher mit stumpfem grauem Haar bedeckt. Was war sie? Was waren sie alle? Stellen Sie sich vor, Sie wären von den furchtbarsten Krüppeln und Wahnsinnigen umgeben, die man ersinnen kann, und Sie werden ein wenig von meinen Empfindungen verstehen, als mich diese grotesken Karikaturen umringten.

»Er ist ein Fünfmensch, ein Fünfmensch, ein Fünfmensch ... wie ich«, sagte der Affenmensch.

Ich hielt meine Hände hin. Das graue Geschöpf im Winkel beugte sich vor. »Nicht auf allen vieren laufen; das ist das Gesetz. Sind wir nicht Menschen?« fragte er. Er streckte eine seltsam entstellte Klaue aus und betastete meine Finger. Sie fühlte sich beinahe wie der Huf eines Hirsches an. Ich hätte vor Überraschung und Schmerz aufschreien mögen. Das Gesicht kam näher und die Augen blickten nach meinen Nägeln, und ich sah mit bebendem Ekel, daß es weder das Gesicht eines Menschen noch das eines Tieres war, sondern nichts als eine Masse grauen Haars mit drei Überwölbungen, die Augen und Mund markierten.

»Er hat kleine Nägel«, sagte das graue Geschöpf in seinem haarigen Bart. »Es ist gut.«

Er ließ meine Hand fallen, und instinktiv faßte ich meinen Stock. »Iß Wurzeln und Kräuter – es ist Sein Wille«, sagte der Affenmensch.

»Ich bin der Sprecher des Gesetzes«, erklärte die graue Gestalt. »Hierher kommen alle, die neu sind, um das Gesetz zu lernen. Ich sitze im Dunkel und sage das Gesetz.«

»So ist es«, stimmte eines der Tiere an der Tür zu.

»Arg sind die Strafen für die, die das Gesetz brechen. Keiner entkommt.«

»Keiner entkommt«, sagte das Tiervolk, und sie blickten sich verstohlen an.

»Keiner, keiner«, rief der Affenmensch. »Keiner entkommt. Sieh! Ich habe einmal etwas Geringfügiges getan, etwas Unrechtes. Ich schnatterte, schnatterte, sprach nicht mehr. Niemand konnte verstehen. Ich bin verbrannt, hab' ein Mal auf der Hand. Er ist groß. Er ist gut.«

»Keiner entkommt«, sagte das graue Wesen im Winkel.

»Keiner entkommt«, wiederholte das Tiervolk, und sie sahen sich von der Seite an.

»Was du willst, wissen wir nicht«, sagte der Sprecher des Gesetzes. »Wir werden es sehen. Manche wollen Dingen folgen, die sich bewegen, wollen wachen und schleichen, warten und springen, töten und beißen, beißen tief und reich, saugen das Blut ... Das ist schlimm. ›Keine anderen Menschen jagen; das ist das Gesetz. Sind wir nicht Menschen? Essen weder Fleisch noch Fisch; das ist das Gesetz. Sind wir nicht Menschen?‹«

»Keiner entkommt«, sagte ein scheckiges Vieh, das vor der Tür stand.

»Manche wollen mit Zähnen und Händen die Wurzeln der Pflanzen ausreißen«, sagte der Sprecher des Gesetzes, »und in der Erde schnüffeln ... Das ist schlimm.«

»Keiner entkommt«, brummte der Mann an der Tür.

»Andere schälen die Rinde von den Bäumen und manche kratzen die Gräber der Toten auf; manche kämpfen mit Stirn oder Füßen und Klauen; manche beißen plötzlich ohne Anlaß; manche lieben die Unsauberkeit.«

»Keiner entkommt«, sagte der Affenmensch und kratzte sich die Wade.

»Keiner entkommt«, sagte auch das kleine rosige Faultierwesen.

»Die Strafe ist hart und folgt auf dem Fuß. Also lerne das Gesetz. Sag' die Worte«, und sofort begann er die ganze seltsame Litanei vom Gesetz noch einmal, und noch einmal begannen ich und all diese Geschöpfe uns zu wiegen und zu singen. Mir wirbelte der Kopf von all dem Schnattern und dem stickigen Gestank, aber ich hielt aus und hoffte, ich würde schon eine Gelegenheit zu einem Einschreiten finden. »Nicht auf allen vieren gehen; das ist das Gesetz. Sind wir nicht Menschen?«

Wir machten einen solchen Lärm, daß ich von dem Aufruhr draußen nichts merkte, bis einer, ich glaube, es war einer von den beiden Schweinemenschen, die ich schon gesehen hatte, den Kopf über dem kleinen rosigen Faultierwesen hereinsteckte und aufgeregt etwas rief, etwas, was ich nicht verstand. Sofort verschwanden die, welche am Eingang der Hütte standen, mein Affenmensch stürzte hinaus, das Wesen, das im Dunkel gesessen war, folgte ihm – ich merkte nur, es war groß und plump und mit silbrigem Haar bedeckt – und ich blieb allein.

Da hörte ich, ehe ich noch die Öffnung erreichte, das Bellen eines Spürhundes.

Im nächsten Moment stand ich außerhalb der Hütte, meine Stuhllatte in der Hand; jeder Muskel an mir bebte. Vor mir sah ich die plumpen Rücken von vielleicht zwanzig Tiermenschen, die mißgestalteten Köpfe eingezogen. Sie gestikulierten aufgeregt. Andere halbtierische Gesichter blickten fragend aus den Hütten. Als ich in die Richtung schaute, wohin sie zeigten, sah ich durch den Nebel unter den Bäumen hinter dem Ende des Höhlengangs die dunkle Gestalt und das furchtbare weiße Gesicht Moreaus. Er hielt den springenden Hetzhund zurück; und dicht hinter ihm kam Montgomery, den Revolver in der Hand.

Einen Moment stand ich schreckgebannt still.

Ich wandte mich um und sah den Gang hinter mir von einem plumpen Tier mit riesigem grauem Gesicht und blinzelnden kleinen Augen versperrt, das auf mich zukam. Ich blickte umher und sah zu meiner Rechten, etwa sechs Meter vor mir, einen schmalen Spalt in der Felswand, durch den ein Lichtstrahl schräg in die Schatten fiel. »Halt!« rief Moreau, als ich darauf zuschritt. »Haltet ihn!« Da wandte sich erst ein Gesicht mir zu, und dann sahen mich alle an. Zum Glück arbeitete ihr Tierverstand nur langsam.

Ich rannte mit der Schulter gegen eines der plumpen Geschöpfe, das sich umdrehte, um zu sehen, was Moreau meinte, und schleuderte es gegen ein anderes. Ich fühlte, wie seine Hände herumflogen, nach mir griffen und mich verfehlten. Das kleine rosige Faultierwesen stürzte auf mich zu, ich warf es um, zerriß ihm das häßliche Gesicht mit dem Nagel an meinem Stock, und eine Minute darauf kletterte ich einen steilen Seitenpfad empor, eine Art schrägen Kamin, der aus der Schlucht führte. Ich hörte hinter mir Heulen und Rufen: »Fangt ihn!« »Haltet ihn!«, und das Geschöpf mit dem grauen Gesicht erschien hinter mir und zwängte seine Riesenmasse in den Spalt. »Weiter, weiter!« heulten sie. Ich kletterte den engen Spalt im Felsen hinauf und kam auf dem mit schwefelhaltigem Gestein bedeckten Platz westlich vom Dorf der Tiermenschen heraus.

Dieser Spalt war mein Glück, denn der enge, sich schräg heraufwindende Weg muß die nächsten Verfolger aufgehalten haben. Ich lief über die weißgelbe Fläche und einen steilen Hang hinunter durch spärliches Gesträuch, und kam weiter unten zu einer mit hohem Schilf bewachsenen Ebene. Dahindurch arbeitete ich mich in ein dunkles, dichtes Strauchgebüsch, dessen Boden schwarz und feucht war. Als ich in das Schilf hineintauchte, erschienen meine ersten Verfolger aus dem Spalt. Die Luft dröhnte hinter mir und um mich von drohenden Rufen. Ich hörte das Krachen des Schilfs und hin und wieder das Knistern eines brechenden Zweiges. Einige von den Geschöpfen brüllten wie aufgeregte Raubtiere. Links von mir bellte der Spürhund. Ich hörte Moreau und Montgomery aus derselben Richtung rufen. Ich wandte mich scharf nach rechts. Mir schien noch, als hörte ich, wie Montgomery mir zuschrie, um mein Leben zu laufen.

