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SPRUCH DES JAHRES

Die Zensur ist das lebendige Geständnis der Großen, daß sie nur verdummte Sklaven treten, aber keine freien Völker regieren können.

Johann Nepomuk Nestroy

SPRUCH DER WOCHE

Duldet ein Volk die Untreue von Richtern und Ärzten, so ist es dekadent und steht vor der Auflösung.

 

Plato

 

LUSTIGES

Quelle: Aus dem umgestülpten Papierkorb der Weltpresse (1977)

Rubrik: Das süße Leben

Dallas, Texas - Vor einem Gericht gab Jack Stinney an, er habe seine Frau nur des Spaßes wegen verprügelt. Auf die erstaunte Frage des Staatsanwaltes ergänzte Stinney dann seine Aussage: "Allerdings verprügelte ich meine Frau nur wegen des Spaßes, den sie mit drei anderen Männern gehabt hatte."

Die Lehmänner
Die Lehmänner

Wanderungen durch Thüringen

Ludwig Bechstein

 

Motto

Suhl

Oberhof

Der Schneekopf

Ilmenau

Erfurt

 

 

Thüringen ist und bleibt nach den Rheingegenden mir der liebste Strich in Deutschland. Es ist so etwas Heimisches, Befreundetes in dem Boden; wie ein alter herzlicher Jugendfreund heisst er den Wandrer willkommen. Wenn man durch die freudenleere leipziger Fläche sich müde und matt hindurchgearbeitet hat, dann empfängt den Pilger das freundliche Land mit seinen tausendfach wechselnden Reizen. Die Natur entfaltet sich mit jedem Schritte immer reicher, kühner, üppiger. Ich sagte Dir schon, die Bäume bekämen ein ganz andres Grün, so wie man Thüringens Boden betritt. Herrliche Berge krönen das Land mit unverwüstlichen Wäldern; romantische Gründe laden zu fröhlichem Lebensgenuss; kühne gigantische Felsen
predigen mit ewiger Begeisterung die Allmacht der Natur und enthüllen auf kolossalen
Blättern die urälteste Geschichte der Erde und das tiefe Wunder ihrer ewigen Metamorphose.


Einfältig, treu und bieder, wie seine Natur, ist das Volk; in den Thälern des herrlichen
thüringer Waldes wohnt noch der alte deutsche Kerngeist, Gastlichkeit, unverdorbener Sinn, heilige Treue. Wenn draussen auf dem platten Lande der Bauer nahe an der Dumpfheit des Thieres lebt, so tönet hier fast in jeder Hütte Musik. Noch wandeln hier im heiligen Schatten majestätischer Wälder die Geister der alten deutschen Romanze; noch wohnen die süssen einfältigen Weisen aus guter alter Väterzeit lebendig auf den Lippen des Volks, und in den Gesellschaften der Bauern wird noch manch kindlich herzlich Lied gehört, das eines weitern Kreises würdig wäre. Noch herrscht hier das wunderbare Reich der Geister und äussert seinen geheimen Einfluss auf die Gemüther der Menschen. Wo Berge sind, ist Gott; auf dem platten Lande hauset der Teufel.


Ueber dem ganzen Lande schwebt der Geist der Vorzeit annoch mit hörbarem Flügelschlag und mit prophetischen Stimmen; das Werk der Gewaltigen ist nicht dahin, in himmelanstrebende Bäume und Felsen ist es aufgegangen, aus den schauervollen Ruinen redet noch Heldenkraft und Ritterliebe in vernehmlichen Tönen. Manche Quadratmeile thüringer Boden ist mehr werth, ist denkwürdiger, als die ganze Mark Brandenburg sammt Pommerland. –


Friedrich Gottlob Wetzel.

 

 

Suhl

 

Der nächste Morgen hob heiter lächelnd sein rosiges Antlitz über die grünen Berge, und hauchte balsamische Frische über Thäler und Tiefen. Die Höhen schwammen im bläulichen Opferduft, und die Blumen der Waldwiesen standen im Diamantenschmuck ihrer Kronen wie reizende junge Königinnen. Die zahllosen hochgezogenen Rosenbäume an den Häusern Suhls standen voll und überall prangender Blumen, und ihr Arom füllte so die Strassen, dass der Wanderer sich in eine Stadt des Orients versetzt wähnen konnte; dazu blickte in der Thüringer-Waldstadt fast aus oder hinter jedem Fenster eine Schaar fremdländischer Gewächse überraschend hervor, dort blühende Oleander-und Granatbäume, dort bräutliche Myrthen mit  Silberblüthensternen überstreut, dort Camellien und Rhododendren. Hier reihten
sich die monströsen Formen seltner Cacteen, und das rosafarbenblüthige Epiphyllum suchte durch Blüthenfülle die Pracht zu überbieten, mit welcher die einsamere Feuerpurpurblume des Cereus speciosus ihre flammende Blüthenherrlichkeit ausstrahlte. Hunderte von Vögeln schmetterten mit leisen und lauten Stimmen ihren Morgengesang, und eine spätsingende Nachtigall ergoss in melodischen Tönen vielleicht ihre Sehnsucht nach Liebe und Freiheit. Von der grünen Wand des Dombergs klang der Morgengruss fröhlichfreier Waldsänger nachbarlich in die Stadt. Das kleine Häuschen droben auf dem kolossalen Porphyrfels des Ottiliensteins glühte im Frühstrabl wie eine Alpenrose und blickte treulich herab auf den schönen regelmässigen Marktplatz. Dort hinauf wurde der erste Ausflug unternommen. Am
steilen Bergpfad fand der naturkundige Lenz mehr als ein Fragment des Gesteins, aus dem der Domberg besteht, erst granitischen Syenit und Stücke des fleischrothen Feldspaths, von dem ein Gang den ersten durchstreicht, dann specksteinähnlichen Porphyr, mit bisweilen eingesprengtem Quarz und Braunsteindendriten. – Aufathmend standen die Freunde auf der Plattform des Ottiliensteins, die früher eine Kapelle trug, und überblickten erst schweigend die bezaubernde Landschaft, ehe Freude und Staunen über deren hohen Reiz Worte fand. Die Morgensonne drückte den bläulichen Duft der Frühe in das schöne Gebirgsthal und auf die Stadt, die weithin durch dasselbe die langen Arme ihrer Häuserreihen erstreckte, und mit ihnen, dicht zu Füssen der Schauenden hingebreitet, den riesigen Domberg umfängt, wie ein
Kind das Knie des Vaters.

 

»Wahrhaftig eine so grosse Stadt hätte ich auf dem Walde nicht zu erblicken geglaubt!« rief Wagner entzückt aus, der gern mit gewohnter Fertigkeit das weite Halbrund in sein Skizzenbuch eingetragen, wenn diess sich in kurzer Frist hätte thun lassen, und Lenz äusserte, indem er aufmerksam ein vom Fels gebrochenes Farrnkraut betrachtete: »So malerischreizend Suhl hier gelegen ist, so mannichfaltig interessant scheint mir für den Mineralogen wie für den Botaniker seine Umgebung; alles kündet hier die Gebirgsflora an, und ich habe im Heraufsteigen schon vier bis fünf der seltneren Cryptogamen bemerkt.«


»Dass Suhl eine ausgezeichnete Flora hat, will ich meinen;« stimmte Otto bei: »auch in geognostischer Beziehung bietet seine Umgegend eine grosse Mannichfaltigkeit dar. Früher selbst mit Vorliebe Botaniker, habe ich diese Gegend oft durchstreift und aus ihren Schätzen mein Herbarium bereichert; es gewährt eine der reinsten Freuden, so harmlos hinzuschweifen durch die blühende Herrlichkeit der Natur, und immer Neues, vorher nicht Gekanntes zu finden und zu entdecken. Wer mit rechtem Sinn und Ernst Botaniker ist, in dessen Innern bildet sich ein stillfrommes Naturpriesterthum aus, das Herz und Gemüth läutert und heiligt, und noch in späten Jahren blickt man, wie in ein rosiges Tempe, in die Tage zurück, in denen man mit Jünglingsfeuereifer dem reinen Dienst der Flora huldigte und opferte.«

 

Die Freunde, nachdem sie ihre Blicke an der wahrhaft überraschend schönen Aussicht auf die Stadt, die mit nahe an tausend Häusern munter vom Flüsschen Lauter durchrollt, eines Theils concentrirt den Markt umgibt, andern Theils in drei bis vier Strassenzeilen nach Westen hin sich ausstreckt, dann wieder ähnliche Strahlen in noch längerer Ausdehnung ostwärts sendet, dort auf hohen Mauerterrassen freundliche Häuser und schwebende Gärten zeigt, und endlich mit ihren bescheidnen Vorstädten sich in grünende Thalengen verliert – und an dem Blick auf die frischen Wiesen, die zum Theil inmitten Suhls, von Häusern eingegrenzt liegen, auf die
spiegelnden Teiche, die an den Höhen wogenden Saatfelder und die dunkelgrün hinter ihnen aufragenden Waldberge gelabt und ergötzt hatten, setzten sich auf die Bank vor dem Pavillon, welcher den Fels Ottiliensteins schmückt. Otto nahm, – nachdem er eine heimlich mit heraufgebrachte Flasche Rebensaftes, von der Gastlichkeit der Benshäuser Freunde in den Wagen practicirt, entkorkt, den Reisebecher gefüllt und dem göttlich schönen Sommermorgen eine Libation gebracht, erzählend das Wort: »Suhl, meine Lieben, ist die bedeutendste Stadt des Preussischen Henneberg, ausserordentlich gewerblich betriebsam, ein lebensthätiger Phönix, der mehr als einmal schon aus Schutt und Asche zu stets verjüngtem Flor erstand. Der
Bergbau, schon im vierzehnten Jahrhundert hier betrieben, legte den Grund zu der
Eisenfabrikation, die Suhl längst, wie jetzt noch, Ruf und Ruhm verschaffte. Im
dreissigjährigen Krieg wütheten Isolani's Kroaten hier vandalisch und äscherten die Stadt ein; in der Mitte des vorigen Jahrhunderts zerstörte ein furchtbarer Brand sie ganz; dennoch blieb Suhl, wie man sie mit Recht nannte, die Rüstkammer Deutschlands, man hätte einst sagen können: Europa's. Die erste Gewehrfabrik entstand am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, nachdem schon lange vorher die hier ansässigen Panzerer die fränkische Ritterschaft mit Harnischen und Gewaffen versorgt hatten. Lange Zeit war Suhl Deutschlands einzige Waffenfabrik. Stephan Reiz lieferte dem Polenkönige Stephan Bathori dessen ganzen Bedarf zum Krieg gegen Russland; Preussen, Litthauen und Liefland bezogen Gewehre aus Suhl; vom Kaiser Rudolph II. kamen Abgeordnete, die auf viele tausend Gewehre Bestellung machten; Spanien und Frankreich, die Republik Venedig und die Schweiz, das polnische Zeughaus zu Krakau und Dänemark bezogen eine Zeitlang ihren Bedarf aus der thüringischen Waffenfabrikstadt. Die Türkenschlachten wurden mit Suhlaer Gewehren geschlagen. Und jetzt, wo in allen Ländern sich blühende Gewerke dieser Art erhoben haben, wetteifert Suhl immer noch mit den berühmten Fabriken zu Namur und Lüttich und liefert allein für Holland seit Belgiens Abfall alljährlich 5500 Kriegsgeschosse, während es die Preussische Armee ebenfalls mit 5000 dergleichen versieht und noch gegen 1000 elegante Jagdgewehre und Pistolen jährlich absetzt.«

 

»Wird der Bergbau lebhaft betrieben?« fragte Lenz, dessen Frage die Lust zu verrathen schien, ein Bergwerk zu befahren, doch musste sie verneint werden. »Der Bergbau war ehemals sehr blühend,« erwiederte Otto: »allein jetzt ist er nicht mehr erheblich. Am Dellberge, der dort drüben sich ziemlich hoch emporhebt, sollen früher täglich 300 Bergleute angefahren sein; er lieferte Glanzeisenerz und Glaskopf, jetzt werden die 9 bis 10,000 Centner Roheisen, welche der Betrieb der Eisenhüttenwerke um Suhl jährlich erfordert, grösstentheils von auswärts her bezogen. Eine Menge alter Halden und verfallener Stollen in der nähern und fernern Umgegend deuten auf den frühern Bergbau hin, und auch Sagen hört man noch von alten Leuten, in welchen der frühe Erzreichthum des Landes fabelhaft vergrössert fortlebt. Ist es euch genehm, so wandeln wir nun hinab in die Stadt, unsre Flasche ist fast leer, geben wir ihr daher vollends den Rest! Drunten führe ich euch eine Strecke das lachende Lauterthal
entlang nach dem Stadtflecken Heinrichs zu, wo wir auf dem neuen und stattlichen
Schiesshaus rasten, dann machen wir dem freundlichen Pastor Kommer einen Besuch und bitten ihn, den patriotischen Sänger des Schneekopfs, uns auf diese Hochwarte des Thüringerwaldes eben so zu geleiten, wie Schaubach uns auf den Dolmar führte, treten in die Werkstätten einiger hiesigen Graveurs in Stein und Metall ein, suchen den Erfinder des Acolodicons, Sturm, auf, und wandern dann ein Stück nach Goldlauter zu, von Hammer zu Hammer, auf dass ihr aus dem Fundament erfahrt, durch wie viele Hände und Hämmer das Eisen geht, ehe es als Muskete zum Schlachtfeld, oder als Pürschbüchse zur Jagd getragen wird.«

 

Die Wanderer schickten sich an, den Ottilienstein zu verlassen, warfen noch einen Blick auf den von Menschen wimmelnden Markt, denn es war gerade ein Wochenmarkttag, zu welchen stets eine grosse Menge Bewohner der Nachbarorte strömt, da der Verkehr dort äusserst lebhaft ist – dann zeigte und nannte Otto den Gefährten die Steinsburg, einen hohen Sandberg mit einer Basaltkuppe, um die wieder der Sagenepheu von einer dort gestandenen Burg, Schätzen in der Tiefe, aus blühender Glücksblume und wandelnder Jungfrau romantisch rankt, so wie den Ringberg und Spitzberg, die mit dem Dell- und Domberg u. a. den engern
Gebirgsring um die Stadt bilden. Von unten herauf klangen die Töne eines mit Meisterschaft geblasenen Hirtenhornes, und langsam bewegte sich, freudebrüllend, im langen Zuge eine Rinderheerde von mehr als 700 Stück zur Stadt hinaus, bei deren Anblick Otto nicht unterlassen konnte, seinen Freunden die Schmackhaftigkeit der beliebten Suhlaer Käschen, von der Grösse eines Guldenstücks, anzupreisen.


