Alexander Benzion
Männer - Seidenfaden - Liebe
Männer
In der Stadt Kolberg, in Pommern an der See, waren vor alter Zeit zwei Geschlechter die gewaltigsten: die Schlieffen und die Adebar.
Am Ausgang des fünfzehnten Jahrhunderts lebten aus den beiden Geschlechtern zwei junge Männer in solcher Freundschaft miteinander, daß sie wie Brüder galten. Der von den Adebar hieß Benedictus und hatte des nachmaligen Bischofs zu Kamin Schwester zur Ehe; der von den Schlieffen hieß Niclas. Beide genossen alle Ehre guter Bürger und Edelleute.
Eines Abends waren sie miteinander in froher Gesellschaft, wo der Wein die Köpfe erhitzte. Niclas Schlieffen ging zu guter Zeit vor dem anderen nach Hause und legte sich, da er müde war, zu Bette. Etwa eine Stunde darauf kehrte auch Benedictus Adebar heim, und es scheint, daß beide in einem Hause gewohnt haben.
Der Adebar klopfte an die Tür, und Schlieffen, der aufwachte, merkte gleich, daß es der Freund war. Er sprang im Hemd auf, um ihn einzulassen. Als Adebar ihn hörte, wollte er ihn in der Weinlaune erschrecken. Er stach also mit seinem Schwert durch die Tür, Niclas Schlieffen sah es nicht in der dunklen Stube, und da er hastig nach der Pforte stürzte, um dem Freunde zu öffnen, lief er ins Schwert.
Er schrie laut, doch öffnete er noch und sprach zum Adebar: »Benedict, du hast mich erstochen!«
Da erschrak Adebar und tat, was an ihm, um dem armen Freunde zu helfen. Er stillte das Blut, so gut er konnte, und rief jammernd, daß er's nicht aus bösem Gemüte, sondern aus Fürwitz getan. In der Stille führte er den Verwundeten zum Arzte, der ihn verband.
Aber Schlieffen fand sich sehr übel und fühlte den Tod nahe. Da nahm er all seine Kraft zusammen und riet seinem Bruder und Freund, nicht in der Stadt zu bleiben, sondern schnell daraus zu fliehen, denn wenn die anderen vom Hause Schlieffen ihn erhaschten, so müsse er auch den Tod erleiden.
Adebar war sehr unglücklich, daß er also wider seinen Willen seinen guten Gesellen und liebsten Freund in Todesgefahr gebracht und sich selbst in große Sorge. Doch wich er nicht aus der Stadt, ob er es gleich in der Nacht noch gekonnt; er mochte nicht fort von dem Sterbenden und versteckte sich nur.
Niclas Schlieffen starb bald an der schweren Wunde, und sobald er tot war, suchte seine Freundschaft, der es oblag, den Erstochenen zu rächen, mit allem Eifer nach dem, der ihn getötet. Sie fanden ihn und setzten ihn ins Gefängnis.
Adebars Freundschaft nahm sich nun auch der Sache an und tat, was an ihr war, um sie gütlich zu schlichten. Des Benedictus Schwestermann, Dr. Martinus Carit, der nachmalige Bischof von Kamin, gab sich gar große Mühe, die Schlieffen zu bewegen, den Adebar gegen ein Blutgeld frei zu lassen.
Aber die Schlieffen wollten ihr Recht und keine Abfindung. Sie zogen Benedict Adebar vor das Gericht, das feierlich gehegt ward, und die Richter fanden gegen ihn das Todesurteil.
Nachdem er verurteilt war, erklärten die Schlieffen: nun wollten sie ihn losgeben, damit man sage, daß sie ihm das Leben geschenkt hätten.
Das aber wollte Adebar und seine Freundschaft nicht annehmen, denn sie meinten: ein Verurteilter wäre ehrlos und des Lebens nicht weiter wert.
Benedict Adebar trat vor die Richter und Schöppen und die anklagende Sippschaft hin und erklärte offen und freien Mutes, er wolle viel lieber bei seinem guten Gesellen und Bruder, dem erschlagenen Schlieffen, sein, denn so länger leben.
Und damit war der Prozeß abgetan, sein Urteil war gefunden, er hatte die Gnade des Anklägers nicht angenommen, eine andere gab es nicht, noch hätte sie der Verurteilte angerufen. Also mußte Benedict Adebar sterben; aber nicht wie ein Missetäter.
Der Nachrichter und seine Diener durften ihn nicht anrühren, sondern er ging gutwillig den letzten Weg, und der gesamte Rat von Kolberg und die ganze Stadt begleitete ihn, und alle betrübten sich seinethalben.
Adebars Schwester, die Äbtissin war im Jungfrauenkloster zu Kolberg, trat ihm am Tore mit einem Kruzifix in der Hand entgegen und sprach mit fester Stimme zu ihm: er solle auf Gott trauen und in seinem Glauben sterben.