Plötzlich gab der weiche und sumpfige Boden unter mir nach; ich war verzweifelt, stürzte jäh hin, arbeitete mich durch den knietiefen Morast und kam so zu einem gewundenen Pfad, der durch hohes Schilf führte. An einer Stelle sprangen drei seltsame, rosige, hüpfende Tiere, etwa so groß wie Katzen, vor meinen Füßen auf. Diesem Pfad folgte ich bergauf, über einen zweiten freien Platz mit weißer Inkrustation, und tauchte dann wieder in einen Schilfgürtel.

Dann krümmte sich der Weg plötzlich und führte am Rand eines steilwandigen Spalts entlang, der unvermutet wie ein Grenzgraben in einem englischen Park dalag. Ich lief noch mit aller Kraft, und ich sah diesen Abgrund erst, als ich bereits kopfüber durch die Luft flog.

Ich fiel mit Vorderarmen und Kopf in Dornen und stand mit blutendem Gesicht und einem zerrissenen Ohr auf. Ich war in eine steile Schlucht gestürzt, die dornig und felsig und von einem Nebel erfüllt war, der mich in Streifen umzog. Ein schmaler Bach, aus dem dieser Nebel stieg, durchfloß in Windungen die Schlucht. Ich war erstaunt über diesen dünnen Nebel mitten im vollen Glanz des Tageslichts, aber ich hatte keine Zeit, stillzustehen und mich zu wundern. Ich wandte mich nach rechts, flußabwärts, weil ich hoffte, so zum Meer zu kommen und mich dort notfalls ertränken zu können. Erst später merkte ich, daß ich im Fallen meinen Stock verloren hatte.

Dann wurde die Schlucht etwas enger, und ich stieg achtlos in den Bach. Ich sprang ziemlich schnell wieder heraus, denn das Wasser war fast kochendheiß. Ich sah auch, daß ein dünner, schwefliger Schaum auf dem wirbelnden Wasser trieb. Fast unmittelbar darauf kam eine Biegung, und ich sah den blauen Horizont. Auf dem nahen Meer blitzte das Sonnenlicht in Myriaden von Facetten. Ich sah den Tod vor mir. Aber ich schwitzte und war atemlos, und ich spürte, wie das warme Blut angenehm durch meine Adern floß. Ja, ich frohlockte sogar, daß ich meinen Verfolgern entgangen war. Ich hatte nicht die Kraft, jetzt hinzugehen und mich zu ertränken. Ich blickte zurück, woher ich gekommen war.

Ich lauschte. Abgesehen vom Summen der Mücken und vom Zirpen einiger kleiner Insekten, die durch die Dornen hüpften, war die Luft absolut still. Dann hörte ich, sehr leise, das Bellen eines Hundes und ein Schnattern und Schwatzen, den Knall einer Peitsche und Stimmen. Sie wurden lauter, dann wieder schwächer. Der Lärm zog den Bach hinauf und erstarb. Einstweilen war die Jagd vorüber.

Aber ich wußte jetzt, welche Hilfe ich von den Tiermenschen zu erwarten hatte.

 

13. Eine Unterredung

 

Ich wandte mich wieder um und ging zum Meer hinunter. Der heiße Bach erweiterte sich zu einem seichten, bewachsenen Delta, in dem eine Menge von Krebsen und langkörprigen, vielbeinigen Geschöpfen bei meinem Nahen davonkroch. Ich ging bis zum Rand des Salzwassers, und dann fühlte ich mich sicher. Ich drehte mich um und blickte, die Arme in die Hüften gestemmt, auf das dichte Grün hinter mir, in das die Schlucht wie eine rauchende Wunde hineinschnitt. Aber, wie gesagt, ich war zu aufgeregt und – das ist wahr, wenn auch jemand, der die Gefahr nie gekannt hat, vielleicht nicht daran glaubt – zu verzweifelt, um zu sterben.

Dann fiel mir ein, daß mir noch eine Möglichkeit blieb. Konnte ich nicht, während Moreau und Montgomery und ihr bestialischer Pöbel mich durch die Insel jagten, am Strand entlanggehen, bis ich zu dem ummauerten Hof kam? Einen Flankenmarsch um sie herum machen und dann vielleicht mit einem Stein aus der lose gebauten Mauer das Schloß der kleineren Tür zerschmettern und sehen, was ich finden konnte – Messer, Pistole, oder sonst etwas –, um mit ihnen zu kämpfen, wenn sie zurückkehrten?

Ich wandte mich also nach Westen und ging am Wasserrand entlang. Die untergehende Sonne blendete mich mit ihren heißen Strahlen. Die leichte Flut des Stillen Ozeans lief mit leisem Murmeln ein.

Plötzlich fiel die Küste nach Süden ab, und die Sonne war zu meiner Rechten. Dann sah ich unvermutet weit vor mir erst eine und dann mehrere Gestalten aus den Büschen auftauchen – Moreau mit seinem grauen Spürhund, dann Montgomery und noch zwei andere. Da stand ich still.

Sie sahen mich und begannen zu gestikulieren und auf mich zuzulaufen. Ich blieb stehen und beobachtete ihr Nahen. Die beiden Tiermenschen kamen herbeigerannt, um mich vom Gebüsch abzuschneiden. Montgomery lief geradewegs auf mich zu. Moreau folgte langsamer mit dem Hund.

Schließlich raffte ich mich auf, wandte mich seewärts und lief direkt ins Wasser. Das Wasser war erst sehr seicht. Ich war dreißig Meter weit draußen, ehe mir die Wellen bis an die Hüften reichten. Undeutlich sah ich, wie kleine Meerestiere vor meinen Füßen aufschreckten.

»Was treiben Sie, Mann?« rief Montgomery.

Ich wandte mich, bis an die Brust im Wasser stehend, um und starrte ihn an.

Montgomery stand atemlos am Rande des Wassers. Sein Gesicht war leuchtend rot vor Anstrengung, sein langes Flachshaar hing ihm wirr um den Kopf, und seine hängende Unterlippe gab die unregelmäßigen Zähne frei. Moreau kam gerade herzu, das Gesicht bleich und entschlossen, und der Hund, den er an der Leine führte, bellte mich an. Beide Männer trugen schwere Peitschen. Weiter oben am Strand warteten und glotzten die Tiermenschen.

»Was ich anfange? Ich will mich ertränken«, sagte ich.

Montgomery und Moreau sahen sich an. »Warum?« fragte Moreau.

»Weil das besser ist, als mich von Ihnen foltern zu lassen.«

»Ich sagte es Ihnen ja«, bemerkte Montgomery, und Moreau sprach im Flüsterton mit ihm.

»Warum meinen Sie, daß ich Sie foltern werde?« fragte Moreau.

»Wegen der Dinge, die ich gesehen habe«, sagte ich. »Und wegen der Geschöpfe da hinten.«

»Still!« sagte Moreau und hob die Hand.

»Ich will nicht«, sagte ich; »sie waren Menschen: was sind sie jetzt? Ich wenigstens will nicht wie sie sein.« Ich sah an den beiden vorbei. Am Strand standen M'ling, Montgomerys Diener, und eines von den weißbandagierten Tieren aus dem Boot. Weiter oben sah ich im Schatten der Bäume meinen kleinen Affenmenschen und hinter ihm noch andere undeutliche Gestalten.