Durch schöne Gartenanlagen, an Teichen vorbei, in denen ganze Schaaren Forellen standen und über würzige Wiesen voll Alpenkräuterduft, auf denen Lenz eine Menge anderswo selten oder nicht vorkommender Kräuter entdeckte, kamen die Wanderer zu dem Schiesshaus, das durch seine Grösse und die Schönheit der Anlagen Zeugniss von dem Geschmack und dem geselligen Sinn der Einwohner Suhls gibt; gleichwohl besteht noch eine zweite Schützengesellschaft dort, die ihre Schiessen auf dem »fröhlichen Mann« nicht minder fröhlich und gastlich, wie jene, hält. Der Sinn für dieses Vergnügen ist auf dem Thüringerwald und in seinen Nachbarorten ausserordentlich rege und lebendig, und die Vogelschiessfeste sind fast überall nach Maassgabe der Kräfte und Verhältnisse glänzend, und zahlreich besucht.


Als die Freunde wieder in die Stadt zurückkehrten, erfreuten sie sich am Anblick der frischen, roth- und vollwangigen Thüringerwaldmädchen, die in ihren nationellen Trachten theils noch zum Markte gingen, theils daher kamen, und durch lautes Gelächter und neckendes Aufziehen der Gefährtinnen das bewegliche Bild doppelt belebten, welches der Markt darbot.

 

Mehre Besuche wurden nun gemacht und überall die sociale Höflichkeit wahrgenommen, die es nicht merken lässt, wenn auch ein solcher unangemeldeter Besuch nicht ganz zur gelegenen Stunde kommt. Gastlichkeit ist eine der grössten Tugenden der Bewohner Thüringens, zumal auf dem Walde; dort ist das steife Ceremoniel nicht heimisch, das die Vornehmen zu ihrer Selbstqual erfunden haben, und die Betretenheit ungekannt, die vor einer fremden Persönlichkeit zurückscheut, welche im Oberrock und Reisehut anklopft. Mit Freundlichkeit wird angeboten, was das Haus vermag, und mit Bereitwilligkeit gezeigt, was der Fremde zu sehen wünscht. Viel hörten Rühmliches, viel sahen Schönes die wandernden Freunde vom alten Döll, Suhls anerkannt berühmtesten Steinschneider und Medailleur. Otto zog vom eignen Finger einen Siegelring und hielt ihn den Freunden gegen das Licht. »Ha, Göthes Portrait! Wie gut getroffen!« rief Wagner, »welch schöner Pyrop!« rief Lenz aus.
»Auch dieser gelungene Göthekopf ist ein Stück von Dölls Meisterhand,« berichtete Otto und führte die Bewundernden zum Erfinder des Aeolodicons, der freundlich und gefällig dem schönen Instrument, das er im Hause hatte, die sanfte und schwermuthsüsse Harmonienfülle entlockte, die dessen besondere Eigenthümlichkeit bildet. Man hat in Suhl höchst zweckmässig das Aeolodicon mit der Orgel zum kirchlichen Gebrauch verbunden, und mancher Dorfgemeinde dient zur Begleitung des Gesanges erbaulich das bescheidene und bei weitem wohlfeilere Instrument.

 

Unterdessen war der Mittag herbeigekommen, der musikalische Kronenwirth empfing mit einer Jubelouverture auf seinem trefflichen Flügel seine Gäste, und bald zeigte die Tafel jene leckern Forellen, nach denen schon beim Erblicken im Teich der Mund gewässert. Als bei Tische die Rede wieder auf die beträchtliche Eisenfabrikation kam, und die Fremden den Flor der Stadt priesen, liess der Wirth nicht unbemerkt, dass neben jenem blühenden Gewerbszweig auch der von sogenannten Stuhlwaaren, Leinwand, Trill, Barchent u. dergl. Erwähnung verdiene, wenn doch einmal vom Flor der Stadt die Rede sein solle. »Dieser Stuhlwaarenfabriken,« sagte er, »sind hier nicht weniger als sieben, die im Grossen das Geschäft betreiben, ausser den Meistern, die für eigene Rechnung handeln. Die Weberei beschäftigt hier gegen 500 Menschen, und es werden jährlich circa 16,500 Stück Waare ausgeführt und abgesetzt. Das ist aber nichts gegen sonst, wo statt fast 300 Stühlen, wie jetzt, noch einmal so viele im Gange waren.« –


Man brach auf, um einen Spaziergang in das keineswegs idyllische, sondern von reger
Thätigkeit erfüllte und belebte Lauterthal anzutreten. Bald war es erreicht, man ging einigen zunächst begegnenden Rohrbohr- und Schleifmühlen und einer Bajonetschleifmühle vorüber, um bei dem aus einigen Häusern bestehenden Weiler Lauter in den grossen Lauterer Hammer einzutreten. Mächtig pochten die Hämmer, das Gebälk des düstern Breterhauses schütterte von ihren Schlägen, die Räder rauschten, die Essen flammten, und pfeifende Blasebälge fachten die brennenden Kohlen zu blauer Gluth. Wenn ein frischer Korb voll derselben aufgeschüttet wurde, stob jedesmal ein Funkenregen rings umher. Die Cyklopengestalten der Arbeiter, halbnackt, geschwärzt von Dampf und Staub, schafften rührig da und dort und
blickten mit hellen Augensternen die eingetretenen Fremden an. Alles ringsum war schwarz von Kohlenstaub, schwere Eisenbarren lehnten in Reihen am Haus, und bald belehrte ein gefälliger Werkmeister, dass diese Roheisenscheiben Gänse genannt würden und jede circa drei Centner wiege. Er zeigte die Gussstücke, erklärte die Beschickung der Erze im Blauofen und führte die Wanderer eine Bretertreppe hinan zu einer Stelle, wo sie in die flammende Hölle des Ofens sehen konnten, in welchem in ungeheurer Gluth die Erze kochten. »Wie lebendig wird einem hier die Wahrheit, mit welcher Schiller den Eisenhammer schildert, vor das Auge gestellt!« rief Wagner seinen Gefährten zu, denn er musste rufen, da der Lärm des Werks das Sprechen unverständlich machte, und jene bestätigten mehr durch Zeichen, als durch Worte, wie der gleiche Gedanke sich ihnen ebenfalls aufdringe. Unten im Hammer war
nahe an dem Ofen eine kleine Rinne in dem Boden, der Werkmeister sah nach der Uhr, führte die Fremden an diese Rinne und winkte einigen Knechten. Diese waren gleich zur Hand mit spitzen Eisenstäben; sie stiessen ein Loch in den Bauch des feuerspeienden Drachen, des Hochofens. Da sahen die Fremden ein überaus herrliches Schauspiel. Wie Lava aus dem Krater eines Vulkans wälzte sich die Feuerfluth des geschmolzenen Erzes langsam in den Sand, glühend im blendenden Weissfeuer, dann hochroth flammend, glitzernd leuchtend und allmälich zur Kupferröthe übergehend, langsam erkaltend. Darauf gegossenes Wasser sonderte die Schlacke ab.

 

Hierauf wurde auch das Verfahren bei der Blechfabrikation gezeigt und erklärt, wobei der Werkmeister bemerkte, dass die Suhlaer Bleche von vorzüglicher Güte seien und weit im Handel verbreitet, dass sie besonders zu Dampfmaschinenkesseln und Soolsiedepfannen verarbeitet würden, und sich schon im Mittelalter deshalb besondern Rufes erfreut hätten, dass sie zu Harnischen und Rüstungen gut zu verarbeiten gewesen wären.

 

Nachdem hier nun alles besehen war, wandten die Reisenden sich weiter, und gelangten auf dem anmuthigen Thalwege noch an mehren Eisen- und Blechhämmern vorüber, bis die Rohrschmiede und Bohrmühle erreicht war. Hier sahen sie nun die Bearbeitung der Platinen, 32 Zoll langer Eisenstücke, wie diese glühend gemacht, unter den Reckhammer gebracht, unter diesem über einen eisernen Dorn gelegt, zusammengeschweisst und gestreckt wurden, sahen, wie die vom Wasser getriebene Gewalt der mächtigen Bohrmühle diese werdenden Flintenläufe durchbohrte und wie diese auf ungeheuern Schleifsteinen trocken geschliffen
wurden, wobei ein ohrenzerreissendes Getöse ihnen die Möglichkeit jeder mündlichen
Mittheilung raubte und sie bald aus diesem Werk trieb, um in ein nicht minder wichtiges und nicht minder geräuschvoll lebendiges einzutreten. Hier wurden Klingen, Bajonette und Ladestöcke geschmiedet, welche nass geschliffen werden, und ganze Reihen theils noch schwarzer und unpolirter, theils fertiger und silberhell glänzender Kürasse erinnerten daran, dass auch für diesen Rest mittelalterlicher Schutzwaffen hier eine Fabrik bestehe. Alles Wissensnöthige wurde erklärt und erläutert, und befriedigt verliess die Gesellschaft diese Hammerwerke, in denen »früh und spät den Brand die Knechte mit geschäftiger Hand nähren.«

 

Goldlauter birgt sich recht schüchtern in die Enge eines Schneekopfthales, lang und schmal strecken sich die Häuserzeilen in dem Grund hinauf. Die Freunde ruhten auf sonnigem Rain; Wagner zeichnete einen malerischen Hammer, Lenz erfreute sich an so mancher Blume der Gebirgsflora, in der hellen Lauter und an ihrem Uferrand leuchtete das goldblüthige Chrysosplonium, auf den Waldwiesen prangte mit weissen Dolden der Bergeppich, das stolze Geschlecht der Athamanta und die schwankende Blüthenähre des Schlangenkrautes. Ueber Goldlauter, bis wohin der Spaziergang erstreckt wurde, gab es für Otto genug zu berichten von ehemaligen Bergwerken in der Nähe und deren wieder neu aufgenommenem Bau, von quillendem lautern Gold, daher Waldbach und Ort den Namen bekommen und ähnliche ßergmannssagen, deren diese Gegend voll ist.


»Wenn wir hier hinauf stiegen,« redete Otto die Freunde an, als sie hinter dem Dorfe sich zum Umkehren wandten, und Lenz in einer alten Halde noch nach Fischabdrücken im Thonschiefer der Gegend suchte, aber nur Fragmente fand: »so würden wir auf die Schmücke gelangen, doch möchte es für heute zu spät sein, und wir wollen uns morgen in dem einsamen, 2872 Fuss hoch über der Meeresfläche gelegenen Gasthaus ein Vesperbrot erbitten.«


Auf dem Rückweg fiel dem, die organische, wie die unorganische Natur stets mit
scharfblickendem Aug' überschauenden Lenz ein isolirter Porphyrfels auf, welcher im nahen Felde am Wege lag, und ging auf ihn zu, als Otto erwähnte, dass dieser Fels vorzugsweise den Namen des rothen Steines führe. Lenz untersuchte das Gestein desselben näher und äusserte, dass er aus einem festern und bessern Porphyr bestehe, als der Ottilienstein. Ein Schlag mit dem Berghammer daran bröckelte einige Stücke ab, an denen sich zarte dunkle Dendriten zeigten. »Sogar von diesem Stein,« sprach Otto : »giebt es eine, hier allem Volk bekannte Sage, mit welcher ich euch jedoch verschonen will, um nicht abermals die gleiche Spottlust wie bei der vom Rupberg zu erwecken, da es sich abermals von einer verwünschten Jungfer handelt. Merkwürdig ist es aber, wie in diesen Gegenden die Tradition geschäftig war, Fels
und Wald, Berg und Höhle, Thal und Bach mit Geistern zu bevölkern, ähnlich den alten Griechen, deren Mythos Oreaden, Najaden und Dryaden da erschuf, wo die Phantasie der Germanen auf die angedeutete, nicht minder eigenthümliche Weise sich thätig zeigte.«

 

Unter Gesprächen, die sich bald auf die mysteriöse Welt deutscher Volkspoesie und
deutschen Volksaberglaubens, bald auf die grosse Mannichfaltigkeit der in Gebirgsgegenden vorkommenden Naturprodukte aus den Pflanzen- wie aus dem Mineralreich, darüber Lenz anziehende Vergleiche aufzustellen wusste, bald auf die malerischen Reize der Gegend Suhls bezogen, wurde bald noch ein Standpunkt erreicht und ausgewählt, den Wagner für günstig hielt, Stadt und Gegend zu zeichnen. Freundlich im Thal hingebreitet, liegt Suhl unter der steilaufragenden Wand des Dombergs, Porphyr-Felsenzacken ragen da und dort aus dem Laubholz, und das Häuschen auf dem Ottilienstein horstet dort wie eine Wächterwohnung, wie ein Lug ins Land. Weit hinauf in die Weitung des Hochgebirgs ist der Blick auf dieses frei, man gewahrt den Spitzigenberg, den Wildenkopf und die Suhlaer Laube, an welcher hoch hinauf schmal und gezackt, wie ein erstarrter Blitz, eine Strecke die Strasse sichtbar ist, die von Suhl aus zum Oberhof führt. Dann breitet der Beerberg, der Riese des Gebirgs, seinen breiten Rücken; die Abdachung des Berges, welcher die Hofleite genannt wird, setzt ihren mit Gärten und herrlichem Wiesengrün geschmückten Fuss bis in die Stadt hinein, und gewährt zur Rechten einen mannichfach belebten Vorgrund. – Dabei wehte von den Wiesen der Waldkräuter würziger Duft, die eine Seite des Dombergs glänzte im Abendstrahl, die andere überhüllte ein sanfter Schatten; einige Bergkuppen glühten goldröthlich, andere, niedrigere hoben düstergrün, fast schwarz die Häupter empor, wie eine Schaar Mönche, die zur
Abendhora wallen. Um die Zinnen des Gebirgs schwamm Verklärung, mit melodischem Geläute zogen die Heerden heim.

 

Oberhof

 

Es war noch früh am Tage, die Stadt ruhte noch, nur die gefangenen Drosseln waren munter und liessen durch die stillen Strassen lauten Gesang erschallen, als die Reisegefährten abermals durch einen vierten, der als freundlicher Geleitsmann mitgehen wollte, vermehrt, zum Mühlthore Suhls hinausschritten und das erwachende Leben eines schönen Sommermorgens begrüssten. Dieser schauerte ein wenig kühl, und der Geleiter prophezeite daraus und aus der Richtung der Nebelschichten, die westwärts im Thal der Hasel lagerten, einen heitern, herrlichen Tag. Derselbe Weg, auf welchem die Reisenden hereingefahren waren, führte sie jetzt eine Strecke zurück, und so hatten sie Gelegenheit, die malerisch zwischen umbuschte Felsen situirte Reihe von Hammerwerken näher in Augenschein zu nehmen, an denen sie am vorgestrigen Abend rasch vorbeigefahren, neben welchen bald Räder treibend, bald in Rinnen gefangen, bald jugendlich frei in silberblitzenden Kaskadellen ein Waldbach geschäftig thalwärts eilt.