So kam der Zug aus dem Tore und ging nach dem Totenacker. Weil Adebar keine Missetat begangen, war ihm vergönnt worden, daß er nicht auf der Richtstätte, sondern auf einem Kirchhof sich den Kopf abhauen lasse. So geschah es.
Seidenfaden
Die Frau des Nagelschmieds Scheurer in Obernkirchen im Kurhessischen trieb einen ziemlich einträglichen Kram- und Trödelhandel. Aber die Alte war habsüchtig und wäre gerne – wenn auch auf unehrliche Weise – zu Reichtum gekommen. Selbst zur Diebin werden, konnte sie nicht gut; sie war zu alt und zu bequem dazu; so stellte sie drei nichtsnutzige junge Männer an, die zusammenstehlen und -rauben mußten, was sie gerade in ihrem Geschäft gut brauchen konnte.
Die drei hießen Funk, Möller und Seidenfaden. Von dem ersteren wissen wir nicht viel. Seidenfaden war der uneheliche Sohn eines hessischen Husaren und damals – um 1825 – etwa dreißig Jahre alt. Er hatte nie viel getaugt. Kaum siebzehnjährig, hatte er seinem Meister, einem Schuhmacher, mehrere Louisd'or entwandt, dafür ein Jahr im Zuchthaus gesessen und dann ein unordentliches Leben als Hausierer, Botengänger und Tagelöhner geführt. Wegen Notzuchtversuches, Wilddieberei und kleinerer Vergehen war er späterhin unterschiedliche Male bestraft worden. Seit 1820 war er verheiratet und Vater. – Der Hufschmied Möller hatte ein Schicksal, das dem seinigen nicht unähnlich war. Ebenfalls uneheliches Kind eines hessischen Husaren, war er von seinem Vater verlassen und von seiner Mutter, einer liederlichen Person, so vernachlässigt worden, daß er bereits als Knabe, mit Lumpen bedeckt, sich durchbetteln mußte. Schon im elften und dreizehnten Jahre war er wegen Diebstahl mit Ruten gezüchtigt worden, hatte sich späterhin anwerben lassen, war zweimal desertiert, erhielt dafür strenge Eisenhaft und wurde am Ende schimpflich entlassen. Wie Seidenfaden war auch er wegen Sittlichkeitsverbrechens, Wilddieberei und anderer Verschuldungen öfters bestraft worden.
Polizei und Gerichte waren auf die in der Gegend sich so auffallend mehrenden Diebstähle und Räubereien aufmerksam geworden. Im Jahre 1826 wurde Funk bei einem nächtlichen Einbruch in der Stadt Sachsenhagen ergriffen. Er entsprang und rettete sich über die hannoversche Grenze; bei einem Nagelschmied fand er Arbeit. Schon nach vierzehn Tagen aber wurde er wieder verhaftet und sollte auf dem Schub durch Gendarmen ins Hessische zurück, nach Obernkirchen gebracht werden. Dem verschlagenen Gauner gelang es jedoch, während des Transportes wieder zu entwischen. Alles Nachsetzen war bei seiner Schnelligkeit und guten Ortskenntnis vergebens.
Er hatte die Dreistigkeit, bei anbrechendem Abend nach Obernkirchen zu kommen und in die Wohnung seiner Mutter zu schleichen. Sie beschwor ihn, augenblicklich fortzulaufen, er sei bei ihr keinen Augenblick sicher, man habe schon nach ihm gefragt. Er suchte schnell noch seine Spießgesellen auf, aber auch Seidenfaden und Möller drangen in ihn, sich so rasch als möglich aus dem Staube zu machen, sonst könne er leicht auch sie ins Unglück bringen.
Funk flüchtete in ein Wäldchen, drei Viertelstunden von Obernkirchen. Zum Schutz gegen die Kälte grub er sich ein Loch in die Erde und brachte in dieser Höhle im Walde neun Tage zu, von Seidenfaden und Möller, die sich vorsichtig zu ihm schlichen, notdürftig mit Nahrung versorgt. Aber er hielt die Ruhe nicht lange aus, in nächtlichen Streifereien suchte er Unterhaltung und Gelegenheit zum Erwerb. Frau Scheurer hörte davon und empfing seine beiden Spießgesellen, als die sich bei ihr einstellten, um neue Aufträge zu erhalten, mit den lebhaftesten Vorwürfen. Was das sei! Der Funk werde durch seine Schwätzereien und Unbesonnenheiten sie noch alle ins Unglück bringen. Sie erklärte, der Mensch, der sie insgesamt verderben könne, müsse entfernt, müsse unschädlich gemacht werden. Sie versprach demjenigen fünf Taler und ein Maß Branntwein, der den Funk beiseite schaffe. Wenigstens behaupteten das späterhin Seidenfaden und Möller; ob es zutrifft, oder ob die beiden lediglich der eigenen Sicherheit halber den Plan zum Morde faßten, hat sich nicht mit Gewißheit herausgestellt.