»Wer sind diese Geschöpfe?« fragte ich, indem ich auf sie zeigte und meine Stimme mehr und mehr erhob. »Sie waren Menschen – Menschen wie Sie, Menschen, die Sie zu Sklaven gemacht haben, und die Sie noch fürchten. – Ihr, die ihr mich hört«, schrie ich und zeigte auf Moreau und rief die Tiermenschen an: »Ihr, die ihr mich hört! Seht ihr nicht, daß euch diese Menschen noch fürchten, daß sie in Angst vor euch umhergehen? Warum also fürchtet ihr sie? Ihr seid viele ...«

»Um Gottes willen«, rief Montgomery, »hören Sie auf, Prendick!«

»Prendick!« rief Moreau.

Beide schrien durcheinander, als wollten sie meine Stimme übertönen. Und hinter ihnen drohten die starren Gesichter der Tiermenschen; ihre Hände hingen herunter, ihre Schultern waren hochgezogen. Es schien, wie ich mir damals dachte, als versuchten sie, mich zu verstehen und sich auf etwas von ihrer menschlichen Vergangenheit zu besinnen.

Ich schrie weiter, ich weiß kaum mehr, was. Moreau und Montgomery könnten getötet werden; sie seien nicht zu fürchten: das hauptsächlich setzte ich dem Tiervolk in den Kopf – zu meinem eigenen Schaden, wie sich später herausstellen sollte. Ich sah den grünäugigen Mann mit den dunklen Lumpen, der mir am Abend meiner Ankunft begegnet war, aus den Bäumen hervorkommen, und andere folgten ihm, um mich besser zu hören.

Schließlich hielt ich inne, weil mir die Luft ausging.

»Hören Sie mich einen Moment an«, sagte Moreau mit fester Stimme, »und dann erklären Sie uns, was Sie wollen.«

»Gut«, sagte ich.

Er hustete, dachte nach und rief dann: »Latein, Prendick! Schlechtes Latein! Schuljungenlatein! Aber versuchen Sie zu verstehen. Hi non sunt homines, sunt animalia qui nos habemus ... viviseziert. Ein Vermenschlichungsprozeß. Ich will's Ihnen erklären. Kommen Sie an Land.«

»Das Wasser wird gerade hinter Ihnen tief und ist voller Haie.«

»Genau das Richtige für mich«, sagte ich. »Kurz und beinahe schmerzlos.«

»Warten Sie eine Minute.« Er nahm etwas Glitzerndes aus der Tasche und warf es vor seine Füße. »Das ist ein geladener Revolver«, sagte er. »Montgomery hier wird das gleiche tun. Jetzt gehen wir den Strand hinauf, bis Sie die Entfernung für sicher halten. Dann kommen Sie und nehmen Sie die Revolver.«

»Nein. Sie haben noch einen dritten.«

»Ich wollte, Sie überlegten sich die Sache, Prendick. Erstens habe ich Sie nie gebeten, auf diese Insel zu kommen; zweitens hatten wir Sie gestern nacht narkotisiert; hätten wir Ihnen etwas antun wollen, dann wäre das doch eine viel bessere Gelegenheit gewesen; und drittens, jetzt, wo Ihre Panik vorüber ist und Sie ein wenig denken können – sehen Sie doch Montgomery an; ist er wirklich der, für den Sie ihn halten? Wir haben Sie zu Ihrem Wohl gejagt. Weil diese Insel voller ... feindlicher Phänomene ist. Warum sollten wir Sie erschießen wollen, wenn Sie uns gerade anboten, sich zu ertränken?«

»Warum haben Sie Ihre ... Leute auf mich gehetzt?«

»Wir waren überzeugt, daß wir Sie fangen und außer Gefahr bringen könnten. Nachher verließen wir den Pfad – um Sie zu retten.«

Ich dachte nach. Es konnte stimmen. Dann fiel mir wieder etwas ein.

»Aber ich habe«, sagte ich, »in der Ummauerung ...«

»Das war der Puma.«

»Hören Sie, Prendick«, sagte Montgomery, »Sie sind ein alberner Esel. Kommen Sie aus dem Wasser, nehmen Sie die Revolver und reden Sie. Wir können dann nicht mehr tun, als wir jetzt könnten.«

Ich will gestehen, daß ich Moreau noch, ja, immer mißtraute und ihn fürchtete. Aber Montgomery war ein Mann, dem ich glaubte.

»Gehen Sie den Strand hinauf«, sagte ich, als ich nachgedacht hatte, und fügte hinzu: »und heben Sie die Hände.«

»Das kann ich nicht«, sagte Montgomery mit einem erklärenden Nicken über die Schulter. »Würdelos.«

»Dann gehen Sie zu den Bäumen hinauf«, antwortete ich, »wie Sie wollen.«

»Es ist eine verdammt alberne Zeremonie«, sagte Montgomery.

Er und Moreau drehten sich um und gingen auf die sechs oder sieben grotesken Geschöpfe zu, die dort im Sonnenlicht standen und Schatten warfen und sich bewegten und doch so unglaublich unreal waren. Montgomery knallte mit der Peitsche nach ihnen, und sofort wandten sich alle ab und flohen blindlings in den Wald. Und als Montgomery und Moreau sich genügend weit entfernt hatten, watete ich an Land, nahm die Revolver auf und prüfte sie. Um mich gegen jedwede Überlistung zu sichern, entlud ich einen, schlug damit gegen einen Lavaklumpen und hatte die Befriedigung, den Stein zerpulvert und den Strand mit Blei bespritzt zu sehen.

Noch zögerte ich einen Moment.

»Ich will's wagen«, erklärte ich schließlich, und mit einem Revolver in jeder Hand ging ich den Strand hinauf auf sie zu.

»So ist's besser«, sagte Moreau unverblümt. »Sie haben mir ohnehin schon den besten Teil des Tages mit Ihrer verdammten Einbildung verdorben.«

Und mit einem Anflug von Verachtung, der mich demütigte, machten er und Montgomery kehrt und gingen mir schweigend voran.

Die Tiermenschen standen noch immer verwundert hinter den Bäumen. Ich ging so unbefangen wie möglich an ihnen vorbei. Einer fuhr auf und wollte mir folgen, aber er zog sich zurück, als Montgomery mit der Peitsche knallte. Die anderen blieben schweigend stehen – sie beobachteten mich. Vielleicht waren sie einmal Tiere gewesen. Aber ich hatte noch nie gesehen, daß Tiere zu denken versuchten.

 

14. Doktor Moreau erklärt

 

»Und jetzt, Prendick, will ich es Ihnen erklären«, sagt Doktor Moreau, nachdem wir gegessen und getrunken hatten. »Ich muß gestehen, Sie sind der diktatorischste Gast, den ich je bewirtet habe. Ich warne Sie, dies ist das letzte, was ich tue, um Ihnen gefällig zu sein. Das nächste Mal, wenn Sie mit Selbstmord drohen, werde ich nicht mehr tun, was Sie verlangen – selbst um den Preis einiger persönlicher Unannehmlichkeiten.«

Er saß in meinem Schiffsstuhl, eine halb aufgerauchte Zigarre in den weißen, geschickt aussehenden Fingern. Das Licht der Lampe fiel auf sein weißes Haar; er blickte durch das kleine Fenster in den Sternenschein hinaus. Ich saß ihm so fern wie möglich, den Tisch zwischen uns, die Revolver zur Hand. Montgomery war nicht anwesend. Ich wünschte nicht, sie in einem so kleinen Zimmer beide gegen mich zu haben.

»Sie geben zu, daß das vivisezierte menschliche Wesen, wie Sie es nennen, schließlich doch nur der Puma ist?« fragte Moreau. Er hatte mich in das innere Zimmer geführt, um mich davon zu überzeugen, daß die Schreie, die ich gehört hatte, nicht von einem Menschen stammten.

»Es ist der Puma«, sagte ich, »noch lebendig, aber zerschnitten und verstümmelt; und ich hoffe, lebendiges Fleisch nie wieder in einem solchen Zustand zu sehen. Von allen gemein ...«

»Einerlei«, erwiderte Moreau. »Wenigstens verschonen Sie mich mit diesem jugendlichen Abscheu. Montgomery war genauso. Sie geben zu, es ist der Puma. Jetzt seien Sie ruhig, während ich Ihnen meinen physiologischen Vortrag abhasple.« Und alsbald begann er im Ton eines Mannes, der sich höchlich langweilt, wurde dann etwas lebhafter und setzte mir sein Werk auseinander. Er sprach sehr einfach und überzeugend. Hin und wieder verriet seine Stimme etwas Sarkasmus. Bald war mir heiß vor Scham über unsere Auseinandersetzung.