» Aurora musis amica!« rief der Begleiter, selbst ein Musenfreund, aus, »ich lobe mir das Fussreisen und das frühe Wandern. Wer den Thüringerwald durchfahren will, lernt ihn nicht kennen und gewinnt nur ein oberflächliches Bild von ihm, ein oberflächliches Urtheil über ihn. Ich kenne keinen höheren Genuss, als in der Auferstehungspracht eines frischen Morgens im Strom der Waldluft zu baden, in der herrlichen Morgensonnebeleuchtung auf die hohen Berggipfel und Felsenkämme zu treten und in die düstern Waldungen und lichtgrünen Thalwiesen, in die dunkeln Schluchten und blauen Fernen von einem erhabenen Standpunkt hinabzublicken. Mein Herz hüpft so froh, wie die Sonne nach dem Volksglauben am Ostermorgen im Aufgehen hüpft, wenn ich vom Haupt meines lieben Schneekopf die Reize der Aussicht geniesse, und stets entdecke ich an ihr neue Schönheiten, obgleich ich schon als Knabe, als Jüngling und als Mann dort oben stand; ich werde ihrer niemals müde.«


»Das ist die ewige Jugend des Herzens und Gemüthes!« stimmte Otto bei: »Das Gefühl altert nicht, und gern kettet sich der, dem einmal ein Blick in die Welt nicht dauernd vergönnt ist, den die Scholle bindet, an ein kleines Stück Land, eine Parzelle, eine Aussicht, die er liebt und sein nennt, unbekümmert, ob Andere seine Liebe theilen, aber doch erfreut, wenn sie es auf Momente thun.« – »Solche Natur- und Gefühlsmenschen« nahm Wagner gegen den neuen Gefährten das Wort: »und ich glaube, dass Sie im edelsten Sinn ein Solcher sind, malen gleichsam die Landschaft ihrer Liebe in ihr Innerstes mit allen Transparentfarben der Jugendgluth, und tragen sie wie ein Heiligenbild im Sanctuarium ihres Herzens. Dort steht das Bild immer frisch und lebendig, selbst noch dann, wenn das innere Auge matter zu blicken
beginnt, und der Glanz des äussern sich verdüstert – im Alter; aus dem innern Bilde fällt dann immer noch ein verklärender Abendstrahl gold- und krokosfarbig auf das äussere.« – Der Geleiter drückte dem Sprechenden still die Hand, in seinem Auge glänzte eine Thräne, er fühlte sich verstanden.

 

Die Gesellschaft kam am »fröhlichen Mann« vorüber; eine Vogelstange, Breterhütten, Zelte und buntfarbige Illuminationslampen kündeten an, dass hier Vogelschiessen gehalten werde, und groteske Leinwandbilder einer wandelnden Menagerie, aus der kreischende Papageienund Affenstimmen sich vernehmen liessen, kündigte an, dass hier auf dem isolirten Wirthshaus es nicht an Lust und Leben fehlen müsse. In einem Winkel stand rosenfarben, wie die Laune Hanswursts, eine Polichinellbude. Kasperle und Gretel schliefen. – Wiesen und Felder lagen in einem weiten Umkreis von Waldungen umfangen, aus denen da und dort der Dampf eines Meilers wie Opferrauch bläulich aufstieg. Gemächlich schreitend, meist von dem Begleiter noch über Suhl, dessen Gegend und Eigentümlichkeit unterhalten, erreichten die Wanderer bald den Wald, der sie in seine Schattenkühle aufnahm, gerade als die Sonne begann, ihnen warm zu machen. Der nun stets emporführende Bergweg über den Aschenthalshügel gewährte vornehmlich Lenz viele Unterhaltung, der eine Menge verschiedenartiges Gestein fand, braunen, grünen und rothen Porphyr, zu Tage stehendes Todtliegendes- und Übergangsgestein von einem zum andern. Am Wildenkopf hinauf zieht sich der Weg durch dunkle Tannenforste, während der lang gestreckte Beerberg zur Rechten
bleibt, durch eine tiefe schauerliche Schlucht vom erwähnten Berg getrennt; immer reiner und frischer wird die Luft, sonniger scheinen die Matten zu grünen, ein feierliches Schweigen waltet ringsum, bald verhallt das Geräusch von etwa begegnendem Fuhrwerk, eine grossartig schöne Natur entfaltet hier ihre erhabenen Reize und wetteifert mit den Vorbergen eines Alpenlandes.

 

Immer der Strasse folgend, die sich am tiefen Abhang durch Holz- oder Steinbarrieren
geschützt aufwärts windet, gelangten die Wanderer zu einem Brunnen. Wie labend und erquickend, wie willkommen war sein klares Krystallnass! Zugleich ward eine schon von weitem erblickte hochaufragende Porphyrfelsengruppe erreicht, und der Geleitsmann lud zur Rast. »Hier ist einer der schönsten Stand- und zugleich Ruhepunkte,« sprach er. »Ganz auf der Höhe, welche man die Ausspanne nennt, wird die Fernsicht rahmenlos, und der Blick irrt unstät umher, während oft heftige Zugluft dem stehenbleibenden Erhitzten schädlich werden kann.« – Die durch das fortwährende Steigen allerdings etwas Ermüdeten lagerten sich alsbald auf dem grünen Sammt der Bergmatte, auf welcher die Tannen zu niedern Krüppeln
zusammengeschrumpft gesehen wurden, dafür prangte die Matte mit den purpurnen
Blumenähren des Fingerhutkrautes, diesem schönsten Schmuck der höhern Bergregion, und von den noch thaufeuchten Schattenseiten der Felsblöcke duftete das wunderbare Arom des Veilchensteins. – Die Wanderer hatten im Heraufsteigen bald in ein Wiesenthal hinab geschaut, das steile und riesighohe Bergwände einschlossen, bald hatte, über grosse Waldund Wiesenflächen flüchtig hinwegstreifend, ihr Blick auf Einzelhöhen, wie Rupberg, Hundstein (ursprünglich wohl Hohenstein), Gebranntstein und andern geruht, die immer je tiefer zurücktreten, je mehr diese selbst emporstiegen, bald hatte ein Rückblick vergönnt, durch ein Stück Aussicht auf die unermesslich hingedehnte Ferne des Frankenlands zu ermessen, wie weit sich auf dem Gipfel diese Aussicht erstrecken möge. Und diese war nun prachtvoll aufgethan. Man sah hinab in die ungeheure Thaltiefe, auf Suhl, auf den fröhlichen Mann, auf den Domberg und seine Fortsetzungen nach Albrechts und Zella hin, auf den Gebirgszug zwischen Hasel und Werra, sah das Werrathal durch einen langgedehnten Nebelstreif bezeichnet, aus dem die hohen Häupter der Gleichen duftblau aufragten. Der Beerberg mit seinem Felsgiganten und einer auf dieser Hochmatte weidenden Heerde, die von Oberhof hergetrieben kam, rahmte auf einer, die Suhlaer Laube auf der andern Seite das Landschaftsbild ein.


Bald war nun vollends die Höhe erreicht, welche die Ausspanne heisst, und die Freunde sahen mit stillem Staunen das Panorama um sich her gebreitet, das ein grosser Theil der Nachbarländer Thüringen und Franken bildet, sahen hinüber, wo Rhön und Spessart aus der Ferne grüssten. Man stand fast 3000 Fuss über der Meeresfläche, auf dem Rücken des thüringischen Gebirgs.

 

»Hier schneidet der berühmte Rennsteig den Weg,« berichtete der Führer: »dieser läuft am rechten Abhang des Beerbergs hin, und ist weit sichtbar, auch der Beerberg bietet eine schöne, doch ebenfalls nicht ganz umfassende Aussicht dar; wir wählen den Schneekopf, den so manches interessanter macht, als seinen übermüthigen Nachbar, welcher jenem den alten Ruhm, der höchste Thüringerwaldberg zu sein, entrissen hat, weil er den Schneekopf um einige zwanzig Fuss überragt. Wir hätten von hier aus zum Schneekopfgipfel nicht allzuweit mehr, doch die Herren sehnen sich einem Frühstück entgegen, das Sie jedenfalls in Oberhof besser finden, als auf der Schmücke; auch ist ohnehin der Abstecher lohnend, da es nicht in Ihrem Reiseplane liegt, die Hochstrasse von Oberhof bis Ordfuf und Gotha zu verfolgen.«


»So ist es,« bestätigte Otto. »Wir pilgern vom Schneekopf gleich nach Ilmenau hinab, und doch möchte ich meinen Freunden auch den Oberhof gern zeigen.«

 

»Was ist das für ein Weg, der oft genannte Rennsteig?« fragte Lenz, und Otto erwiederte erzählend, indem sie auf denselben vorwärtsschritten: »Der Rennsteig, Rennweg, schon in alten Urkunden unter dem Namen Reniweg, Rinnestiegk, vorkommend, ist eine ganz besondere Eigenthümlichkeit des Thüringerwaldes, ein seit uralten Zeiten gebräuchlicher, fast immer auf dem Gebirgsrücken fortlaufender, auf dem Walde nur wenige Orte berührender, einsamer Weg, meistens fahrbar, an mehren Stellen chaussirt, den man für die alte Landesgrenze zwischen Thüringen und Franken hält. Noch jetzt bildet er oft weite Strecken entlang die Grenze thüringischer Nachbarstaaten, und diente vielleicht in den alten Zeiten als Strasse für königliche und kaiserliche Eilboten. Wir werden ihn auf unsrer Tour noch oft berühren, verfolgen oder durchkreuzen, dann will ich euch jedesmal auf sein Begegnen aufmerksam machen; seine ganze Länge beträgt dreiundvierzig Wegstunden. Auf der Karte
zum Werk des Dr. Herzog, ist der Rennsteig am besten gekennzeichnet: in F. v. Plänckners Werk: Der Thüringerwald, (mit einem Panorama der Nordseite desselben). Gotha 1830, am ausführlichsten beschrieben. Er läuft über den ganzen Gebirgskamm, so, dass wer ihn seiner ganzen Länge nach von Südosten nach Nordwesten verfolgt, die Grenzen von neun bis zehn deutschen Bundesstaaten betritt und überschreitet, deren früher noch mehre waren, bevor Eisenach an Weimar, Hildburghausen und Saalfeld an Meiningen kam. Eine alte Sage lässt den jedesmaligen thüringischen Landgrafen beim Antritt seines Regiments zunächst zum Zeichen der Besitznahme, im Gefolge seiner Hofritterschaft, den Rennsteig entlang reiten.« –

 

Die Freunde schritten wohlgemuth durch die Waldung des Bergrückens, als sich ihnen auf einmal und ganz unerwartet ein schönes Rundel darstellte, in dessen Mitte ein gothischer Hochpfeiler von einem Eisengitter umgeben, aufragte, welcher als stattlichste Grenzsäule die Löwen von Thüringen, Meissen und Hessen nebst dem sächsischen Rautenwappen trägt, und auf seiner Spitze die Richtung der vier Himmelsgegenden bezeichnet. Zugleich war die neue Landstrasse, welche von Mehlis und Zella heraufführt, erreicht, und nach dem kurzen Marsch einer Viertelstunde zeigten sich die schindelbedeckten, breterbekleideten Häuser Oberhofs. »Hier seht ihr das am höchsten gelegene gothaische Dorf,« sprach Otto zu den Freunden: »und seht es den hellen Wiesen, dem grünenden Kartoffelland, den wogenden Saaten nicht an, dass hier oft zur Winterzeit der Schnee bis an und über die Dächer mancher Häuser liegt, dass die Schlitten über jene hohen Wildzäune hingleiten, und die Kinder mit ihren kleinen Rennschlitten, in Ermangelung anderer Hügel, von den Dächern lustig herabfahren. Jetzt blickt dort hin, nach Norden! »Dort öffnete sich zwischen hohen Bergen hindurch eine reizende Fernsicht in das nördliche Thüringen, in die fruchtbaren Gefilde des Herzogthums Gotha, der Hörseelberg zeigte sich, und über ihn zog in blauer Ferne der Harz seine Bergkette hin. Der Raum vor dem gut eingerichteten Gasthaus und dem freundlich die Höhe beherrschenden herrschaftlichen Jagdschloss, war äusserst belebt. Dort lustwandelte eine Gesellschaft aus Gotha, die den oft zum Ausflug gewählten Oberhof besuchte, um sich an der Aussicht und der frischen Bergluft zu erlaben, und ging dem Walde zu, gefolgt von einer Trägerin, um an geeigneter Stelle im Freien zu schmausen. Dort zog eine Schaar junger Schüler mit rothen Wangen und grünen Ränzchen neu zum Weitermarsch gestärkt aus dem
Gasthof, vor welchem die Eilpost hielt und das Horn des Postillons schmetterte, um vom kaum begonnenen Genuss köstlicher Waldforellen die Passagiere abzurufen. Hoch beladene Fuhrmannskarren und ein ganzer Kohlenwagenzug hielten ebenfalls vor dem geräumigen Haus, während die Hochstrasse von Fuhrwerken und Wanderern mannichfach belebt war.