Eines Nachts schlichen sie mit Hacken, Spaten, Brot, Speck und Branntwein zu Funk. Als dieser sie fragte, was sie mit den Spaten und Hacken wollten, erklärten sie ihm, sie seien gekommen, um ihm sein Loch tiefer graben zu helfen, damit es besseren Schutz gewähre. Sogleich machten sie sich ans Werk, hackten, gruben und schaufelten umschichtig, bis sie ermüdet waren. Dann lagerte man sich. Die beiden tranken dem armen ausgehungerten und ausgefrorenen Gesellen so lange zu, bis er müde und trunken ward, sich neben seiner Höhle niederwarf und einschlief. Er sollte nicht wieder aufstehen. Mit der Axt ward er auf den Schädel geschlagen und starb, ohne einen Laut von sich zu geben. Wer die Axt geführt – ob Seidenfaden, ob Möller – ist nie mit Bestimmtheit festgestellt worden. Der Mörder, wer es auch gewesen, begrub mit seinem Gefährten das Opfer in dem Loche, das sie nicht umsonst tiefer gegraben hatten. Man warf Erde, dürre Reiser und Rasen auf den Toten und überließ das übrige dem Regen und der Witterung.
Daß Funk, ein steckbrieflich verfolgter Dieb, verschwunden war, fiel niemandem auf. Nur ein paar Leute, die ihm und seinen Gefährten näher gestanden, hatten ihre Gedanken. Etwa ein Jahr nach der Tat ging eines Abends der Steinhauergeselle Keil, der wie sein Freund Möller im Bückeberger Steinbruch gearbeitet, mit diesem nach Hause. Wie sie so in den Wald kamen, äußerte Keil: er möchte doch wohl wissen, wo eigentlich der Kaspar Funk hingekommen sei? Möller antwortete mit schlauem Gesicht: »Was gibst du dafür, wenn ich dir's sage?« – Keil antwortete: er gäbe schon einen Taler drum, wenn ihm das einer sagen wollte! – Man wurde handelseinig: Keil, der feierlich Verschwiegenheit angeloben mußte, sollte anderthalb Taler geben und es dann erfahren.
Möller führte ihn abseits in die Tannen. Bei einer erhöhten Stelle machte er Halt: Unter der Erde hier liege, so wahr er selbst hier stünde, der Kaspar. Keil wollte nun auch den Namen des Mörders wissen, aber den nannte Möller nicht, so entschieden auch der Freund beteuerte, er würde nichts verraten.
Natürlich schwatzte Keil. Er machte gegenüber dem ihm bekannten Gendarmen Kalb von Obernkirchen Andeutungen: er wisse schon was vom Funk! Mit leichter Mühe gelang es dann Kalb, das Geheimnis, soweit Keil eingeweiht war, in Erfahrung zu bringen.
Seidenfaden und Möller wurden verhaftet, auch Keil, der anfangs im Verdacht der Mittäterschaft stand. Die Leiche wurde ausgegraben, als die des Funk erkannt; die vordere Hälfte des Schädels fand man zertrümmert.
Auch die Frau Scheurer wurde, ebenso wie ihr Mann, bald darauf verhaftet. Die Untersuchung schleppte sich nun durch drei lange Jahre hin, und am Ende wußten die Richter doch nicht, weder, wer der eigentliche Anstifter zur Tat gewesen war, noch wer den tödlichen Streich geführt hatte.
Am 24. Dezember 1829 fällte das Obergericht zu Rinteln das Urteil. Möller und Seidenfaden sollten durch das Schwert vom Leben zum Tode gebracht werden, die Scheurer erhielt sechs Jahre Zuchthaus, ihr Mann und Keil wurden freigesprochen.
Die Anwälte beider zum Tode Verurteilten legten Berufung ein. Das Oberappellationsgericht bestätigte, was Möller anlangt, am 9. September 1830 den Spruch des ersten Gerichtes. Das von Möller eingereichte Gnadengesuch wurde vom Kurfürsten verworfen, und der Verbrecher im Januar 1831 zu Rinteln hingerichtet.
Möller allein. Gegen Seidenfaden konnte das Urteil nicht vollstreckt werden. Er war entflohen.