Die Geschöpfe, die ich gesehen hatte, waren keine Menschen, waren nie Menschen gewesen. Es waren Tiere – vermenschlichte Tiere – Triumphe der Vivisektion.

»Sie vergessen, was ein geschickter Vivisektor mit lebendigen Wesen alles vermag«, sagte Moreau. »Ich für mein Teil kann mir nicht erklären, warum das, was ich hier getan habe, nicht schon früher versucht wurde. Kleine Experimente sind natürlich gemacht worden – Amputationen, Zungenschnitte, Exzisionen. Natürlich wissen Sie, daß der Chirurg Schielen hervorrufen wie auch heilen kann. Ferner kann man durch Exzisionen eine ganze Reihe von sekundären Veränderungen, Pigmentstörungen, Modifikationen des Trieblebens, Wandlungen in der Sekretion der Fettgewebe bewirken. Ich zweifle nicht, daß Sie von diesen Dingen gehört haben?«

»Natürlich«, sagte ich. »Aber diese Ihre scheußlichen Geschöpfe ...«

»Alles zu seiner Zeit«, sagte er mit einer Handbewegung; »ich fange erst an. Das sind triviale Fälle der Veränderung. Die Chirurgie vermag Besseres als das. Es gibt sowohl ein Aufbauen wie ein Niederreißen und Verändern. Sie haben vielleicht von einer ganz gewöhnlichen Operation gehört, die man bei Fällen durchführt, bei denen die Nase arg entstellt wurde. Man schneidet ein Stück Haut aus der Stirn, klappt es auf die Nase herunter, und es verheilt in der neuen Lage. Dabei handelt es sich um eine Verpflanzung an ein und demselben Tier. Transplantation frisch gewonnenen Materials von einem anderen Tier ist gleichfalls möglich – bei Zähnen, zum Beispiel. Die Verpflanzung von Haut und Knochen erfolgt, um die Heilung zu erleichtern. Der Chirurg legt mitten in die Wunde Hautstückchen, die von einem anderen Tier genommen sind, oder Knochenfragmente von einem frisch getöteten Tier. Hunters Hahnensporn – vielleicht haben Sie davon gehört – wuchs am Nacken eines Stiers an. Denken Sie auch an die Rhinozerosratten der Algierzuaven – Monstra, die man erzeugte, indem man ein Stück vom Schwanz einer gewöhnlichen Ratte auf ihre Schnauze verpflanzte und es dort anheilen ließ.«

»Künstliche Ungeheuer!« sagte ich. »Also wollen Sie mir sagen ...«

»Ja. Diese Geschöpfe, die Sie gesehen haben, sind neu gestaltete und geformte Tiere. Dem – dem Studium der Bildung lebendiger Formen – ist mein Leben gewidmet gewesen. Ich habe jahrelang studiert und gewinne beständig an Wissen. Ich sehe, Sie schauen entsetzt drein, und doch erzähle ich Ihnen nichts Neues. Das alles lag schon vor Jahren im Bereich der Möglichkeiten der praktischen Anatomie, aber niemand hatte die Verwegenheit, daran zu rühren. Ich kann nicht nur die äußere Form eines Tieres verändern. Auch die Physiologie, den Stoffwechsel des Geschöpfes kann man einer dauernden Modifikation unterwerfen; sicherlich sind Ihnen die Impfung und andere Methoden der Inokulation mit lebendem oder totem Stoff vertraut. Ähnlich verhält es sich mit der Transfusion des Blutes, von der ich ausgegangen bin. Das alles sind vertraute Verfahren. Weniger bekannt und wahrscheinlich weit umfassender waren die Operationen jener mittelalterlichen Ärzte, die Zwerge und Krüppel und Schauungeheuer erzeugten; von ihrer Kunst haben sich noch einige Spuren in der Präliminarbehandlung des jungen Seiltänzers oder Schlangenmenschen erhalten. Victor Hugo schildert sie in L'Homme qui rit ... Aber vielleicht wird jetzt klar, was ich meine. Sie beginnen einzusehen, daß es möglich ist, Gewebe von einem Teil eines Tieres auf einen anderen, oder von einem Tier auf ein anderes zu übertragen, seine chemischen Reaktionen und Wachstumsmethoden zu ändern, die Gelenke seiner Gliedmaßen zu modifizieren und es sogar in seiner innersten Struktur zu verwandeln?

Und doch ist dieser außerordentliche Wissenszweig von modernen Forschern nie methodisch und gesondert untersucht worden, bis ich mich seiner annahm! Die meisten Beispiele, die Ihnen einfallen werden, sind gleichsam zufällig demonstriert worden – von Tyrannen, Verbrechern, von Pferde- und Hundezüchtern, von allerlei ungeübten, plumphändigen Menschen, die für ihre eigenen, unmittelbaren Zwecke arbeiteten. Ich war der erste, der diese Frage, in der antiseptischen Chirurgie wohl bewandert und mit wirklich wissenschaftlicher Kenntnis der Gesetze des Wachstums, in Angriff genommen hat.

Und doch sollte man annehmen, daß derartiges schon heimlich betrieben worden sein muß. Wesen wie die Siamesischen Zwillinge ... Und in den Gewölben der Inquisition. Ohne Frage war ihr Hauptziel kunstgerechtes Foltern, aber wenigstens einige der Inquisitoren müssen eine Spur von wissenschaftlichem Forschungsdrang gehabt haben.«

»Aber«, sagte ich. »Diese Dinger – diese Tiere sprechen!«

Er sagte: »Ja«, und ging dazu über, auseinanderzusetzen, daß die Möglichkeiten der Vivisektion nicht bloß auf physische Metamorphose beschränkt sind. Ein Schwein kann erzogen werden. Die geistige Struktur ist weit weniger festgelegt als die körperliche. Die Wissenschaft des Hypnotismus bietet die Möglichkeit, alte Instinkte durch neue Suggestionen zu ersetzen, die auf die ererbten fixen Ideen aufgepfropft werden oder sie verdrängen. Vieles von dem, was wir moralische Erziehung nennen, ist eine solche künstliche Veränderung und Perversion des Instinkts; Kampflust wird in mutige Selbstaufopferung umgebildet, unterdrückte Sinnlichkeit in religiöse Erregung. Und der große Unterschied zwischen Mensch und Affe liegt im Kehlkopf, sagte er, in der Unfähigkeit, fein unterschiedene Klangsymbole zu formen, durch die das Denken unterstützt wird. Darin konnte ich ihm nicht beistimmen, aber Moreau beachtete meinen Einwand überhaupt nicht. Er wiederholte, es sei so, und fuhr im Bericht von seiner Arbeit fort.

Aber ich fragte ihn, warum er die menschliche Gestalt zum Modell genommen habe. In dieser Wahl schien mir damals und scheint mir noch jetzt eine tiefe Bosheit zu liegen.

Er gestand, er habe die Form zufällig gewählt.

»Ich hätte ebensogut darauf hinarbeiten können, Schafe in Lamas und Lamas in Schafe zu verwandeln. Ich vermute, irgend etwas in der menschlichen Gestalt appelliert mächtiger an die künstlerische Veranlagung als es eine tierische Form kann. Aber ich habe mich nicht darauf beschränkt, Menschen zu machen. Ein- oder zweimal ...« Er schwieg vielleicht eine Minute lang. »Diese Jahre! Wie sie hingeglitten sind! Und da habe ich einen Tag verschwendet, um Ihnen das Leben zu retten, und jetzt verschwende ich eine Stunde, um meine Haltung zu erklären!«

»Aber«, sagte ich, »ich verstehe noch immer nicht. Wo bleibt Ihre Rechtfertigung dafür, daß Sie all diese Schmerzen verursachen? Das einzige, was in meinen Augen die Vivisektion entschuldigen könnte, wäre eine Anwendung ...«

»Ganz recht«, sagte er. »Aber Sie sehen, ich bin anderer Meinung. Wir vertreten verschiedene Grundsätze. Sie sind Materialist.«

»Ich bin kein Materialist«, begann ich hitzig.