 

Otto schilderte deren romantische Schönheit. An Anlagen, gefassten Brunnen, Ruhebänken und freundlichen Forst- und Chausseehäuschen vorüber zieht sie tief, tief hinab in das Thal der Ohre, immer fallend, an schönen Felsparthien vorüber, und erreicht die malerisch gelegenen Dörfer Schwarzwald mit seinem Ruinenthurm, Stutzhaus und Luisenthal, wo ein Eisenwerk mit Blauofen und Hammer sich befindet; von da aus zieht die Strasse über das nahe freundliche Ohrdruf weiter gen Gotha fort.« –

 

Das Gasthaus hatte Ruhe und Erquickung gewährt, die Freunde brachen auf, eben als ein eleganter Reisewagen vor der Thüre hielt, und drei Damen ausstiegen, von welchen die beiden jüngern die Blicke der jungen Gefährten Otto's magnetisch fesselten, und dadurch auch ihre Schritte hemmten. Es war mehr als gewöhnliche Neugier, die unter jeden fremden Schleier blicken möchte, welche auch Otto abhielt, zu gehen; die Damen kamen ihm bekannt vor, nur vollendeter entwickelt glaubte er die jugendlichen Schönheiten wieder zu sehen, die er irgendwo schon einmal erblickt haben musste. Ein wohlwollendes Verweilenlassen des Blicks der ältern Dame auf ihn überhob ihn schnell des langen Nachsinnens; es war eine begüterte unabhängige Frau aus dem Hannöverschen, die mit ihren Töchtern zum Vergnügen reiste, und deren Bekanntschaft er vor wenigen Jahren im Bade Liebenstein gemacht. Bald war Gruss und Gegengruss getauscht, Erinnerungen wurden aufgefrischt, die lieblichen Töchter traten näher heran, Otto stellte seine Freunde vor und es kam ein unterhaltendes Gespräch über die Reise, über Thüringen, den Wald und das Flachland, in vollen lebhaften Gang. Frau Arenstein, diess war der Name der Reisenden, sagte zu Otto: »Wundern Sie sich nicht, uns schon wieder in Ihrem schönen Thüringen zu sehen! Es zieht uns in der That der Reiz des Landes an, doch haben wir diesesmal einen noch weitern Ausflug vor; wir gehen nach Kissingen.« »So verschmähen Sie die freundliche Najade Liebensteins?« fragte der Angeredete. »O nein,« erwiederte die Dame: »Wir gedenken auf dem Rückweg dort einige Tage einzusprechen. Finden wir Sie dann dort, wo Sie uns beim ersten Begegnen ein so bereitwilliger Cicerone waren?« – »Niemals war ich es Jemand lieber,« erwiederte Otto verbindlich: »und da ich jetzt in gleicher Eigenschaft einigen jungen Freunden aus Süddeutschland diene, mit denen ich im Zickzack das Thüringerland durchstreife, so würde es vollkommen mit meinem lebhaften Wunsch übereinstimmen, Sie und Ihre liebenswürdigen Fräulein Töchter dort wieder begrüssen zu dürfen.« Als Otto dabei nach den Genannten blickte, sah er beide im Gespräch mit Lenz und Wagner dauernd begriffen, die nun nicht an Fortgehen denken zu wollen schienen, während ein mahnender bittender Blick des vierten Gefährten dessen Ungeduld bescheiden andeutete.

 

»Verwöhnen Sie mir die Mädchen nicht durch Schmeichelei,« bat lächelnd Frau Arenstein; ich habe sie bisher sorglich vor diesem Gift bewahrt, »sie blicken unbefangen in die Welt und arglos, und ihre offnen Herzen haben mir das schwere Geschäft der Erziehung erleichtert. Sie werden meine Töchter wohl etwas verändert finden?« – »Ich habe die Überzeugung,« entgegnete Otto: »dass mit der körperlichen Entfaltung die geistige unter Ihrer vortrefflichen Leitung gleichen Schritt hielt, und freue mich auf das hoffentlich baldige Wiedersehen und längere Beisammensein.«
Die Reisenden trennten sich; wie es schien, wurde Wagner und Lenz der Abschied nach der kaum angeknüpften Bekanntschaft etwas schwer, dem ersten hatte die schlank aufgeschossene Blondine Rosabella ganz besonders wohlgefallen, die in der That eine reizende Erscheinung zu nennen war, während Lenz mit unverhaltenem Entzücken die zarter gebaute jüngere Arenstein, die dunkellockige Engelbertha priess. Beide konnten gar nicht aufhören, das Wohlgefallen gegenseitig und gegen die Begleiter auszusprechen, das diese holden Mädchen in ihnen erregt, während Otto im Weiterschreiten ihnen mittheilte, was er von den nähern Verhältnissen der Familie wusste. So langten sie bald an der Stelle wieder an, wo der Rennsteig am Beerberg hinzieht, und ein dem kundigen Führer wohlbekannter, übrigens schwer aufzufindender Fusspfad sie dem ersehnten Ziel immer näher brachte.

 

Der Schneekopf

 

Auf dem Wege zum Schneekopf fand Lenz weisse Porphyrplatten und grünen Porphyr, nebst vielen Steinen, die einen röthlichen Staubüberzug hatten, und von dem Führer für Veilchensteine erklärt wurden, die sich auch auf dem Schneekopfgipfel fänden. »Sage uns etwas über den Veilchenstein,« forderte Wagner den Freund auf: »gehört dieser duftende Farbenstaub, der nur in hohen Regionen das Gestein überzieht, dem Pflanzenreich oder dem Mineralreich an?« – Lenz erwiederte bereitwillig: »Was die Botaniker als Staubpflanze, Byssus oder Lepraria Jolithus mit dem Namen Violenstein bezeichnen, ist meines Erachtens nach die Palingenesie oder die Metempsychose des Steines, der aus seiner Verwitterung, nachdem er an der Oberfläche in Staub zerfallen, organisches Pflanzenleben beginnt. Welche chemischen Verhältnisse auf ihn so einwirken, dass sein eigentümliches Blumenarom sich entwickelt, möchte wohl noch unerforscht sein, wie denn in Bezug auf den Duft der organischen, wie der unorganischen Körper der künftigen Naturforschung noch ein unendlich weites Feld geöffnet bleibt. Neben den vielen Farbenlehren fehlt es noch an genügenden Untersuchungen über diese nicht minder anziehende, auf ewige Gesetze basirte Erscheinung der Körperwelt!«

 

Unter Gesprächen über Thier und Stein und Pflanze, die der einsame Waldweg im reichen Wechsel darbot, kamen die Wanderer an dem furchtbar tiefen und schauerlichen Abgrund vorüber, welcher den Schneekopf vom Beerberg scheidet, und der Schmückergraben heisst; eine dunkle Schlucht, in welcher uralte Tannen halb abgestorben, bemoost, zum Theil umgestürzt und von hohen Farrnkräutern überwuchert, das Bild eines deutschen Urwaldes darboten. Ganz allmälich emporsteigend und aus dem immer niedriger werdenden Gehölz tretend, sahen sich die Reisenden unvermuthet auf dem Gipfel des Schneekopfs angelangt, und es grüsste mit jugendlichem Entzücken der Begleiter den von ihm geliebten Berg und zog das Panorama hervor, das er seiner poetischen Schilderung desselben mitgegeben. Hatten die Fremden sich vorher an der unermesslichen Aussicht nach Franken hin zum öftern erfreut, so wurde diese jetzt durch den mächtigen Rücken des grossen Beerbergs fast ganz verdeckt, nur einzelne Höhen ragten zwischen dem thüringischen Gebirg und der dem Auge immer mehr entschwindenden Rhön empor, dafür aber lag das Waldgebirge selbst majestätisch zu ihren Füssen; alle die mächtigen Höhen: der Adlersberg, Finsterberg, Sachsenstein, Gückelhahn, der grosse Kienberg bei Ohrdruf, der Hunds- und Gebranntestein und Andere umstanden wie Diener das hochragende Zwillingsbrüderpaar, zu welchem in grösserer Ferne der Inselberg nachbarlich herüberblickte. Den äussersten Horizont säumte im Norden der Harzwald mit dem Brocken, im Osten das Fichtelgebirge mit dem Schneeberg und Ochsenkopf, im Süden der Steigerwald und die Hassberge, im Westen der Kreuzberg und die hohe Rhön. Der Führer lenkte, nachdem er Sorge getragen hatte, die Wanderer in Bezug auf die Himmelsgegenden zu orientiren, was von wesentlichem Nutzen für die betrachtet werden mag, die Berge besteigen, um sich zu belehren – deren Aufmerksamkeit nun auf die Fülle der Einzelorte, die sich in der Richtung nach Gotha und Arnstadt ausserordentlich gehäuft zeigte. Über die tiefen Gründe, über die prachtvollen Wälder hinweg flog der Blick in ein gesegnetes, mit Städten und Dörfern übersäetes Land. Auf prangende Fürstensitze, die Schlösser von Gotha und Rudolstadt, deutete der Führer hin, auf Thüringens alte Hauptstadt Erfurt wiess er, deren gewaltige Festungen Petersberg und Cyriacsburg hochragend trotzen, während der altergraue Dom friedlich wie ein Greisenbild zwischen den Gewappneten der Neuzeit steht. »Dort liegen die drei Gleichen!« sprach Jener weiter, und die Fremden sahen erfreut hin auf die romantischen Schwesterburgen, um welche fort und fort der leise Harfenton von Mähr und Sage klingt. »Viele Burgen und zum Theil noch erhaltene Vesten können Sie ausser den genannten von diesem Standpunkt aus gewahren, mehr oder minder geschichtlich denkwürdig; Straufhain, Heldburg und Coburg, die Ehrenburg, die einst Luthers Asyl ward, sahen Sie wohl schon vom Dolmar, aber wenn wir der östlichen Richtung folgen, gewahren wir Ehrenstein bei Stadtilm, Greifenstein bei Blankenburg, Schloss Könitz bei Saalfeld, die Veste Leuchtenberg bei Kahla, den Fuchsthurm bei Jena, die Eckartsburg über Eckartsberga, und am nördlichen Horizont weiter streifend, sehen wir mit gut bewaffnetem Auge die alte Sachsenburg, Schloss Allstedt, den Kyffhäuser, Thüringens berühmteste Mährchenburg. Rückkehrend aber von dieser weiten Ferne begegnen wir noch einer zweiten Ehrenburg, die als Ruine einen Berggipfel über dem Städtchen Plaue krönt.«

 

So zeigte der bereitwillige Geleitsmann jede Einzelnheit der Aussicht; er kannte alles, wusste alles, was auf den Schneekopf in irgend einer Beziehung seiner Vorliebe merkwürdig erschien, und die Freunde verliessen befriedigt den kahlen mit Rasen und Haidekraut bewachsenen Gipfel, dessen Gestein Lenz untersuchte, und es für lichtröthlich grauen Hornsteinporphyr erklärte, in welchem kleine Quarz- und Feldspathkrystalle eingesprengt seien. Abwärts steigend, kamen die Wanderer zunächst dem Gipfel an die Stätte eines früher zum Schutz der Reisenden erbaut gewesenen Hauses, davon bald die Zeit die letzte Spur getilgt haben wird.

 

Von da betraten sie den Wald und wandelten auf weichem Moos mitten in der grünen Nacht der Bäume, bis der Führer an einem einfachen Denkstein stehen blieb, und erzählte, was dessen Inschrift verkündete: »Hier ward sechzehnhundert und neunzig ein Förster aus Gräfenrode von seinem Schwestersohn unversehens erschossen.« – »Ganz Recht,« nahm Otto dabei das Wort: »so steht das historische Faktum fest, allein metamorphosirend hat sich bereits dieses einfachen Stoffes die poetisch ausschmückende Sage des Volkes bemächtigt, und wird in solcher Weise fortleben, wenn dieser graue Stein mit seiner schon jetzt schwer lesbaren Inschrift längst um- und eingesunken ist.« »Und wie?« fragten die Freunde, worauf Otto, während der Führer sie von der Stelle weiter in östlicher Richtung leitete, im Gehen erzählte: »Vor einigen Jahren bestieg auch ich einmal wieder den Schneekopf. Obschon eines Führers nicht bedürftig, nahm ich mir doch in Goldlauter einen Mann als Träger meines kleinen Gepäcks mit, hauptsächlich in der Absicht, Sagen der Umgegend aus seinem Munde zu vernehmen, welche sich auch vollkommen realisirte. So kam denn die Rede auch auf den vorhin besehenen Jägerstein, den ich schon kannte, und dessen Inschrift ich gegen meinen Begleiter erwähnte. Der Mann lächelte vor sich hin und sagte: Ja, ja, unversehens erschossen, so steht freilich auf dem Stein, es hatte aber damit eine ganz andere Bewandniss. Ich bat ihn, mir diese mitzutheilen, und er begann: Sehen Sie, so war es: der Förster hatte einen Jägerburschen, mag immerhin, nach der Schrift auf dem Stein, sein Schwestersohn gewesen sein, mit dem lebte er in Hader und Zwiespalt, Gott weiss, warum? Nun hiess er ihn einigemal auf den Anstand gehen und einen schönen Hirsch, der sich im Revier zeigte, schiessen. Der Bursche gehorchte, der Hirsch kam, jener schoss, fehlte aber, und der Hirsch war nach dem Schuss verschwunden; das geschah mehrmal, und wenn nun der junge Jäger ohne grünen Bruch auf dem Hut nach Hause kam, schalt und höhnte ihn sein Principal aus. Das wurmte den Jungen, und er klagte sein Leid und sein Ungeschick einem Kameraden. Der sagte ihm gleich, was er thun solle, und darauf ging der Bursche nach Gehlberg in die Glashütte und liess sich eine gläserne Kugel machen, die er in seine Büchse lud, als er wieder auf den Anstand ging. Bald kam auch der Hirsch, der Schuss fiel, der Hirsch zugleich, aber als jener zusprang, dem edlen Thier den Genickfang zu geben, lag, mitten durch den Kopf geschossen, der Förster in seinem Blute und war todt.«

 

Ein leiser Schauer überlief die Hörer dieser höchst einfachen Geschichte; die Magie des Volksaberglaubens übte ihr Recht. Das Gespräch wandte sich auf solche Traditionen von Verzauberungen, und Wagner sprach unter andern: »Des Jägerburschen Kamerad hat gewiss zu jenem gesagt, wie Kaspar zu Max im Freischütz: Es hat Dir einer einen Weidmann gesetzt; eine Redensart, die wahrscheinlich volksthümlich ist, von mir aber nie recht verstanden wurde; was heisst das: einen Weidmann setzen?« – »Da kannst Du lange umher fragen, ehe Dir Jemand antwortet!« erwiederte Otto lachend. »Ob die Antwort in Döbels Jägerpraktika steht, ist mir nicht erinnerlich, aber ein alter Förster hat mir's anvertraut, als ich einst mit ihm durch einen dunkeln menschenleeren Forst von Oberhof nach Schwarzwald ging. Jägersagen und Jägeraberglaube haben mich von Kindheit angezogen, und lange bevor Webers Freischütz sich als Oper Bahn brach, trug ich den Stoff aus Apels und Laun's Gespenstergeschichten im Gedächtniss mit mir herum. So setzt man einen Weidmann: man hat acht, wenn ein Jäger sein Gewehr putzt und sucht, von dem Wischwerg etwas zu erhalten; hierauf bohrt man in einen Eichbaum stillschweigend ein Loch, stopft das Werg hinein und verkeilt mit Hagedorn die Oeffnung. So lange das darin steckt, zittert der Schütze und wäre er der Beste, bei jedem Schuss und fehlt bei jedem.«

 

Die Wanderer standen am steilen Abhang des Berges, und der Geleitsmann nahm das Wort: »Einmal in Gebiet des Diabolischen, habe ich das Vergnügen, die Herren einen Blick in die Hölle thun zu lassen. So heisst der tiefe und furchtbare Abgrund zu unsern Füssen, welcher sich in den Schneetiegel senkt. In diesen Tiefen ist eine Quelle der Gera; von dem schauerlichen Abgrund der Hölle wenden wir uns nun zum Teufelsbad, kein Feuer- und Dampfbad, sondern ein nasses, ein tiefer, der Sage nach unergründlicher Moor- und Torftümpfel, der mit andern ihm gleichen unter dem Namen der Teufelskreise bekannt ist.«