Schon in der ersten Nacht seiner Haft war von Seidenfaden ein Fluchtversuch unternommen worden. Man hatte ihn daraufhin in eine Zwangsjacke gesteckt. Bei der ungewöhnlich starken Muskulatur des Gefangenen war es kaum möglich gewesen, ihn hineinzupressen. Die Brustmuskeln erhoben sich beim Atemholen zollhoch über die eisernen Querbügel, so daß der Gefangene in einen qualvollen Zustand geriet. Nach dem Bericht einer Sachverständigenkommission mußte denn auch der eiserne Panzer beseitigt werden. Eine besonders starke Fesselung ersetzte sie. Aber doch gelang es Seidenfaden, in der Nacht vom 13. auf den 14. April 1830 seine Ketten zu sprengen; er durchbrach das Eisengitter seines Zellenfensters und entkam dem Kerker.
In Hessen, überhaupt in Deutschland, konnte er nicht bleiben. Wollte er sein Leben retten, mußte er so schnell als möglich über die Grenze. Dennoch schlich er in der Nacht seiner Flucht erst nach Obernkirchen zurück, um Weib und Kinder noch einmal zu sehen. In das Haus wagen durfte er sich nicht, aber er fand einen, auf den er sich verlassen konnte, und sandte durch ihn der Frau die Botschaft: er wolle Abschied von ihr nehmen, ehe er in die Fremde wandere; wenn es ihm dort gut ginge, würde er sie und die Kinder schon nicht vergessen. Die Frau ließ ihm sagen, sie wolle ihn nicht sehen; er möge, so rasch er könne, sich aus dem Staube machen.
Von früheren Streifereien her kannte Seidenfaden Holland. Dahin wandte er sich. Er bettelte sich durch, ohne unterwegs irgendwo angehalten zu werden. Nach zwölf Tagen voll Not und Angst kam er nach Zwoln in der Nähe des Harlemer Sees. Vor der Stadt lag ein Schiff, das nach Amsterdam sollte. Er hatte keinen Pfennig, um die Überfahrt zu bezahlen; aber der Schiffer nahm den starken Mann gern als Ruderknecht an Bord. In Amsterdam wollte Seidenfaden Dienst als Land- oder Seesoldat suchen. Man wies ihn an einen Werber. Trotzdem er keinerlei Legitimation hatte, wurde er als Hausknecht Wilhelm Wiggers aus Lübeck zum Kriegsdienst für die Kolonie Surinam angenommen. Man brauchte Leute. Er empfing zwei Dukaten Handgeld, man versprach ihm zehn ein drittel Gulden monatlichen Sold und nach zwanzigjährigem Dienst in den Kolonien eine Pension.
Aber es war das Jahr 1830: Infolge der Julirevolution brach der belgisch-holländische Krieg aus. Die für die Kolonien geworbenen Soldaten brauchte man im Kampf gegen die Belgier. Seidenfaden war im Harderwyk als Rekrut einexerziert worden und rückte dann mit den anderen nach Surinam bestimmten Jägern nach Antwerpen. In einem Treffen um den Besitz der Stadt – es war am 20. September: elf Tage, nachdem das Oberappellationsgericht das Todesurteil gegen Möller bestätigt hatte – gelang es Seidenfaden, mit einem anderen Kameraden in eine schlechtbewachte Batterie des Feindes einzudringen und sechs Kanonen zu vernageln. Er wurde öffentlich deswegen belobt und zum Korporal befördert. Sein Truppenteil nahm darauf die Stadt Hasselt, die vierundzwanzig Stunden lang geplündert wurde. Aber die erste Zeit von der zur Plünderung bestimmten verwandte Seidenfaden dazu, seinen tödlich verwundeten Sergeant-Major, der hilflos auf dem Felde liegen geblieben war, zu pflegen und in das Hospital zu schaffen. Mit einem Kameraden drang er dann, um Beute zu machen, in ein Haus. Sie fanden es ganz leer, nur ein Kind lag in der Wiege. Kaum hatten sie die Stube verlassen, als ein anderer hinein- und bald darauf mit wütendem Hohngelächter herausstürzte. Aus Ingrimm, weil er nichts gefunden, hatte er das Kind ermordet und auf das Bajonett gespießt. Seidenfaden versichert, er habe diesen Anblick sein Leben lang nicht verwinden können. – Sie stürmten in ein anderes Haus und forderten einer Frau Geld ab. Die öffnete unter Zittern einen Kasten mit vielen Schlössern und reichte ihnen einen versiegelten großen Beutel. Beglückt eilten die Plünderer in die Kaserne zum Teilen, und Seidenfaden will dabei an Frau und Kinder gedacht haben, denen er nun etwas schicken könne; als sie aber den Beutel öffneten, fanden sie nur Kupfermünzen darin, und die ganze Beute betrug kaum zwölf Gulden.
Der Krieg in Belgien war beendet. Man konnte wieder an die Kolonien denken. Ende 1831 wurde Korporal Wiggers mit einigen hundert Soldaten nach Surinam eingeschifft.
Sein Glücksstern ging auf.