»In meinen Augen – in meinen Augen. Denn gerade diese Frage des Schmerzes trennt uns. Solange ein sichtbarer oder hörbarer Schmerz Ihnen Übelkeit verursacht, solange Ihre eigenen Schmerzen Sie treiben, solange Schmerz für Sie mit Sünde zusammenhängt, solange, sage ich Ihnen, sind Sie ein Tier, das etwas weniger dunkel fühlt, was jedes andere Tier auch fühlt. Dieser Schmerz ...«

Ich zuckte über solche Sophisterei die Achsel.

»Oh! Aber es ist eine solche Kleinigkeit. Ein Geist, der sich dem, was die Wissenschaft uns zu lehren hat, wahrhaft öffnet, muß einsehen, daß es eine Kleinigkeit ist. Vielleicht kommt außer auf diesem kleinen Planeten, diesem Fleck kosmischen Staubes, den man längst nicht mehr sähe, ehe man den nächsten Stern erreichte – vielleicht, sage ich, kommt dies, was wir Schmerz nennen, sonst nirgends vor. Aber die Gesetze, die wir tastend suchen ... Ah, selbst auf unserer Erde, selbst unter lebenden Wesen, was ist da der Schmerz?«

Er zog, während er sprach, ein kleines Federmesser aus der Tasche, öffnete die kleinere Klinge und rückte seinen Stuhl so, daß ich seinen Schenkel sehen konnte. Dann wählte er bedachtsam eine Stelle, stieß das Messer in sein Bein und zog es wieder heraus.

»Ohne Zweifel haben Sie derlei schon gesehen. Es tut nicht so weh wie ein Nadelstich. Aber was zeigt es? Im Bereich des Muskels ist Schmerzempfindung nicht nötig und nicht vorhanden; sie ist nur wenig nötig in der Haut, und nur hier und dort gibt es auf dem Schenkel schmerzempfindliche Stellen. Der Schmerz ist nichts anderes als unser innerer ärztlicher Ratgeber, um uns zu warnen und anzustacheln. Nicht alles lebendige Fleisch ist schmerzempfindlich, auch nicht alle Nerven sind es, nicht einmal alle Empfindungsnerven. In den Empfindungen des Sehnervs gibt es keine Spur von Schmerz, wirklichem Schmerz. Wenn Sie den Sehnerv verwunden, sehen Sie nur Lichtblitze, genau wie Erkrankung des Gehörnervs nur Summen in den Ohren hervorruft. Pflanzen fühlen keinen Schmerz; die niederen Tiere – es kann sein, daß solche Tiere wie der Seestern und der Krebs keinen Schmerz empfinden. Und dann die Menschen: je intelligenter sie werden, mit um so mehr Intelligenz werden sie für ihr eigenes Wohlbefinden sorgen, und um so weniger werden sie den Stachel nötig haben, der sie vor Gefahr warnen soll. Ich habe noch von keinem nutzlosen Ding gehört, das nicht durch die Evolution früher oder später aus dem Dasein ausgemerzt worden wäre. – Sie etwa? Und der Schmerz wird nutzlos.

Und dann bin ich ein religiöser Mensch, Prendick, wie es jeder vernünftige Mensch sein muß. Vielleicht bilde ich mir ein, mehr von den Wegen des Schöpfers dieser Welt gesehen zu haben als Sie – denn ich habe auf meine Weise mein ganzes Leben lang nach seinen Gesetzen gesucht, während Sie, wie ich höre, Schmetterlinge gesammelt haben. Und ich sage Ihnen, Schmerz und Lust haben mit Himmel und Hölle nichts zu tun. Schmerz und Lust – Bah! Was ist Ihre Theologenekstase anderes als Mahomets Huri im Dunkel? Dieser Wert, den Männer und Frauen auf Schmerz und Lust legen, Prendick, ist das Zeichen des Tiers in ihnen – das Zeichen des Tiers, von dem sie gekommen sind. Schmerz! Schmerz und Lust – sie gibt es nur, solange wir uns im Staube winden ...

Sie sehen, ich bin mit diesen Forschungen genau den Weg gegangen, den sie mich führten. Ich stellte eine Frage, ersann eine Methode, eine Antwort zu bekommen und stieß auf – eine neue Frage. War dies oder das möglich? Sie können sich vorstellen, was das für einen Forscher heißt, was für eine intellektuelle Leidenschaft ihn überkommt. Sie können sich jedoch nicht vorstellen, was für einen seltsamen, farblosen Genuß diese geistigen Wünsche schaffen. Das Wesen da vor Ihnen ist kein Tier mehr, kein Mitgeschöpf, sondern ein Problem. Mitleid – alles was ich davon weiß, ist, daß ich vor Jahren daran litt. Ich wollte – das war das einzige, was ich wollte – die äußerste Grenze der Gestaltungsmöglichkeit in einer lebenden Form finden.«

»Aber«, sagte ich, »die Sache ist ein Greuel –« »Bis auf diesen Tag hab' ich mich um die Ethik der Angelegenheit noch nie bekümmert. Das Studium der Natur macht den Menschen schließlich so gewissenlos, wie die Natur selbst ist. Ich bin vorwärts gegangen, ohne mich um irgend etwas anders zu kümmern als um die Frage, die ich verfolgte, und das Material ist ... in die Höhlen dort gewandert ... Es ist fast elf Jahre, seit wir hierherkamen, ich und Montgomery und sechs Kanaken. Ich erinnere mich an die grüne Stille der Insel und des Ozeans um uns, als wäre es gestern gewesen. Die Insel schien auf mich zu warten.

Die Vorräte wurden gelandet, und das Haus wurde gebaut. Die Kanaken errichteten bei der Schlucht ein paar Hütten. Ich machte mich hier mit dem, was ich mitgebracht hatte, an die Arbeit. Erst passierten ein paar unangenehme Dinge. Ich begann mit einem Schaf und tötete es nach anderthalb Tagen, weil mir das Skalpell ausglitt; ich nahm ein anderes Schaf und machte daraus ein Wesen voll von Schmerz und Furcht und ließ es dann, zum Heilen verbunden, liegen. Es erschien mir ganz menschlich, als ich fertig war, aber später war ich unzufrieden damit; es erinnerte sich an mich und hatte unvorstellbare Angst und nur einen Schafsverstand. Je mehr ich es ansah, um so plumper schien es mir, bis ich das Ungeheuer schließlich aus seinem Elend erlöste. Diese Tiere ohne Mut, diese angstgeplagten, schmerzgetriebenen Wesen ohne einen Funken kämpferischer Energie, mit der sie der Qual entgegentreten können – die taugen nicht zur Umwandlung in Menschen.