 

»Hier haben die Gespenster Manchen geneckt und irre geführt,« gab Otto mit komischem Ernst in das Gespräch, den Ton einer alten Chronik nachahmend: »ein Bergwerk, das vor Zeiten hier herum angelegt wurde, konnte wegen Gespenstes nicht weiter gebaut werden, und Manches wäre davon zu erzählen, wenn nicht dort Einer eifrig im Teufelsbad botanisirte, der andere das Malerische dieser mit graubemoossten Fichtenstämmen, Meilerplätzen, Windbrüchen und einer höchst üppigen Haidekrautvegetation, vermischt mit dem Immergrün der Heidel- und Preisselbeersträuche, geschmückten Waldeinöde zu sehr im Auge hätte, um auf dergleichen Allotria zu hören, die dem Dritten endlich nichts Neues sind.«

 

»Wahrhaftig?« rief Lenz, eine Fülle seltener und zum Theil schöner Pflanzen empor haltend: »für den Botaniker ist Herrn Urians Bad verführerisch genug. Hier habe ich neben der in mitteldeutschen Gebirgen nicht seltenen Circea auch die alpina gefunden, den langblättrigen Sonnenthau, die Affenbeere und einige seltene Moose.«

 

»Vom Teufelsbad und den Teufelskreisen« nahm der Geleiter das Wort: »erzählen sich die Umwohner des Schneekopfs eine Menge Mährchen, welche an die Rübenzahliaden des Riesengebirgs erinnern; nicht minder erzählen sie von dem Erzreichthume des Schneekopfs, den vor Zeiten die Venetianer ausgebeutet und hinweggetragen.« »Diese Sagen« fiel Otto ein: »sind fast alle von einerlei Färbung, und auf allen deutschen Gebirgen heimisch, ich habe sie im Erzgebirge vernommen und auf dem Harz, ebenso im Fichtel- und Riesengebirge. Sie wurzeln allzumal in dem Zeitalter alchymistischer Träumereien und haben gewissermassen ein historisches Element zur Grundlage. Der Thüringerwald ist voll von ihnen.« »Besonders« fuhr im Weitergehen der Führer fort: »knüpft sich das Andenken an diese fremden Steinsucher und Krystallgänger hier herum an die goldene Brücke, eine Berggegend, die wir gleich überschreiten, dort fanden sich sonst häufig und finden sich jetzt noch spärlich die sogenannten Schneekopfskugeln, rundliche Porphyre, deren Inneres Achat, Calcedon und Amethystkrystallen, oft sehr schön, enthält, oft aber auch nur gewöhnlichen Jaspis und Hornstein.«

 

Mit einiger Mühe gelang es den Reisenden, unter vielen Trümmern des genannten Gesteins, und nach Hinwegräumung der obern Erd- und Steindecke, einige dieser Kugeln aufzufinden, worauf sie zur Schmücke hinabstiegen, deren Häuser mitten in eine grünende Hochmatte hingebaut sind, die sich sonnig um die jetzt etwas ermüdeten Wanderer ausbreitete und wieder eine schöne Aussicht auf den nahen Finsterberg, den Sachsenstein und entferntere Gebirgszüge verstattete. Harmonisches Glockengeläute der Heerden, die den Sommer über in's Viehhaus auf der Schmücke zur Weide gegeben werden, umklang wohltönend die Reisenden, und diese Heerden selbst, Rosse und Rinder, gewährten vollkommen mit der ganzen Umgebung das Bild einer Schweizeralme, zu deren Scenerie nur schneebedeckte Alpenzinnen in der Ferne und sonnenverbrannte Sennerinnen in der Nähe fehlten.

 

In der, trotz der Sommerwärme doch nach Thüringerwald-Sitte übermässig geheizten Stube des Wirthshauses, die von mehr als zwanzig gefangenen Singvögeln durchschrieen und durchsungen war, litt es die Wanderer nicht; sie liessen sich ihre Erfrischung herausbringen und labten sich mitten im Schoosse der erhabenen und doch freundlich milden Bergnatur.

Die Sonne wandelte bereits den Gefilden Hesperiens zu, als die Freunde wieder aufbrachen; mit aufrichtigem Dank und wahrer Herzlichkeit schieden sie von dem freundlichen und gefälligen Geleiter, der nun wieder seinen gewohnten Weg hinab über Goldlauter nach Suhl einschlug; die weiter Wandernden aber wählten von den auf der Schmücke zusammenstossenden und sich dort kreuzenden Wegen, zu denen auch der Rennstieg gehörte, den nach Elgersburg und Ilmenau führenden.

»Wir könnten hier den Bergpfad weiter hinabwandeln, der uns in das von schroffen Bergabhängen eingeschlossene Thal der Ilm geleiten würde,« nahm Otto das Wort, als sie an einer Stelle standen, wo die Wege sich theilten; allein ich ziehe es vor, einen Umweg zu machen, der schöner ist, als der Pfad in die Tiefe, und der uns zu einer malerisch gelegenen, noch wohl erhaltenen thüringischen Burg führt, wenn wir auch etwas spät in Ilmenau eintreffen. Wir wandern ja, um zu schauen; folgt mir also getrost nach über die Höhen dieser weithingebreiteten Waldberge, wie durch die tiefen Thalwege. Das Wehen der Abendluft wird uns kühlen, und es wandert sich leicht auf dem weichen Moos- und Rasenteppich der Forste. Wir lassen den Sachsenstein, der sich hier wie eine Grenzsäule aufgipfelt, zur Rechten, blicken dann in ein Waldthal zur Linken hinab und trinken aus der Quelle der Gera. Heiter betreten wir die Spielmannsleite, deren Name so romantisch anklingt, wie eine Waldmelodie, und grüssen in das zum Ilmbette hinabziehende Silberthal, den Heerd vieler Venetianersagen.« – So geschah es; die Freunde wandelten fröhlich hin, die Sonne streute goldne Lichter durch die Tannenwipfel, Vogelstimmen belebten das Gehölz, muntere Eichhörnchen schwangen sich von Ast zu Ast, und in gemessenen Pausen schallte das Picken des Hehers vernehmlich durch die stille Waldung. Das Moos leuchtete an manchen Stellen wie Smaragd. An mancherlei Porphyren, an Todtliegendem, selbst an Granit und einer Art Steinkohle kam man vorüber, blickte von luftiger Höhe hinab in den tiefen Manebacher Grund, durch den sich der Silberfaden der Ilm muntern Laufes schlängelt, und sah die Nachbarorte Manebach und Kammerberg im Schoosse grüner Wiesen liegen, über denen die malerische Felsenwand des mächtigen Herrmannsteins aufragte, einer 100 Fuss senkrecht hohen und über 500 Fuss im Umfang haltenden Porphyrmasse, auf welcher einst eine Ritterburg horstete, wie geringe Trümmer bezeugen, in deren Grunde die Sage des Volkes viele Schätze und versteinerte Fässer voll edlen Weines barg.

 

Ueber die Waldmatte des Heidelberges, die voll goldner Arnicablumen stand, schritten die Wanderer und folgten dann, immer abwärts, dem Hohlwege, in welchem schon abendliches Düster schattete, während rings die Bergeshäupter im Sonnenroth noch glänzten und glühten. Von diesem Abendglühen ganz überflammt, stand jetzt rings von freundlichen Häusern eines Dorfes umlagert, Schloss Elgersburg in alterthümlicher einfacher Schöne vor den Wanderern da. Auf einem steilen Porphyrbrecciefelsen gegründet, stehen die alten Mauern und das Haus noch trotzig und fest. Der Zeitensturm, der über so vielen Burgen Thüringens mit vernichtendem Flügelschlag rauschte, stürzte die Elgersburg nicht um, die man im Alterthum den »rechten Arm von Thüringen« nannte. Lange war die Burg der Rittersitz eines der ältesten thüringischen Adelsgeschlechter, der weitverzweigten und kräftig fortblühenden Familie von Witzleben, wechselte aber vorher oft die Besitzer, war der Grafen von Käfernburg Eigenthum, dann hennebergische Veste, dann Landgrafenbesitzung und mehr als einmal ein Zankapfel. Zuletzt kaufte es die Herzogliche Kammer in Gotha für 127,000 Rthlr.

 

»Die todte Einsamkeit«, sprach Otto, »von welcher umflossen jede mittelalterliche Burg in der Gegenwart wie ein Gespenst der Vorzeit steht, ward hier verdrängt vom Herold einer bessern Aera, die dem Vaterland anbrach, von thätig schaffender, nützlich wirksamer Industrie. Da, wo sonst die Hofbauern der Ritter wohnten, beschäftigt jetzt eine blühende Steingutfabrik eine Menge Menschen; eine Art Porzellan, Emilian genannt, wird von hier weithin vertrieben, ebenso werden gebrannte Röhren für Wasserleitungen hier fabrizirt, deren Nützlichkeit sich bewährt hat. In der Nähe nach dem Gerathale zu sind über zwanzig Braunsteingruben, in denen das Manganerz theils strahlig, theils dicht, theils mit Eisenstein verwachsen im Thon- und Hornsteinporphyr bricht.«

Die Reisenden rasteten eine kurze Zeit in dem guten Gasthofe zu Elgersburg und wandelten dann den angenehmen Wiesenweg am Fusse mehrerer Berge nach Ilmenau zu, nicht ohne zurückzublicken auf das, auch von hier höchst pittoresk sich ausnehmende Schloss und Dorf Elgersburg, welches Wagner schon früher in sein Skizzenbuch einzutragen nicht versäumt hatte. Bald war die weimarische Grenze, dann das Dorf Roda, dann die Kunststrasse, die nach Arnstadt führt, erreicht; der Weg war äusserst belebt, in Ilmenau war Vogelschiessen, eines der berühmtesten und besuchtesten in Thüringen, und die Reisenden betraten die freundliche Bergstadt, die eingehüllt im Flor der Dämmerung vor ihnen lag.

 

Ilmenau

 

Wer jemals in einer der heitern Thüringerwald-Städte süssruhend vom Kuss des Morgens geweckt wurde, ohne mit dem Bewusstsein zu erwachen, du musst aufbrechen und weiter wandern – wer dann gemächlich sich erhob und behaglich zum Fenster hinausschauend die Frische des Morgens wohlgemuth in sich trank, links und rechts und gegenüber Nachbarhäuser und Nachbarfenster musterte, und über ein und das andere Haus hinweg gleich hinaus sah auf Wald und Berge, der hat gefühlt, was die Reisenden empfanden, die in Ilmenau einen jungen Tag begrüssten, dessen Erwachen so erquickende Kühle fächelte und dessen Himmel so rein und saphirblau sich über dem dunkelgrünen Gebirge wölbte. Das Hirtenhorn durchschallte den noch stillen Ort, und in einem endlos langen Zuge wandelte die Heerde der Stadt mit ihren harmonisch gestimmten Glocken dem Thore zu.

Lenz und Wagner hatten von den holden Jungfrauen geträumt, die ihnen am gestrigen Tage auf dem Oberhof erschienen, und waren an ihrer Seite über elysische Gefilde gewandelt, während Otto, in frühe Zeiten vom Zauberer Hypnos zurückgeführt, im wunderlichen Traumleben halb schwelgte, halb litt. Jenen beiden war es Genuss, von der freundlichen Erscheinung zu sprechen, die, wie es schien, ihre Herzen dauernd beschäftigte und beglückte, und der Freund kannte viel zu sehr aus eigener Erfahrung die holde Schwärmerei jugendlicher Liebesphantasieen, um nicht theilnehmend den Mittheilungen, Wünschen und Hoffnungen seiner Begleiter sich hinzugeben. Er fühlte lebhaft, dass es nicht wohlgethan sei, auf dem Verfolg der Reise stets nur den Docenten hervorblicken zu lassen, sondern wo möglich selbst auch Lernender zu sein, wäre es auch nur in der schweren Kunst der Herzenskündigung.

Endlich entstand nach dem Frühstück doch die Frage: wohin zuerst? Sollte die Porzellanfabrik, oder die Papiermachéefabrik zuerst besehen, oder zuerst ein Ausflug in die Umgegend gemacht, ein Bergwerk befahren und Mineralien gesehen und gesammelt werden? Es war an Otto, die Eintheilung des Tages, den die Reisenden zum Verweilen in Ilmenau ersehen hatten, zweckmässig zu bestimmen. Er schlug vor Allem eine Morgenspazierfahrt vor, die ohne Verzug ausgeführt wurde. Rasch durchfuhren die Freunde das Städtchen, zum obern Thore hinaus, an der Porzellanfabrik, den Halden des Johannesschachtes und seinem Zechenhause vorüber und den Martinröder Berg hinan. Auf der Höhe wurde an einem reinlichen geebneten Platze Halt gemacht, und den Aussteigenden stellte sich ein einfaches Werk der Kunst und ein bewundernswerthes der Natur dar; das erste ein Denkmal in Form eines Altars aus dem rothen Sandstein des Berges, mit der Inschrift auf der einen Seite:

Marienstrasse
Ihr Name unser Stolz
Ihr Zweck gemeinsamer Nutzen.

 

auf der andern Seite:

Die Communen des Amtes Ilmenau
1809 – 1811.

 

und Otto erläuterte, dass die Strasse ihren Namen zu Ehren der Grossherzogin Maria Paulowna von Weimar erhalten habe. Die Fremden umstanden aber bald anstaunend die grosse Eiche, einen riesigen, wohl mehr als tausendjährigen Baumstamm, der gerade nicht hoch, aber weitschirmend die greisen Aeste breitet. Derselbe übertrifft zwar nicht die Grimmenthaler Wallfahrtslinde an Umfang, steht ihr aber nur wenig nach. Lenz umklafterte den Stamm und fand, dass derselbe über dreissig Fuss im Umfang hielt. Eine reizende Fernsicht bot sich von der Höhe des Martinröder Berges den Reisenden, die vom jungen Morgen verklärt ward. Durch die Waldung ist ein Blick frei auf die aus dem Wiesengrund aufragende Elgersburg, hinter welcher die Arlesberger Forste mit dem Rumpertsberg, dem Schmidstein, dem Lindenberg und andern einen dunkeln Hintergrund bilden; die schmale Thalrinne des Martinröder Wassers gewährt einen Hinabblick auf das Städtchen Plaue, einen der ältesten Orte Thüringens, über welchem malerisch die Ruine der Ehrenburg thront, und die weisse, hochgelegene Kirche weithin leuchtet. Hoch und kahl, mit wilder Felsklippenzerklüftung, hebt sich mehr rechts die Höhe der Reinsburg über ihre Nachbarberge; ein Stück Gemäuer, das auf ihrem Scheitel steht, bezeichnet die Stätte einer bis auf den Namen ganz verklungenen Veste. Weitere Aussicht deckt die Tannenholzung; aber äusserst lieblich gewährte sich den Rückfahrenden die Ansicht von Ilmenau mit seinen 417 Häusern, das am Fusse der Sturmhaide, zum Theil noch mit an ihrem Abhang freundlich und nett nach wiederholtem Brandunglück hingebaut ist. Breite Wiesenstrecken rahmten eine Menge kleiner Teiche ein, und einer derselben blitzte gross und weit, wie ein spiegelnder See, das Gold der Morgensonne zurück.