Eine bedeutende Anzahl der in den Pflanzungen beschäftigten Neger hatte sich empört und war entlaufen. Seidenfaden wurde mit einer starken Streifwache zu ihrer Verfolgung bestimmt. Er stieß in den Waldungen auf einen Trupp von hundertfünfzig bewaffneten Negern, geführt von einem gefährlichen, den Kolonisten wohl bekannten Schwarzen namens Montag. Nach einem lebhaften Feuergefecht nahmen die Aufständischen Reißaus. Ein wohlgezielter Schuß aus Seidenfadens Flinte streckte Montag verwundet nieder, so daß er eingefangen werden konnte. Zur Belohnung erhielt Seidenfaden eine silberne Nadel und Kette.
Fast zu gleicher Zeit wurde er Ritter eines wirklichen Ordens. Etwa ein Jahr, nachdem er sich bei Antwerpen und Hasselt so tapfer erwiesen, wurde ihm vor der Front des Regiments – außer einer metallenen, aus den Kanonen von Hasselt gegossenen und für alle Kriegsteilnehmer bestimmten Medaille – das Ritterkreuz des Wilhelmordens zweiter Klasse umgehängt, als Anerkennung für seine Zerstörung der feindlichen Batterie. Außerdem beförderte man ihn zum Sergeanten und gab ihm eine Gratifikation von hundertundfünfundsiebzig Gulden.
Bei den Truppen wechselte der Garnisonsdienst in Paramaribo mit dem beschwerlicheren in den Grenzforts. Im Februar 1832 zog Seidenfaden als Sergeant der 2. Kompagnie aus Paramaribo und wurde Kommandeur von einer der Festungen. Auch auf diesem selbständigen Posten bewährte er sich ausgezeichnet. Abwechselnd lag er nun in Paramaribo und diesem Grenzfort, das er zum letzten Male im Januar 1835 verließ.
Es wäre ihm besser gewesen, wenn man ihn niemals von dem beschwerlichen Dienst in der Wildnis abgelöst hätte.
Im Februar 1835 hatte er in Paramaribo das Kommando der Wache. Er vernahm, wie die Schildwache vor dem Gewehrposten sich mit einem Matrosen in deutscher Sprache unterhielt. Deutsch konnte man viel in Paramaribo hören, aber die Mundart des Matrosen schien Seidenfaden bekannt. Er glaubte, an der Sprache einen Schaumburger zu erkennen; ja, als er ihn gehen sah, schien es ihm am Schlenkern der Beine: dies müsse ein Rodenberger sein. Er trat auf ihn zu und fragte ihn nach Name und Heimat.
Der Matrose hieß Null und war aus Kreinhagen, eine halbe Stunde von Obernkirchen gebürtig. In Seidenfaden wurden sehnsüchtige Erinnerungen an die Heimat, an die Seinen wach. Ihnen zu schreiben, hatte er ja von Surinam aus nicht wagen dürfen, weil er sich dadurch sicher verraten hätte. Er hoffte, etwas von Frau und Kindern zu hören, und begann Null vorsichtig auszuforschen. Er warf so hin, daß er in der Gegend auch bekannt sei, da er einmal in der Nähe als Kellner gedient habe. Nach vielen Kreuz- und Querfragen faßte er endlich den Mut, von den Vorfällen in Obernkirchen zu sprechen. Er sagte, er habe seinerzeit von dem Totschlag eines gewissen Funk gehört und wollte gern wissen, wie es mit denen stände, die damals festgenommen worden seien? Der Matrose antwortete, der eine, Möller, sei geköpft worden, und der andere, Seidenfaden, entsprungen. Dem Sergeanten schlug das Herz. Er fragte zu rasch: wie es denn Seidenfadens Frau und Kindern erginge? Es möge wohl recht schlecht mit ihnen stehen? Null erwiderte, die Frau werde festgehalten und müsse Zwangsarbeit tun, bis Seidenfaden zurückkehre.
Seidenfaden erschrak. Die ruhige Besonnenheit, die er bis dahin beobachtet, verließ ihn, und er wurde immer wärmer und eindringlicher mit seinen Erkundigungen. Ganz besonders forschte er nach dem Schicksal der Kinder.
Da schoß mit einemmal in dem Matrosen ein Verdacht auf, und es fuhr ihm von den Lippen: »Am Ende seid Ihr wohl selbst der Seidenfaden!« – Und damit ging er seiner Wege, ehe der Sergeant geantwortet hatte. Seidenfaden hoffte, daß er von seiner inneren Bestürzung nichts habe merken lassen. Aber entweder hatte er sich doch zu sehr verraten, oder den Matrosen wandelte, aus dem allgemeinen Haß der Seeratten gegen die Landratten, die Lust an, einem von den letzteren etwas anzuhängen.