Dann nahm ich einen Gorilla, und daraus machte ich, indem ich mit unendlicher Sorgfalt arbeitete und Schwierigkeit nach Schwierigkeit überwand, meinen ersten Menschen. Die ganze Woche lang formte ich Tag und Nacht an ihm. Hauptsächlich das Gehirn mußte umgebildet, viel mußte hinzugefügt, viel geändert werden. Ich fand, der Gorilla sei ein schönes Beispiel des Negertypus, als ich fertig war und er bandagiert, gebunden und reglos vor mir lag. Erst als es sicher war, daß er am Leben bleiben würde, verließ ich ihn und fand Montgomery so ziemlich in der gleichen Verfassung vor, in der Sie jetzt sind. Er hatte ein paar von den Schreien gehört, als das Tier menschlich wurde, Schreie wie die, die Sie so verstörten. Ich zog ihn anfangs nicht ganz ins Vertrauen. Und auch die Kanaken hatten etwas gemerkt. Sie waren bei meinem Anblick vor Angst außer sich. Montgomery gewann ich für mich – irgendwie, aber ich und er, wir hatten schwer zu tun, die Kanaken am Davonlaufen zu hindern. Schließlich taten sie's doch, und so verloren wir die Jacht. Ich habe viele Tage damit zugebracht, den Affenmenschen zu unterrichten – im ganzen drei oder vier Monate lang. Ich lehrte ihn die Rudimente des Englischen, vermittelte ihm einen Begriff vom Zählen, lehrte ihn sogar das Alphabet lesen. Aber da war er langsam – freilich, Idioten, die ich's ebenfalls gelehrt habe, waren mitunter noch langsamer. Er war geistig ein unbeschriebenes Blatt, hatte keine Erinnerung mehr von dem, was er gewesen war. Als seine Wunden geheilt waren und er nur noch etwas steif war, sich aber bereits ein wenig unterhalten konnte, brachte ich ihn da hinten hin und stellte ihn den Kanaken als interessantes Strandgut vor.

Sie hatten erst furchtbare Angst vor ihm – was mich ziemlich beleidigte, denn ich bildete mir etwas auf ihn ein –, aber sein Wesen schien so mild, und er war so sanftmütig, daß sie ihn nach einiger Zeit aufnahmen und seine Erziehung fortsetzten. Er lernte schnell, ahmte seine Lehrmeister nach und paßte sich an. Er baute sich eine Hütte, die mir besser schien als die Schuppen der Kanaken. Unter den Jungen war einer so etwas wie ein Missionar, und der lehrte das Geschöpf lesen und gab ihm einige rudimentäre Ideen von Moral, aber es scheint, die Sitten des Viehs waren nicht ganz so, wie man wünschen sollte.

Ich ruhte einige Tage von der Arbeit aus und hatte Lust, einen Bericht über die ganze Sache zu schreiben, um die englische Physiologie aufzuwecken. Dann traf ich das Geschöpf hoch in einem Baum sitzend, wie es auf zwei von den Kanaken einschnatterte, die ihn geärgert hatten. Ich drohte ihm, sagte ihm, ein solches Vorgehen sei nicht menschenwürdig, weckte sein Schamgefühl und entschloß mich, Besseres zu machen, ehe ich meine Arbeit in England vorstellte. Ich habe Besseres gemacht; aber irgendwie verkümmern die Geschöpfe wieder, das zähe Tierfleisch ist stärker, wächst nach ... Ich gedenke immer noch, Besseres zu machen. Dieser Puma ...

Das ist also die Geschichte. All die Kanakenjungen sind jetzt tot. Einer fiel vom Langboot über Bord und einer starb an einer Wunde an der Ferse, die er sich irgendwie mit Pflanzensaft infiziert hatte. Drei gingen mit der Jacht durch und ertranken, wie ich vermute und hoffe. Der letzte ... wurde getötet. Nun – ich habe sie ersetzt. Montgomery trieb's erst ziemlich wie Sie, dann ...«

»Was wurde aus dem letzten?« fragte ich scharf, »dem Kanaken, der getötet wurde?«

»Die Sache ist die, nachdem ich eine Anzahl menschlicher Geschöpfe gemacht hatte, stellte ich ein Wesen her ...« Er zögerte.

»Ja?« sagte ich.

»Es wurde getötet.«

»Ich verstehe nicht«, sagte ich; »wollen Sie etwa sagen ...«

»Ja – es tötete den Kanaken. Es tötete verschiedenes andere, was es zu fassen bekam. Wir machten ein paar Tage Jagd darauf. Es kam durch einen Zufall frei – ich hatte nie daran gedacht, es fortzulassen. Es war nicht fertig. Es war nur ein Experiment: ein gliederloses Geschöpf mit einem furchtbaren Gesicht, das sich nach Schlangenart am Boden hinwand. Es war ungeheuer stark und rasend vor Schmerz, und es bewegte sich schaukelnd wie ein Tümmler. Es lauerte ein paar Tage im Wald und vernichtete alles, was ihm begegnete, bis wir es jagten. Und dann verkroch es sich im nördlichen Teil der Insel und wir teilten uns, um es einzuschließen. Montgomery bestand darauf, mit mir zu kommen. Der Kanake hatte eine Flinte, und als seine Leiche gefunden wurde, war einer der Läufe zu einem S gebogen und beinahe durchgebissen ... Montgomery erschoß das Untier ... Seither habe ich mich an das Ideal des Menschen gehalten – abgesehen von ein paar Kleinigkeiten.«

Er verstummte. Ich saß schweigend da und sah sein Gesicht an.

»So habe ich im ganzen zwanzig Jahre lang – wenn ich die neun Jahre in England zähle – gearbeitet, und dennoch ist da etwas, was mich unzufrieden läßt, was mich zu weiteren Versuchen herausfordert. Bisweilen erhebe ich mich über mein Niveau, bisweilen sinke ich darunter, aber nie erreiche ich das, wovon ich träume. Die menschliche Gestalt kann ich jetzt beinahe mit Leichtigkeit formen, so daß sie geschmeidig und anmutig ist oder derb und stark; aber oft hab' ich Mühe mit den Händen und Klauen – heikle Dinge, die ich nicht zu frei zu formen wage. Aber meine Hauptschwierigkeit liegt in der subtilen Veredlung und Umbildung des Gehirns. Die Intelligenz ist oft merkwürdig niedrig, und sie weist unerklärliche, unerwartete Lücken auf. Am schlimmsten ergeht es mir jedoch mit dem Sitz der Gefühle. Ich weiß nicht, wo er liegt, ich komme nicht daran heran. Wünsche, Sehnsuchtsäußerungen, Instinkte, die der Menschlichkeit Abbruch tun, ein seltsames verborgenes Reservoir, das plötzlich ausbricht und das ganze Wesen des Geschöpfes mit Wut, Haß oder Furcht überschwemmt. Diese meine Geschöpfe erschienen Ihnen seltsam und unheimlich, sowie Sie anfingen, sie zu beobachten; aber mir erscheinen sie, wenn ich sie gerade gemacht habe, unbestreitbar menschlich. Erst wenn ich sie später beobachte, beginne ich zu zweifeln. Erst stiehlt sich der eine, dann der andere tierische Zug wieder an die Oberfläche und springt mir ins Auge ... Aber ich werde noch siegen. Jedesmal, wenn ich ein lebendes Geschöpf ins Bad des brennenden Schmerzes tauche, sage ich mir: Diesmal will ich das Tier ganz ausbrennen, diesmal will ich ein vernünftiges Wesen schaffen. Was sind schließlich zehn Jahre? Am Menschen ist hunderttausend Jahre lang geschaffen worden.«

Er dachte nach. »Aber ich komme der Sache näher. Dieser mein Puma ...«

Nach einem Schweigen: »Und sie entwickeln sich wieder rückwärts. Sobald ich meine Geschöpfe sich selbst überlasse, beginnt das Tier sich wieder geltend zu machen ...«

Ein zweites langes Schweigen.

»Und dann bringen Sie die Wesen, die Sie machen, in diese Höhlen?« fragte ich.