»Hinter dem Ehrenberg, der sich über jenem grossen Teich erhebt«, nahm Otto das Wort, »liegt ein Marktflecken, in welchem ein genialer deutscher Schriftsteller das Licht der Welt erblickte. Langewiesen ist des Fleckens, Heinse des Schriftstellers Name. Aus dem rauhen Klima des Thüringer-Waldes trat diess feurige Herz und legte sich erglühend an den warmen, üppigen Busen Italiens. Der Süden beugte sich über ihn, sah ihn tief und lange an mit den schwarzen, flammenden Augensternen, und als er ihn fragte: wie heissest du? antwortete der Süd mit einem Seufzer: Fiormona! Laidion! Heinse trat wie ein wunderbarer Stern an den Dichtersternenhimmel seiner Zeit, und verschwand wie ein solcher. An seinen Strahlen entzündete Mancher der Romantiker seine Gluth, und der Einfluss seines Ardinghello auf mehre Werke dieser Schule ist unverkennbar. Dieser Dichter kam mit seinen phantastisch-üppigen, sinnlich-flammenden Phantasiegebilden und Künstlernovellen um dreissig Jahre zu früh. In seiner stillen, einförmigen Heimath litt es ihn nicht, er musste wandern, schwärmen, glühen, anbeten, und ist fern von Thüringen gestorben.«

 

Die Freunde hatten Ilmenau wieder erreicht und der Führer rieth zu einem Excurs nach Manebach, um dort das Bergwerk zu besehen und das sehr freundliche Thal nicht unbesucht zu lassen. Zuvor führte er aber die Gefährten bei einem seiner Ilmenauer Freunde ein, der den Bekannten wie die Fremden mit gewohnter herzlicher Gastlichkeit willkommen hiess, obschon ihm bereits das Vogelschiessen das Haus mit Gästen gefüllt hatte. Alles war in heiterer, seelenvergnügter Stimmung, wie ein Volksfest sie erfordert, und reichlich flossen schon am Vormittag die Gaben des Dionysos. Ja es hielt sogar schwer, sich wieder loszureissen aus dem frohen Männerkreise und der Unterhaltung, welche ihn belebte. Während Otto mit alten lieben Bekannten Fragen und Antworten tauschte, erzählte der Herr des Hauses dem naturkundigen Lenz, an welchem er einen aufmerksamen Hörer fand, die Geschichte des Ilmenauer Bergbaues, zeigte ihm aus dem Fenster seines der Sturmhaide ganz nahe gelegenen Hauses diesen Berg und berichtete, dass auf ihm in den ältesten Zeiten eine Raubburg gelegen, die vom Kaiser Rudolph mit 65 andern zerstört worden sei, dass schon im dreizehnten Jahrhundert der Bergbau, doch mit mancher Unterbrechung, geblüht habe, vornehmlich auf Kupfer und Silber betrieben, letzteres mit einer Ausbeute von 16,398 Mark innerhalb 10 Jahren. Der Berichterstatter nahm aus einem Büreauschranke die ganze reichhaltige Serie der in Ilmenau geprägten sächsisch-hennebergischen Silbermünzen und zeigte sie vor, meldete dann, wie durch Teichdurchbrüche und überwältigende Grubenwasser die Werke zum Erliegen gekommen, wie durch den Grossherzog Carl August unter der thätigsten Mitwirkung Göthe's und des Bergraths Voigt, des bekannten Mineralogen, 1784 abermals eine neue Gewerkschaft gebildet und eine Zeitlang nicht ohne Erfolg der Bau im Flötzgebirge der Sturmhaide auf erzhaltigem, bituminösem Mergelschiefer betrieben worden sei. »Doch ein Stollenbruch«, fuhr der Erzähler fort, »welcher sich im Martinröder Stollen 1796 ereignete, ersäufte den Kunstschacht – und die Gewerke, die ohne rechten Erfolg 16,000 Thaler in dem neuen Johannesschacht bei Roda verbaut hatten, wurden muthlos. Das Beste, auf was wir jetzt noch bauen, ist Eisen und Braunstein.«

 

Unterdess hatte einer der anwesenden Bewohner Ilmenau's ein Gespräch mit Wagner angeknüpft und diesen von den Tagen unterhalten, welche Carl August, Göthe und Knebel dort in heiter waltender Gemüthlichkeit, allen Zwanges baar, den die Etikette in Weimar den verwandten Geistern vor Zeugen anlegte, oft übersprudelnd froh verlebt. Da ward jenes noch stehende Berghäuschen auf dem aussichtreichen Gipfel des Gückelhahns erwähnt, an dessen Wand Göthe mit Bleifeder einen sinnigen Vers schrieb, und Anekdote an Anekdote gereiht. Auch noch vorhandene Briefe Göthe's in den damaligen Bergbau-Angelegenheiten wurden erwähnt und vorgezeigt, sie trugen aber alle den gleichen Typus des formellen Geschäftsstyls, den der grosse Dichter sich angeeignet hatte, so dass nichts Erfreuliches aus ihrer Lectüre gewonnen wurde.

Endlich ward verabredet, am Nachmittag und Abend mit alten und neuen Bekannten wieder zusammen zu treffen, und nach Manebach aufgebrochen. Rasche Pferde führten die drei Reisenden, denen ein beim Bergamt Angestellter auf ihr Bitten sich angeschlossen, dem schönen, von der Ilm durchschlängelten Manebacher Grunde zu. Sie fuhren an mehren Mühlwerken vorüber, und der junge Begleiter machte sie auf die ungeheure Schlackenhalde aufmerksam, die vor dem Frauenwalder Thore aufgethürmt lag, und erwähnte dabei, dass diese noch aus der Zeit des ergiebigen Silberbergwerks herrühre und einigermassen von dessen ungeheurem Betrieb zeuge, obwohl unendlich viel davon zum Chausseebau hinweggefahren worden.

Schon pilgerten einzelne Lustwandler dem Schützenhofe zu, Musikanten, die Instrumente auf dem Rücken tragend, Bürger und Bauern von nahen und fernen Orten, und die Verkäufer hatten bereits ihre Buden aufgethan. Ja, aus einem Kiosk leuchteten auf dem geräumigen, mit Buden und Laubzelten geschmückten Platz vor dem Schiesshaus auch die farbigen Gewänder eleganter Damen. Schüsse knallten, die Trommel des Zielers wirbelte, das fröhliche Leben begann.

 

»Halt!« rief der Begleiter dem Kutscher zu, und die Rosse standen. »Wir wollen zwar jetzt, da wir Wein getrunken, kein Bier trinken, aber ich ersuche die Herren, einen Augenblick auszusteigen und mir zu folgen. Jetzt ist es leichter, Ihnen die grösste Merkwürdigkeit unsers Schützenhofes zu zeigen, als Nachmittags, wenn eine drängende Menge sie umlagert.« Die Reisenden betraten mit ihm das Erdgeschoss des 132 Fuss langen, 2 Etagen hohen Schützenhofes und schritten in den ungeheuern Keller. Dieser, so geräumig in festen Porphyrfels getrieben, dass man mit einem Wagen darin fahren könnte, besteht aus zwei neben einander parallel laufenden Wölbungen, jede 170 Fuss lang, aus denen ein 20 Lachter tiefer Schacht als Luftloch aufwärts führt. Darin lagerte nun in zahllosen Fässern das berühmte Ilmenauer Felsenkellerbier, das weit in die Umgegend, nach Erfurt, Weimar und andere Städte Thüringens versandt, durstige Kehlen nicht minder erquicklich, wie an Ort und Stelle, labt. Der Keller wurde gebührend trefflich gefunden, nicht minder das Bier, welches doch versucht werden musste, und dann ging die Fahrt im Manebacher Grunde fort. Während derselben sprach sich der Bergbeamte belehrend über den Boden Ilmenau's in mineralogisch-geognostischer Beziehung aus, was besonders von Lenz mit Dank angenommen wurde. »Der Kern unsers Gebirges«, sprach er, »wird von Porphyr gebildet, mit mächtigen Anlagerungen von Todtliegendem. Der Hornsteinporphyr tritt in nackten Felsengruppen zu Tage, und der Schooss des Gebirges enthält vornehmlich Braunstein- und Rotheisensteingänge, untermengt mit Schwer-, Fluss- und Kalkspath-Geschieben. Das Todtliegende zeigt sich theils als Conglomerat, theils als bunter Thon- und Sandstein, und über demselben haben sich bituminöse Mergel- oder Kupferschiefer aufgelegt, unter denen früher die silberreichen Sanderze brachen, welche den Flor der Stadt gründeten. Im Kupferschieferflötz nach Roda zu fand man schöne Fischabdrücke, und über denselben kommen Lager von Zechstein mit Gryphiten, Gyps und Stückstein vor, über welchem die Sandstein-Formation beginnt, die unsern Porcellan- und Glasfabriken höchst brauchbares Material liefert. Am häufigsten wechseln die Gebirgslager auf dem Wege nach Langewiesen; der Ehrenberg bietet auf der kurzen Strecke von der Lohmühle bis zum Marienhammer gegen zwanzig verschiedene Gesteinarten. Bei Manebach und Kammerberg, wohin wir fahren, liegen zwischen Kohlensandstein und Schieferthon Steinkohlen in vier mächtigen Flötzen so über einander, dass jedesmal der Schieferthon die Steinkohlen einschliesst, und der Kohlensandstein zweimal eingeschlossen ist und zweimal die äussern Kettenglieder bildet.«

 

Auf diese Weise lehrreich unterhalten, legten die Reisenden gar bald das freundliche Thal zurück und kamen bei den genannten, unter Felsen und aufwärts steigenden waldumkränzten Bergwiesen reizend und malerisch gelegenen Orten an. Man ging zu dem Stollen, grüsste mit heiterm »Glück auf!« Steiger und Knappen, schwarze Bergmannshemden wurden übergeworfen, Grubenlichter angezündet, und so gerüstet fuhr man ein. Rauschend tosten die Wasser des Kunstschachts, und die Gestänge ächzten, bewegt von einem mächtigen Rade über der Erde. Die Ausbeute in der Tiefe für die Besuchenden waren interessante Abdrücke vorweltlicher Kryptogamen und versteinerte Reste von palmenartigen Monocotyledonen. Die Arbeit der Knappen in diesen Schachten ist mühsam und beschwerlich; jährlich werden über 6000 Centner Steinkohlen zu Tage gefördert.

 

Freudig begrüssten die Grubenbefahrer wieder den warmen Tag, das göttliche Sonnenlicht, nahmen im Gasthause zu Manebach einen ländlichen Imbiss und tranken dazu, es klingt fabelhaft, ächtes Augsburger Bier, das thüringische Fuhrleute der Rarität halber von Zeit zu Zeit mitbringen. Die Thüringer Wäldler, im Besitz vortrefflicher Brauereien und Biere, wollen denn doch auch manchmal etwas Apartes haben.

 

Der Platz vor dem Ilmenauer Schiesshause wimmelte am Nachmittag, der weite Tanzsaal wimmelte; die Lauben, die Hütten, die Zelte, die offenen Bänke waren gedrängt voll und besetzt. Das war ein Leben! Lustig flaggte die Grossherzoglich-Weimarische Landesfarbe, und Manchem konnte es im Gedränge gelb und grün vor den Augen werden. Haupttag des Vogelschiessens! das war das Zauberwort, das von nah und fern die Tausende herbei- und herüberlockte. Schützen aus allen Nachbarstädten und Flecken, vornehmlich von Amtgehren, welcher Nachbarort alljährlich mit Ilmenau in Abhaltung dieses beliebten Volksfestes wechselt. Hier ist, nach Göthe's Wort: »des Volkes wahrer Himmel.« Von Arnstadt, Erfurt, Gotha, Weimar, Schleusingen, Meiningen, Hildburghausen, Suhl, wie von den kleinern Städten Plaue, Königssee, Eisfeld, Schalkau und andern, der Dorfschaften nicht zu gedenken, finden sich sicher jedesmal Repräsentanten beim Ilmenauer Vogelschiessen ein und helfen diese glänzenden Tage feiern. Die ungeheuern Forste des Weimarischen und der Nachbarstaaten erfordern natürlich ein zahlreiches Personal, und daher sind denn auch die Mehrzahl der Schützen praktische, nämlich Jäger, und es ist eine Lust, mit den naturbefreundeten, daher nicht höfisch zierlichen, sondern ächt deutsch und kernhaft sich offen gebenden Grünröcken zu verkehren. Es war, als wenn nicht allein die nur dritthalbtausend zählende Einwohnerschaft Ilmenau's, sondern die zahlreiche Bevölkerung des ganzen Waldes hier versammelt wäre. Hier bewegt sich denn zwanglos, frei und lebensfroh mitten unter vornehmen und geputzten Städtern das thüringische Landvolk, das Volk, welches rothe Westen und Tuchlätze trägt, und Röcke von der Farbe seiner Wälder, und schwarze oder gelbe Beinkleider; Weiber und Mädchen mit blaugezwickelten rothen Strümpfen, faltenreichen Tuchröcken, braunen Wämsern, silber- und bändergezierten Miedern; und Alle sind lustig und guter Dinge. Da gibt es Musikanten, dort Leiermänner, hier tanzende Paare, dort kosende, dort setzt es auch wohl thüringische Maulschellen und Püffe, die nur wenig die Lust unterbrechen. Unsichtbar segnend wandeln durch die ächte deutsche Volkslust zwei hellenisch-mythische Gestalten, Ceres und Bacchus Arm in Arm. –

 

Nachdem die Festfeier des Nachmittags, der Schützenzug nach herabgeschossenem Corpus des Vogels, manch donnerndes Vivat, manch schäumendes Glas gesehen, gehört und genossen war, manche alte Bekanntschaft erneut, manche neue angeknüpft worden, folgten die Freunde einer gastlichen Einladung, den Rest des Abends in Wenzels Berggarten zuzubringen, dessen schöner Salon vom Lampenschein erhellt, von freundlichen Gestalten belebt war. Ein köstlicher Kardinal schimmerte purpurn in der Terrine, duftete Vanillearom und empfing durch einige Flaschen Champagner die wahre Weihe. Hell schwammen mehre getheilte Orangen auf der dunkeln Fluth. In die Freude, die im Becherklang austönte, klang plötzlich lauter Männerchorgesang; eine Bergknappenschaar zog auf und sang einen alten beliebten Bergreihen mit stetem Refrain, dessen erste Strophe ächt volksthümlich also lautete:

Viel Bergleut' sind eine schöne Zier


Allhier auf dieser Erd';
Sie bringen das Gold und das Silber herfür,
Gleich wie's geschrieben steht.
Man kann's ihnen auch beweisen,
Sie gewinnen's mit Schlägel und Eisen;
Man könnte nicht lachen,
Kein' Ausbeut' nicht machen,
Wenn halter kein Bergmann nicht wär'.