Es lief bald unter den Matrosen um, daß die Landratten einen Unteroffizier hätten, der Dieb, Straßenräuber und Mörder gewesen sei. Rasch verbreitete sich das Gerücht durch die ganze Kolonie: der gefeierte Sergeant Wiggers sei ein entsprungener Mörder, der unter falschem Namen sich in die Armee eingeschlichen habe. Sieben Mordtaten sollte er schon begangen und eine Bande von dreihundert Mann um sich geschart haben. In den Schenken und wo man sich sonst begegnete, begann ein allgemeines Sticheln der Matrosen auf die Landsoldaten.
Drei Monate war das so gegangen, da glaubten die Jäger selbst nicht mehr, mit gutem Gewissen ihren Sergeanten verteidigen und sich für ihn ins Zeug legen zu dürfen. Sie murrten laut und lauter, bis ihre Forderung, daß Wiggers sich rechtfertigen müsse, vor die höheren Offiziere kam.
Sein Hauptmann und sein Oberst wollten Wiggers wohl, er war einer ihrer tüchtigsten Leute, sein Betragen war dauernd musterhaft, seine Leistungen ausgezeichnet gewesen. Aber der Drohung der Jäger, sie würden nicht weiter mit einem gemeinen Straßenräuber zusammen dienen, durften sie sich doch nicht verschließen. Der Oberst ließ Wiggers durch den Regimentsauditeur vernehmen. Der Sergeant leugnete aber hartnäckig, und so hofften seine Vorgesetzten, der Sturm würde sich wieder legen.
Aber Null hatte unter dem Schiffsvolk der angekommenen Kauffahrer einige Landsleute gefunden, die auch aus dem Schaumburgischen waren, die gräßlichen Geschichten vom Seidenfaden kannten, diesen Bösewicht gesehen hatten – oder sich doch wenigstens einbildeten, ihn gesehen zu haben. Aufs neue entstand Aufregung in der Garnison, und der Regimentskommandeur, der Seidenfaden nach einem der Forts geschickt hatte, um ihn den Leuten aus den Augen zu bringen, mußte ihn wieder nach Paramaribo kommen lassen und vor ein Kriegsgericht stellen.
Hier trat ihm der Matrose Null und dessen Schwager Kinne gegenüber. Es ist sehr wahrscheinlich, daß beide Seidenfaden früher nie mit Augen geschaut, aber jetzt, in steigender Wut gegen ihn, sich einbildeten, ihn vormals gekannt zu haben; jedenfalls erklärten sie vor dem Gericht mit feierlichem Eid: daß der Sergeant nicht Wilhelm Wiggers aus Lübeck sei, sondern der ehemalige Schuhmacher Seidenfaden aus Obernkirchen. Ja, sie beschworen auch dreist, daß das Gerücht auf Wahrheit beruhe, der Verbrecher habe nicht weniger als sieben Mordtaten auf dem Gewissen und sei einer Bande von dreihundert Mann vorgestanden. Kinne beschwor sogar, kein anderer als der Sergeant habe ihm die eigene Schwester umgebracht.
Der Angeschuldigte stellte immer noch alles in Abrede, aber vor dem Eide zweier unbescholtenen Zeugen mußten die Offiziere sich beugen. Seidenfaden wurde in gelinden Militärarrest gebracht. Er hätte entfliehen können, er tat es nicht. Und als bei einer neuerlichen Gegenüberstellung Null das Elend der verlassenen Frau und Kinder Seidenfadens in den stärksten Farben ausmalte, da brach sein Mut, und er gestand.
Im August 1835 wurde er als Gefangener nach Holland eingeschifft. Fünf Jahre hatte er in Freiheit mit allen Ehren eines Kriegers verlebt, nach sechs Wochen erträglicher Haft auf dem Schiff umschloß ihn auf europäischem Boden wieder das Dunkel des Kerkers.
Im Januar 1836 gelangte an das kurhessische Justizministerium in Kassel eine Benachrichtigung der niederländischen Regierung: daß der dem Vernehmen nach zum Tode verurteilte Johann Heinrich Seidenfaden zu Arnheim in Haft sei und an die hessische Behörde ausgeliefert werden solle. Im Februar traf der Gerichtsdiener Heinemann von Obernkirchen mit einem Gendarm in Arnheim ein. Die beiden erkannten in dem Gefangenen den entwichenen Seidenfaden, sie übernahmen ihn, und am 1. März sah ihn das Gefängnis in Rinteln wieder in seinen Mauern.
Unterwegs hatte Seidenfaden keinen Fluchtversuch gemacht. – Im Gefängnis schilderte er mit voller Offenheit seine Schicksale vom Augenblick der Flucht an.