»Sie gehen hin. Ich werfe sie hinaus, sobald ich das Tier in ihnen zu fühlen beginne, und dann wandern sie gleich dorthin. Sie fürchten alle dies Haus und mich. Was Sie da drüben gesehen haben, ist eine Parodie der Menschheit. Montgomery weiß darüber Bescheid, denn er kümmert sich darum. Er hat einen oder zwei von den Geschöpfen zu unserem Dienst abgerichtet. Er schämt sich, aber er hat ein paar von diesen Bestien beinahe lieb. Das ist seine Sache, nicht meine. Wenn ich sie sehe, quält mich nur das Gefühl des Mißerfolgs. Ich interessiere mich nicht für sie. Ich denke mir, sie folgen der Richtung, die der Kanaken-Missionar ihnen angegeben hat, und ihr Leben gleicht der Karikatur eines vernünftigen Lebens – die armen Bestien! Sie haben etwas, das sie das Gesetz nennen. Sie singen Hymnen. Sie bauen ihre Hütten, sammeln Früchte und heiraten sogar. Aber ich durchschaue das alles, sehe ihnen bis in die Seelen, und sehe nichts als die Seelen von Tieren, Tieren, die untergehen – und die Lust, zu leben und zufrieden zu sein ... Und doch sind sie merkwürdig. Kompliziert, wie alles Lebendige. Sie haben so etwas wie Ehrgeiz, der teils aus Eitelkeit, teils aus übermäßiger Geschlechtserregung, teils aus überschüssiger Neugier entstanden sein dürfte. Mir ist es nur Hohn ... Ich habe einige Hoffnung mit diesem Puma; ich habe an seinem Kopf und Gehirn schwer gearbeitet ...«

»Und jetzt«, sagte er nach einem langen Schweigen, währenddessen jeder seinen eigenen Gedanken folgte, »was meinen Sie? Haben Sie immer noch Angst vor mir?«

Ich schaute ihn an und sah nur einen Mann mit weißem Gesicht und weißem Haar und ruhigen Augen. Abgesehen von seiner Heiterkeit, beinahe einem Anflug von Schönheit, der von der gesetzten Ruhe und von seinem stattlichen Körperbau herrührte, sah er aus wie hundert andere behagliche alte Herren. Dann schauderte mir. Als Antwort auf seine zweite Frage hielt ich ihm die beiden Revolver hin.

»Behalten Sie sie«, sagte er und gähnte. Er stand auf, sah mich einen Moment an und lächelte. »Sie haben zwei ereignisreiche Tage gehabt«, sagte er. »Ich würde etwas Schlaf anraten. Freut mich, daß alles klar ist. Gute Nacht.«

Er sann einen Moment nach, dann ging er zur inneren Tür hinaus. Ich drehte sofort den Schlüssel in der äußeren.

Ich setzte mich noch einmal und blieb eine Zeitlang in flauer Stimmung sitzen, so müde, daß ich einfach nicht weiterdenken konnte. Das schwarze Fenster starrte mich wie ein Auge an. Zuletzt raffte ich mich auf, blies die Lampe aus und stieg in die Hängematte. Ich schlief sehr bald ein.

 

15. Über das Tiervolk

 

Ich wachte früh auf. Moreaus Erklärung stand vom Moment meines Erwachens an klar und deutlich vor meinem Geist. Ich stieg aus der Hängematte und ging zur Tür, um mich zu vergewissern, daß der Schlüssel umgedreht war. Dann untersuchte ich das Fenstergitter und fand es fest eingefügt. Daß diese menschenartigen Geschöpfe in Wirklichkeit nur tierische Ungeheuer, bloße groteske Parodien auf Menschen waren, erfüllte mich mit einer vagen Ungewißheit über ihre Möglichkeiten, die viel schlimmer war als eindeutige Furcht. Es klopfte an der Tür, und ich hörte M'lings gedehnte, fast klebrige Art zu sprechen. Ich steckte einen der Revolver in die Tasche, hielt die Hand darauf und öffnete ihm.

»Guten Morgen, Häer«, sagte er, während er außer dem gewohnten Gemüsefrühstück noch ein schlecht gekochtes Kaninchen hereinbrachte. Montgomery folgte ihm. Als er sich umsah und die Haltung meines Arms erblickte, verzog er den Mund zu einem schiefen Lächeln.

Der Puma wurde an diesem Tag nicht »behandelt«, er sollte heilen; aber Moreau, der sehr eigenbrötlerische Gewohnheiten hatte, kam nicht zu uns. Ich sprach mit Montgomery, um klarere Vorstellungen über die Art zu bekommen, wie das Tiervolk lebte. Besonders war ich begierig, zu erfahren, wie Moreau und Montgomery die unmenschlichen Ungeheuer davon abhielten, über sie herzufallen, und auch davon, sich gegenseitig zu zerreißen.

Er erklärte mir, seine und Moreaus relative Sicherheit beruhte auf der Begrenztheit des geistigen Gesichtskreises dieser Ungeheuer. Trotz ihrer verstärkten Intelligenz und trotz des allmählichen Wiedererwachens ihrer tierischen Instinkte, hatten sie gewisse fixe Ideen, die Moreau ihrem Geist eingepflanzt hatte, und die ihre Vorstellungen absolut einschränkten. Sie wurden regelrecht hypnotisiert, und ihnen wurde gesagt, gewisse Dinge seien unmöglich, und gewisse Dinge dürften nicht getan werden, und diese Verbote waren so in ihre geistige Struktur verwoben, daß sie praktisch jenseits von jeder Möglichkeit des Ungehorsams oder Streites standen. In gewissen Dingen jedoch, in denen der alte Instinkt mit Moreaus Befehlen kämpfte, waren sie weniger stabil. Eine Reihe von Vorschriften, die »das Gesetz« hieß – ich hatte sie ja bereits gehört – rang in ihren Geistern mit den tiefeingewurzelten, stets rebellischen Forderungen ihrer tierischen Natur. Dieses Gesetz, erfuhr ich, wiederholten und – brachen sie immer. Montgomery und Moreau waren besonders darauf bedacht, sie davon abzuhalten, Blut zu kosten und auf den Geschmack zu kommen. Dies, so fürchteten sie, würde verheerende Folgen haben.

Montgomery sagte mir, das Gesetz erfahre, besonders unter den katzenartigen Tiermenschen, mit Einbruch der Nacht eine merkwürdige Schwächung; dann sei das Tier am stärksten; mit der Dämmerung entstünde ein Abenteuergeist in ihnen; sie wagten Dinge, von denen sie am Tage nie zu träumen schienen. Dies erklärte auch, wieso der Leopardenmensch mir am Abend meiner Ankunft nachgeschlichen war. Aber während dieser ersten Tage meines Aufenthalts brachen die Tiermenschen das Gesetz nur verstohlen; am Tage achteten sie durchaus die mannigfaltigen Verbote.

Und hier sollte ich vielleicht ein paar allgemeine Tatsachen über die Insel und das Tiervolk einfügen. Die Insel hatte unregelmäßige Umrisse, lag niedrig über dem weiten Meer und war insgesamt etwa sieben oder acht Quadratmeilen groß. Diese Schilderung trifft in jeder Hinsicht auf Noble's Isle zu. – C. E. P. Sie war vulkanischen Ursprungs und auf drei Seiten von Korallenriffen umsäumt. Einige Fumarolen im Norden und eine heiße Quelle waren die einzigen Spuren der Kräfte, die sie vor langer Zeit geschaffen hatten. Hin und wieder war das leichte Zittern eines Erdbebens zu merken, und zuweilen wurde die Rauchsäule durch Dampfstrahlen in drehende Bewegung versetzt. Aber das war alles. Die Bevölkerung der Insel, sagte mir Montgomery, zählte jetzt mehr als sechzig dieser seltsamen Geschöpfe von Moreaus Kunst, die kleineren Monstrositäten, die im Unterholz lebten und nicht von menschlicher Gestalt waren, nicht mitgerechnet. Im ganzen hatte er etwa hundertundzwanzig gemacht, aber viele waren gestorben; und andere waren wie das sich windende, fußlose Wesen, von dem Moreau mir erzählt hatte, gewaltsam umgekommen. Als Antwort auf meine Frage sagte Montgomery, die Tiermenschen hätten tatsächlich Nachkommenschaft, doch sterbe sie meist. Es gab kein Beispiel für die Vererbung der erworbenen menschlichen Charakteristika. Wenn sie am Leben blieben, holte Moreau sie und prägte ihnen menschliche Form auf. Die weiblichen Wesen waren weniger zahlreich als die männlichen und hatten, trotz der vom Gesetz eingeschärften Monogamie, viel unter heimlicher Verfolgung zu leiden.