 

Es war Mitternacht vorüber, ein Gewitter zog prächtig über den hohen Gickelhahn, dumpfer Donner grollte und schmetterte im Gebirge, in eiligen Zügen stob ein Theil des Volkes nach der Stadt, die Blitze flammten blendend auf und züngelten blau um die Bergscheitel, grosse Tropfen fielen; Alles suchte in Eile ein sicheres Obdach. Zürnend flammte das Wetter über dem Thalkessel der Waldstadt, aber es zog gnädig vorüber und entlud sich nur in der brausenden Stromfluth eines gewaltigen Regengusses.

 

Erfurt

 

Der folgende Morgen führte, bei wieder etwas hellerem Himmel, die Reisenden aus der Grossherzoglichen Residenz der uralten Hauptstadt des Thüringerlandes zu. Otto zeigte den Freunden zur Linken in friedlicher Niederung die Wallendorfer Mühle, die einst Schauplatz einer gar romantischen Liebe des Grafen Wilhelm von Orlamünde zur schönen Meta, der Müllerstochter, war, und zur Rechten den 1459 Fuss hohen Ettersberg mit dem Jagdschlösschen Ettersburg, welcher bei gutem Wetter eine ausgedehnte Fernsicht gewährt, und der Umgegend als Wetterverkündiger, wie überall hohe Einzelberge, dienen muss. Er hatte bereits den Hut gelüftet; die Wolken, die seine Stirne umlagert hielten, verzogen sich, und so prophezeihte er den Reisenden günstig. Die Heerstrasse war äusserst belebt; Landleute in reinlicher Tracht, meist Mädchen und Frauen, mit Körben aller Art auf den Rücken, eilten dem Wochenmarkt in der Residenz zu, um die Erzeugnisse ihres Fleisses und ihrer Feldwirthschaft zu verwerthen, aber auch Wagen voll Gemüse und sonstige Victualien flogen, von starken Ackerpferden gezogen, dem Auge rasch vorüber; darauf sassen oft noch ganze Gesellschaften gemischten Geschlechts, fröhlich durch einander plaudernd in allen Variationen des hier ziemlich breiten und singenden thüringischen Dialektes.

»Wir haben auf unsrer Reise,« nahm Lenz das Wort: »viel des Schönen gesehen, das Natur oder Kunst dem Auge gefällig darboten, aber vom eigentlichen Leben des Volkes, dessen Brauch, Sitte und Wesen, haben wir nur wenig erblickt; wie kommt das?«

 

»Das hat einen sehr natürlichen Grund, und kann für mich kein Vorwurf sein,« erwiederte Otto. »Um Studien jener Art zu machen, bedarf es eines längern Verweilens in Städten und Dörfern, als eure Zeit und Eile vergönnt. Vom Vogelschiessen, in Thüringen allbeliebt, habt ihr in Ilmenau eine Vorstellung erhalten: Weimar, Gotha, Erfurt, Rudolstadt halten neben jenem die berühmtesten, besuchtesten; vielleicht führt unser Reiseglück uns auch in ein Kirmsedorf; diese beiden noch in aller Aechtheit erhaltenen und vom Volke mit Vorliebe festgehaltenen Volksvergnügungen sind besonders geeignet, Anschauungen des thüringischen Volkslebens zu geben. Um festliche Gebräuche von Einzelorten wahrzunehmen, die oft originell genug sind, muss man zu günstiger Zeit und Stunde anwesend sein, es giebt deren manche, und ich will euch, den ziemlich einförmigen Weg zu kürzen, einige nennen. Naumburg hat sein Kirschenfest, von dem ich euch erzählte, Mühlhausen sein Brunnenfest, wo eine dankbare Erinnerung die Jugend zur Freude leitet, an der alles Volk Theil nimmt. Das Dorf Günstedt, im Königlich Preussischen Amte Weissensee, feiert ein Fest, der Ablass oder die Spende genannt, auf einer unabsehbaren Wiese, zu welchem Tausende strömen; Querfurt hält auf seiner berühmten Eselswiese einen berühmten Jahrmarkt, Erfurt, dem wir uns nahen, hat noch seinen grünen Montag mit Waldeslust und Waldesjubel, seine Peter- und Hospitalkirchweihen; in frühern Zeiten zog sein Frohnleichnamsfest die Bevölkerung der ganzen protestantischen Umgegend zur Theilnahme herbei, und diese vergass bei dessen Glanz, dass es ein katholisches Kirchenfest sei. Eine Menge früherer Feste wurden eingestellt, oder beschränkt, so in vielen Städten der beliebte Gregoriustag, in Erfurt der Walperzug nach der Wagdweide, eine Erinnerungswallfahrt an einen errungenen Sieg der Städter über die Burggrafen von Kirchberg. Im uneigentlichen Sinn kann man auch Volksfeste die festlichen Tage von Himmelfahrt, Pfingsten, Trinitatis und Johanni nennen, wo das Waldvolk den Berggipfeln zuströmt, und sich in den kräuterreichen Waldungen verbreitet, um hochlodernde Feuer die Nächte durchschwärmt, sich wacker zutrinkt, und zum Theil auch sich wacker prügelt. Orgien dieser Art mögen wohl noch späte Nachklänge vorzeitlichen heidnischen Hain- und Bergkults sein. Namentlich am hochgehaltnen Dreifaltigkeitstage muss jede Arbeit ruhen, muss spazieren gegangen werden; an diesem Tage vornehmlich blüht auch nach dem Volksglauben die Wunderblume an gesegneten Stellen in grüner Waldesnacht.« –

 

Unter solchen und ähnlichen Mittheilungen kamen die rasch des Wegs Fahrenden bis zu dem Punkt, von welchem aus Erfurt in seiner ganzen Grösse am Fusse nicht hoher Berge mit vielen Thürmen und Thürmchen in der höchst fruchtbaren, weit zu überschauenden, mit friedlichen Dörfern geschmückten Thalebene der Gera liegt. Ueber die Höhen des Steigerwaldes blickte neugierig der ferne Inselsberg herein, und nicht allzufern zur Linken ragten über Duftschleiern die Gleichischen Bergschlösser, herüberschauend nach den stattlichen Vesten der Neuzeit: Petersberg und Cyriaksburg. Sanfte, vielfach verzweigte, grösstentheils aus Kalkstein bestehende Höhenzüge und Plateau's, zwischen denen kleine Flüsschen und Bäche sich winden, bilden, mit Nadelholz- und Laubwaldungen untermischt, den Charakter dieser Gegend, in einem Umkreis mehrer Meilen, und in ihr, der lachenden, freundlichen, ergiebigen, in Thüringens Mitte günstig gelegenen, wurde in der Urzeit dieses Landes die grösste und beste Stadt desselben gegründet. Otto nahm von der Gegend Veranlassung, dieser Gründung zu gedenken.

 

»Das Erfurter Gebiet,« sprach er: »ist mir immer merkwürdig, weil in ihm die vielleicht älteste deutsche Sage haften blieb, die von einer Zeit, in welcher noch alles Flachland unter Wasser stand, wo mithin noch nicht einmal von den undurchdringlichen Wäldern und Wildnissen des alten Germaniens die Rede war. Dieser Sage nach verliefen sich aber die Gewässer, als die Riesen den Felsendamm an der Schmücke, unter der nachherigen Sachsenburg, jenem Unstrutpass, den ich euch zeigte, durchgestochen. Von der Gründung der Stadt weiss nur die Sage zu erzählen, die bald einen Müller Erf an einer Gerefurt (Erefurt), bald den mythischen König Merovig als erste Erbauer nennt. Das alte Erphesford tritt jedenfalls schon früh fertig in die Geschichte; so fand es Bonifacius, und hielt es eines daselbst zu begründenden Bisthums werth; Klöster erhoben, Ansiedler mehrten sich; Karl der Grosse machte Erfurt zu einer Stapelstadt; die spätern Kaiser hielten hier Reichs- und Kirchenversammlungen, und verliehen nach und nach Mauern, städtische Ordnungen, Stiftungen, Freiheiten, während das Bisthum wieder erlosch und die Stadt unter den Krummstab von Mainz kam. Die thüringischen Landgrafen haben sich nie dauernder Herrschaft über die Stadt erfreut, deren erwachender Bürgertrotz sich den Reichsstädten gleich achtete. Hader, Kampf und Fehde nach allen Richtungen hin ziehen sich durch die ganze Geschichte Erfurts wie ein blutiger Faden, und nichts, was in der Frühzeit allgemeines Interesse erregen konnte, fand Erfurt ohne Theilnahme. Anhängerin des Grafen Adolph von Nassau, Erzbischofs von Mainz, traf die Stadt der päpstliche Bannstrahl und die Reichsacht; sie trug beides standhaft, und Adolphs Dankbarkeit half ihre Universität gründen, die dazu beitrug, ihr die höchste mittelalterliche Städteblüthe zu verschaffen; auch dem Bunde der deutschen Hansa schloss Erfurt sich an.«

 

»Indessen mitten im gedeihlichen Wachsthum traf die Stadt hemmend ein furchtbarer Schicksalsschlag. Ein schändlicher Mönch steckte sie 1472 in Brand, wodurch fast die Hälfte ihrer Häuser in Asche sank. Später untergruben die wachsende Macht der benachbarten Sachsenherzoge, Leipzigs aufblühender, kosmopolitische Bedeutsamkeit gewinnender Handel, und nachlässige Verwaltung des städtischen Vermögens Erfurts Glück; letztere führte endlich zu offenbarem Aufruhr der Bürgerschaft gegen den Rath und zu Händeln, welche zu der städtischen Schuldenlast von 500,000 Gulden unermessliche neue Kosten fügten, eine grosse Anzahl Patrizierfamilien theils zur Flucht, theils zur Auswanderung zwangen, und zuletzt der Stadt die Reichsacht zuzogen. Mangel an Gemeingeist zerrüttete unheilbar Erfurts frühern Flor, doch hob es sich bald darauf in geistiger Beziehung um so mehr, durch Lehrer seiner Hochschule, wie Eoban Hesse, Johann Lange, Justus Jonas, Draconites, Camerarius, und Andere. Aber nicht lange, so brachen in Folge der Reformation so heftige Streitigkeiten aus, dass Lehrer und Schüler sich wegwandten. Unaufhörlich wechselnd sah Erfurt fortan Zeiten des Friedens, wie des Krieges über sich verhängt, es sah in seinen Mauern und in seinem Gebiete Gustav Adolph, Tilly und Banner, später Friedrich den Grossen; es lehrte dort Wieland, es glänzte in ihm der gefeierte, wissenschaftliche, kunstsinnige Coadjutor Dalberg, der nachherige Fürst Primas. Das Loos der Völker unterwarf Erfurt und sein Gebiet dem Scepter Preussens 1802, doch nur auf kurze Zeit, in der die Universität erlosch – später wogten Heere über diese jetzt so friedlichen Fluren, Frankreichs Siegesfahnen wehten von den Citadellen – Contributionen – Explosionen – Brand – Seuchen – Monarchencongresse – Napoleon mehr als einmal hier anwesend – bis endlich eine unermesslich schreckliche Zeit für Erfurt mit der des neuen Titanensturzes zusammenfiel. Doch auch dieses fast untragbare Weh ging vorüber, Erfurt sah und sieht wieder eine bessere Aera, und hat sich nach allem erlittenen Ungemach wieder zu einer Stadt von über 3000 Häusern und 21,000 Einwohnern, ohne das Militär, erhoben.« –

 

Dumpf rollte über die Zugbrücke des Wallgrabens und durch das starkgemauerte, einen dunkeln Gang bildende Schmiedstädter Thor der Wagen, der die reisenden Freunde in das zum Theil noch sehr alterthümliche, merkwürdige Erfurt trug, und durch einige Strassen mit ziemlich unansehnlichen Häusern auf den schönen stattlichen Anger zu dem belebten, wie beliebten Gasthaus zum Kaiser brachte. Während die Reisenden bei einem Gabelfrühstück sich restaurirten, umgab sie ein bewegtes Leben, Posten kamen an und fuhren ab, Passagiere aller Art erschienen, die Kellner flogen flink umher. Aus dem gemüthlichen Stillleben der Reise sah man sich plötzlich in das rege Gewühl einer Grossstadt versetzt, und ergötzte sich an diesem Wechsel geraume Zeit, bis zu einer Promenade durch die Stadt aufgebrochen wurde.

»Erfurt bietet so viel des Sehenswerthen dar,« sprach Otto im Gehen, indem er die Freunde an der einfachen alten Kaufmannskirche vorbei, in die Johannesstrasse führte: »dass ein wochenlanges Verweilen kaum hinreichen würde, die Schaulust zu begrenzen, zumal wenn dieselbe Freude am Alterthümlichen hätte. Ist auch von den Ueberresten des Mittelalters bereits unendlich Vieles zerstört, durch Feuer und Neubauten verschwunden, so ist doch noch gar Manches übrig an Bildwerk, Inschriften und Zierrathen, der schönen Kirchen nicht zu gedenken.« Und so fanden es auch die Freunde, sie fanden noch die Steinbilder an den ehemaligen Patrizierhäusern, nach denen diese Häuser zum Theil bis heute den Namen führen; oft Gebilde der Kunst, oft auch barocke Zeugnisse vom Ungeschmack einer spätern Zeit, immer aber nicht uninteressant. Die Chroniken der alten deutschen Städte grössern Umfanges und geschichtlicher Bedeutsamkeit sind meist mit Lapidarbilderschrift an den Häusern zu lesen. – In der Futtergasse, welche auf den Wenigenmarkt führt, bezeichnete Otto das Theater, Privateigenthum, und nur von Zeit zu Zeit durch gute ambulante Truppen belebt. Auf den Wenigenmarkt angelangt, trat ein alterthümliches gethürmtes Thor entgegen, die Aegidiikirche mit einem gewölbten Durchgang, der zur Krämerbrücke leitet. Diese beschreitend, wurden zur Rechten und Linken freundliche Häuser erblickt, deren untere Stocke Kaufladen an Kaufladen bilden.