Aber vor den Richtern war Sergeant Wiggers niemand anders als der gemeine Raubmörder, der vor sechs Jahren zum Tode verurteilt worden und dann entsprungen war. Das Gerichtsverfahren hub wieder an, wo es damals aufgehört hatte. Vor seiner Entweichung hatte sein Anwalt eine Beschwerde gegen das Urteil eingereicht, diese nahm man wieder vor und erkannte darüber. Die Schrift des Verteidigers stützte sich im wesentlichen darauf, daß durch nichts bewiesen sei, gerade Seidenfaden habe Funk ermordet.
Das Oberappellationsgericht verwarf die Beschwerde. Es bestätigte das Todesurteil. In der Urteilsbegründung wird ausgeführt, daß Seidenfadens gute Aufführung als holländischer Soldat noch kein Beweis dafür sei, daß er sich auch als Mensch gebessert habe. Darum weigerte sich das Gericht auch, ein Gnadengesuch an den Landesherrn zu unterstützen. Dies Gesuch hatte weiter nichts enthalten als die Bitte: die Todesstrafe in lebenslängliche Eisenhaft zu verwandeln.
Man erwartete, daß der Kurfürst von sich aus einen Gnadenakt erließe. Es geschah nicht.
Am 6. Februar 1837, also zehn Jahre nach seiner ersten Verhaftung, wurde Seidenfaden in Rinteln zur Hinrichtung geführt. Er betrat das Schafott mit voller Ruhe, Standhaftigkeit und Ergebung.
Daß er mit zu starker Sehnsucht der Seinen gedacht hatte, brachte ihm den Untergang; daß er jetzt so fest und gelassen dem Tode entgegenging, raubte dem Scharfrichter die Fassung. Er mußte dreimal zuschlagen, um den Kopf vom Rumpfe zu trennen.
Liebe
Um die Wende des siebzehnten Jahrhunderts standen in der Stadt Toulouse zwei Freunde bei der ganzen Bevölkerung in hohem Ansehen, das sie durch ein tätiges und tugendliches Leben wohlverdient hatten. Der eine hieß Peter Arias Burdeus; er stammte aus Spanien und war Augustinermönch und Doktor der Theologie. Seine aufrichtige Frömmigkeit und die erbaulichen Predigten, die er zu halten pflegte, hatten ihm die Liebe aller Gläubigen gewonnen. Sein Freund war der Rat Wilhelm von Gayraud; er stand dem Amthofe der Stadt vor, und seine Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit wurden allenthalben gepriesen. Sechzig Jahre zählte er jetzt, und sein Freund, der Priester, war kaum jünger; die beiden gingen einem rühmlichen Greisenalter entgegen – da übermannte sie zugleich die Leidenschaft zu einem Weibe und führte sie ins Verderben.
Es geschah nämlich, daß eine Portugiesin von verführerischer Schönheit, des Namens Violante du Château, sich in Toulouse mit den Ihren niederließ. Ihr erster Anblick schon entzündete ein Feuer in dem Busen der Freunde; was an Ehrsamkeit in ihnen, das ward verdrängt durch das Verlangen, die Holdselige zu besitzen. Das Merkwürdigste aber war, daß die beiden nicht, wie es unter solchen Umständen gemeiniglich der Fall ist, in Eifersucht sich entzweiten und Todfeinde wurden; sondern sie blieben sich zugetan wie zuvor.
Sei es nun, daß ihre so starke Liebe das Herz der Schönen rührte, sei es, daß sie ihr mehr zu bieten hatten als jüngere, aber unbemitteltere Verehrer – die Freunde erlangten, wonach ihr Sinn stand. Das verstohlene Glück eines Augenblicks genügte ihnen aber bald nicht mehr; sie wollten dauernd und ungestört mit der Angebeteten verkehren können. Bei dem Stande derselben, bei ihrer eigenen Stellung in Toulouse war dies aber nicht möglich; so gerieten die Liebhaber auf den Gedanken, Violante zu vermählen, um sie besuchen zu können, ohne von Argwohn verfolgt zu werden. Ihre Wahl fiel auf einen jungen Advokaten namens Romain, aus dem Städtchen Gimont, zehn Wegstunden von Toulouse. Violante und Romain zeigten sich der Ehe geneigt, die beiden Freunde wetteiferten, eine stattliche Mitgift zusammenzubringen, und die Hochzeit wurde gefeiert.
Aber die Liebhaber sahen sich bitterlich enttäuscht. Sie hatten bestimmt darauf gerechnet, Romain bewegen zu können, sich in Toulouse niederzulassen; der aber bestand darauf, mit seiner Gattin nach Gimont zurückzukehren.
Der Rat Gayraud begleitete als guter Freund des Gatten die jungen Eheleute und brachte einen Monat bei ihnen zu. Er mußte erkennen, wie zwischen den beiden von Anfang an ein gereiztes Verhältnis bestand, vor allem, weil Violante, die sich in das kleinbürgerliche Leben des Städtchens nicht finden konnte, den Zorn ihres Mannes durch spöttische Bemerkungen über dessen Verwandte erregte.