Es wäre mir unmöglich, diese Tiermenschen im einzelnen zu beschreiben – mein Auge ist auf Einzelheiten nicht trainiert – und unglücklicherweise kann ich nicht zeichnen. Am auffallendsten war vielleicht das Mißverhältnis zwischen den Beinen dieser Geschöpfe und der Länge ihres Rumpfes; und doch – so relativ sind unsere Begriffe von Schönheit – gewöhnte mein Auge sich an ihre Formen, und schließlich stimmte ich ihrer Überzeugung bei, daß meine eigenen langen Schenkel plump seien. Ein weiterer Punkt war die Neigung des Kopfes und die plumpe und unmenschliche Krümmung der Wirbelsäule. Selbst dem Affenmenschen fehlte jene Innenkurve des Rückens, die die menschliche Gestalt so anmutig macht. Die meisten hatten krumme Schultern, und ihre kurzen, schwächlichen Vorderarme hingen an der Seite herab. Nur wenige waren auffallend behaart – wenigstens bis zum Schluß meines Aufenthalts auf der Insel.

Bemerkenswert unförmig waren ihre Gesichter, die fast alle vorstehende Backenknochen hatten, um die Ohren herum mißgestaltet waren und große und vorragende Nasen zeigten; das Haar war sehr pelzig oder sehr borstig, und die Augen waren oft seltsam gefärbt oder seltsam stechend. Keiner konnte lachen, obgleich der Affenmensch ein schnatterndes Kichern hören ließ. Außer diesen allgemeinen Zeichen hatten ihre Köpfe wenig gemeinsam; jeder bewahrte die Art seiner besonderen Spezies; das Menschliche verzerrte, aber verbarg nicht den Leoparden, Ochsen, die Sau oder das andere Tier oder die Tiere, aus denen das Geschöpf gebildet worden war. Auch die Stimmen waren sehr verschieden. Die Hände waren stets schlecht geformt; und obgleich mich einige durch ihre unerwartete Ähnlichkeit mit Menschenhänden überraschten, hatten fast alle zu wenige oder zu viele Finger, waren an den Nägeln plump und ohne Tastempfindlichkeit.

Die beiden furchtbarsten Tiermenschen waren mein Leopardenmensch und ein Geschöpf, das aus einer Hyäne und einem Schwein gemacht war. Größer als diese waren die drei Stiermenschen, die das Boot ruderten. Dann kamen der Silberhaarmensch, der zugleich Sprecher des Gesetzes war, M'ling und ein satyrartiges Geschöpf aus Affe und Ziege. Ferner gab es noch drei Schweinemänner und eine Schweinefrau, ein Rhinozerosstutengeschöpf und mehrere andere Weibchen, deren Herkunft ich nicht feststellen konnte. Mehrere waren Wolfwesen, eines ein Bär-Bulle, einer ein Bernhardinerhundmensch. Den Affenmenschen habe ich schon geschildert, und dann war da eine besonders abscheuliche (und übelriechende) Frau, die aus Füchsin und Bärin gemacht war, und die ich von Anfang an haßte. Sie war angeblich eine leidenschaftliche Priesterin des Gesetzes. Zu den kleineren Geschöpfen zählten gewisse fleckige Junge und mein kleines Faultierwesen. Aber genug davon!

Erst empfand ich entsetzliches Grauen vor diesen Tieren; ich fühlte allzu deutlich, daß sie noch Tiere waren; aber unmerklich gewöhnte ich mich an sie, und obendrein rührte mich Montgomerys Haltung ihnen gegenüber. Er war so lange mit ihnen zusammengewesen, daß er sie nun fast als normale menschliche Wesen ansah – seine Londoner Tage erschienen ihm nur noch als glorreiche, aber unwiederbringliche Vergangenheit. Nur einmal im Jahre oder so fuhr er nach Arica, um mit Moreaus Agenten, einem Tierhändler, zu verhandeln. Er traf in dieser Ansiedlung spanischer Mischlinge wohl kaum auf den schönsten Typus von Menschen. Die Leute auf dem Schiff, sagte er mir, wären ihm zuerst genauso fremdartig erschienen wie mir die Tiermenschen – unnatürlich langbeinig, flachgesichtig, mit fliehenden Stirnen, argwöhnisch, gefährlich und kaltherzig. Kurz, er mochte keine Menschen. Mir gegenüber, meinte er, sei ihm das Herz warm geworden, weil er mir das Leben gerettet hatte.

Es kam mir vor, als hege er eine heimliche Zärtlichkeit für einige dieser verwandelten Tiere, eine perverse Sympathie, die er aber zunächst vor mir zu verschleiern versuchte.

Der Mann mit dem schwarzen Gesicht, sein Diener M'ling, der erste vom Tiervolk, der mir begegnet war, lebte nicht bei den anderen, sondern in einer kleinen Hundehütte an der Hinterseite der Ummauerung. Das Geschöpf war kaum so intelligent wie der Affenmensch, aber viel folgsamer, und es sah vom ganzen Tiervolk am menschlichsten aus. Montgomery hatte ihn abgerichtet, Nahrung zuzubereiten, und überhaupt alle kleinen häuslichen Dienste zu verrichten, die nötig waren. Er war ein kompliziertes Ergebnis von Moreaus furchtbarer Geschicklichkeit – ein Bär, der mit Hund und Ochs vermischt war, und eines seiner am sorgfältigsten hergestellten Geschöpfe. Er behandelte Montgomery mit seltsamer Zärtlichkeit und Hingabe; bisweilen beachtete Montgomery das, klopfte ihm auf die Schulter, rief ihn mit halb spöttischen, halb scherzhaften Namen, so daß er vor Vergnügen sprang; bisweilen mißhandelte er ihn, besonders, wenn er sich an den Whisky herangemacht hatte, stieß ihn, schlug ihn, bewarf ihn mit Steinen oder brennendem Zunder. Aber, ob er ihn gut oder schlecht behandelte, M'ling liebte nichts so sehr, wie seinem Herrn nahe zu sein.

Ich sage, ich gewöhnte mich an das Tiervolk, und tausend Dinge, die mir unnatürlich und abstoßend erschienen waren, wurden mir natürlich und alltäglich. Ich glaube, alles im Leben erhält seine Farbe von der Durchschnittsfärbung unserer Umgebung: Montgomery und Moreau waren zu eigenartig und individuell, als daß ich meine allgemeinen Eindrücke von der Menschheit scharf umrissen bewahren hätte können. Ich sah wohl eines der plumpen Stiergeschöpfe, die im Boot gearbeitet hatten, schwerfällig durch das Gebüsch gehen, und ertappte mich, daß ich mich fragte und mich zu entsinnen bemühte, worin es sich von einem wirklich menschlichen Bauerntölpel unterschied, der von seiner stumpfsinnigen Arbeit nach Hause trabte; oder ich sah das verschlagene wölfische Gesicht der Füchsin-Bärin-Frau, das in seiner Listigkeit seltsam menschlich war, und meinte gar, ich hätte es schon in irgendeiner Stadtgasse gesehen.

Und doch erkannte ich hin und wieder unzweifelhaft und unbestreitbar das Tier in diesen Geschöpfen. Ein häßlicher Mann, ein buckliger, menschlicher Wilder, der im Eingang einer der Höhlen hockte, streckte die Arme aus und gähnte und zeigte mit erschreckender Plötzlichkeit scherenrandige Schneidezähne und säbelartige Eckzähne, scharf und glänzend wie Messer. Oder wenn ich auf einem schmalen Weg mit vorübergehender Verwegenheit einer geschmeidigen, weißumwickelten Frauengestalt ins Auge blickte, sah ich plötzlich (mit einem Anfall von Widerwillen), daß sie eine schlitzartige Pupille hatte, oder mir fiel, wenn ich niederblickte, der krumme Fingernagel auf, mit dem sie ihre Hülle zusammenhielt. Es ist übrigens merkwürdig, und ich kann es absolut nicht erklären, daß diese unheimlichen Geschöpfe, die Weibchen, meine ich, in den ersten Tagen meines Aufenthalts ihre abstoßende Plumpheit instinktiv fühlten und infolgedessen eine mehr als menschliche Rücksicht auf den Anstand und das Dekorum entfalteten.

 

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© Thomas Lehmann

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