»Ihr seht hier eine Eigentümlichkeit Erfurts,« sprach Otto: »welche ihr nicht leicht in einer zweiten deutschen Stadt also finden möchtet; ihr wandelt nämlich, ohne es zu gewahren, auf einer steinernen Bogenbrücke. So waren, wie man auf alten Bildern findet, die Brücken von Paris einst mit Häusern dicht besetzt. Die hiesige Krämerbrücke, deren Namen sich von selbst erklärt, wurde bereits in dieser Gestalt 1321 erbaut.«

 

»Bevor wir, den Haupt-Sehenswürdigkeiten Erfurts uns zuwendend,« nahm Otto wieder das Wort, als die volkbelebte Brücke überschritten war: »dem Friedrich-Wilhelms-Platze nahen, ersuche ich euch, mir auf einem kleinen Umwege rechts ab in die Michelsstrasse zu folgen; in dieser, einst von den vornehmsten Patrizierfamilien bewohnten Strasse erblickt ihr neben manchem noch vorhandnen Hause, das sich durch Wappen, Bildwerk oder Inschrift vor andern auszeichnet, noch sonstige Gebäude von geschichtlicher Bedeutung für diese Stadt. So lässt selbst die Sage in diesem ersten Eckhause zur Linken einen Templerhof gewesen sein, wiewohl sich in der Geschichte dafür keine Bestätigung findet. Dort gegenüber der mit Epitaphien äusserlich geschmückten Michaelskirche steht noch wohlerhalten mit Inschriften und gothischen Fensterverzierungen späterer Zeit grau und steinern das ehemalige Universitätsgebäude, in ein städtisches Arbeitshaus umgewandelt. Nahe dabei in dem ehemaligen Kloster Pfortaischen Hofe befindet sich das Königliche Inquisitoriat. Thürme verschiedener nicht mehr vorhandener Kirchen werden in dieser Gegend erblickt, und wenn wir jetzt uns links in die schmale Pergamentergasse wenden, erinnert, aus winkelvoller Seitengasse vortretend, des Turnierhauses alterthümlicher Bau an die kampfliebende Belustigung des Mittelalters, und an Albrecht, den unartigen Landgrafen, der seine letzten Jahre darin verlebte.«

Jetzt aus der Pergamenter-Gasse getreten, lag vor den Augen der staunenden Fremden der grosse, zur Rechten mit den anmuthigsten Gartenanlagen und Baumreihen geschmückte Friedrich-Wilhelms-Platz, mit seinen langgedehnten Häuserreihen, seiner Fontaine, seinem Obelisk, einem Denkmal der Erinnerung an den Kurfürsten Friedrich Karl Joseph, und dem ehrwürdigen Dom, neben dessen hohem und stumpfem Thurmkegel die schlanken Spitzen der Thürme des Severistifts in den blauen Himmel aufragen. Bald auch wurden über terrassenförmig aufgeführten Mauern und grünen Erdwällen die Werke und Gebäude des Petersberges erblickt, und den Platz erfüllten in glänzender Parade mehre Bataillone des 31. und 32. der Königlichen Infanterie-Regimenter sammt ihrem Stabe, deren vortreffliche Musik zugleich die Reisenden mit langentbehrtem Genuss erfreute. Ungemein viel trägt zur Belebung Erfurts das Militär bei, indem ausser dem erwähnten noch vier Fusscompagnien der dritten Artilleriebrigade, drei Garnison-Compagnien, ein Commando Pionniere und drei Bataillone Landwehr-Infanterie, im Ganzen aber 3000 Mann in den beiden Festungen und in der Stadt vertheilt sind. Als der schönen Musik eine Zeitlang wohlgefällig zugehört war, führte Otto seine Freunde die breiten Stufen zum Dom empor, welche von ihrem lateinischen Namen Gradus früher dem ganzen, in ältern Zeiten durch viele Häuser weit mehr eingeengten Platze die Benennung: der Graden, verschafften. Schon oben von der Cavate, der breiten, geplatteten Balustrade, welche die vordere Seite des Domes ganz umzieht, gewährte sich eine reizvolle Aussicht auf den grossen Platz, die nahen Strassen und ansehnlichen Gebäude. Aber zum herrlichen Panorama entfaltet, lag vom Domthurm überblickt, das Häusermeer der Stadt mit den ragenden Felszacken ihrer immer noch schwer zu zählenden Thürme, mitten in dem grünenden Gefilde, von Bergen umfangen, und wie ein Stern nach allen Richtungen hin die weiss in die Ferne leuchtenden Strassen ausstrahlend. Rundum erstrecken sich, freundlicher wie ehedem graue Mauern und trotzige Thürme, die gediegenen Werke der Fortification, und schliessen in ihren weiten grünen Ring schirmend und sichernd die Stadt, die vielen und weitläuftigen Vorstädte, zahlreiche Gärten, Wiesen und Vergnügungsorte mit ein.

Nach solchem mannichfachen, von ganz hell gewordenem Himmel begünstigten Aussichtgenuss wurde nun das Innere des Domes besehen, doch vorher auch die berühmte grosse Glocke, Maria Gloriosa, nicht unbetrachtet gelassen, da einmal der Thurm erstiegen war. Mit dem 11 Ctr. schweren Klöppel wiegt dieselbe 286 Ctr., und wird bei hohen Festen angeschlagen. Sie zu läuten wagt man nicht mehr; ihr mächtiger Umschwung würde den Thurm allzusehr erschüttern, dessen Gemäuer durch einen Brand in Folge eines Wetterschlages litt, der ihn des Daches und die Kirche noch zweier Nebenthürme, wie mehrer Glocken im Jahr 1717 beraubte.

Das Dom-Innere wirkt überraschend auf den Beschauer. So Vieles erscheint nach den Verwüstungen, die es in den unglücklichen letzten Kriegsjahren erlitt, novantik, so Vieles restaurirt, Manches davon im guten und besten Geschmack, wie die Sculpturen der Seitenaltäre, die Kanzel, das Orgelchor, Andres im schlechten und verwerflichen, wie die unhaltbare theilweise Firnissmalerei der Fenster, eine trübselige Vertreterin der glühenden Farbenpracht, die sie ersetzen sollte. Dazwischen tritt wieder Hochalterthümliches in unentstellter Einfachheit hervor. Ein schönes Lukas Kranachisches Gemälde ziert wohlerhalten den einen der acht Pfeiler, und zog sogleich Wagners Kennerblick auf sich; nicht minder lockte an der Mauer das riesengrosse St. Christophsbild, dann ein uralter Gobelin und der merkwürdige Grabstein jenes durch seine sagenhafte Doppelehe so berühmten Grafen von Gleichen, zwischen seinen beiden Frauen dargestellt, zur nähern Betrachtung hin. Vom ehemaligen Kloster auf dem Petersberge, wo des Grafen Geschlecht sein Erbbegräbniss hatte, ward dieser Stein herab in den Dom gerettet, und selbst die Gebeine des Gatten will man neben seinen Weibern aufgefunden haben, und zeigt sie in einer bretternen Kiste als langes Gerippe hinter dem Hochaltar des hohen Chores.

 

Wenn das Domschiff, der Kreuzesform entbehrend, auch in seinem Totalanblicke die architektonische Schönheit vermissen lässt, die andre Gebäude dieser Art in der Regel auszuzeichnen pflegt, und dafür nur anziehende Einzelheiten zeigt, so wirkt der hohe Chor um so imposanter, mächtiger. Seine durchaus mit Glasmalerei gezierten Fenster tragen, mit Ausnahme weniger Ausbesserung, noch den Stempel der Aechtheit, sein hohes pfeilerloses Gewölbe verdient alle Bewunderung, nicht minder die schöne, mit Geist restaurirte Schnitzerei an den Chorstühlen, wie ein ächt gothisch gearbeiteter Kronleuchter eines noch lebenden Künstlers. Mitten im Chor steht eine metallene männliche Statue, von alter Arbeit, ein büssender Kerzenträger, der Wolfram genannt, nach Angabe der Schliesserin ein Bild aus grauer Heidenzeit, nach richtigerer Lokalsage aber Stiftung eines zu quälender Kirchenbusse verdammten Patriciers, der das Bild zum Gedächtniss seiner Busse gab und Mönch wurde.

Vom Dom aus wandten sich die Schaulustigen zur Kirche des nahen St. Severi-Stifts, in welcher vornehmlich ein gothischer Taufstein aus dem fünfzehnten Jahrhundert, in hoch aufstrebenden, kunstvollsten Laubwerkverschlingungen durchbrochen gearbeitet, sehenswerth ist. Ein Wunder, dass dieses Kunstwerk alle drangvollen, den beiden Nachbartempeln oft äusserst bedrohlichen Zeiten glücklich überstand! Noch während der Blokade 1813 wurde der Dom und dieses Stift mit seiner schönen Kirche in den Bereich der Feste Petersberg gezogen, und hatten gänzliche Zerstörung zu gewärtigen.

 

Zur ohnedies erschwerten Besichtigung der nahen Festung Petersberg keine Lust bezeigend, wandten sich die Freunde wieder abwärts nach der Stadt, da bereits die Mittagsstunde herbei gekommen, und wandelten durch die Marktstrasse an der Allerheiligenkirche, deren äussere Zierde, gleich der des Domes, manche Zertrümmerung erlitt, vorüber, um zum Fischmarkt und Rathhause zu gelangen. Mit Bedauern aber musste Otto den ältern Theil desselben ganz abgetragen erblicken, welcher eine Fülle von Erinnerungen aus der Stadtgeschichte in seinem Innern bewahrt hatte, und konnte sich nicht enthalten, seinen Begleitern in Bezug auf diese Umwandlung aus der Ballade eines jungen Dichters, der sich Ludwig von Erfurt nennt, folgende Strophen vorzusagen.

 

  »Was für ein Trümmerhaufen erhebt beim Roland sich?
Das ist das alte Rathhaus, das keinem Sturme wich;
Das Roland gegenüber Jahrhunderte gethront,
Das haben seine Söhne nicht länger mehr verschont.

  Die edlen Wappenschilder, die Fahnen, die im Saal,
Im hochgewölbten prangten, man nimmt sie ab zumal.
Die alte Armbrust selber, die Sechse nur gespannt,
Die weit ins Feld geschossen, verlieret ihren Stand.

  Die Hallen weichen mächtig zerstörender Gewalt,
Die Decken stürzen nieder, dass weithin es erschallt.
Voll Wehmuth sieht's der Knabe, der einst im Saal gespielt,
Dort seiner Väter Nähe wie Geisterhauch gefühlt.

 

»Doch, wozu,« spottete der Sprecher hinterher: »wozu die Threnodien auf das Alte, Vergangene? Lasst sie nicht laut werden, ihr jungen vaterländischen Dichter, sonst verdächtigen Jene euch gleich des Stillstandes und der Nichttheilnahme an den Interessen der Gegenwart, die gleich der Drachenzähnesaat des Kadmus, nur Hass und Zwietracht im Busen tragen, aber weder eine Erinnerung haben, noch eine Geschichte kennen wollen. Uns lasst friedsam am Rolandbilde vorbei durch die neue und Schlösser-Strasse zum Kaiser wandeln – zu Mittag zu speisen.« –

Der Nachmittag wurde von den Freunden theils mit Besichtigung so manches Sehenswerthen (Alles zu schauen, wurde eben so ermüdend, als überflüssig befunden), theils an Vergnügungsorten zugebracht, deren der Hirschbrühl mehre enthält, darunter Vogels Garten, wo ein Conzert, von der Militärmusik gegeben, Statt fand, das die Freuden der Geselligkeit dort auf eine edle Weise oft erhöht.

Bei einer spätern Ueberwandlung des Friedrich-Wilhelms-Platzes deutete Otto seinen Begleitern noch an, dass der Petersberg von der Sage als der Ort bezeichnet werde, auf welchem die erste Kapelle Erfurts gestanden. Dabei wurden jene auch auf ein den Platz zierendes Privathaus aufmerksam gemacht, die hohe Lilie, früher ein Gasthaus, das durch die Einkehr berühmter Männer, wie Dr. Luther, Landgraf Philipp von Hessen, Kurfürst Moritz von Sachsen, König Gustav Adolph von Schweden u. A., selbst geschichtliche Berühmtheit erlangte.

 

Unter den mancherlei öffentlichen Sehenswürdigkeiten und Privatsammlungen, zu welchen letztern der Zutritt durch Befreundete erwirkt, und die mit freundlichster Bereitwilligkeit den Fremden eröffnet wurden, verdient besondrer Erwähnung das evangelische Waisenhaus, im ehemaligen Augustinerkloster, welches eine recht schätzbare Naturalien- und Kunstsammlung enthält, einen gut gemalten, bekannten Todtentanz aus späterer Zeit, vielleicht der jüngste in der Reihe dieser, dem frühen Mittelalter entstammten Darstellungen, und worin endlich Luthers Zelle, die er als Mönch bewohnt, mit ernster Erinnerung betreten ward. Sie ist mit Bibelsprüchen bemalt, wodurch ihre frühere Einfachheit in etwas beeinträchtigt wurde, sonst ruft noch manches Buch, Geräth und Autographen das Andenken an ihren einstigen Bewohner lebendig hervor. – Herr Kaufmann Bellermann zeigte den Freunden das von seinem Vater theils gesammelte, theils selbst verfertigte Kunstkabinet, enthaltend in antiquarischer Mannichfaltigkeit gelungene Werke der Phelloplastik, wie der Malerei, herrliche Panoramen, eine künstliche Sammlung ausländischer Schmetterlinge und Käfer, mit täuschender Wahrheit nachgebildet, und noch so manches Interessante aus Heimath und Fremde an Produkten der Natur, wie des Kunstfleisses.

 

So flogen die zum Aufenthalt in Erfurt bestimmten Stunden unter stets wechselndem Genusse willkommener und belehrender Anschauungen und harmloser Geselligkeit in Otto befreundeten Zirkeln schnell dahin. Ueber die äusserst zahlreichen herrlichen altdeutschen Baudenkmäler dieser Stadt, ihre Sculpturen, Inschriften, Kenotaphe, Urkunden u. dgl. könnten schätzbare Werke ins Leben gerufen, Folianten gefüllt werden; allein noch scheinen jene ihrer gründlichen Historiographen zu harren, und es ist nur Schade, dass so Manches davon im Laufe der Zeiten untergeht, zerstört, oder verschleppt wird, was dann unwiederbringlich verloren ist, und davon höchstens eine Chronik dürftige Nachricht, oder die Mappe eines mit Sinn dafür begabten Privatsammlers leicht verlierbare Zeichnungen aufbewahrt.

 

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© Thomas Lehmann

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