Der alte Gayraud kam zerrissenen Herzens nach Toulouse zurück. Bekümmert teilte er dem Mönche mit, wie sehr ihre teure Violante unter der rauhen Härte ihres tyrannischen Gatten zu leiden habe; und am Ende war der Mönch fast noch entrüsteter als der Rat. Sie festigten gegenseitig die Überzeugung in sich, daß sie das Unglück der Geliebten unmöglich ruhig mit ansehen dürften, daß sie diese um jeden Preis von dem groben Gatten befreien und wieder nach Toulouse bringen müßten. Und am Ende schien ihnen kein anderes Mittel tauglich, um zum Ziele zu kommen, als der Mord.
Sie schwankten zwischen Gift und Dolch. Zuletzt entschlossen sie sich, Romain unter irgendeinem Vorwand nach Toulouse zu locken und ihn da überfallen und erschlagen zu lassen. Der Mönch übergab sogleich seinem Freunde hundert Dukaten, um die Mörder zu besolden.
Dem Rate gelang es alsobald, einen jungen Studenten aus guter Familie, namens Candolas, sowie den Sachwalter Esbaldit für die Tat zu gewinnen; er übergab ihnen einen Teil des Geldes als Vorschuß. Dann schrieb er Romain, es gäbe eine wichtige Sache in Toulouse zu verhandeln, in der er ihn mit einem Auftrag betrauen wolle.
Romain reiste ohne das geringste Mißtrauen sogleich ab und wurde von dem Rate in freundlichster Weise aufgenommen. Am selben Tage noch wurde zu seinen Ehren ein glänzendes Mahl veranstaltet.
Der Mönch, Candolas und Esbaldit waren die übrigen Gäste. Nach dem Essen entfernte sich Burdeus; auch die beiden anderen zogen sich zurück, weil sie, wie sie sagten, einen Spaziergang machen wollten. Der Rat unterhielt sich noch einige Zeit mit Romain, und als er annahm, daß die Mörder ihre Vorbereitungen getroffen hätten, führte er ihn unter irgendeinem Vorwand zu einer Hintertür hinaus, die auf ein stilles Gäßchen ging. Candolas und Esbaldit standen bereit und stürzten sich auf ihr Opfer, das sie mit siebzehn Dolchstichen niederstreckten.
Sogleich verbreitete der Rat mit entsetzten Mienen, er sei von Dieben überfallen und seines Geldbeutels beraubt worden; den Advokaten Romain, der ihnen Widerstand zu leisten wagte, hätten die Übeltäter ermordet. Sogleich begaben sich die Häscher an den Ort, wo das Verbrechen geschehen war. Esbaldit begegnete ihnen unterwegs und fing, als er sie erblickte, zu laufen an. Natürlich erregte das Verdacht; der Sachwalter wurde verfolgt und verhaftet.
Davon hörte der Mönch; er fühlte sich in Toulouse nicht mehr sicher und entfloh nach einigen Tagen mit dem jungen Candolas. Zuerst ging er nach der protestantischen Stadt Tonneins, dann nach Milhaud, und von da nach Nîmes. Man ließ den beiden nachsetzen – wahrscheinlich hatte Esbaldit schon einige Andeutungen fallen lassen – sie wurden gefangen genommen und nach Toulouse zurückgebracht.
Der Mönch gestand sein Verbrechen und gab den Rat als Mitanstifter der Tat und Candolas und Esbaldit als die Totschläger an.
Burdeus ward zum Tod verurteilt. Als man ihn zum Schafott führte, bat er, daß man vor dem Tore seines Klosters anhielte. Mit Tränen in den Augen flehte er die Mönche um Verzeihung an, weil er ihrem frommen Rufe geschadet, und mahnte sie, ein christliches Leben zu führen. Auf der Richtstätte wurde ihm, nachdem er ein inbrünstiges Gebet verrichtet, der Kopf abgeschlagen und sein Leib gevierteilt. Dies geschah am 9. Februar 1609.
Der Rat Gayraud, den man gefänglich eingezogen hatte, leugnete verstockt. Man brachte ihn auf die ordentliche und außerordentliche Folter, ohne ihm ein Geständnis abzwingen zu können. Da drohte ihm der Vorsitzende des Gerichts, an seiner Statt seinen jungen achtzehnjährigen Sohn auf die Folter spannen zu lassen, und nun gestand er. Ihm ward darauf derselbe Spruch wie dem Mönch Burdeus, und am 12. Februar erlitt er seine Strafe. Candolas und Esbaldit wurden an den beiden folgenden Tagen hingerichtet.
Am 16. Februar mußte die schöne Violante, weil sie die Veranlassung zum Verbrechen gewesen, ihr Haupt auf den Block legen.